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Anhang
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Nachwort
Das Leben Henry van de Veldes, das in eine Zeitspanne gedrängter kultureller und künstlerischer Ereignisse fiel, ist der exemplarische Stoff für eine Autobiographie. Kindheit und frühe Jugend spielen sich zu Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts ab, gegen dessen einengende Konventionen schon der Knabe, Jüngling und Student aufbegehrte; die Jahrzehnte des bewußten Erlebens, Denkens, Schaffens und Beobachtens führen von der Endphase des Säkulums, in welcher der Vergangenheit der Prozeß gemacht wurde, bis tief in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Eine Epoche der eingreifendsten Veränderungen: in der Art zu leben, zu formen, zu bauen; in der von den Natur- wie von den Geisteswissenschaften aus ein neues Weltbild entsteht, das eine neue Beziehung des Menschen zu den Phänomenen der Natur, zu sich selbst und zur Gesellschaft zur Folge hat. Die grundsätzliche Emanzipation von den psychischen und formalen Bindungen früherer Jahrhunderte, die sich während van de Veldes Leben ereignet, geht Hand in Hand mit der Entdeckung des Ursprünglichen und Spontanen als produktivem Prinzip, und gleichzeitig erscheint in dialektischem Kontrast die Tendenz zu sublimer Differenzierung, zu Raffinement im Denken, Gebaren und Gestalten.
Van de Velde ist einer der geistreichsten Wort- und Tatführer dieser neuen Haltung gewesen. In ihrer Verwirklichung sah er seine geradezu religiös empfundene Mission der optischen Neugestaltung der Dinge des privaten, öffentlichen und geistigen Lebens. Seine seismographisch veranlagte Natur - ‘nature vibrante et de réaction spontanée’, nach seinen eigenen Worten - nahm die Triebkräfte der Zeit mit raschem Aufnahmevermögen wahr. Als schöpferischer Repräsentant wurde er, neben dem eigenen praktischen Schaffen, zu ihrem Verkünder und Prediger, zu dem er sich mit doppelter Begründung berufen fühlte: ‘Die Natur meines Geistes und der Elan meines Herzens scheinen mich für meine Mission vorbestimmt zu haben.’ Die Neigung zu sehr genauer Selbstbetrachtung, die van de Velde zeit seines Lebens besessen hat, die Lust am Beobachten und das Bewußtsein des Verwobenseins in sachliche und menschliche Zusammenhänge drängten förmlich zu autobiographischer Fixierung.
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Der außergewöhnlichen Dramatik dieses Lebens mit seinen Höhen persönlicher Erfolge und geistiger Resonanz und mit den Tiefen bitterer Enttäuschungen, bösartiger Anfeindungen und schicksalsmäßiger Schläge und Katastrophen ist sich van de Velde genau bewußt gewesen: ‘Wie die Geschichte der Revolutionen’, schrieb er einmal, ‘so rechnet die Geschichte der Kunst nicht mit der Zahl ihrer Opfer. Wenn ich meinen ‘Fall’ betrachte, so scheint es mir, daß nur wenige Künstler ein bewegteres, exponierteres, tragischeres Leben geführt haben als ich. Kaum ein Familienvater hat seiner Frau und seinen Kindern so viele und so harte Prüfungen auferlegen müssen. Viermal bin ich gezwungen gewesen, mein materielles Leben von Null an neu zu beginnen.’ Und in einer anderen Notiz zu den Memoiren heißt es: ‘Als unerbittlicher Realist bin ich stählernen Herzens dem Schicksal entgegengetreten und habe beseitigt, was sich mir auf dem Weg meines immer tiefer und lebendiger werdenden Glaubens an die Wahrheit entgegenstellte, an die Wahrheit, die in der Idee der ‘conception rationelle’ (der vernunftgemäßen Gestaltung) beschlossen liegt. Allgegenwärtig, allmächtig ist sie das Gegengift gegen Häßlichkeit und Unmoral, der Blitzableiter gegen die Gefahren ‘barocker’ Ansteckung.’
Zu all diesen Prämissen autobiographischer Darstellung kommt noch ein Weiteres. Die Mission - das Apostolat, wie van de Velde seine Sendung gerne zu bezeichnen pflegte-, als deren Träger er sich fühlte, brachte ihn weit über seinen fachlichen Arbeitskreis hinaus mit Personen und Ereignissen in Verbindung, die zu den Nervenzentren der Zeit gehörten. Von hier aus sammelte sich neuer Stoff an: Menschen aus führenden Schichten, Situationen von kleinerer und größerer historischer Bedeutung, seine persönlichen Reaktionen - alles sollte, mit eingestreuter Kritik und Reflexion, in einer Mischung von Optimismus und Depression, Selbstbewußtsein und echter Bescheidenheit, dargestellt werden. Das Anekdotische spielt eine überraschend große Rolle. Aber es erscheint zumeist als eines der Mittel, das Bild eines Lebens zu vermitteln, das sich zum größten Teil in den oberen Rängen des Geistes und der Gesellschaft abgespielt hat; nicht nur in den oberen, sondern vor allem in den führenden Rängen, was van de Velde mit einem gewissen Selbstbewußtsein hervortreten läßt.
Van de Velde hat enorm viel geschrieben. Ein großer Teil ist in Buchform, in grundsätzlichen und aktuellen Broschüren, Zeitschriften und Zeitungsaufsätzen erschienen, für die noch keine abschließende Bibliographie vorliegt. Die Manuskripte für das im Druck Erschienene - van de Velde hat bis in seine letzten Lebenstage sozusagen alles mit eigener Hand geschrieben - sind zum größten Teil verschollen. Abgesehen von den Memoiren umfaßt das hinterlassene handschriftliche Material unter anderem zwei unvollendete Abhandlungen, an denen van de Velde jahrzehntelang gearbeitet hat - eine über ‘die Linie’ und eine ‘Geschichte des Ornamentes’ -, Manuskripte zu Vorlesungen an der Kunstgewerbeschule Weimar und, in
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flämischer Sprache, an der Universität Gent, Unterlagen für zahlreiche Vorträge vor allem aus der Zeit zwischen 1900 und 1914, ausführliche Protokolle über die Arbeiten des Weimarer ‘Kunstgewerblichen Seminars’, viele tagebuchartige und aphoristische Notizen und anderes mehr. Nicht zu vergessen die große Zahl der Briefe, die van de Velde, ein Meister brieflichen Ausdrucks, mit seiner Frau und vielen Freunden gewechselt hat; ein heute noch weitverstreutes, höchst anziehendes Material.
Und wieviel ist verlorengegangen! Wir wissen, daß van de Velde anläßlich seiner verschiedenen Ortswechsel jeweils kleine Vernichtungsaktionen durchgeführt hat; vor allem, als er im Sommer 1947 Brüssel verließ, um nach der Schweiz zu übersiedeln, und auch noch, wenige Monate vor seinem Tod, beim Umzug vom Bungalow in Oberägeri in das nur wenige hundert Meter entfernte, ebenfalls von Alfred Roth für ihn erbaute ‘Haus Vogelenzang’, in dem van de Velde noch ein paar glückliche Monate verbrachte.
Der größte Teil des schriftlichen Nachlasses befindet sich bis zur endgültigen Verfügung im Van-de-Velde-Archiv der Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, das übrige im Archiv der ‘Ecole Nationale Supérieure d'Architecture et des Arts Décoratifs’, dem von van de Velde errichteten Institut in der Abbaye de la Cambre in Brüssel.
An den Memoiren hat van de Velde Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gearbeitet. Ihre Geschichte mag seltsam erscheinen; sie spiegelt van de Veldes stets nach vorn gerichtetes Denken.
In einer der in Oberägeri entstandenen Fassungen - van de Velde hat an den Memoiren, wie übrigens in allen seinen Handschriften, immer wieder geändert, verbessert, neu disponiert - findet sich folgende Vorbemerkung: ‘Niemals vor der Erreichung meines 85. Lebensjahres habe ich mich mit dem Gedanken beschäftigt, die schwere Last auf mich zu nehmen, die Geschichte meines Lebens zu schreiben. Niemals vorher habe ich daran gedacht, mich zu ‘erinnern’ oder Notizen zu machen, um nicht zu vergessen. Ich habe gelebt und meine Laufbahn mit dem Gefühl verfolgt, das Balzac umschreibt: ‘Vergessen ist das große Geheimnis der starken und schöpferischen Naturen, vergessen, wie die Natur vergißt, die keine Vergangenheit kennt und zu jeder Stunde das Mysterium unermüdlichen Gebärens verwirklicht’ (Balzac, César Birotteau).’
Indem van de Velde bei der Abfassung der Memoiren frühere autobiographische Versuche und Notizen scheinbar ignorierte, hat er tatsächlich nach dem von Balzac formulierten Grundsatz gehandelt. Und doch gibt es eine Reihe weit zurückliegender autobiographischer Aufzeichnungen und Hinweise auf die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte. Sie sind zum größeren Teil erst nach dem Tode van de Veldes ans Licht getreten.
Als ‘Notizen für eine Biographie, Weimar 1910’ hat er selbst ein Schreibmaschinenmanuskript von zehn Seiten handschriftlich überschrieben, das in der
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Ichform einen komprimierten Überblick über den Lebensverlauf, das Schaffen und Denken bis zum Jahr 1912 gibt: ein Beispiel übrigens der Komplikationen, die sich bei van de Velde aus widersprechenden Daten (1910 auf dem Titel, 1912 im Text) einstellen. Möglich, daß diese Notizen für einen Dritten bestimmt waren - unter Umständen für Karl Ernst Osthaus als Unterlagen für dessen im wesentlichen vor 1914 verfaßte, aber erst 1920 erschienene Monographie über van de Velde -, doch die autobiographische Perspektive ist unverkennbar.
Eine mit viel Reflexion durchsetzte Selbstbiographie bildet den Inhalt eines Schreibmaschinenmanuskriptes von 251 Blättern, dessen handgeschriebener Titel lautet: ‘Henry van de Velde / Destinée / Récit, en raccourci, d'une suite d'années (1892-1918), vouée à l'Apostolat d'un Style Nouveau’ (Schicksal/Kurzgefaßte Geschichte der Jahre 1892-1918, dem Apostolat eines Neuen Stils gewidmet). Am Ende des Manuskriptes steht der Vermerk: ‘Achevé d'écrire à Clarens en Octobre 1918 et de transcrire en Avril 1920 à La Haye’ (Vollendet in Clarens im Oktober 1918, abgeschrieben im April 1920 in Den Haag). Es handelt sich um einen für den Verlag Rascher in Zürich verfaßten, nie gedruckten Lebensbericht, den van de Velde merkwürdigerweise später weder schriftlich noch mündlich erwähnt hat.
Ein weiterer Hinweis auf vorhandene frühere autobiographische Aufzeichnungen ist in der holländischen Zeitschrift ‘Bouwkundig Weerkblad’ vom 5. Juli 1924 zu finden, wo der Verfasser eines Aufsatzes über van de Velde, C.G. Bremer - nicht identisch mit dem Maler und Berater des Ehepaars Kröller-Müller, H.P. Bremmer -, einige Passagen autobiographischen Inhaltes zitiert. Daß van de Velde sich in den zwanziger Jahren für seine eigene Vergangenheit interessierte, geht aus einer Bemerkung hervor, die er seinem Beitrag zur Festschrift zum fünfzigsten Geburtstag Julius Meier-Graefes, 1927 unter dem Titel ‘Widmungen’ erschienen, eingeflochten hat: ‘Mehr und mehr schätze ich die Bedeutung der Erinnerungen.’ Wann van de Velde dann mit der Niederschrift der Memoiren begonnen hat, ist nicht feststellbar. Auf jeden Fall vor der Übersiedlung nach der Schweiz im Jahre 1947, denn eine erste Fassung der Jugendgeschichte fand sich unter dem 1947 in van de Veldes Haus in Tervueren zurückgelassenen Material, das mit vielen anderen handschriftlichen Aufzeichnungen heute im Van-de-Velde-Archiv, Abteilung Brüssel, aufbewahrt wird.
In den Schweizer Jahren vom Herbst 1947 an war die Niederschrift der Memoiren die zentrale Arbeit, in der van de Velde den Sinn seiner Altersjahre sah. In der Regel waren fünf bis sechs Stunden am Tag dieser Arbeit gewidmet. Unzählige Blätter füllten sich mit seiner schönen Handschrift. Unermüdlich war er im Verbessern. Vieles wurde durchgestrichen, darübergeschrieben, mit komplizierten Verschlingungen eingefügt, zerschnitten und wieder zusammengeklebt, so daß die Entzifferung vieler Blätter schwer, manchmal unmöglich ist.
Über die Arbeitsmethode, nach der er zur Bewältigung seiner Aufgabe vorgegangen ist, hat van de Velde nie gesprochen. Grundlage war offenbar die unmit- | |
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telbare Erinnerung. Aber es stand auch dokumentarisches Material zur Verfügung: eigene Aufzeichnungen, Briefe, Akten und vor allem zwei große Bände mit unzähligen Zeitungsausschnitten aus den Jahren 1900 bis 1914, die Maria van de Velde mit Bienenfleiß gesammelt hatte. Van de Velde hat vieles aus diesen ‘Klebebänden’ herausgenommen, so daß sie heute leider nur noch Fragmente darstellen. Zur Auffrischung des Gedächtnisses hat er bei früheren Schülern, Kollegen und Freunden zahlreiche Auskünfte eingeholt. Vor allem für die Zeit der Zusammenarbeit mit dem Ehepaar Kröller-Müller hat er immer wieder seinen Freund Sam van Deventer befragt.
In den ersten Jahren in Oberägeri hatte er als klares Ziel die Abfassung eines ausführlichen Lebensberichtes vor Augen. Ein kleiner, vom 10. Januar 1954 datierter Zettel ist erhalten, auf dem - das Wort ‘Titre’ ist doppelt unterstrichen - der beabsichtigte Titel genau formuliert ist:
Henry van de Velde
sa vie d'artiste-peintre, d'ensemblier-architecte et d'esthéticien
sa mission d'apôtre par lui-même
(1863-1948)
Im Jahre 1954 - auch hier ist das genaue Datum nicht bekannt - beschloß van de Velde, die ausführliche Darstellung der Lebensgeschichte aufzugeben und das bisher Geschriebene im Rohzustand zu belassen. Er begann eine neue, komprimierte Version, die er an Stelle des ‘grand manuscrit’ von früher als ‘petit manuscrit’ bezeichnete. Wie vom ‘grand manuscrit’ sandte er jeweils Abschnitte der handgeschriebenen Darstellung an Monique Humbert in Zürich, der die schwierige Aufgabe zufiel, die oft kaum leserlichen Seiten in Schreibmaschinenschrift zu übertragen. Auch dies kleine Manuskript ist unvollendet geblieben, obwohl van de Velde seinen Freunden verschiedentlich den Abschluß signalisierte. Nach van de Veldes Tod fanden sich auf seinen beiden Schreibtischen, von denen aus er über weite Landschaftsräume und Bergketten blicken konnte, beschriebene, angefangene und zerschnittene Seiten, aus deren Zustand hervorging, daß sie mitten im Arbeitsprozeß verlassen worden waren.
Man mag sich wundern, daß der leidenschaftliche Verfechter des Prinzips der klaren Vernunft offenbar ohne exakten Plan improvisierte, die Pläne änderte und sich nicht zum Schlußpunkt entschließen konnte. Zeit seines Lebens war van de Velde gewohnt zu arbeiten und sich in der Arbeit zu konzentrieren. Vielleicht fürchtete er, daß sein Leben mit dem Abschluß der Memoiren den inneren Motor verlieren würde, der ihn so lange und so intensiv lebendig erhielt.
Das von van de Velde hinterlassene Material, das für die Ausgabe der Memoiren ver- | |
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wendet worden ist, gliedert sich in vier Komplexe, von denen der erste und umfangreichste bisher noch nicht erwähnt worden ist. Dieser erste Komplex umfaßt fünfundzwanzig schmale Classeure (Büro-Ordner) in Normalformat, die mehr als 1200 handgeschriebene Blätter sowie eine Reihe zusätzlicher Dokumente (Briefe, Akten, Broschüren und so weiter) enthalten. Auf dem abschließenden Blatt 1233 findet sich der Datumsvermerk ‘le 8 oct. 50 v.d.V.’. Das Ganze ist der erste, in der erstaunlich kurzen Zeit von etwa drei Jahren entstandene Entwurf der Lebensgeschichte, in der Darstellung im wesentlichen kontinuierlich, trotz mancher Lücken und sprunghafter Abweichungen. Es treten gelegentlich Widersprüche auf, über die van de Velde offenbar im Zug der rasch verlaufenen Arbeit hinweggegangen ist. Vieles wirkt in der Formulierung provisorisch, anderes besitzt die Schlagkraft des Endgültigen. Die Korrekturen beziehen sich auf den Inhalt, auf die Chronologie, auf Ereignisse, die in der Erinnerung verblaßt sind oder sich verschoben haben, nicht auf die stilistische Form, auf deren Abrundung und spezielle Akzentuierung van de Velde in allen seinen literarischen Äußerungen großen Wert gelegt hat. Alles in allem das typische Rohmaterial mit den Ingredienzen des Wichtigen und weniger Wichtigen, des Persönlichen und Privaten, eine großangelegte Skizze, aus der durch Ausscheiden, Konzentration und eigentliche formende Gestaltung das Definitivum entstehen sollte.
Dieses Definitivum war für van de Velde zunächst der nach 1950 entstandene erwähnte zweite Komplex: das ‘grand manuscrit’. Van de Velde hat es mit besonderer Sorgfalt behandelt und allabendlich in einem leicht transportablen Handkoffer verwahrt, den er scherzhaft seinen ‘coffre-fort’ - den Kassenschrank - nannte. Er hat zu Lebzeiten nur Teile davon aus der Hand gegeben: den Abschnitt, den er 1952 der ‘Architectural Review’ für den von Morton Shand ins Englische übersetzten Vorabdruck zur Verfügung gestellt hat, oder Partien, die er unter anderem Klaus Piper und mir zur Lektüre überließ.
Nach van de Veldes Tod stellte sich in bezug auf das ‘grand manuscrit’ folgendes heraus: es fanden sich zwei Pakete und zwei große Classeure mit der Aufschrift ‘grand manuscrit’. Die beiden Pakete enthielten das handschriftliche Material, teils geordnet, teils höchst unübersichtlich und fragmentarisch, die beiden großen Ordner die Schreibmaschinenabschrift mit wenigen handschriftlichen Korrekturen und einer sprunghaften Paginierung von van de Veldes Hand. Den beiden Classeuren lag ein von Judith Wachsmann-Böß, der letzten Sekretärin van de Veldes in Oberägeri, angelegtes Inhaltsverzeichnis bei, auf dessen mangelnde Chronologie die Verfasserin hinweist. Es bleibt seltsam, daß van de Velde nicht auf die Kontinuität der Darstellung gesehen und daß er dem ‘grand manuscrit’ Doppelversionen und Wiederholungen eingefügt hat, die den Fluß der Darstellung unterbrechen.
Der dritte Komplex, das im Jahr 1955 begonnene ‘petit manuscrit’, das van de Velde selbst als ‘La version définitive de Témoignage et Contribution’ bezeichnet
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hat, umfaßt 120 zum Teil handgeschriebene Seiten, zum Teil durchkorrigierte Schreibmaschinenblätter. In einer Reihe von Vorbemerkungen erklärt van de Velde seine Absichten. Auf die Widmung an seine verstorbene Frau, die Freunde - ‘die mich durch ihre Treue ermutigt haben’ - und Schüler folgt die Feststellung: ‘Dieses Buch ist keine Lebensgeschichte, es sind keine Memoiren’; und in einem späteren Absatz heißt es: ‘Ich glaubte zu anspruchsvoll zu sein, von den Menschen, die heute ständig von Vernichtung bedroht sind, Interesse für meine Person und mein Apostolat zu verlangen. Diese Überzeugung zwang mich zur Entscheidung, im Alter von zweiundneunzig Jahren den Rest meiner Kräfte zur Niederschrift eines Buches zusammenzufassen, das ich drei oder vier Jahrzehnte früher hätte schreiben sollen: Zeugnis und persönlicher Beitrag zur Entstehung eines Stils des 20. Jahrhunderts.’
Der Verlauf der Arbeit entsprach dem ergreifenden Ton der Argumentation van de Veldes. Er konnte den Plan innerlich und äußerlich nicht zu Ende führen. Der Text stützt sich im wesentlichen auf die ausführlichen Darstellungen des ‘grand manuscrit’, die, abgesehen von einigen, mit plötzlich erstaunlicher Frische neugeschriebenen Seiten, auf ein Minimum reduziert sind. An Stelle der Breite tritt jetzt Knappheit, in der die Balance zwischen anekdotischer Charakterisierung und prinzipieller kunsttheoretischer Reflexion sich nicht mehr entwickeln kann. Mit dem Jahr 1906 bricht die Darstellung ab.
Als vierter Komplex ist das 1918 entstandene Manuskript ‘Destinée’ zu betrachten. Seine Entstehungsumstände - nach der Zäsur des Kriegsausbruchs von 1914, die van de Velde als ein persönliches Schicksal empfand, im pazifistischen Umkreis in der Schweiz geschrieben und dadurch von den früheren Lebenssituationen distanziert - haben die Form bestimmt. Das druckreife Manuskript steht den Ereignissen der Jugendentwicklung noch verhältnismäßig, der Weimarer Periode unmittelbar nahe und erscheint daher als unschätzbare Quelle für viele Einzelheiten der Wirksamkeit wie des Denkens von van de Velde, der hier schon sagt, daß ‘mit seinem Leben eine Idee gewachsen ist’. Der von dem Zürcher Verleger Max Rascher geplante Druck kam nicht zustande, weil van de Velde das Manuskript mit der Begründung, es habe seine endgültige Gestalt noch nicht erhalten, dem Verleger nie aushändigte.
Van de Velde wünschte das gleichzeitige Erscheinen der originalen französischen Ausgabe seiner Memoiren und einer deutschen Übersetzung. Verschiedene Möglichkeiten wurden ins Auge gefaßt, aber die Verhandlungen mit mehreren Verlegern führten nicht zum Ziel. Van de Velde war aufs tiefste enttäuscht und sah in dem Fehlschlag wieder die Tragik, die in seinem Leben waltete. ‘Einmal mehr’ - schrieb er in diesem Zusammenhang in einem Brief vom 24. November 1956 - ‘seit dem Zusammenbruch meines Schaffens in Weimar verfolgt mich ein unbarmherziges Schicksal.’ Bis zum Erscheinen des vorliegenden Buchs in deutscher Sprache
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war es noch nicht möglich, die Voraussetzungen für den Druck in der französischen Originalsprache zu schaffen.
Für die Veröffentlichung dachte van de Velde an Hilfe, zunächst an seinen belgischen Freund Hendrik de Man, der nach 1945 im Exil in der Schweiz lebte. De Man ‘war bereit, die Revision meines Manuskriptes zu übernehmen, die notwendigen Korrekturen vorzunehmen und mich auf Längen, Wiederholungen und Lücken aufmerksam zu machen, die zu füllen waren’. Der vorzeitige Tod de Mans, der im Juni 1953 einem Unfall zum Opfer fiel, hat diesen Plan nicht zur Ausführung gelangen lassen. Im Laufe verschiedener Gespräche, die van de Velde mit mir in seinen letzten Lebensjahren und -monaten geführt hat, schien er daran zu denken, ich könnte einstens die Herausgabe seines Werkes übernehmen. Mehrere Male begann er ein Gespräch in dieser Richtung, aber jedesmal blieb es im Anlauf stecken. Es fiel ihm offenbar schwer, sich von der Arbeit zu trennen, die seine Kräfte so lange frisch erhalten hatte; vielleicht wollte er auch bestimmte Geheimnisse nicht preisgeben und nicht gefragt werden. Bei allem Elan, von dem van de Velde bis zum Lebensende getragen war, ist er eher doch eine verschlossene Natur gewesen, die gewohnt war, die entscheidenden Dinge mit sich selbst abzumachen. Daß er bei den vielen und tiefen Enttäuschungen, die ihm das Leben gebracht hatte, zu Mißtrauen neigte, ist nicht verwunderlich. Hier liegt auch die Ursache dafür, daß er sich nicht entschließen konnte, zu seinen Lebzeiten einen Verlagsvertrag über seine Memoiren abzuschließen.
Nach seinem Tod erhob sich natürlicherweise die Frage, was mit dem in bewundernswerter, beharrlicher Arbeit entstandenen Material, an dessen Veröffentlichung van de Velde so sehr gelegen war, geschehen sollte. Nach einer ersten Durchsicht der Manuskripte und Entwürfe entschloß man sich - sein Sohn Thyl van de Velde als Treuhänder des Nachlasses, Klaus Piper als Verleger, in dessen Verlag 1955 in der ‘Sammlung Piper’ eine Auswahl aus den Schriften van de Veldes erschienen war, und eine Reihe von guten Freunden des Meisters - zur Publikation, die mir übertragen wurde. Das Ziel war, ein lesbares Buch herauszugeben, welches Gestalt und Lebenswerk Henry van de Veldes in seiner eigenen Darstellung der Nachwelt überliefern sollte.
Es mußten prinzipielle Entscheidungen getroffen werden. War der Vorbemerkung des ‘petit manuscrit’ zu folgen, die van de Velde vielleicht doch schon im Vorschatten des Todes verfaßt hat, oder dem ursprünglichen, im ‘grand manuscrit’ niedergelegten Plan, für den van de Velde im Januar 1954 den exakten Titel entworfen hatte? Das genaue Studium des gesamten Materials führte zunächst zu schweren Bedenken. Alles war viel fragmentarischer, als es zuerst den Anschein hatte, die Kontinuität der Darstellung immer wieder unterbrochen, und viele Unklarheiten schienen unaufklärbar. Aber in diesem seltsamen Gewebe trat immer wieder die Persönlichkeit hervor, ein außergewöhnlicher Mensch in einer außergewöhnlichen Zeit, ein originaler Geist, der sich mit sich selbst, mit seinen Zeitge- | |
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nossen und den Zeitphänomenen herumschlug - und der seine Zeit, seine Mitstreiter und sich selbst liebte. Vor diesem faszinierenden Bild trat - eine überraschende Beobachtung - das Werk in gewissem Sinne etwas zurück. So schien es mir das Richtige, auf die Idee des ‘grand manuscrit’ mit seinen menschlichen Interessen, mit viel Anekdotischem und Zeitgebundenem zurückzugreifen. Hier trat die Lebendigkeit van de Veldes am stärksten und unmittelbarsten in Erscheinung, und von hier aus konnten die Voraussetzungen sichtbar werden, aus denen das ‘Werk’ mit seinen großen Metamorphosen hervorgewachsen ist.
Bei der praktischen Editionsarbeit erwies es sich als möglich, einem zwar gelegentlich unterbrochenen chronologischen Faden zu folgen und aus vielen Einzelstücken ein Mosaik zusammenzufügen, das authentisch ist, weil es ausschließlich aus originalen, zum Teil sehr weitgespannten, umfangreichen Kapiteln und Abschnitten, zum anderen Teil aus kurzen Paragraphen, ja sogar einzelnen Sätzen besteht.
Die Hauptquelle für die redaktionelle Bearbeitung der Memoiren war also das ‘grand manuscrit’ mit seinen nahezu 1200 Schreibmaschinenseiten. Durch eine Reihe von Umstellungen wurde es möglich, eine einigermaßen kontinuierliche Folge zu schaffen. Zur Vermeidung unnötiger Längen wurden viele Partien des Textes zusammengefaßt und zahlreiche Doppelversionen ausgeschieden. Auf einige ausführliche Zitate, die van de Velde aus seinen eigenen gedruckten Schriften einbezogen hatte, konnte um so leichter verzichtet werden, als sie in dem bereits erwähnten, 1955 bei Piper erschienenen Auswahlband ‘Henry van de Velde, Zum Neuen Stil’ leicht zugänglich sind. Von den vielen von van de Velde zitierten Äußerungen zeitgenössischer Kunstkritiker wurden nur die symptomatischen und diejenigen, die zur Zeit ihres Erscheinens wesentlichen Einfluß ausgeübt haben, beibehalten.
Aus dem ‘petit manuscrit’ sind nur einige wenige Partien in die Bearbeitung aufgenommen, charakteristische Details, die, wie es scheint, spät in der Erinnerung van de Veldes wieder aufgetaucht sind. Anders liegt der Fall in Beziehung auf das 1918 entstandene Manuskript ‘Destinée’. Es enthält einige ausführliche Abschnitte - unter anderem eine anschauliche, detaillierte und erklärende Beschreibung des Hauses ‘Bloemenwerf’ in Uccle und eine Darstellung der Diskussionen bei der Kölner Tagung des Deutschen Werkbundes von 1914 -, die sich als wertvolle Ergänzungen herausstellten. Obwohl diese Abschnitte mehr als dreißig Jahre vor der Niederschrift der Memoiren entstanden sind, wurden sie eingefügt. Die Entscheidung fiel um so leichter, als es sich herausstellte, daß sich van de Veldes Art, die Dinge zu sehen und darzustellen, im Laufe dieser Jahrzehnte nur wenig geändert hat.
Grundsätzliche Bedenken ergaben sich in Beziehung auf den ersten, in den fünfundzwanzig schmalen Classeuren aufbewahrten Entwurf der Lebensgeschichte. Kein Zweifel, daß van de Velde nie daran gedacht hat, auch nur Teile daraus zu
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veröffentlichen. Aus diesem Grund wurde von der Einbeziehung dieses Materials abgesehen, bis auf einen zusammenhängenden Komplex: die Darstellung der Vorgänge nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der anschließenden Periode in der Schweiz. Hier schien die Ergänzung zu den recht summarischen Aufzeichnungen im ‘grand manuscrit’ für das Verständnis der schwierigen Lage, in der sich van de Velde befand und die sich auf die folgenden Jahrzehnte seines Lebens auswirkte, so wichtig und der Bericht überdies innerlich so bewegt, der Umkreis der Persönlichkeiten, mit denen er in Berührung kam, so interessant, daß aus menschlichen und dokumentarischen Gründen der Entschluß zur Aufnahme dieser Abschnitte in die Memoiren getroffen wurde. Dagegen mußte vor allem wegen der Breite der Darstellung und der sich immer wiederholenden persönlichen Polemik für die holländische und belgische Periode der zwanziger und dreißiger Jahre auf die Ergänzung des ‘grand manuscrit’ aus dem Material der Ordner verzichtet werden. Es wird die Aufgabe späterer wissenschaftlicher Detailpublikationen sein, einzelne, für die Biographie van de Veldes aufschlußreiche Komplexe aus dem ersten Entwurf der Lebensgeschichte zu veröffentlichen.
Van de Velde schrieb - in seiner französischen Muttersprache - einen sehr persönlichen, auf einem großen Wortschatz beruhenden Stil, meist mit langen, verschachtelten und verschlungenen Sätzen, oftmals von zwanzig und mehr Zeilen. Es ist, als spiegle sich der Gestus der Ornamentik van de Veldes in der Verknüpfung der Gedankenfolgen und seinem Satzbau. Angesichts der Modernität im Gedanklichen überrascht das Festhalten an konventionellen, fast ergeben klingenden Floskeln und Titeln - mon grand ami, Son Altesse Royale, Sa Majesté, Son Excellence und so weiter -, ein Ton, der so gar nicht zum revolutionären freien Geist van de Veldes paßt. Der in gewisser Beziehung altväterische Ton, der den Memoiren einen Anflug von Patina gibt, ist die Folge der generationsmäßigen Bindung van de Veldes an das 19. Jahrhundert und an die Schicht des Bürgertums, der er entstammte. Trotz seines rebellisch in die Zukunft gerichteten Geistes stellte van de Velde die gesellschaftliche Autorität nicht in Frage.
Den Sprachbau und die Sprachmelodie van de Veldes ins Deutsche zu übertragen, schien nicht nur unmöglich, sondern auch unangebracht. So galt es, den Sinn möglichst genau zu übertragen und in seinen Worten die Zwischentöne vernehmbar zu machen, mit denen van de Velde seinen Feststellungen, Beobachtungen und Urteilen bestimmte Akzente gegeben hat. Bei der fachlichen Terminologie wurde möglichst wortgetreuer Anschluß an die originalen französischen Formulierungen angestrebt, allerdings in Grenzen: der Grundbegriff der Lehre van de Veldes zum Beispiel, die ‘conception rationelle’, wurde in der traditionellen Übersetzung - ‘vernunftgemäße Gestaltung’ - übernommen, obwohl es sinngemäß heißen müßte ‘Gestaltung nach den Prinzipien der Vernunft’.
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Von einer autobiographischen Darstellung ist kein sogenanntes objektives Geschichtsbild zu erwarten. Sie vermittelt das labile Bild eines Menschen, seine Verknüpfung mit den Zeitumständen, seine erfüllten und nicht erfüllten Wunschvorstellungen. Insofern wird das Ergebnis immer eine Mischung von Wahrheit und Dichtung sein. Was bei Autobiographien ungenau ist, muß nicht Unwahrheit bedeuten. Wie Schopenhauer gesagt hat: ‘Auch hat man unrecht zu meinen, die Selbstbiographien seien voller Lug und Verstellung. Vielmehr ist das Lügen, obwohl überall möglich, dort vielleicht schwerer als irgendwo.’ Es bleibt eine Frage der Perspektive, wie die Fakten und Vorgänge gesehen werden. Das Bedürfnis nach Rechenschaft und Rechtfertigung, das bei großen Persönlichkeiten besonders stark hervortritt, darf deshalb nicht mit dem Maß der - immer zweifelhaften - Objektivität gemessen werden.
Van de Veldes Memoiren sind ein typisches Beispiel des zwischen Wahrheit und Phantasie sich bewegenden Geistes. Sein schon in früher Jugend hervortretendes leidenschaftliches Selbstbewußtsein verwandelt sich mit den Jahren in magistrale Sicherheit. Aber das ist nur die eine Seite seiner Natur. Auf der anderen Seite fühlte er sich ständig bedroht und verfolgt, was sich ja nur allzu deutlich in seinem Schicksal abzeichnet. In dieser Spannung entstand der Drang, sich selbst und die Ereignisse in eigenwilliger Sicht aus der eigenen Perspektive zu schildern. Es war sein gutes Recht, das wir zu respektieren haben.
Anders steht es mit faktischen Irrtümern, die sich in die Darstellung eingeschlichen haben, mit unexakten Daten - van de Velde stand merkwürdigerweise schon von sehr früh an mit Jahreszahlen und dergleichen auf dem Kriegsfuß -, mit ungenauen Zitaten, verschobenen historischen Zusammenhängen und anderem mehr. Bei ihrer Entstehung haben ohne Zweifel das hohe Alter und die dadurch bedingte zeitliche Entfernung von vielen Ereignissen wie auch die Umstände, unter denen van de Velde die Memoiren schrieb, eine Rolle gespielt. Er hatte - wie schon erwähnt - in Oberägeri nur wenig dokumentarische Unterlagen und keine bibliographischen Hilfsmittel zur Verfügung, und auch die vielen schriftlichen Anfragen, die er an Freunde und frühere Schüler richtete, brachten nur verhältnismäßig wenig neues Material zutage. Bei der vorliegenden Ausgabe der Memoiren sind alle derartigen Ungenauigkeiten nach Möglichkeit korrigiert worden.
Neben diesen faktischen Irrtümern gibt es in dem bearbeiteten Material eine Reihe von Doppelversionen und anderen Widersprüchen, deren Sinn und Hintergrund nicht ohne weiteres aufklärbar ist. In solchen Fällen half die Einsicht in das ausführliche Material der fünfundzwanzig schmalen Classeure meist nicht nur nichts, sondern sie vermehrte noch die Unklarheiten. Für die Herausgabe wurde nach Möglichkeit die Entscheidung nach der größeren Wahrscheinlichkeit getroffen.
Es ist merkwürdig, daß van de Velde eine Reihe bedeutender Ereignisse und Begegnungen aus den Memoiren ausgeschlossen hat. Vor 1914 betrifft dies vor allem die Pariser Weltausstellung von 1900, über die er zwei Aufsätze in Maximilian
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Hardens ‘Zukunft’ geschrieben hat, und die Ausstellung auf der Mathildenhöhe in Darmstadt 1901, über die er mit wenigen Bemerkungen hinweggleitet. Eine so bedeutende Gestalt wie Eberhard von Bodenhausen, dem van de Velde so viel zu verdanken hatte, verschwindet in den Memoiren schon bald nach 1900, obwohl ein intensiver Briefwechsel zwischen den beiden Männern ihre dauernde Verbundenheit beweist; auch der vorzeitige Tod Bodenhausens im Frühling 1918, der van de Velde, wie wir aus Briefen wissen, tief getroffen hat, ist nicht erwähnt. Zu den merkwürdigen Lücken gehört auch das Schweigen über die brieflichen Kontakte mit Gropius, den van de Velde zu seinem Nachfolger in Weimar vorgeschlagen hatte, und über sein schriftliches Eintreten für das bedrohte Bauhaus im Jahre 1924. Auch fehlt jeder Hinweis auf den holländischen Architekten J.J.P. Oud, der zu Beginn der zwanziger Jahre, während van de Veldes Aufenthalt in Holland, die führende Gestalt der jungen holländischen Architektur gewesen ist, mit der sich van de Velde aufs gründlichste auseinandersetzte. Andere Ereignisse, die im Rohentwurf zwar erwähnt, im ‘grand manuscrit’ jedoch unbehandelt bleiden, sind unter anderem eine Studienreise im Jahre 1924 in die Tschechoslowakei, die Pariser Kunstgewerbe-Ausstellung von 1925, auf der Le Corbusier stark hervortrat, eine Italienreise Anfang der dreißiger Jahre, die offizielle Teilnahme an einem vom ‘Institut de Coopération Intellectuelle’ 1934 in Venedig veranstalteten Kongreß, bei dem van de Velde einen interessanten Vortrag über ‘Kunst und Staat’ hielt, und vor allem der Bau des 1937 als ‘Musée provisoire’ errichteten Kröller-Müller-Museums bei Otterlo, das heute noch eines der besten modernen Museumsbauten ist.
Der Bericht über die Jahre in Oberägeri schließlich ist nur eine Skizze geblieben, bei der auf so wichtige Ereignisse wie van de Veldes Vortrag vor dem Schweizerischen Werkbund bei der Tagung in Langenthal im Jahre 1947, auf seine letzte Reise nach Otterlo zur Fertigstellung des Erweiterungsbaus mit dem in seinen Formen puritanischen und doch stimmungsvoll konzentrierenden Vortragssaal, auf Besuche von Männern wie Richard Neutra und vielen anderen sowie auf den ständigen Austausch mit dem Architekten Alfred Roth kein oder nur wenig Bezug genommen wird. Ende 1955 erkrankte van de Veldes Tochter Thylla im Hause ihres Vaters, der ihren nahen Tod vor Augen sah. In einem Brief an seinen holländischen Freund Sam van Deventer schreibt er am 23. Dezember 1955: ‘Es ist zuviel des Leidens, daß ich meine Frau und fünf meiner sieben Kinder sterben sehen mußte...! Aber ich finde mich zur Arbeit zurück und beginne wieder mit dem Moment, in dem ich 1939 von New York zurückkehrte... ein dichter Nebel breitet sich über die Ereignisse aus, über die ich nun noch zu berichten habe.’
Diese Äußerung des Dreiundneunzigjährigen gibt ein erschütterndes Bild davon, wie es im Innern van de Veldes aussah. Gewiß, ihm war ein reiches Leben beschieden, und es mag scheinen, daß er ein wahrer Liebling der Götter gewesen ist; ein Leben in Schönheit und für die Schönheit. Van de Velde lebte, wo immer er auf- | |
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tauchte, in einem Kreis von Menschen, die ihn verehrten und liebten. Die dem Menschen von heute vielleicht künstlich oder gar theatralisch vorkommenden Formen der Verehrung waren echt. Noch nach Jahren und Jahrzehnten haben bedeutende Menschen in Briefen und anderen Äußerungen ausgesprochen, welcher Zauber von van de Velde ausging und in welchem Maß sie es als Glück empfunden haben, ihm nahegekommen zu sein - Menschen der verschiedensten Lebenskreise: Künstler, Gelehrte, Ärzte und Menschen aus dem praktischen Alltagsleben.
Aber dieses helle Bild wird von den unablässig einander folgenden Schicksalsschlägen verdüstert, die nicht nur von außen kamen, sondern stark mit dem heißen Temperament van de Veldes zusammenhängen, das ihn sein ganzes Leben hindurch bedrängt hat. Hinzu kommt, daß van de Velde zwischen den Zeiten stand. In dem Augenblick, als er die Höhe seines Lebens erreichte, drängte eine neue Generation nach oben, die in ihm den Repräsentanten abgeschlossener künstlerischer Entwicklungen sah, bis es sich herausstellte, daß van de Velde als Wegbereiter dieser Generation selbst noch die Kraft fand, sich mit den neuen Auffassungen und praktischen Voraussetzungen produktiv auseinanderzusetzen.
Aus dieser Zwischenstellung und zum Teil auch aus seinem Temperament, das von der Sensibilität oft zu selbstbetonter Aggressivität drängte, ergaben sich als Korrelat zu der ihm entgegengebrachten Verehrung die vielen, zum Teil häßlichen, politisch gefärbten Anfeindungen, denen van de Velde vom Beginn bis zum Ende seiner Laufbahn ausgesetzt gewesen ist. Nicht das schlechteste Zeichen für die Kraft und Bedeutung seiner Persönlichkeit!
Um so versöhnender ist der Ausklang dieses langen und bewegten Lebens: das Jahrzehnt in der lieblichen und zugleich großartigen Landschaft am Ägeri-See, die ihn, den Naturfreund, physisch erfrischte und geistig anregte, der Umgang mit den einfachen Menschen des Dorfes, ein Kreis von Freunden, die er halb im Scherz, halb im Ernst seine Schweizergarde nannte, die Genügsamkeit in den bescheidenen äußeren Lebensumständen, dem kleinen Haus und dem Tageslauf, den van de Velde mit seiner Tochter Nele verbrachte - er, der gewohnt war, im großen Stil zu leben. In dieser Bescheidenheit bewährte sich die Natur des geborenen Grandseigneurs, der van de Velde gewesen ist.
Der Herausgeber, der die Verantwortung für die vorliegende Fassung der Memoiren Henry van de Veldes trägt-auch die Kapiteleinteilung und die Titel der einzelnen Abschnitte gehen auf ihn zurück -, hat einer Reihe von Helfern für vorbehaltlose Unterstützung zu danken: an erster Stelle Herrn Thyl van de Velde, dem Sohn des Meisters, und seiner Tochter Nele, die ihm die schwierige und belastende Aufgabe anvertraut haben. Er ist sich der Angreifbarkeit seiner Lösungen bewußt, der sich jeder Bearbeiter fragmentarisch erhaltener Memoiren aussetzen muß. Sein Dank gilt sodann van de Veldes Freund Herrn Sam van Deventer für vielerlei Rat und Hilfe, ganz besonders aber Herrn Raphael Verwilghen in Brüssel, der vor allem in
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der letzten Phase der Arbeit mit nie erlahmender Freundlichkeit und Genauigkeit eine Unzahl wichtiger Auskünfte erteilt und unbekanntes Material zur Lebensgeschichte van de Veldes zur Verfügung gestellt hat. Walter Gropius ist für die Einsicht in briefliche Dokumente zu danken, die den Rücktritt van de Veldes von seinem Weimarer Amt und seine Beziehung zu Gropius und zum Bauhaus betreffen. Karl-Heinz Hüter, Weimar, der eine umfangreiche, noch ungedruckte Dissertation über van de Veldes Weimarer Zeit geschrieben hat, hatte die Freundlichkeit, den Herausgeber in das Manuskript Einsicht nehmen zu lassen, Klaus-Jürgen Sembach, München, der das Inventar der Bestände des Van-de-Velde-Archivs in Brüssel angelegt hat, gab eine Reihe wertvoller Hinweise; beiden Herren, wie auch Dr. Herta Wescher, die freundlicherweise Informationsmaterial aus Paris beschaffte, ist herzlich zu danken. Großen Dank schuldet der Herausgeber dem Direktor der Bibliothek der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, Herrn Dr. Paul Scherrer, für die Bereitschaft, einen Raum der Bibliothek zur Verfügung zu stellen, in dem der aus Oberägeri stammende schriftliche und literarische Nachlaß van de Veldes provisorisch untergebracht werden konnte. Frau Monique Humbert hat auf Grund einer ersten Redaktionsskizze des Herausgebers eine deutsche Rohübersetzung angefertigt, die der Herausgeber bei der endgültigen Textfassung dankbar verarbeitet hat. Allen voran gebührt jedoch Dank Herrn Klaus Piper, München, der als Verleger aus Überzeugung und mit größter Beharrlichkeit die Grundlagen schuf, welche die Herausgabe der Memoiren van de Veldes möglich gemacht haben, und das Werk in großzügiger Weise verwirklicht hat.
Januar 1962
Hans Curjel |
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