Geschichte meines Lebens
(1962)–Henry Van de Velde– Auteursrechtelijk beschermd
[pagina 421]
| |
Vierzehntes Kapitel
| |
[pagina 422]
| |
1925 fand Huysmans endlich einen Anlaß, seinen Plan zu verwirklichen: die Umwandlung der Universität Gent in ein Institut, in dem der Unterricht ausschließlich in flämischer Sprache erteilt werden sollte. Diese Maßnahme war das Ergebnis des Kampfes, den der flämische Bevölkerungsteil seit langen Jahren führte, damit eine der belgischen Staatsuniversitäten zur flämischen Domäne erklärt werde. Bei dieser Gelegenheit stand der Minister vor der Aufgabe, eine große Zahl von Professoren an die flämische Universität zu berufen, die der flämischen Sprache mächtig waren. Huysmans trug mir den Lehrstuhl für Geschichte der Architektur und des Kunstgewerbes an und beauftragte mich, zur gleichen Zeit in Brüssel ein kunstgewerbliches Institut ins Leben zu rufen, dessen Belgien, seiner Meinung nach, dringend bedurfte. Beide Ämter, die Professur in Gent und die Leitung des ‘Institut Supérieur des Arts décoratifs’ - kurz isad genannt - waren bestimmt, meine bescheidene Existenz zu sichern. Meiner privaten Tätigkeit als Architekt und Entwerfer sollte der Rest überlassen bleiben. Camille Huysmans erwartete meine Zustimmung und einen von mir aufgestellten Lehrplan, den er so rasch wie möglich dem König und dem Parlament vorlegen wollte, das über das Projekt des isad zu befinden hatte. Der Name des Institutes entsprach übrigens in keiner Weise seiner Struktur. Präziser wäre es gewesen, das Institut in die Klassen der Akademie einzureihen, was allerdings seine Unterwerfung unter bestimmte administrative Vorschriften zur Folge gehabt hätte. Gerade dies wollte Camille Huysmans, der meine unabhängige Natur kannte, vermeiden. So bewahrte mich die Bezeichnung isad vor allen bürokratischen Eingriffen und Kontrollen, abgesehen von der finanziellen Überwachung. Kaum waren die ministeriellen Entscheidungen Camille Huysmans' bekanntgeworden, da begann gegen ihn und mich eine Pressefehde von unerhörter Heftigkeit. Victor Horta setzte sich an die Spitze neidischer, mittelmäßiger belgischer Architekten, die er mit Leichtigkeit gegen mich aufwiegeln konnte, weil sie meine Autorität und Überlegenheit, vor allem aber meinen Wiedereintritt ins architektonische Berufsleben Belgiens fürchteten. Horta selbst hatte keinen Grund, sich über mich zu beklagen. Während ich in Deutschland und anderen Ländern Europas lebte und arbeitete, gab es für ihn keinen anderen Anlaß zu meiner Verfolgung als seinen Haß und Ehrgeiz. In meinem Konflikt mit Auguste Perret hatte er sich auf | |
[pagina 423]
| |
dessen Seite gestellt, vor allem als Perret nach Ende des Ersten Weltkrieges noch einmal versuchte, die Frage der Autorschaft an den Plänen des ‘Théâtre des Champs-Elysées’ mit einem Trick zu seinen Gunsten zu wenden und mich mit politischen Argumenten zu vernichten. War ich nicht bis 1917 in Weimar geblieben; hatte ich nicht in Bern freundschaftliche Beziehungen zu den bekanntesten internationalen Pazifisten gepflogen? Und haben diese Pazifisten in den Augen der rechtgläubigen Patrioten nicht mit den Deutschen kollaboriert, haben sie sich nicht an die Deutschen verkauft? Man muß wie ich als überzeugter und loyaler Pazifist gelebt haben, um sich die groteske Tragik solcher Vorwürfe vorstellen zu können. In der Schweiz hatte ich, seit ich meinen Fuß in Romanshorn auf helvetischen Boden gesetzt hatte, stets das Gefühl, einer schändlichen Spioniererei ausgeliefert zu sein. ‘Alles, nur nicht das!’ - dies war die Überschrift eines Artikels eines der wütendsten Zeitungsredakteure, die sich in den Dienst meiner Verleumder gestellt hatten, und dessen Ton in allen Zeitungsberichten wiederkehrte, die sich mit meiner Rückkehr nach Belgien befaßten. Das war die Atmosphäre kurz vor der Abstimmung des Parlaments über die Schaffung des ‘Institut Supérieur des Arts décoratifs’. Ich war so angewidert, daß ich nicht imstande war, mich auf die Vorlesungen zu konzentrieren, mit denen ich im Oktober 1926 am Institut für Archäologie und Architekturgeschichte der Universität Gent beginnen sollte. Hätte mich mein langjähriger Freund Camille Huysmans nicht den handschriftlichen Brief lesen lassen, den ihm König Albert I. nach der Prüfung meines Berichtes und des Programms für das neue Institut geschrieben hatte, hätte ich den Kampf aufgegeben. | |
Brüssel, den 2. März 1926Lieber Herr Minister, ich reiche Ihnen das Exposé über die Gründung des ‘Institut Supérieur des Arts décoratifs’ zurück, das wir unserem großen Künstler van de Velde verdanken. Mit lebhaftem Interesse habe ich von dem Inhalt des Exposés Kenntnis genommen, und ich danke Ihnen für die Übermittlung dieses Dokumentes. Es ist in hohem Maße wünschenswert - und ich sehe, daß dies auch Ihre Meinung ist -, daß van de Velde, der auf dem Gebiet der Kunst einen welt- | |
[pagina 424]
| |
weiten Einfluß ausgeübt hat, berufen wird, in seinem eigenen Lande entsprechend zu wirken. Stets, lieber Minister,
Ihr wohlgeneigter Albert
Dieser Brief belebte meinen Mut. Ich fuhr nach Kreuzlingen ins Sanatorium Bellevue, wo ich hoffte, wie früher schon einmal, meine verlorenen Kräfte wiederzufinden. Das Parlament stimmte der Schaffung des isad mit einer Majorität von nur wenigen Stimmen zu. Die Wahrheit gebietet mir, zu sagen, daß es letzten Endes nur der Sympathie König Alberts und der politischen Geschicklichkeit und Energie Camille Huysmans sowie der Belgischen Arbeiterpartei zu danken ist, daß ich meine Tätigkeit in Belgien wiederaufnehmen und von neuem alle meine Kräfte und Gedanken der Erneuerung der Architektur, des Kunstgewerbes und der Kunstindustrie widmen konnte. Nach meiner Rückkehr nach Brüssel - in Kreuzlingen hatte ich mich ausgezeichnet erholt, und Dr. Binswanger hatte der Wiederaufnahme meiner Tätigkeit zugestimmt - fand ich die Atmosphäre mir gegenüber noch überreizter, noch feindlicher, noch vergifteter als vor meiner Abreise. Die Infektionsherde waren die gleichen geblieben: die Presse und das Parlament, wo meine Feinde Unterstützung gefunden hatten. Die Methode war erweitert worden; Camille Huysmans, als mein Beschützer, wurde aufs Korn genommen. Ich habe eine Nummer des ‘Moniteur Belge’, des offiziellen Regierungsorgans vor mir, in dem die Fragen abgedruckt sind, auf die der Minister Camille Huysmans antworten mußte. Jeder Abgeordnete der Kammer oder des Senates hat in Belgien das Recht, jederzeit dem verantwortlichen Minister schriftlich Fragen zu stellen, die im allgemeinen dazu bestimmt sind, ihn in Verlegenheit zu bringen. Camille Huysmans antwortete auf die Fragen mit der seiner rechtschaffenen, direkten, ironischen Natur entsprechenden Festigkeit. ‘Frage: Ist es richtig, daß Herr Henry van de Velde, der während des Krieges im August 1914 die deutsche Nationalität erhalten hat, Inhaber des Lehrstuhls für Architekturgeschichte an der Universität Gent ist? | |
[pagina 425]
| |
Antwort: Die Neugier des Herrn Abgeordneten wird gewiß befriedigt sein, wenn er sich die Mühe nehmen wird, die Nummern des ‘Moniteur Belge’ vom 21. Oktober, 25. und 26. Dezember 1924 durchzulesen. Er wird dort die lückenlose Antwort auf seine Fragen finden. Was die Bedeutung betrifft, die der Herr Abgeordnete der Frage der Nationalität Herrn van de Veldes beimißt, so wird er ohne Zweifel mit Vergnügen den Brief des Prince Albert de Ligne, unseres Gesandten in den Niederlanden, lesen, der vom Außenminister beauftragt worden ist, einen Rapport auf Grund der Akten des belgischen Gesandten in Bern zu machen. ‘Bericht des Prince Albert de Ligne, belgischen Gesandten in Den Haag, an Herrn Emile Vandervelde, Minister des Auswärtigen in Brüssel: Ich habe erneut die Akten von Herrn Henry van de Velde im Hinblick auf die gegen ihn von bestimmten belgischen Zeitungen vorgebrachten Anklagen geprüft. Die erneute gründliche Prüfung hat ergeben, daß ich nur bestätigen kann, was ich Ihrem geschätzten Vorgänger am 12. Mai 1924 geschrieben habe. Ich erkläre noch einmal bei meiner Ehre: Daß Herr Henry van de Velde während seines Aufenthaltes in Deutschland und besonders im Laufe des Krieges nicht gegen die Ehre seines Vaterlandes gefrevelt und nicht gegen seine Pflichten als belgischer Staatsangehöriger gehandelt hat; daß sein Verhalten in jeder Beziehung vollständig korrekt gewesen und daß nichts Ungünstiges über ihn zu berichten ist. Er hat nie seine belgische Staatsangehörigkeit aufgegeben und hat das Recht, seinen Platz unter seinen Mitbürgern einzunehmen. gez. Prince de Ligne’ Was mich persönlich betrifft, so kann ich dem Herrn Abgeordneten versichern, daß ich Herrn van de Velde mit größter Freude einen Lehrstuhl der Architekturgeschichte und die Leitung des ‘Institut Supérieur des Arts décoratifs’ angeboten habe. Ich habe auf diese Weise einem Künstler den Dank abstatten können, der Belgien in Europa Ehre macht. Ich bedaure allein, daß ich ihm keine Besoldung geben konnte, die seinem Talent und den Angeboten entspricht, die ihm von anderer Seite gemacht worden sind. Ich danke dem Herrn Abgeordneten für seine Fragen. Er hat damit sein Interesse für die Entwicklung, Größe und Zukunft des belgischen künstlerischen Geistes bewiesen.’ | |
[pagina 426]
| |
In jedem anderen Land hätte eine solche Erklärung genügt, selbst die hartnäckigsten Feinde zu beruhigen und den Kampf zu beenden. Camille Huysmans ließ mir volle Freiheit bei der Wahl der Lehrer des Instituts. Auch die Ausarbeitung des Lehrplanes wurde mir völlig überlassen. Ich erwartete nicht, daß bei Eröffnung des Instituts der ganze Lehrkörper zusammengestellt und alle Werkstätten eröffnet werden könnten. Die Eröffnung fand ohne offizielle Zeremonie statt. Die Mehrzahl der Schüler war aus der Akademie und den ‘Ecoles de St. Luce de la Ville de Bruxelles’ ins neue Institut übergetreten. Meine Rückkehr nach Belgien und die Gründung einer unter meiner Leitung stehenden Schule wurden auch im Ausland bekannt. Sehr bald meldeten sich Schüler aus verschiedenen Ländern. Die Mitglieder meines Lehrkörpers setzten sich aus leidenschaftlichen Anhängern meiner Auffassung von der grundlegenden Bedeutung des Prinzips der vernunftgemäßen Gestaltung zusammen. Bei der Gründung des Instituts waren es zwölf Lehrer, die aus wallonischen und flämischen Künstlergruppen zu uns stießen. Im Laufe der ersten zwei Jahre des Bestehens des isad gab es verschiedene Personaländerungen. Zwei Todesfälle, Demissionen, deren Begründungen ich zustimmen mußte, und Rücktritte wegen Ungeeignetheit. Während dieser Zeit unterstützten und verteidigten die Redakteure verschiedener Zeitschriften, vor allem Pierre-Louis Flouquet, Maurice Casteels, Camille Pouppaye, Paul Werrie und Edward Léonard, mein Institut. Ich entschied mich, das Institut in einen Teil der Gebäude der Abbaye de la Cambre, die genügend Räume für die Werkstätten und Lehrsäle aufwiesen, unterzubringen. 1926, im Jahr meiner Rückkehr nach Belgien, fand in der Galerie Dietrich in Brüssel eine Ausstellung der Pläne und Perspektiven für das Kröller-Müller-Museum statt, die ein Bild seiner wichtigsten Ausstellungssäle und der Außenansichten vermittelte. Außerdem waren die Entwürfe für einen großen Block auf dem linken Schelde-Ufer von Antwerpen zu sehen, das dem Quartier des Stadthauses und der Kathedrale gegenüberliegt. Eine große Rötelzeichnung stellte das in der Mitte der Baugruppe gelegene ‘Tor von Flandern’ dar. Das Projekt bestand aus verschiedenen, bis zu zehn Stockwerken hohen Gebäuden, in deren oberen Teilen Privatwohnungen und | |
[pagina 427]
| |
deren unteren Geschossen Läden und Büros vorgesehen waren. Die Wohnungen waren durch Rampen mit der Allee verbunden, die auf der Höhe der Läden angelegt werden sollte. Der Wohn- und Geschäftsblock war als Beginn eines neuen Stadtteiles von Antwerpen geplant. Die Ausführung des Projektes wäre von großer Bedeutung gewesen, denn es umfaßte auch eine Autostraße, die nicht nur Antwerpen mit dem belgischen Hinterland, sondern vor allem auch mit den angrenzenden benachbarten Ländern verbunden hätte. Der Auftrag war mir von einer belgischen Immobilienfirma erteilt worden. König Albert hatte dem Premierminister seine volle Zustimmung ausgesprochen; es fehlte nur die Einwilligung des Bürgermeisters von Antwerpen. Politische Überlegungen bestimmten jedoch den Bürgermeister van Cannvelart, der mir an sich wohlgesinnt war und meinen Entwurf bewunderte, den Plan abzulehnen. Eine mit der belgischen Immobilienfirma geschäftlich verbundene schweizerische Finanzgruppe verlangte als Gegenleistung für ihre Beteiligung die Bewilligung zur Anlage eines schweizerischen Freihafens auf dem linken Schelde-Ufer, zu der sich die belgischen Behörden nicht entschließen konnten. Wieder einmal war es ein Interessenkonflikt, der für mich zu einer tiefen Enttäuschung führte. Diese Enttäuschung wurde durch die erfreuliche Entwicklung ausgeglichen, die mein Institut schon in den ersten Jahren seines Bestehens nahm. Ich konnte den Lehrkörper durch ausgezeichnete Mitarbeiter erweitern, von denen keiner seinen Posten verließ, solange ich die Direktion innehatte. Die Werkstätten wurden ausgebaut, und die Zahl der Schüler vermehrte sich. Königin Elisabeth brachte der Schule ihr besonderes Interesse entgegen. Sie besuchte uns mehrere Male. Ich sehe sie noch vor mir in der Tür zwischen dem Direktionszimmer und meinem Atelier, und ich höre noch, wie sie nach einem mehrstündigen Besuch der Werkstätten zu mir sagte: ‘Wie gerne würde ich in Ihrem Institut arbeiten.’ Nach vier Jahren intensiver Tätigkeit fand 1931 im Palais des Beaux Arts in Brüssel die erste Ausstellung von Schülerarbeiten des isad statt, über die in der belgischen Zeitschrift ‘Les Beaux Arts’ vom 19. Juni 1931 ein illustrierter Bericht erschien. Das isad, mein Brüsseler Institut, war die pädagogische Zitadelle, die dem Weimarer Bauhaus folgte. Mein 1902 gegründetes Seminar und die | |
[pagina 428]
| |
Weimarer Kunstgewerbeschule waren die erste. Die zweite war das Bauhaus. Als der Architekt Walter Gropius nach dem Ersten Weltkrieg als mein Nachfolger nach Weimar berufen wurde, verlangte er die Zusammenlegung der Kunsthochschule und der Kunstgewerbeschule. Er bat mich, wie auch einige Lehrer meiner Weimarer Schule, um Mitarbeit am Bauhaus, dessen Name schon die Absicht unterstrich, der Architektur wie einem Magneten die zentrale Rolle zuzuweisen. Zwangsläufig entstanden Schwierigkeiten zwischen dem neuen Direktor und der inzwischen ins konservative Lager abgeschwenkten Weimarer Regierung. Die Behörden der Stadt Dessau und eine Reihe dort befindlicher Industrieunternehmen zeigten sich im Gegensatz zu Weimar bereit, das Programm des Bauhauses weiterzuentwickeln. So wurde es nach Dessau verlegt. Die Gruppe hochbedeutender Künstler wie Klee, Kandinsky und Feininger hat freilich nichts dazu beigetragen, das Niveau der industriellen Produktion des Landes Anhalt zu heben. Trotzdem hat das Bauhaus eine Entwicklung verwirklicht, die alles, was mein Seminar und meine Weimarer Kunstgewerbeschule fast zwanzig Jahre vorher geleistet hatten, in den Schatten gestellt hat. Ich überlasse es der Kunstgeschichte, klarzustellen, welches Institut die erste Zitadelle gewesen ist und welches die Stelle war, an der die Flamme entzündet wurde, die das Feuer der neuen künstlerischen Überzeugungen in alle Welt trug. Das ‘Institut Supérieur des Arts décoratifs’ war die dritte Zitadelle, zu deren Leitung ich nach Belgien zurückgerufen wurde. Neuerdings wurde in Ulm die vierte Zitadelle, die ‘Hochschule für Gestaltung’, errichtet. Sie verdankt ihre Entstehung einer Frau, Inge Aicher-Scholl, und dem Schweizer Architekten Max Bill, der sich nach Schaffung einer Reihe bedeutender Werke entschlossen hatte, ihr Rektorat zu übernehmen. Das Institut, das dem Andenken der von der Hitler-Tyrannei hingerichteten Geschwister Inge Aicher-Scholls gewidmet ist, folgte dem Beispiel des Bauhauses. Die Beschwerden des Alters haben es mir nicht mehr gestattet, an der offiziellen Eröffnung dieses Instituts im Herbst 1955 teilzunehmen. In Ulm wäre vielleicht Gelegenheit gewesen, in Anwesenheit von Walter Gropius über die ‘Legende’ des Bauhauses zu sprechen und die Kämpfe in Erinnerung zu rufen, die ich und meine Mitstreiter seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts geführt haben. Ich hätte Gelegenheit gehabt, über die | |
[pagina 429]
| |
Höhepunkte dieser und auch der späteren Kämpfe zu sprechen, die für das Bauhaus eine besonders wichtige Rolle gespielt haben. | |
Der Siebzigste GeburtstagAn meinem siebzigsten Geburtstag glaubte die Regierung meines Landes, zum ersten Male eine offizielle Feier zu meinen Ehren wagen zu können, ohne sich selbst und mich feindseligen Kundgebungen auszusetzen. Die Zeremonie fand in einem überfüllten Saal des Palais des Beaux Arts in Brüssel in Anwesenheit der Behörden und vieler meiner Freunde statt, die der Einladung des damaligen Ministers des Unterrichts und der Künste, des Grafen Lippens, gefolgt waren. Zu Beginn der Feier überreichte mir der Minister im Namen König Alberts I. einen Brief. Ich las ihn und gab ihn dem Minister zurück, der ihn den Anwesenden vorlas. Der Brief war in Flämisch abgefaßt, was die anwesenden Flamen besonders begeisterte. Nach den verschiedenen Reden ergriff ich das Wort zu einer kurzen Vorbemerkung, in der ich die Anwesenden daran erinnerte, daß ich noch zu der Generation gehörte, die ‘das Flämische nur mit der Dienerschaft und dem einfachen Volk’ sprach, während sie sich sonst mündlich wie schriftlich des Französischen bediente. Ich sprach von der früheren schwierigen Situation, die die belgischen Dichter und Schriftsteller von Charles de Coster, Camille Lemonnier und Georges Rodenbach bis zu Emile Verhaeren, Maurice Maeterlinck, Charles van Lerberghe und Max Elskamp veranlaßte, ihre Werke in französischer Sprache zu schreiben, und viele von ihnen zur ständigen Übersiedlung nach Paris bewegt hatte. Ich rief das Gedächtnis an die Bestrebungen von Hendrik Conscience, Gezelle, Stijn Streuvels und Karel van de Woestijne wach, erinnerte an die Aktionen der flämischen Bewegung unter der Führung Pol de Monts und meines Freundes Auguste Vermeylen und fuhr ohne Übergang fort: ‘Der Gedanke eines ‘neuen Stils’ ist seit vierzig Jahren so eng mit meinem Leben verbunden, daß ich ihn geradezu als persönliches Abenteuer betrachten muß.’ Der Titel der Rede, die ich, nachdem ich meinen Vorrednern gedankt | |
[pagina 430]
| |
hatte, vorlas, lautete: ‘La Voie Sacrée’ (Der heilige Weg). Die Ansprache endigte mit folgenden Worten: ‘Kein Weg, keine Straße, keine Bahn wird die Architektur zu ihrer wahren Bestimmung führen, die nicht dem ‘Menschlichen’ entgegenführt. Seien Sie nicht enttäuscht, wenn ich verzichte, am Ziel des Weges eine Weihestätte zu errichten. Die Horizonte müssen offen bleiben, damit sichtbar wird, was wir - ewige Kämpfer gegen totgewordene Gesetze, Veteranen der großen Säuberungen - wiederentdeckt zu haben glauben: die Quelle der Vernunft, die Tausende herrlicher Dinge, Mensch und Tier erschaffen hat, deren ewige Formen erkennen lassen, was menschlich im Göttlichen und was göttlich im Menschlichen ist.’ Als sich Herr und Frau Kröller 1933 auf den Weg machten, um der offiziellen Feier beizuwohnen, die die belgische Regierung zu meinem siebzigsten Geburtstag veranstaltete, waren endlich die Würfel über das Schicksal des Museums von Otterlo im Park ‘De Hoge Veluwe’ gefallen. Kröllers konnten mir mitteilen, daß die holländische Regierung, gleichsam als Ehrung für mich, die Kosten für die Ausführung des Museums übernommen hatte. Mit der Verpflichtung, große Einsparungen vorzunehmen, wurde ich bald darauf vom holländischen Minister der öffentlichen Arbeiten beauftragt, die Pläne für ein ‘provisorisches’ Museum zu entwerfen. | |
Hendrik de Man und das OrecEin außergewöhnliches Ereignis lenkte meine Aktivität plötzlich in eine Richtung, die mir großen Einfluß ermöglichte. Mein Freund Hendrik de Man, Mitte der dreißiger Jahre belgischer Arbeitsminister, erhielt vom Finanzministerium unversehens zwei Milliarden Francs zur freien Verfügung, einen Betrag, der aus einer Operation der Geldentwertung herrührte. De Man sah sich plötzlich in der Lage, längst geplante Restaurierungsarbeiten und andere, dem gleichen Gebiet zugehörige Projekte zu verwirklichen. Nach reiflicher Überlegung wandte er sich an mich. Er war über meine Tätigkeit in Weimar und ihre positiven Ergebnisse für Sachsen-Weimar orientiert und wünschte, sie für unser Land dadurch fruchtbar zu machen, daß er die bevorstehenden Restaurierungsarbeiten und eine große | |
[pagina 431]
| |
Zahl von Neubauten meiner künstlerischen Kontrolle unterstellte. Also eine Art maskierter künstlerischer Diktatur! So wurde das orec gegründet (Office de Restauration Economique, Amt für wirtschaftlichen Aufbau). Hendrik de Man nahm mich als künstlerischen Beirat in sein ministerielles Kabinett auf und übergab die Leitung des orec seinem Kabinettschef, dem Ingenieur Bollenger, der vorher im Ingenieurbüro des Antwerpener Rathauses gearbeitet hatte. Als Trio von drei Antwerpnern machten de Man, Bollenger und ich das orec zu einem staatlichen Instrument erster Ordnung, das im Kampf gegen die Häßlichkeit für die Hebung des allgemeinen Geschmacks wirkte. Wir arbeiteten gleichsam ‘in Hemdsärmeln’, wie sich unser Chef, der Minister, ausdrückte. Unser Tätigkeitsfeld erstreckte sich rasch auf alle Abteilungen des Ministeriums und brachte uns sehr bald in Kontakt mit vielen Provinz- und Gemeindebehörden. Bollenger und ich machten Reisen zum praktischen Studium der architektonischen und technischen Fragen, die sich bei Um- und Neubauten stellten. Die Entscheidung des Ministers führte natürlich wieder zu einer Menge von Widerständen seitens gewisser Architekten. Es war nun einmal üblich geworden, mich als ein gefährliches Subjekt zu betrachten. Die Macht, über die ich verfügte, bedeutete eine schwere Bedrohung für die Routiniers, die gewohnt waren, es sich an der Futterkrippe des Staates bequem zu machen. Nun war mit einem Schlag den begabten, jungen Architekten der Weg geöffnet, denen es früher nie gelungen war, einen Staatsauftrag zu erhalten. Während die Arrivierten es selbstverständlich unter ihrer Würde fanden, ihre Projekte dem orec vorzulegen, häuften sich auf meinem Arbeitstisch im Ministerium die Pläne von Schulen, Kirchen und anderen Gebäuden sowie von Brücken und auch städtebauliche Projekte unbekannter, junger Architekten. Ich verließ um halb neun Uhr vormittags unser Haus ‘La Nouvelle Maison’, das ich in Tervueren gebaut hatte, und begab mich zum ‘Institut Supérieur’ in der Abbaye de la Cambre, nahm irgendwo ein kleines Mittagessen ein und verbrachte den Nachmittag im Ministerium, um erst zum Abendessen nach Hause zu kommen. Nach dem Essen widmete ich mich in meinem Atelier ohne Rücksicht auf Nachtruhe meinen privaten Aufträgen. | |
[pagina 432]
| |
In diesen Nachtstunden entwarf ich unter anderem die Inneneinrichtung der Waggons der Belgischen Staatseisenbahnen und der Postdampfer, deren erster, ‘Prince Baudouin’, mich mit dem jungen Ingenieur Raoul Grimard in Verbindung brachte, der erst vor kurzem sein Diplom gemacht hatte. Während drei bis vier Jahren arbeiteten wir aufs engste zusammen. Nach wenigen Sitzungen waren wir intime Freunde, für die der Altersunterschied keine Rolle spielte. Zudem stellten wir fest, daß wir die gleichen politischen und sozialen - sehr linken - Meinungen vertraten. Grimard bat mich, seine Pläne für einen Metallkörper des Postschiffs im Hinblick auf die zu erreichende Fahrgeschwindigkeit zu prüfen, welche die der vorhandenen Postschiffe übertreffen sollte. Auch über die Disposition der Räume sollte ich mein Urteil abgeben. Ich wiederum legte ihm dar, wie die geschmacklose Ausstattung der Schiffe behoben und wie Neuerungen eingeführt werden könnten, die nicht nur die Räume für die Reisenden, den Kapitän und die Mannschaft, sondern auch die ganze äußere Gestalt des Postschiffes betrafen. Es folgten der Bau eines zweiten Postschiffes, ‘Prince Albert’, sowie die Vorstudien für ein von der Sowjetregierung in Auftrag gegebenes Schiff, das auf der Werft Cocqueril erbaut werden sollte. Grimard wurde Direktor der Werft und mußte sich zu Verhandlungen nach Rußland begeben. Der strenge Winter, die anstrengenden, endlosen Verhandlungen, die seiner Natur zuwider waren, die Diskussionen mit käuflichen Funktionären erschöpften seine Kräfte. Nach einem halben Jahr kehrte er mit dem unterzeichneten Vertrag zurück. Aber er war am Ende seiner psychischen und physischen Kräfte und erlag nach unsäglichen Leiden einer heimtückischen Krankheit. Sein Name verdient, auf der Ehrentafel der Vorkämpfer des neuen Stils genannt zu werden. Die Jahre der Zusammenarbeit mit diesem jungen, enthusiastischen Freund zählen zu den schönsten und kostbarsten Erinnerungen meines Lebens. Grimards Tod hat mich betroffen, als ob er mein Sohn gewesen wäre. Ich frage mich heute manchmal, wie ich die Kraft aufbrachte, meine amtlichen Pflichten zu erfüllen und dazu noch die Privataufträge auszuführen, die mir in reichem Maß zukamen. Neben unserem eigenen Haus - ‘La Nouvelle Maison’ -, dem vierten und letzten, das ich für meine Familie errichtete (1927 entstanden), hatte ich folgende Aufträge auszuführen: das | |
[pagina *67]
| |
127 Henry van de Velde, siebzigjährig
| |
[pagina *68]
| |
128 Rijksmuseum Kröller-Müller, Otterlo, 1937/54
129 Plastiksaal des Rijksmuseums Kröller-Müller, Otterlo, 1952/53
| |
[pagina 433]
| |
Damen-Altersheim in Hannover 1929, das Haus Wolfers in Brüssel 1930, die Doppelvilla in Le Zoute 1931, die Einrichtung für die Marquise de Brion, die Schwester des Grafen Kessler, in Paris 1932, das Doppelhaus an der Avenue des Nations in Brüssel 1932, Haus und Klinik für Dr. Martens in Asten 1932, Haus Grégoire in Uccle 1933. Für die meisten dieser Bauten hatte ich auch die Inneneinrichtung zu entwerfen. Der große Kräfteaufwand für alle diese Schöpfungen und die stetige Überwachung der Schüler in meinem Institut, die nach den strengen Regeln der vernunftgemäßen Gestaltung unterrichtet wurden, haben mich gehindert, danach zu fragen, wann ich eigentlich dieses Prinzip zum ersten Male formulierte. In einem Vorwort des Generalprogramms der Kurse des ‘Institut Supérieur’ erwähnte der Architekt Huib Hoste, dessen Arbeiten sich durch besondere formale Strenge auszeichneten, daß das Grundprinzip, das ich für sämtliche Kurse des Instituts aufgestellt hatte: die Funktion zeugt die Form, sich schon in dem Vortrag ‘Prinzipielle Erklärungen’ findet, den ich in Berlin im Jahre 1900 gehalten habe. Ich hatte damals keine Ahnung, daß der amerikanische Architekt Louis Sullivan nach seiner Rückkehr von der Ecole des Beaux Arts in Paris, in Opposition zur akademischen Doktrin, ungefähr der gleichen Überzeugung Ausdruck verliehen hatte, als er sagte: ‘Form follows function’ (Die Form folgt der Funktion). Die Koinzidenz ist bemerkenswert. Zur gleichen Zeit wurde auf beiden Hemisphären die Rückkehr zur vernunftgemäßen Gestaltung aufs Schild erhoben. | |
Die Pariser Weltausstellung 1937Unter den Mitgliedern der Regierung wurde der Wirtschaftsminister Philippe van Isacker mein besonderer Gönner. Seine politischen Ansichten waren meinen Idealen und sozialen Überzeugungen zwar entgegengesetzt, aber er war sich darüber klar, welche Dienste ich Belgien als künstlerischer Berater durch meine Schule und die Funktion leisten konnte, die mir sein Kollege Hendrik de Man übertragen hatte. Ich verdankte van Isacker meine Stellung bei den Belgischen Staatseisenbahnen, die auch zu meiner Mitarbeit an den Postdampfern geführt hatte. | |
[pagina 434]
| |
Van Isacker ernannte mich zum Präsidenten der Technischen Kommission des Generalkommissariates für die Weltausstellung von 1937 in Paris. Die Kommission hatte die Aufgabe, die Sachverständigen für die Ausstellung zu bezeichnen. Als ihr Präsident stand ich an der Spitze der von der Regierung für den Bau und die Einrichtung des belgischen Pavillons bestimmten Architekten. Der Generalkommissar der Ausstellung, Baron Vaxelaire, ließ sich bei allen Sitzungen und Beratungen durch seinen Assistenten Jean de Marmol vertreten. Gleich beim ersten Kontakt mit Jean de Marmol erkannte ich in ihm einen Mitarbeiter, der mit Begeisterung mitwirken würde, Belgien den Platz wiederzuerobern, den seine Kunsthandwerker und Manufakturen in der Vergangenheit eingenommen hatten. Obwohl die Bewegung zur Wiedergeburt des Kunstgewerbes am Ende des 19. Jahrhunderts von Belgien ausgegangen war, hatte man die Stagnation nicht überwunden, die bei den internationalen Ausstellungen in Turin (1902), Brüssel (1910), Gent (1913), London (1929), Antwerpen und Lüttich (1931), Chicago (1933) und Brüssel (1935) in den belgischen Pavillons in erschreckender Weise in Erscheinung getreten war. Für die Pariser Ausstellung von 1937 stellte der französische Generalkommissar Labbe ein Programm zur Hebung des allgemeinen ästhetischen Niveaus der Ausstellung auf. Seit 1934 beschäftigte er sich unablässig mit diesem Gedanken. Bei einem Vortrag im ‘American Club’ in Paris forderte er, es müsse der Pseudo-Zivilisation ein Ende gesetzt werden, ‘die den Geschmack der Massen verdirbt und sich nicht darum kümmert, sie zu erziehen.’ In bezug auf das Programm, das er in den künstlerischen Kreisen der für die Ausstellung von 1937 eingeladenen Länder entwickelte, prophezeite Labbe, seine Verwirklichung werde zukunftsweisend sein. Sein Ziel war eine thematische Ausstellung. Seiner Auffassung nach sollte die Pariser Ausstellung den Beweis erbringen, ‘daß die Kunst das Dasein der Menschen schöner und freundlicher gestaltet, daß zwischen dem Schönen und dem Nützlichen kein Gegensatz besteht und daß Kunst und Technik unauflöslich verbunden sein müssen.’ Dem Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, werden diese Gedanken und Worte vertraut klingen. Sie gehen auf das Programm der Kölner Werkbundausstellung von 1914 zurück, auf die Grundsätze des Werkbundes überhaupt, auf die Prinzipien meiner Arbeit im Großherzogtum Sachsen- | |
[pagina 435]
| |
Weimar und darüber hinaus auf die Mission, der ich mich seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts geweiht habe. Meine Mitarbeiter beim Entwurf und bei der Ausführung der Pläne für den belgischen Pavillon waren zwei meiner treuesten Schüler und Anhänger: der Architekt Jean Eggericx und Raphael Verwilghen, beide Lehrer am isad. Nachdem wir uns eines lästigen Kollegen entledigt hatten, der sich als Schüler der Brüsseler Akademie in unsre Gruppe einschleichen wollte, waren Machenschaften und Intrigen ausgeschlossen. Eine der schönsten Stellen des Ausstellungsgeländes stand uns am Pont d'Iéna auf dem linken Seine-Ufer am nördlichen Fuß des Eiffelturmes zur Verfügung. Der große Baukörper des Pavillons präsentierte sich als eindrucksvolle, mit roten Tonplatten verkleidete einheitliche Form. Unter Einbeziehung der vorhandenen monumentalen Treppe machte das auf zwei Ebenen verteilte Gebäude den Eindruck einer architektonischen Komposition, die bestehen bleiben sollte. Eine Hauptlinie, die das Brückengeländer fortsetzte, umgab den ganzen Bau, auf dessen unterer Partie sich die reiche Folge mehrerer Flügel ausbreitete. Der zu Schiff erreichbare Eingang am Seine-Ufer führte in die Säle für Tourismus, mit Film und Diorama. Dieser Teil des Quais wurde in einen Garten verwandelt, in dem sich Skulpturen von Ernest Wynants, Georges Minne - von diesem eine in ihrer Einfachheit ergreifende Plastik ‘Patrie’ - und ein schönes Werk des wallonischen Bildhauers Puvrez befanden. Ohne Anmaßung darf ich sagen, daß der Pavillon als Architektur dem ‘Neuen Stil’ unter den Besuchern der Ausstellung Millionen von Freunden verschafft hat. Was das Ausstellungsgut betraf, hatte keines der ausstellenden Länder - ausgenommen die nordischen Länder Schweden, Norwegen und Finnland - sich so genau wie Belgien an das ‘Programm Labbe’ gehalten. Unsre technische Kommission sah ihre Hauptaufgaben darin, der belgischen Kunstindustrie, die eine lange Periode der Lethargie hinter sich hatte, neues Blut zuzuführen. In diesem Sinn appellierte sie an die Zeichner und Modelleure, meist frühere Schüler des isad, um neue Modelle und Formen zu erhalten. Sie konnte mit den vom Generalkommissariat und der Regierung bewilligten finanziellen Mitteln frei schalten, so daß es möglich wurde, den Künstlern und Kunsthandwerkern Ateliers und Industriebetriebe zur Verfügung zu stellen, die ihre Entwürfe ausführten. Im großen illustrierten | |
[pagina 436]
| |
Katalog des belgischen Pavillons in Paris hat der Kunstkritiker René Lyro den Pavillon und seinen Inhalt ausführlich beschrieben. Dabei hebt er die Bedeutung der Arbeit der von mir präsidierten Kommission hervor und schließt seine Darlegungen mit folgenden Worten: ‘Der Name des Mannes, der dieser Kommission vorstand, genügt, um das Programm zu kennzeichnen, an dem die Künstler, Kunsthandwerker und Industriellen unseres Landes begeistert mitgearbeitet haben.’ Thematische Ausstellungen, wie es die Pariser Weltausstellung 1937 wenigstens in gewissem Maße gewesen ist, sind meiner Meinung nach die einzig sinnvollen, die der Hebung des allgemeinen Geschmacks dienen. Sie erfüllen gleichsam die Funktion einer ‘Kur’. Die Orte, an denen sie stattfinden, sind ‘Badeorte’, wo Schritt um Schritt der Sinn für die ‘reine Form’ geweckt wird, der zum wahren Begriff des Schönen zurückführt. | |
Weltausstellung New York 1939/40Bei der Vorbereitung der belgischen Abteilung für die New Yorker Weltausstellung, an der sich die belgische Regierung wieder beteiligte, hatte ich eine ähnliche Funktion wie bei der Pariser Ausstellung. Minister van Isacker, der mir und dem ich immer wachsende Sympathie entgegenbrachte, machte mich mit dem Generalkommissar der belgischen Abteilung, dem Direktor der weltbekannten Firma für photographische Produkte N.V. Gevaert, bekannt. Man besprach kurz das Programm mit den beiden Architekten Victor Bourgeois und Léon Stynen, die unter meiner Leitung zur Ausführung des Pavillons bestimmt wurden - Bourgeois ein Wallone, Stynen ein Flame -, man diskutierte den Aufbau und die Gruppen, die zur Beteiligung eingeladen werden sollten. Im Gegensatz zur Pariser Ausstellung 1937 war die New Yorker Weltausstellung unter keinem allgemeinen Thema aufgebaut. Es gab keine Einschränkungen; Produkte aller Art waren zugelassen, von der Schwerindustrie bis zum winzigsten Gegenstand. Bei der ersten offiziellen Sitzung einigte man sich auf die Einrichtung eines ‘technischen Dienstes’, der für New York in gleicher Weise funktionieren sollte wie vorher für Paris. Die Zahl der Mitglieder war kleiner. | |
[pagina 437]
| |
Die meisten hatten schon der Pariser Gruppe angehört. Als neuer Mitarbeiter wurde unter anderen der Kunstschriftsteller van Avermaete aufgenommen, der in Antwerpen eine moderne künstlerische Gruppe und eine kleine Kunstgewerbeschule nach dem Vorbild des isad gegründet hatte. Die Eröffnung des Pavillons, zu der ich nach New York fuhr, trug mir zahlreiche persönliche Ehrungen ein, in die ich meine Freunde und Mitarbeiter Léon Stynen und Victor Bourgeois, die ebenfalls nach New York gekommen waren, mit Vergnügen einbezog. Léon Stynen und Victor Bourgeois fuhren auf Einladung des Ausstellungskommissars über Kanada zurück; ich nahm den direkten Weg über den Atlantik, aber auf einem weniger luxuriösen Schiff als der ‘Normandie’. Die modische Geschmacklosigkeit ihrer Einrichtung hatte auf der Hinfahrt eine katastrophale Wirkung auf mich gehabt. Es herrschte ein solcher Sturm, daß Herr Gevaert und ich fast die einzigen Gäste im Speisesaal waren, wo alles, was nicht angeschraubt war, wild hin- und herflog. Aber der ‘Haute-couture’-Stil der ‘Normandie’ verursachte mir mehr Übelkeit als der ungewöhnlich hohe Seegang. Das bescheidenere Schiff, das für die Rückfahrt einige Tage mehr benötigte, gab mir bei herrlichem Wetter die Möglichkeit, in Ruhe die Eindrücke zu überdenken, die ich während mehrerer Wochen in New York empfangen hatte. Ich hatte neue Freunde gefunden, die ich bei späteren, weniger gehetzten Aufenthalten in Amerika wieder zu treffen hoffte. Ich sah, daß ich bei den Anhängern einer neuen vernunftgemäßen Architektur und der in Europa entstandenen Tendenz zu reiner, primärer Formgestaltung, die übrigens auch in den Vereinigten Staaten in Erscheinung getreten war, als ‘Vater’ des neuen Stils angesehen wurde. New York besaß übrigens mit dem 1931 begonnenen Rockefeller-Center ein höchst imponierendes, vorzügliches Beispiel dieses Stils. Während ich in einem Liegestuhl auf Deck lag und den weiten Horizont und das grenzenlose Meer betrachtete, das sich wie der glitzernde Zinnspiegel eines Schweizer oder italienischen Sees vor mir ausbreitete, kam mir der frühere Präsident der usa Herbert Hoover in den Sinn, der unseren Pavillon dem belgischen Gesandten gegenüber nicht genug hatte loben können. Auf eine Frage des Gesandten, was Hoovers stärkster Eindruck während seiner kürzlichen Belgienreise gewesen sei, antwortete der frühere Präsident: ‘Natürlich der Turm der | |
[pagina 438]
| |
Bibliothek in Gent!’ Der Gesandte hatte jede andere Antwort erwartet. Ich erinnerte mich an die Liebenswürdigkeit einiger hoher Beamten des New Yorker Büros für öffentliche Arbeiten, die mir im Umkreis von vielen Kilometern Vorstädte, Brücken, Autostraßen und andere Anlagen der modernen städtebaulichen Methode zeigten, die alle perfekt gelöst waren. Ich sah auch Bezirke der Slums, diese Krebsschäden der Städte, an deren Beseitigung mit aller Energie gearbeitet wurde. Dann kam mir die Erinnerung an den Besuch in einem der größten Warenhäuser New Yorks in den Sinn, in dem sich ein ganzes Stockwerk mit Einrichtungsgegenständen im ‘Neuen Stil’ befand. Mein lebhaftes Interesse und die Überraschung, so viele ausgezeichnete neue Dinge zu sehen, erregte die Aufmerksamkeit eines der Direktoren. Er sprach meinen Begleiter, einen seit Jahren in New York wohnenden belgischen Künstler, an, der ihm meinen Namen nannte. Sein Gesicht leuchtete auf, und wir befanden uns augenblicklich in angeregtem Gespräch. Ich brachte mein Erstaunen zum Ausdruck, hier eine Zusammenstellung von Gegenständen zu finden, wie ich sie seit der Ausstellung im belgischen Pavillon in Paris nie mehr in solcher Qualität gesehen hatte, worauf er mir das Geheimnis enthüllte: es waren in großer Zahl deutsche und österreichische Entwerfer, die nach Hitlers Maßnahmen gegen die ‘entartete Kunst’ rechtzeitig emigriert waren und in Amerika das Land gefunden hatten, in dem sie ihren Beruf frei ausüben und sich eine neue Existenz gründen konnten. Auch in den Ateliers des Warenhauses war eine Reihe solcher europäischer Zeichner tätig. Der Direktor stellte sie mir vor. Ich kannte keinen von ihnen mit Namen; aber sie freuten sich alle, ein paar Worte mit mir zu wechseln, in dem sie den Ahnherrn der modernen Gesinnung sahen, von der ihre eigene Arbeit getragen war. Das Feuer, das in ihren Augen glänzte, und die Wärme, mit der sie mir die Hand drückten, gehören zu den besonders schönen Erinnerungen, die mich in jenen Tagen glücklicher Meditation bewegten. Ich dachte auch an die vielen außergewöhnlich schönen Frauen zurück bei den zahlreichen Empfängen der verschiedenen Ausstellungskommissare, die als echte Lebenskünstler rauschende Feste zu veranstalten verstanden. Ich konnte die Schönheit dieser amerikanischen Frauen, die so anders ist als die Schönheit der Französinnen, Italienerinnen, der Deutschen oder der flämischen Rubens-Typen, nur mit der der Schwedinnen verglei- | |
[pagina 439]
| |
chen. Vor meiner Abreise hatten Amerikanerinnen den Raum des Generalkommissariats, der mir zugewiesen worden war, mit Blumen überschwemmt. Ich nahm die Blumen mit aufs Schiff, konnte sie aber nicht alle nach Tervueren mitnehmen. Was tun? Ich nahm von jeder Sorte eine Blume, legte sie in eine Schachtel, und mein Steward expedierte sie auf dem raschesten Weg zu den Meinen. Ich selbst hatte vor meiner Rückkehr nach Tervueren noch ein paar Tage in Paris zu tun. In Brüssel bereitete es mir einige Mühe, mich wieder einzugewöhnen, nachdem ich eine Zeitlang in New York in einer Atmosphäre mit weiten Perspektiven und unbegrenzten Horizonten gelebt hatte. Aber die Arbeit, die ich wiederaufnahm, hatte nichts von ihrer Bedeutung und Wichtigkeit verloren. Die Aufgaben des orec waren in ständigem Wachsen begriffen und verlangten von mir und meinem jungen Mitarbeiter Marcel Gérard, der die Architekturabteilung des ‘Institut Supérieur’ mit Auszeichnung absolviert hatte, unsere ganze Kraft. Gérard wurde Chef meines Privatbüros. | |
Bau der Genter UniversitätsbibliothekDas jammervolle System tropfenweiser Subventionen, die, kaum bewilligt, von der Maschinerie der Bürokratie noch gekürzt werden, machte den Bau der 1936 begonnenen Bibliothek der Universität Gent zu einem wahren Leidensweg. Es dauerte volle sieben Jahre, bis sie einigermaßen fertiggestellt werden konnte! Für einen privaten Auftraggeber hätte ein Gebäude dieses Umfangs leicht in zweieinhalb Jahren errichtet werden können. Das vom belgischen Staat festgesetzte Architektenhonorar betrug 2,5 Prozent der Bausumme, von denen mein administrativer Mitarbeiter Professor Jean-Norbert Cloquet ein Drittel erhielt. Meine zwei Drittel deckten nicht einmal die Kosten meines Büros, und mein Buchhalter machte mich darauf aufmerksam, daß die Verluste, die durch das Zögern und die Intrigen der verschiedenen Amtsstellen untereinander entstanden, mich langsam an den Rand des Ruins bringen würden. Andrerseits gebe ich gern zu, während der siebenjährigen Bauzeit der Genter Bibliothek zu meiner großen Freude | |
[pagina 440]
| |
eine Reihe hoher Beamter kennengelernt zu haben, die von den modernen künstlerischen Prinzipien überzeugt waren. Leider war ihre Zahl aber zur wirkungsvollen Bekämpfung des schlechten Geschmacks und der Verantwortungslosigkeit der Mehrheit zu klein. Mein letztes Werk auf dem Gebiet der Inneneinrichtung war ein Bibliotheksraum in der unweit Brüssel gelegenen herrschaftlichen Villa der mit mir freundschaftlich verbundenen Baronin Hansi Lambert. Diesem Raum war nur eine kurze Lebensdauer von wenigen Wochen beschieden, und nur wenige werden ihn gesehen haben. Die Baronin betrachtete ihn als einen Schmuckkasten, in den sie sich allein zurückziehen konnte, um sich von der fieberhaften Hast zu erholen, die ihre Rolle als Hausherrin und Gastgeberin mit sich brachte, wenn in den Sommermonaten Gäste aus aller Welt nach Futschi kamen, wo es summte wie in der Volière eines zoologischen Gartens. Für den von mir entworfenen Bibliotheksraum gab es kein Vorbild; das angewandte Prinzip hatte aus einem sehr einfachen Grund wenig Aussicht, weiterentwickelt zu werden oder Schule zu machen: die Anlage war sehr kompliziert und überaus kostspielig. Normalerweise sind die Bibliotheksräume direkt beleuchtet; bei meinem Entwurf gab es nur indirektes Licht, das von den Büchern ausging, die das Fluidum verbreiten, das den Geist erhellt und in Bewegung setzt, das die Erregung dessen erweckt, der den Kontakt mit ihnen sucht. Es war meine Absicht, eine geistige Atmosphäre zu erzeugen. Auch das natürliche Licht war in die Gesamtgestaltung einbezogen, welche Tageszeit oder Wetterbedingungen auch immer sein mochten. So hatte das Ganze wirklich etwas von einem Schmuckkasten. Die Wände waren mit ungebleichtem Manchester bespannt, die schweren Vorhänge aus dem gleichen Gewebe. Ein dichter Teppich aus Naturwolle mit abstrakt-linearen Ornamenten und hölzerne Sessel in der gleichen Farbe vervollständigten die Raumstimmung. Die Bücherregale bestanden aus einem Gerüst aus Aluminium mit matten Scheiben, hinter denen die Titel der Bände gut lesbar waren; dadurch, daß die Bücherreihen vor einem beleuchteten Hintergrund standen, erschienen sie als Einheit. In den üblichen Bibliotheken holt sich der Leser das einzelne Buch; hier wurde ihm ihr Inhalt gleichsam zugesandt; ein Eindruck, den ich durch eine immaterielle Harmonie erreichte, die jedes Gefühl von Schwere ausschloß. Nachdem die New Yorker Weltausstellung verlängert worden war, er- | |
[pagina *69]
| |
[pagina *70]
| |
131 Belgischer Pavillon der Weltausstellung Paris, 1937
132 Belgischer Pavillon der Weltausstellung New York, 1939/40
| |
[pagina 441]
| |
hielt ich vom ‘American Institute of Architecture’ eine Einladung zur Teilnahme am XV. Internationalen Architektur-Kongreß in Washington im September 1939. Parallel dazu kam die Aufforderung, mit einigen Kollegen die wichtigsten der großen Zentren der Vereinigten Staaten zu besuchen. Das Generalthema des Kongresses lautete: ‘Die heutige Architektur und die Architektur der Vergangenheit’. Es sollte in drei Sektionen geprüft und diskutiert werden, jeweils nach den Gesichtspunkten der technischen, ästhetischen und sozialen Zusammenhänge. Für die Diskussion jeder Sektion war ein einleitender Vortrag vorgesehen. Ich wurde gebeten, die Einleitung der Sektion ‘Ästhetik’ zu übernehmen. Beide Einladungen nahm ich mit Vergnügen an und begann, mir Notizen für meinen Vortrag zu machen. Es konnte keine günstigere Gelegenheit, kein bedeutenderes Forum geben, um einmal mehr meine Kritik an der Architektur zum Ausdruck zu bringen, die in der Vergangenheit zu Verirrungen, Abweichungen und Verstößen gegen das Prinzip der vernunftgemäßen Gestaltung geführt hat, deren vergiftende Wirkung ich seit mehr als einem halben Jahrhundert bekämpfte. Mir schien der Augenblick gekommen, in dem ein Gerichtshof von Fachleuten ein endgültiges Urteil über diese Fragen würde fällen können. Ich sah eine Diskussion zwischen den gelehrten Historikern und frenetischen Anhängern der Renaissance, des Barocks und anderer verderblicher Stile einerseits und den Vertretern des Prinzips der vernunftgemäßen Gestaltung andrerseits voraus, die als Ankläger auftreten würden. Ich war überzeugt, daß die Frage der Koexistenz von Logik und Phantasie zur Sprache kommen würde, die von den nie um verfängliche Argumente verlegenen Schwätzern in dem Sinne beantwortet wird, daß das Ziel - die Schönheit - auf den zwei entgegengesetzten Wegen erreicht werden kann: durch Umkehrungen gleichsam, indem Konstruktionselemente in dekorative Motive verwandelt werden, oder, noch schlimmer, indem sie, der Zusammenhänge beraubt, gar nicht mehr imstande sind, irgendeine sinnvolle Funktion zu erfüllen. Ich wollte das Versagen von Renaissance und Barock an den Pranger stellen, die Gefahr für die Zukunft der Architektur aufzeigen und die Bahn für die Arbeit der Revolutionäre frei machen, zu denen ich mich mit meinen Freunden zählte. In den Wochen, in denen ich an den Aufzeichnungen für meinen Vortrag | |
[pagina 442]
| |
in New York arbeitete, focht ich einen Kampf mit einer Kommission der Kunstverwaltung aus, die mit der Ausarbeitung von Vorschlägen für eine Reorganisation der Kunsterziehung beauftragt worden war. Jedes Mitglied der Kommission, ob Maler, Bildhauer, Architekt oder Komponist, hatte der Leitung der Kunstverwaltung ein Programm zu unterbreiten. Ich schlug für den Architekturunterricht einen Lehrplan vor, der auf enger Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur beruhte, die nicht allein zu einer vorübergehenden Annäherung, sondern zu einer eigentlichen Union führen sollte. Zahlreiche neue technische Erfindungen haben zu einer Spezialisierung geführt, durch die dem Ingenieur die Anlage der Heizung, der Beleuchtung, der Klimatisierung und die sanitäre Installation überlassen wird. Der Architekt verläßt sich auf die Arbeit des Spezialisten. Aber der Bauherr möchte einen kompetenten Berater haben, auf den er sich verlassen kann, damit die Kostenanschläge nicht überschritten werden. Bisher war in Belgien das Studium der Architektur den Akademien und Universitäten eingegliedert. Angesichts der entscheidenden Bedeutung der technischen Bereiche der Architektur sollte meiner Meinung nach der Architekturunterricht vernünftigerweise an den Technischen Hochschulen stattfinden. Kunst und Wissenschaft stehen heute in enger Verbindung. Die Baukunst kann ohne ständigen Kontakt mit der Wissenschaft nicht mehr ausgeübt werden. Die Kunst, die heute ohne die Wissenschaft nicht mehr auszukommen vermag, muß sich der Wissenschaft nähern; umgekehrt wird die Wissenschaft aus dieser Annäherung nur Gewinn ziehen. Mein Vorschlag zur Reorganisation des Architekturstudiums beruhte auf der gemeinschaftlichen Ausbildung des Architekten und des Ingenieurs. Beide sollten während zweier Jahre die gleichen Kurse durchlaufen. Nach Ablauf dieser zwei Jahre sollte es dem Studenten überlassen bleiben, sich für den einen oder den anderen Beruf zu entscheiden. Während des dritten und vierten Studienjahres war getrennte Arbeit vorgesehen, die der Erlangung der besonderen Fachkenntnisse dienen sollte. Aber der Kontakt zwischen Architekt und Techniker mußte dann schon spielen. Im fünften Studienjahr, in dem der angehende Architekt die Abschlußarbeit vorzulegen hat, sollte er Ingenieure zur Mitarbeit heranziehen, damit auch die anspruchsvollsten Prüfungsarbeiten den Grad der praktischen Baureife erreichten, der bei dem bisherigen Unterrichtsplan nicht erzielt werden konnte. | |
[pagina 443]
| |
Ich erwartete nicht, daß mein Vorschlag ernsthaft in Betracht gezogen würde, da ich wußte, daß die Regierung entschlossen war, die Bedingungen für ein Architekturdiplom festzusetzen, das gerade noch genügte, das Niveau der Architektur ein wenig zu heben und zu verhindern, daß die Bauunternehmer ihre Kunden zum Verzicht auf die Mitarbeit eines Architekten veranlassen würden. Natürlich auch, um die Autodidakten auszuschalten - nein, auf sie hatte ich es nicht abgesehen. Sie sind seltene Vögel, über die man sich freuen sollte. Die Überlegungen der Behörden waren simpel: das Diplom kann alles, außer die Minderbegabten zu hindern, ihr Ziel nicht zu erreichen! | |
Der Zweite Weltkrieg - Ausklang in BelgienIm Jahre 1939 lebte Europa im Zustand ständiger Angst. Ein dumpfes Grollen verkündete den Ausbruch des Vulkans. In dieser unsicheren Situation schien mir die Teilnahme am Internationalen Architektur-Kongreß in Washington fraglich, der auf September festgesetzt worden war. Ich fragte meinen stets ausgezeichnet informierten Freund, den Staatssekretär Dr. Wilhelm Solf um Rat. Er brachte mich mit einem amerikanischen Oberst zusammen, der seinerseits den Präsidenten Roosevelt über die Vorgänge in Deutschland auf dem laufenden hielt. Die ständigen provozierenden Ausfälle Hitlers erhöhten die Spannung. Der Oberst riet mir ab, Europa zu verlassen. Wohl könne er mir die Einreise nach den Vereinigten Staaten verschaffen, meine Rückkehr nach Belgien sei jedoch nicht zu garantieren. Er hielt es übrigens für sehr unwahrscheinlich, daß der Kongreß stattfände, da alle nach den Vereinigten Staaten eingeladenen Europäer sich in der gleichen Lage befänden wie ich. Inzwischen brach der Krieg aus. Die ‘drôle de guerre’ der letzten Monate des Jahres 1939 und des beginnenden Jahres 1940 verursachte in Belgien wie in allen anderen zunächst neutralen Ländern wachsende Unruhe. Die Blitzkriege Hitlers führten zur Besetzung Polens, Hollands und Belgiens, Luxemburgs und Frankreichs, Dänemarks und Norwegens. In Brüssel hörten wir Kanonendonner. In der Dämmerung eines wun- | |
[pagina 444]
| |
derbaren Maitages 1940 durchpflügten Hunderte deutscher Flugzeuge den Himmel. Zwei oder drei Bomben zerstörten einige Häuser an der Allee, die vom Palais du Cinquantenaire nach Tervueren führt. Ich ging zum Ministerium der Öffentlichen Arbeiten und traf auf den großen Boulevards deutsche Soldaten, die unter die unschuldigen Kinder Schokolade und andere Schleckereien verteilten. Auf dem Wege begegnete ich dem Prinzen Albert de Ligne, der nach den ersten Gerüchten über die Absichten Hitlers von Rom, wo er belgischer Botschafter war, nach Brüssel gekommen war. Er beglückwünschte mich, daß ich auf meinem Posten verblieben war, anstatt dem Flüchtlingsstrom zu folgen. Die Mitglieder der Regierung hatten ihre Posten verlassen und sich nach London begeben. Sie glaubten, dem persönlichen Aufruf König Leopolds III. an die Bevölkerung und an die Beamten, im Lande zu bleiben, nicht folgen zu müssen. Ich hatte mich schon vor dem Erscheinen der deutschen Armeen in Belgien und Holland und für den Fall der Besetzung unsres Landes entschlossen, mein Haus und meine Heimat nicht zu verlassen. Der Generalsekretär des Ministeriums der Öffentlichen Arbeiten übernahm automatisch die Funktionen des Ministers, dem ich zugeteilt war. Im Hinblick auf meine Aufgabe als Berater und auf die Tatsache, daß mir die Sprache unsrer Feinde geläufig war, machte mich der Generalsekretär auf die Dienste aufmerksam, die ich während der Besetzung leisten könnte, und appellierte an meinen Patriotismus. Für mich begann die Zeit, in der meine Hauptsorge der Pflege meiner Frau galt, die an einem unheilbaren Leiden erkrankt war. Mehr als ein halbes Jahrhundert hatte sie uns ihre Liebe geschenkt, für uns gesorgt, die Kinder mit aller Zärtlichkeit groß werden lassen. Sie war die treue Helferin, die mich bei der Erfüllung meiner Mission jederzeit unterstützte. Meine Kinder standen mir bei der Pflege ihrer Mutter mit aller erdenklichen Hingabe zur Seite und brachten von Fahrten auf das Land für die Kranke Dinge mit, die man in der Stadt selbst für Gold nicht mehr kaufen konnte. Der Tod dieser wundervollen Frau war eine Erlösung für sie wie für uns. Nun widmete ich mich wieder mit allen meinen Kräften der mir vom Schicksal gestellten Aufgabe des Wiederaufbaus. Im Laufe der verzweifelten, heldenhaften Verteidigung waren eine Unmenge Brücken gesprengt und Straßen miniert worden. Die Wiederherstellungen gaben die erwünschte Ge- | |
[pagina 445]
| |
legenheit zu vielen Verbesserungen. Das orec, das als Organisation intakt geblieben war, nahm die Tätigkeit wieder auf. Ich wurde zum Leiter des Wiederaufbaus ernannt und Charles Verwilghen, der bisher Kabinettschef im Wirtschaftsministerium gewesen war, ebenfalls in die Leitung des Wiederaufbaus berufen. Wir arbeiteten in absolutem gegenseitigem Vertrauensverhältnis, nachdem er meine Achtung ebenso rasch gewonnen hatte wie ich die seine. Das frühere Trio Bollenger, de Man, van de Velde verlor allerdings seinen leitenden Kopf. Hendrik de Man war als einziger Minister an der Seite von König Leopold III. verblieben und kämpfte während der Wochen des Widerstands in den Reihen der legalen Armee. Er dachte auch während der Besetzung nicht daran, den König im Stich zu lassen, der ihn wie die Königinmutter Elisabeth als einen wahren Freund betrachtete. Die Königinmutter wich nicht von der Seite ihres Sohnes, wie sie während des Ersten Weltkrieges nicht von der Seite ihres Gatten, des Königs Albert I., gewichen war, dem Hendrik de Man die gleiche Verehrung entgegenbrachte wie ich selbst. Es steht mir nicht zu, über de Man und seine früheren Kollegen in der belgischen Regierung zu Gericht zu sitzen. Aber es widerspricht meinem Gefühl für Gerechtigkeit und meiner Überzeugung von der vollkommenen Loyalität de Mans seinem Vaterland gegenüber, wenn ich meinen Freunden in der Belgischen Sozialistischen Partei meine Enttäuschung verschweigen würde, daß von ihrer Seite weder zu Lebzeiten de Mans noch nach seinem tragischen Tod irgend etwas zu seiner Ehrenrettung unternommen wurde. Selbst wenn Hendrik de Man Fehler begangen hat, derentwegen ihn seine unbarmherzigen Gegner, die anderen gegenüber nachsichtiger sind, verdammen, so schmerzt es mich, das Gedächtnis meines Freundes schmählichen Kränkungen ausgesetzt zu sehen.
Der einzige Repräsentant Deutschlands, dem ich in meinen Funktionen unterstand, Herr Dr. Rosemann, Kunstreferent der Militärverwaltung, hätte sich leicht über meine Gefühle Deutschland und seinem Regime gegenüber informieren können, aber er wünschte und verlangte es nicht. Er las in meinen Augen, wie ich in den seinen las. Er kannte das von mir verfolgte Ziel, so gut wie möglich für den Wiederaufbau Belgiens zu sorgen, und ich | |
[pagina 446]
| |
war mir bewußt, daß er mich zu unterstützen suchte, soweit es in seiner Macht stand. Es hätte in seiner Hand gelegen, meine Schule zu schließen und aufzulösen. Er unternahm nichts dergleichen und schien nicht zu bemerken, daß ich alles tat, um Schüler aufzunehmen, die sich einschrieben, um auf diese Weise zu verhindern, daß sie zu irgendwelchen Büro- oder anderen Arbeiten nach Deutschland verschickt wurden. Rosemann mußte seinen nationalsozialistischen Vorgesetzten gegenüber Rechenschaft ablegen, weshalb er diese Stätte ‘entarteter Kunst’ nicht ausmerzte. Er tat es mit der Begründung, das isad sei eine vorbildliche Schule und er kenne keine auch nur gleichwertige - weder in Deutschland noch anderswo. Ihm habe ich es zu danken, daß ich mehrere Male nach Den Haag fahren konnte, um den Leiter des holländischen Wiederaufbaus, Ingenieur Ringers, zu besuchen, den ich wegen seiner unabhängigen Haltung den deutschen militärischen Behörden gegenüber besonders schätzte. Ringers wirkte damals vor allem für die längs des Rheins gelegene holländische Region und für die Insel Walcheren, deren Hauptstadt Middelburg vollständig zerstört war. Noch immer blieb mein letztes Werk, die Bibliothek in Gent und die dazugehörenden Gebäude, unvollendet. Alle Dispositionen waren längst getroffen, alle Pläne bereit und bewilligt. Bei meinem achtzigsten Geburtstag übernahm einer der Minister, der über diese Lage der Dinge und meine Verstimmung orientiert war, für sein Ministerium die Verpflichtung, alljährlich einen Kredit für die schrittweise Vollendung zur Verfügung zu stellen. Aber es geschah nichts zur Verwirklichung dieser Zusage, und als ich einige Jahre später Belgien verließ, war immer noch nichts geschehen.
Schließlich kam das Ende des Krieges und die Befreiung. Die Leute von Tervueren waren wie berauscht vor Freude. Meine Tochter Nele lief auf die Straße hinunter, um zu sehen, was vorging. Vor dem kleinen Café sang, trank und tanzte die Menge. Nach dem Abzug der deutschen Truppen endete meine Tätigkeit für das Ministerium der Öffentlichen Arbeiten, zu der ich mich für die Dauer des Krieges verpflichtet hatte. Der neue Minister erklärte sich bereit, mich zu empfangen, und ich begab mich in sein Büro, um meine Entlassung einzureichen. Nichts konnte ihm gelegener kommen; ich half ihm offenbar aus der Verlegenheit: auf der pompösen Treppe des Ministeriums begegnete | |
[pagina 447]
| |
ich einem früheren Freund; er war auf dem Wege zu dem ihm politisch nahestehenden Minister, um ihm seinen Sohn, einen Architekten, als meinen Nachfolger zu empfehlen. In den kommenden Monaten und Jahren mußte ich den Kelch bis zur Neige leeren und die schändlichsten Erniedrigungen über mich ergehen lassen. Ein Berufsrivale und seine Kollegen scheuten vor keinem Mittel zurück, mich der Zusammenarbeit mit dem Feinde zu verdächtigen. Vor aller Welt möchte ich Maître Georges Bohy dafür danken, daß er sich spontan bereit erklärte, mich auf meinem Leidensweg zu begleiten und mir zu helfen. Außer meinen eifersüchtigen Kollegen, die als unbelehrbare Ankläger und Verleumder sich an die Spitze einer kleinen Gruppe Leichtgläubiger stellten, zweifelte niemand an meiner absoluten Loyalität. Aber man mißtraute den improvisierten Gerichten, die noch monatelang nach der Rückkehr der legalen Gerichtsbarkeit amtierten. Um so mehr war ich erleichtert, als ich nach mehreren Monaten ein gewöhnliches Formular mit der Mitteilung der endgültigen Einstellung des Verfahrens erhielt. Dieses Ergebnis änderte nichts an meiner materiellen Lage. Nach dem Ende der Besatzung hatten sich die Lebensverhältnisse eher noch verschlimmert. Die Rückkehr der Regierung und der obersten Behörden konnte nicht zu einer plötzlichen Reinigung der durch Denunziationen und skrupellose Machenschaften aller Art vergifteten Atmosphäre führen. Die Luft wurde immer erstickender und das Schauspiel einer jeder Moral baren Menschheit so abstoßend, daß ich keinen Ausweg mehr sah. Nach drei Jahren höllischer Qual, in denen ich während des Winters tatenlos vor einem kleinen Ofen, im Sommer auf der Terrasse saß und sehen mußte, wie im Hause alles der Zerstörung entgegenging, hatten meine physischen Kräfte die Grenze völliger Erschöpfung erreicht. Wieder, wie schon einmal in meinem Leben, bedrohte mich die Neurasthenie.
Zwei Frauen nahmen sich meiner an. Maja Sacher, eine Schweizer Freundin aus früheren Jahren, und Königin Elisabeth. Ein Zufall führte Maja Sacher zu uns; die Königin kam auf Grund des freundschaftlichen Interesses, das sie meinem Schaffen, meiner Brüsseler Schule und meinen Bestrebungen entgegenbrachte, Belgien den künstlerischen Platz zurückzugewinnen, den es in früheren Jahrhunderten eingenommen hatte. | |
[pagina 448]
| |
Maja Sacher besuchte uns in Tervueren im Frühjahr 1947, während ihr Mann, Paul Sacher, einer der ersten und sensibelsten Dirigenten unsrer Zeit im Palais des Beaux Arts eine Orchesterprobe abhielt. Wir hatten uns nicht mehr gesehen, seit sie vor Jahren Brüssel verlassen hatte, wo sie längere Zeit mit ihrem ersten Mann, Emanuel Hoffmann-Stehlin, gelebt hatte. Während ihres Brüsseler Aufenthaltes war sie Schülerin des Bildhauers Oscar Jespers und besuchte oft das ‘Institut Supérieur’. Aus dieser Zeit stammen unsere freundschaftlichen Beziehungen. Maja hatte unser Haus ‘La Nouvelle Maison’ und die in ihm herrschende frische, lebendige Atmospäre in guter Erinnerung behalten. Oscar Jespers hatte ihr zwar erzählt, in welch jammervollem Zustand sich die Räume des Erdgeschosses befanden, in denen Nele und ich seit dem Tod meiner Frau kampierten. Vor einem miserablen Ofen stand ein kleiner Tisch, an dem wir unsre bescheidenen Mahlzeiten einnahmen. Vor den Bücherregalen an beiden Seiten des langen Raumes, die mit wertvollen Bänden überladen waren, standen, verdeckt von Paravants, unsere Betten. Maja Sacher war erschüttert; ich sehe sie noch wie gebannt stehen. Dann brach sie das Schweigen: ‘Hier dürfen Sie nicht bleiben, dieses Leben dürfen Sie nicht weiterführen! Sie müssen zu uns in die Schweiz kommen.’ Als sie sich beruhigt hatte, zeigte ich meiner wiedergefundenen Freundin die Spuren des beginnenden Verfalls, die abgebrauchten Möbel, die undichten Fenster und Türen, die verblichenen, zerrissenen, schmutzigen Überzüge und Vorhänge, zu deren Reparatur die Mittel fehlten. Maja verließ uns erst, als ich ihr das Wort gegeben hatte, mit dem Rest meiner physischen und geistigen Kräfte in der Schweiz neu zu beginnen. Rasch verbreitete sich das Gerücht, ich sei im Begriff, mein Haus in Tervueren zu verlassen, und begäbe mich ins Ausland, um mich der Abfassung meiner Memoiren zu widmen. Was Maja Sacher mir vorschlug, versuchte die Königin zu verhindern. Nachdem die Gerüchte über meine mögliche Abreise auch zu ihr gedrungen waren, kam sie selbst nach Tervueren, um mich zurückzuhalten. Sie tat es in einer Art und Weise, die mich tief rührte. Sie erschien unangemeldet, der Chauffeur läutete und sagte mir ihren Besuch an. Ich ging ihr durch den langen Bibliotheksraum entgegen. Königin Elisabeth hatte einen Riesenstrauß prachtvoller gelber Rosen in der Hand, den sie auf den Flügel stellte, | |
[pagina 449]
| |
der sich in meinem Studio befand. Dann reichte sie mir die Hand. Über die Art, wie Nele und ich hausten, war sie nicht bestürzt, da sie während des Krieges zu viel Elend und provisorische Unterkünfte gesehen hatte. Sie war in Weiß gekleidet. Wir gingen in den Garten. Lange standen wir zusammen und führten ein Gespräch über die Entfremdung zwischen mir und einem großen Teil der belgischen Bevölkerung, der von bösartigen Elementen gegen mich aufgehetzt worden war. Ich konnte nicht anders, ich mußte ihr sagen, wie ich die Atmosphäre der Nachkriegszeit mit allen ihren aus Krieg und Besetzung herrührenden Vergiftungen und dem zynischen Hang zu Genuß und unerlaubtem Gewinn verabscheute. Nur ein Refugium in einem weniger verdorbenen Land, in einer weniger verpesteten Atmosphäre, sagte ich, könne mir die innere Freiheit zurückgeben und die Kraft verleihen, die begonnenen Memoiren zu vollenden. Alles, was ich sagte, beeindruckte die Königin sehr, wenn sie auch immer wieder ihrer Überzeugung Ausdruck verlieh, meine noch vorhandenen Kräfte würden Belgien bald großen Nutzen bringen können. Bevor wir uns an diesem denkwürdigen Tag trennten, lud die Königin Nele und mich zum Tee in ihr Atelier ein, das sie sich im Garten ihres Palais' hatte bauen lassen. Zwei Tage vor unsrer Abreise nach der Schweiz empfing sie uns dort wie intime Freunde.
Anfang September 1947 fuhren wir im Automobil über Luxemburg und Nancy, wo wir die Nacht verbrachten, nach Basel und von dort nach Zürich, wo wir den Architekten Alfred Roth kennenlernten, der uns nach Oberägeri in die von ihm bestimmte Pension begleitete, in der Nele und ich unser Winterquartier aufschlugen. In einem Raum, der während der Sommermonate für Gäste bestimmt war, ließ ich ein paar Regale und einen großen Tisch aufstellen, an dem ich mich an die Arbeit machte. Allein, in allem gut betreut und bedient, fühlten Nele und ich uns wie durch ein Wunder der Hölle entronnen. Von meinem Arbeitstisch blickte ich auf den Ägeri-See und auf das Gebirge, dessen harmonische Formen und Linien dem dynamischen Gleichgewicht entsprachen, das ich in den linear-abstrakten Ornamenten entdeckt hatte. Nichts war an der ‘Komposition’ zu korrigieren, an der ich mich nun seit acht Jahren erfreue. |
|