Geschichte meines Lebens
(1962)–Henry Van de Velde– Auteursrechtelijk beschermd
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Fünfzehntes Kapitel
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Wir lebten in einer Höhe von fast achthundert Metern. Die nächsten waldbedeckten Höhen steigen bis auf fünfzehnhundert Meter an. Ich schrieb täglich sieben bis acht Stunden. Wenn meine Gedanken müde wurden, schweifte mein Blick über die Kämme der Berge, und der stehengebliebene Motor begann wieder zu laufen. Unwiderstehlich zog es mich in die Wälder und über die weitausgedehnten Matten. Mit meinem kleinen Fox Chipa machten meine Tochter und ich Nachmittagsausflüge, die sich manchmal bis zu fünf Stunden ausdehnten. Am Abend kehrten wir in den ‘Bungalow’ zurück, hörten die Radionachrichten und nahmen unser einfaches Nachtessen ein. Das Leben, das ich in solcher intimen Beziehung zur Natur führte, ließ die Erinnerung an meine frühere Laufbahn als Maler wiederaufkommen. Und bei manchen meiner Ausflüge stellte ich mir zum Spaß vor, mindestens zwei Gemälde oder Pastelle nach Hause zu bringen, je nachdem ob ich mit der Palette oder dem Pastellkasten ausgezogen wäre. Nach drei Jahren fast übermenschlicher Anstrengung sah ich, wie sich die Blätter meiner ‘Memoiren’ anhäuften und die Ordner sich füllten.
Im Laufe des Jahres 1951 bat der Kunstschriftsteller und Lehrer für Industrial Design an der Universität New York, Antonin Heythum, mich im Rahmen einer europäischen Studienreise mit einer Gruppe von Schülern verschiedener amerikanischer Universitäten besuchen zu dürfen. An einem leuchtenden Sommermorgen des nächsten Jahres sah ich Heythum mit Frau und Sohn und etwa zwölf Studenten und Studentinnen den Pfad heraufsteigen, der zum ‘Bungalow’ führt. Nach meiner Ansprache in sehr schlechtem Englisch bat ich die jungen Leute, die sich auf dem Boden meines Studios niedergelassen hatten, mir Fragen zu stellen. Eine junge Kanadierin übersetzte meine in Französisch gegebenen Antworten. Ich verwahrte mich gegen den Titel ‘Vater des neuen Stils’, als den mich Professor Heythum in seiner Ansprache bezeichnet hatte. Ich wollte die Vaterschaft nur dafür übernehmen, daß ich als erster in Europa die Idee eines neuen Stils verbreitet hatte, welche die Grundprinzipien der Rückkehr zu vernunftgemäßer Gestaltung umschrieb, und das Recht in Anspruch nehmen, diesen Stil von den großen Stilperioden der Vergangenheit abgeleitet zu haben; daß ich eigentlich nur der Wortführer von unzähligen Schülern und Anhängern war, die sich den neuen | |
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Ideen widmeten. Ich hatte diese Rolle bis zum Jahre 1914 gespielt, bis zum Ersten Weltkrieg, der mein Werk plötzlich zum Einsturz brachte und meine Mission unterbrach. Meine Erklärungen machten auf die jungen Leute einen tiefen Eindruck. Wir verließen mein Studio und begaben uns auf die Wiese vor dem Haus, wo Sandwiches und Obstsaft uns erwarteten. Aber es war des Fragens kein Ende, und ich erklärte meinen jungen Hörern, daß ich das fünfte vorchristliche Jahrhundert in Griechenland für den ersten Gipfel der Architektur und Sokrates als den ersten Philosophen ansähe, dem wir die früheste, auch heute noch gültige Definition verdankten, was Schönheit ist. Bevor die Gruppe sich verabschiedete, belehrte ich die Studenten noch über meinen Abscheu vor dem Barock und den ihm folgenden Stilen. Fröhlich stiegen sie den Pfad hinab, und immer wieder hörten wir ihr ‘Au revoir’. Ich hatte Professor Heythum gesagt, daß wir uns in Paul Geheebs ‘Schule der Humanität’ in Goldern wiedersehen würden. Meine Tochter und ich fühlten uns mit Paul Geheeb tief verbunden, Nele in Erinnerung an ihre Zeit im Internat der Wickersdorfer Schule, die Paul Geheeb damals leitete, und ich, nachdem ich ihm meine zwei jüngeren Töchter zur Erziehung anvertraut hatte. Er war ein unvergleichlicher, bewundernswerter Pädagoge, der nach grauenvollen Jahren der Verfolgung durch Hitler und die Gestapo in der Schweiz ein Refugium gefunden hatte. Wir waren ihm lange schon einen Besuch schuldig. Zwei oder drei Tage nach dem Besuch der Amerikaner im ‘Bungalow’ brachte uns unser treuer, stets hilfsbereiter Freund Alfred Roth nach dem in der wundervollen Gegend des Brünig gelegenen stillen Dorf Goldern. Die ‘Schule der Humanität’ ist in einem großen Gebäude untergebracht. Kaum war unser Auto angekommen, da sahen wir uns schon von den amerikanischen Studenten umringt. Sie traten auseinander und machten Paul Geheeb Platz, der mit seinem langen weißen Bart und dem weiten weißen Hemd wie ein Beduine aussah. Er brachte uns in einen großen Saal, an dessen Wänden sich Photographien berühmter Männer und Frauen aus aller Herren Ländern befanden. Mein Bild hing neben dem von Romain Rolland. Im Laufe des Mittagessens, das wir gemeinsam mit allen Schülern und Lehrern einnahmen, sagte mir Frau Heythum, strahlend vor Intelligenz | |
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und Leben, daß die amerikanischen Studenten die Absicht hätten, mich einem Kreuzfeuer von Fragen auszusetzen, die sich ihnen im Anschluß an unsere Diskussionen im ‘Bungalow’ gestellt hätten. Vor allem wollten sie mehr über die Kräfte der Linie und die linear-abstrakten Ornamente erfahren. So hielt ich einen kleinen Kurs ab. Ein Student gab mir seinen Block und einen Bleistift, ich skizzierte Linien und Ornamente und führte die jungen Leute in das Wesen dieser Dinge ein. Sie wohnten dem Entstehen eines linear-abstrakten und dynamographischen Ornamentes bei und konnten nun selbst Versuche machen und ihren Kameraden in Amerika die Sache erklären. Wir nahmen von Paul Geheeb und seiner tüchtigen und bescheidenen Gattin Abschied, Alfred Roth ließ das Signal seines Autos ertönen, und unter dem ohrenbetäubenden Lärm der winkenden Amerikaner fuhren wir wieder nach Hause.
Im gleichen Sommer besuchte mich der Herausgeber der englischen Zeitschrift ‘Architectural Review’, J.M. Richards. Seine ausgezeichnete Abhandlung ‘An Indroduction to Modern Architecture’ war das letzte Buch, das ich in Belgien vor meiner Übersiedlung nach der Schweiz gelesen hatte. Das englische Publikum war nur wenig über mein Schaffen vor der von mir 1906 in London eingerichteten Ausstellung des ‘Deutschen Künstlerbundes’ orientiert. Richards wollte diese Lücke schließen und zu diesem Zweck einen Abschnitt aus meinen ‘Memoiren’ veröffentlichen, der sich auf die Periode vor der Jahrhundertwende bezog, das heißt auf die Voraussetzungen des neuen Stils. Als Übersetzer nannte er mir Morton Shand, der bereit war, nach Oberägeri zu kommen. So kam es, daß ich am Ende meines Lebens einem Mann begegnete, mit dem ich eine auf hoher Schätzung begründete Freundschaft schloß. Morton Shand verkörperte für mich den Typus des perfekten englischen Gentleman. Er besaß eine sehr tiefe allgemeine Bildung und beherrschte die französische Sprache in vollendeter Weise. Wir hatten es leicht, uns über alles zu verständigen.
Kurz vor dem Erscheinen des Abschnittes über die Jahre 1883-1897 in der ausgezeichneten Übersetzung Morton Shands besuchten mich der Direktor | |
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der Zürcher Kunstgewerbeschule Johannes Itten und der Kunsthistoriker Hans Curjel. Sie hatten sich vorübergehend zu gemeinsamer Arbeit zusammengeschlossen, um eine Ausstellung von Gegenständen, schriftlichen Dokumenten und Photos aus der Zeit ‘um 1900’, jener Periode der Kinderkrankheiten eines im Entstehen begriffenen Stils, zu organisieren. Itten konnte Curjel nur vier Monate zur Sichtung und Sammlung des Materials in Belgien, Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz gewähren. Mir schien das ein nicht zu verwirklichendes Abenteuer zu sein, so daß ich den beiden Herren mit allem Nachdruck auseinanderzusetzen versuchte, daß mindestens ein Jahr notwendig wäre, um die Grundlagen abzuklären, die erforderlichen Reisen zu machen, die Besitzer aufzusuchen und sie dazu zu bewegen, sich für einige Monate von den Dingen zu trennen, mit denen sie lebten. Meine Besucher verließen mich etwas enttäuscht. Aber meine Besorgnisse blieben unbeachtet. Am 28. Juni 1952 eröffneten Johannes Itten und Hans Curjel in Anwesenheit der Zürcher Behörden die Ausstellung ‘Um 1900’. Trotz des nachhaltigen Erfolges und des begeisterten Echos bei Publikum und Presse blieb ich mehr als mißtrauisch und distanzierte mich nach wie vor. Auf meinem Schreibtisch lag der Katalog, auf dessen Umschlag ein kleines Plakat mit einem geschickt abgeänderten Titel wiedergegeben war, das ich einst für die ‘Tropon-Werke’ komponiert hatte. Ich las den mit exemplarischer Kenntnis der Materie verfaßten Text, der die Fakten gewissenhaft darlegte. Nach einigen Wochen lud mich Johannes Itten ein, in der Ausstellung vor einer kleinen Zuhörerschaft aus den Kreisen der Stadtbehörden, der Universität, der Architekten und Intellektuellen Zürichs in einer kurzen Ansprache über den Beginn meines Schaffens und meinen ersten Appell zum ‘Kreuzzug’ zu sprechen. Jetzt fühlte ich mich verpflichtet zuzustimmen. Aber noch kurz bevor ich die Ausstellung betrat, befielen mich wieder Bedenken. Dann setzte ich mich vor einem großen Schreibtisch nieder, den ich bis in alle Details entworfen hatte und der in den Werkstätten der Firma van de Velde & Co. in Brüssel in den Jahren 1898/99 ausgeführt worden war. Von Teilnehmern an der Zusammenkunft wurde ich noch oft an diese Stunde und an den Rundgang durch die Ausstellung erinnert, bei dem mir wissensdurstige Gäste unzählige Fragen über meine Lebensarbeit und über die ausgestellten Gegenstände stellten. | |
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Im Winter 1952/53 erschienen dunkle Wolken am Horizont. Die Bedrohung durch einen dritten Weltkrieg lastete auf der aus den Fugen geratenen Menschheit. Die ‘Geschichte meines Lebens’ schien mir unwesentlich, und es kam mir vermessen vor, an irgendein Echo zu denken. Ich hatte die Vorstellung, nichts zu sein gegenüber den Menschen, die Geschichte machten, die - jeder nach seiner Nationalität, nach seinen sozialen Auffassungen - vom Schicksal zu Geburtshelfern berufen worden sind. Ich wünschte, wieder etwas zu werden, jemand zu sein, in der Nähe derjenigen Menschen zu leben, denen meine persönlichen Überzeugungen am meisten verwandt waren. Was ich so verbissen arbeitete, schien mir den Notwendigkeiten der Zeit nicht mehr zu entsprechen; mehr noch - es kam mir unwürdig vor. Unterdessen wurde ich älter. Der Tag, an dem ich neunzig Jahre alt werden sollte, war nicht mehr fern. Zur Feier des Tages luden mich meine Schweizer Freunde zu einem Essen ein. Es fand im Hotel Aklin in Zug statt und sollte keine offizielle Note tragen. Alfred Roth, der Veranstalter der kleinen Feier, benachrichtigte eine Reihe von Freunden in Belgien, Deutschland, Holland und Italien, die mir besonders wohlgesonnen waren. Die innere Unruhe und die Zweifel, die mich plagten, waren Roth nicht unbekannt, und er hoffte, daß einige Worte von ihnen, ein paar Zeichen des freundschaftlichen Gedenkens dazu beitragen würden, mein Gleichgewicht wiederherzustellen. Unter den Gästen befanden sich der bekannte Architekt und Direktor der ‘Ecole Nationale Supérieure d'Architecture’ in Brüssel, Léon Stynen, der einige Jahre nach meinem aus Altersgründen erfolgten Rücktritt mein Nachfolger geworden war, Professor Hans Hildebrandt von der Technischen Hochschule Stuttgart, der berühmte italienische Architekt und Herausgeber der Zeitschrift ‘Casabella’ Ernesto Rogers. Mein Freund Sam van Deventer erinnerte in seiner Ansprache an die Zeit meiner Zusammenarbeit mit dem Ehepaar Kröller-Müller. Bei Tisch waren wir etwa vierzig Personen; zu meiner Linken saß als jüngster Gast eine meiner Nichten, zur Rechten die älteste Dame der Runde; mir gegenüber Georg Reinhart, einer der Winterthurer Mäzene. Das erste der Telegramme, die verlesen wurden, war ein langer, freundschaftlicher Glückwunsch der Königinmutter Elisabeth von Belgien. Ihm folgte eine Gratulation nach der anderen, die Postboten zirkulierten zwischen dem Postamt und dem Hotel Aklin. | |
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Dann kam der Höhepunkt: Nachdem die Gäste aufgestanden waren, um der brillanten Improvisation Ernesto Rogers' zu applaudieren, erhob ich mich, um zu antworten und zu danken. Als ich meine kurze Ansprache beendet hatte, wurde Champagner für die Freunde gereicht, die dem Ruf Alfred Roths als dem Inaugurator des denkwürdigen Festmahles Folge geleistet hatten. Die intime Geburtstagsfeier zeigte noch etwas anderes: die Lawine der Telegramme und Briefe war ein Zeichen, daß das Fest als ein Ereignis empfunden wurde, dessen Echo sich weit, weit in alle Länder verbreitete, in denen die Idee eines neuen Stils Fuß gefaßt hatte.
Die Ausstellung ‘Um 1900’ hatte mir zu denken gegeben. An meinem neunzigsten Geburtstag war ich mir darüber klargeworden, daß ich noch Jahre benötigte, um die ‘Geschichte meines Lebens’ zu vollenden. Zugleich schien es mir, ich dürfe meine Schüler und Verehrer in aller Welt nicht länger warten lassen. Einige Wochen später teilte ich Morton Shand und Ernesto Rogers, die mich auf einer Reise durch die Schweiz wieder besuchten, mit, daß ich die Marschrichtung geändert, die ‘Memoiren’ aufgegeben und ein neues Manuskript begonnen hatte: ‘Témoignages et Contribution personnelle à l'avènement d'un Style Nouveau’ (Die Entstehung einesneuen Stils - Zeugnisse und persönlicher Beitrag). Beide stimmten meiner Entscheidung zu, nachdem ich ihnen auseinandergesetzt hatte, daß es sich um die Darstellung der Voraussetzungen für die Idee und die Methode handle. Ich war um die Zukunft des ‘neuen Stils’ besorgt und wollte mit meiner Darstellung die Hoffnung stärken, daß mit seiner Methode das Ziel wertbeständiger und ‘schöner’ Schöpfungen erreicht werde. Bald nach dem Besuch Morton Shands und Ernesto Rogers erschien Alfred Roth im ‘Bungalow’, um mir zu sagen, daß er die Redaktion der Zeitschrift ‘Werk’, die er seit Jahren innehatte, niederzulegen beabsichtige, um sich seinem zu sehr vernachlässigten Architekturbüro widmen zu können. Vorher wollte er jedoch noch eine Doppelnummer mit den besten, von den bedeutendsten internationalen Architekten und Ingenieuren geschaffenen Werken des ‘neuen, vernunftgemäßen Stils’ herausbringen. Er bat mich, eine grundlegende Einleitung zu verfassen. Als Thema wählte ich ‘Les Etapes de la Beauté’ (Die Etappen der Schönheit). Eine synoptische Tafel sollte dem Text beigegeben werden. | |
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133 Henry van de Velde und Alfred Roth in Oberägeri
134 Der ‘Bungalow’, van de Veldes Wohnung in Oberägeri, 1939 erbaut von Alfred Roth
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135 Henry van de Velde während der Ansprache bei der Feier seines neunzigsten Geburtstages, 3. April 1953
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136 Manuskriptblatt van de Veldes für seine Dankansprache bei der Feier seines neunzigsten Geburtstages in Zug vom 3. April 1953
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Drei Textskizzen liegen vor, keine von ihnen ist zu Ende gebracht. Ob ich Schwierigkeiten mit der Formulierung hatte, ob es andere Gründe waren - ich weiß es nicht. Diese Doppelnummer des ‘Werk’ ist nie erschienen.
Seit 1954 mache ich mir als aufmerksamer, besorgter Nestor keine Illusionen mehr. Der Boden ist schwankend geworden, auf dem unsere Bewegung so unwiderstehlich gewachsen war, und gefährliche Sirenengesänge finden selbst bei den Fähigsten Gehör. |
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