Geschichte meines Lebens
(1962)–Henry Van de Velde– Auteursrechtelijk beschermd
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Neuntes Kapitel Weimar I
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Westberg fand in den aus Uccle mitgebrachten Kisten genügend ‘Dahlia’- Tapetenrollen, die verwendet werden konnten. Die ganze Einrichtung der Wohnung konnte so arrangiert werden, daß Maria und ich nicht zu sehr unter der banalen und kleinbürgerlichen Folge der Räume zu leiden hatten. Man konnte einigermaßen in einer Atmosphäre atmen, aus der die schlimmste Häßlichkeit verbannt war und die sich von dem Durcheinander unterschied, das in den Häusern der kleinen Residenz das Normale war. Den meisten unserer Besucher mißfielen vor allem unsere Bilder. Ich erinnere mich an das Entsetzen einer alten Gräfin, die vor den Bildern Signacs, Matisses und Vuillards im Eßzimmer mit dem Ausdruck tiefster Bestürzung sagte: ‘Und Sie, Professor, finden so etwas schön!’ Beinahe wäre sie in Ohnmacht gefallen. In solchen Momenten sah ich, welche Unwissenheit, welche Distanz überwunden werden mußten, um meiner neuen Umgebung näherzubringen, was mir selbstverständlich war. Für die Räumlichkeiten des ‘Kunstgewerblichen Seminars’ und meiner Privatateliers entschied ich mich für ein altes, weitläufiges Haus, in dem einst der Maler Friedrich Preller, eine der Weimarer Lokalgrößen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, gelebt hatte. Früher lag es mitten in den Feldern zwischen der Belvedere-Allee und dem Park. Auch jetzt hatte es noch seinen Charakter als ‘Landhaus’ bewahrt; es lag für sich und war von schönen Bäumen umgeben. Im Erdgeschoß und in der ersten Etage richtete ich das Seminar mit allen nötigen Werktischen ein, in der zweiten meine Ateliers. Es lag mir daran, so rasch wie möglich die Verbindung zwischen meiner früheren Tätigkeit und meinen zukünftigen Aufgaben herzustellen. Mein Arbeitsfeld war bedeutend größer geworden und meine Autorität durch meine neue Stellung offiziell anerkannt. Als wir kaum in unsrer neuen Wohnung eingerichtet waren, erschien bei mir der Präsident des Vereins Deutscher Ingenieure, der Generaldirektor W. von Oechelhäuser. Er stellte sich mit allen seinen Titeln vor, und wir setzten uns im kleinen Salon zusammen. Der Geheimrat kam in offizieller Mission. Die letzte Generalversammlung des Vereins Deutscher Ingenieure ließ mir durch ihn den Dank für ein Kapitel in meinem Buch ‘Die Renaissance im Kunstgewerbe’ aussprechen, das die Mitglieder des Vereins tief beeindruckt hatte. In diesem Kapitel hatte ich gefordert, daß der Ingenieur dem Künstler gleichgestellt werden solle; die Werke des Brücken- | |
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und Schiffsbaus, die Lokomotiven und anderen Maschinen wie auch die großen Straßen und die Anlage von Städten seien ebenso als Werke der Kunst zu betrachten wie die Architektur, die Malerei, die Bildhauerei, die Dichtung oder die Musik. Lange vor meiner Zeit hatten schon Emile Zola und Joris Karl Huysmans die ‘Kunst der Ingenieure’ verteidigt, erklärte ich dem Geheimrat, und Napoleon I. hatte verlangt, daß die großen Werke des Chausséebaus gleichberechtigt mit den Denkmälern, Gemälden und Werken der Bildhauerei an den alljährlichen Wettbewerben des Départements der Künste teilnehmen sollten. Mit aller Deutlichkeit wies ich im weiteren Verlauf unserer Unterredung auf den Mißbrauch hin, jedem Architekten, Maler, Bildhauer oder Schriftsteller den Rang eines ‘Künstlers’ zuzumessen, nur weil er eine dieser Künste ‘ausübt’. Ich könne diesen Rang nur einigen wenigen zuerkennen. Bei den Ingenieuren sei es wohl kaum anders, fügte ich etwas boshaft hinzu. Kurz nach dem Besuch des Präsidenten von Oechelhäuser erhielt ich zwei architektonische Aufträge, den einen von Herbert Esche, den anderen von einem Arzt in Den Haag, Doktor Leuring. Für Herbert Esche hatte ich schon 1898 Möbel entworfen. Mit der für Harry Kessler geschaffenen Einrichtung waren sie die letzten, die in den Brüsseler ‘Ateliers’ hergestellt worden waren. Jetzt hatte Herbert Esche ein Grundstück an der Peripherie von Chemnitz gekauft. Er wünschte, ein Haus zu haben, das mit dem Geist der für ihn geschaffenen Möbel und anderen Gegenstände übereinstimmte, um endlich den zwischen der Einrichtung und der vulgären und prätentiösen Mietswohnung bestehenden Widerspruch zu beseitigen, in dem er lebte. Er empfand, wie er mir sagte, diesen Kontrast als eine ständige Beleidigung, von der ihn nur ein von mir entworfenes Haus befreien könne, dessen Außenbau der gleichen künstlerischen Konzeption entspräche wie der Innenbau und die Möbel. Von Doktor Leuring wußte ich nur, daß er ein intimer Freund des Malers Jan Thorn Prikker war und dessen Geschmack, seine Überzeugungen und vor allem seine Vorliebe für exotische Dinge teilte. Wiederum stellte ich mir die Frage, ob ich mich jemals mit anderen Menschen so weit identifizieren könnte, um für sie zu tun, was ich mit dem Haus ‘Bloemenwerf’ auf natürlichste Weise für Maria und mich geschaffen hatte. Die Antwort auf diese Frage hing eng mit der Entwicklung meiner Lauf- | |
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bahn zusammen. Der Umkreis meiner Tätigkeit breitete sich aus. Ich hatte mir wesentliche Kenntnisse in allen Techniken des Kunsthandwerks erworben; jetzt galt es, mir die besonderen Grundlagen der architektonischen Konstruktion anzueignen. Im Grunde war es für mich keine große Sache. Ich glaube tatsächlich, daß es komplizierter und schwieriger ist, den Detailplan eines Stuhles zu entwerfen als die Pläne für eine Villa, eine Schule, ein Hotel oder einen Bahnhof. Die beiden Häuser in Holland und Deutschland erregten das gleiche Erstaunen, die gleiche Kritik und das gleiche Lob wie einige Jahre vorher unser Haus ‘Bloemenwerf’ in Belgien. Es zeigte sich, daß ich mehr und mehr auch auf dem Gebiet der Architektur zu den Bahnbrechern gehörte, die mit Hilfe des Prinzips der vernunftgemäßen Gestaltung wirksam zur Erneuerung beigetragen haben. Alle meine Bauten, die den am Beginn meiner architektonischen Laufbahn stehenden Häusern ‘Bloemenwerf’, Esche und Leuring folgten, sind Zeugnisse meines persönlichen Beitrages zur Entwicklung des ‘neuen Stils’ geworden. | |
Das ‘Kunstgewerbliche Seminar’Meine Berufung nach Weimar als künstlerischer Berater wurde weithin als außerordentliches Ereignis empfunden und die mir gestellte Aufgabe mit großem Interesse verfolgt. In keinem Lande gab es etwas Ähnliches, und kein Souverän, keine Regierung hatte daran gedacht, das verfallene Kunsthandwerk unter ihren Schutz zu nehmen, obwohl es ein großes historisches Vorbild gab: den Tuchhändlersohn Colbert, der als Minister Ludwigs XIV. die französischen Manufakturen gegründet hatte. Es fiel besonders auf, daß die Wahl des Großherzoges Wilhelm Ernst auf einen ausländischen Künstler gefallen war, dessen Meinungen und Schöpfungen in den offiziellen Kreisen als subversiv und revolutionär verschrien waren. Der Großherzog indessen stützte sich auf die Meinung seiner nächsten Berater, die für Weimar eine neue Ära herbeizuführen und eine Tradition wiederzubeleben wünschten, die schon zweimal zu Höhepunkten des Geisteslebens geführt hatte. Die Dienste, die der Großherzog von mir er- | |
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wartete, waren auf realistische Ziele gerichtet. Sowohl künstlerische wie wirtschaftliche Interessen veranlaßten ihn und seine Regierung, mich mit der Aufgabe zu betrauen, das Niveau der kunsthandwerklichen und kunstindustriellen Produktion zu heben. Zunächst galt es, meine Ideen zu konsolidieren und bei den Handwerkern und Industriellen möglichst rasch bekanntzumachen. Ich gründete deshalb neben meinen Privatateliers, zu denen sich gleich nach meiner Übersiedlung nach Weimar spontan einige Schüler gemeldet hatten, ein Institut zur Unterstützung der Arbeit von Kunsthandwerk und Industrie, genauer gesagt eine Art Laboratorium, in dem sich jeder Handwerker oder Fabrikant kostenlos beraten und seine Erzeugnisse analysieren und verbessern lassen konnte. Zu Beginn war ich alles in einer Person: Berater, Anreger, Korrigierender. Später, nachdem ich die Kunstgewerbeschule ins Leben gerufen hatte, halfen mir meine Mitarbeiter und auch Schüler. Die fruchtbaren Ergebnisse dieser Institution zeigten sich sehr rasch. Ich taufte dieses Institut ‘Kunstgewerbliches Seminar’, weil ich überzeugt war, dort den Samen sammeln und verteilen zu können, der dann im Kunsthandwerk und in der Kunstindustrie aufgehen sollte. Jeder Zeichner oder Modelleur konnte unter meiner Kontrolle seine Arbeit durchführen, die er dann in seinem Betrieb weiterentwickelte. Ich glaube sagen zu dürfen, daß keiner dieser Zeichner oder Modelleure in seine Fabrik oder Werkstatt zurückgekehrt ist, der nicht wirklich glücklich war, einmal in einer Atmosphäre gearbeitet zu haben, in der im Gegensatz zu den Fabriken keine Hast herrschte, wo sekundäre und engherzige Interessen verbannt und wo alles darauf angelegt war, sauber zu arbeiten, befriedigende Ergebnisse zu erzielen und die vollkommenste Form zu finden. Alle sind ermutigt, erfrischt und bereichert von Wissen und von den ihnen vermittelten Grundsätzen, die ich bei den Korrekturen zu erklären und formulieren versuchte, wieder an ihre Arbeit gegangen. Sie vervollständigten ihre Kenntnisse im Umgang mit meinen Mitarbeitern und Schülern, die ihrerseits Wesentliches von den Fachhandwerkern lernten. Diese wiederum profitierten vom Talent meiner Schüler und von ihrer jungfräulichen Frische und ihrer Freiheit von jedem merkantilen Hintergedanken. Später, nach der Gründung der Kunstgewerbeschule, veranstaltete ich unter den fortgeschrittenen Schülern mehrmals Wettbewerbe, bei denen Modelle geschaffen werden mußten, die durch Vermitt- | |
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lung des Seminars den interessierten Industriellen zur Ausarbeitung überlassen wurden. Das ‘Seminar’ wurde das wirksamste Instrument, um auf dem kürzesten Weg zu dem Ziel zu gelangen, das ich mir gesetzt hatte: zur Zusammenarbeit von Künstler, Kunsthandwerker und Fabrikant. Ich habe diese Zusammenarbeit sechs Jahre vor der Gründung des Werkbundes und zwanzig Jahre vor dem ‘Bauhaus’ verwirklicht. Im Verlauf meiner Darstellung komme ich noch einmal auf die Gründung des Werkbundes zurück. Was den Gründer des Bauhauses, Walter Gropius, betrifft, den ich als meinen Nachfolger empfahl, so gehöre ich zu den aufrichtigen Bewunderern des Elans, mit dem er meine unter schwierigen Umständen von 1901 bis 1914 durchgeführten Bestrebungen aufgenommen und verbreitet hat.
Eine Reihe von Fabrikanten wurde sich rasch über die praktischen Vorteile des ‘Kunstgewerblichen Seminars’ klar. Sie schlugen ihrerseits dem Seminar die Veranstaltung von Wettbewerben vor, zu denen sie bescheidene Beiträge zur Verfügung stellten. Auch die Regierung bediente sich mehrmals dieser Möglichkeit, um Modelle für die Korbflechterei, die Töpferei und für Spielzeuge zu erhalten, die im Großherzogtum Sachsen-Weimar im Rahmen der Hausindustrie erzeugt wurden. Ich erkannte aber bald, daß mit der Überlassung einer Zeichnung oder eines Modells an den Kunsthandwerker oder Fabrikanten längst nicht alles getan war. Die Ausführung ließ dermaßen zu wünschen übrig, und die Materialien waren von derart schlechter Qualität, daß alle unsere Anstrengungen im Seminar wie auch die der Zeichner und Modelleure, die während ihres Aufenthaltes in Weimar ihr Bestes zu geben versuchten, vereitelt, wenn nicht zunichte gemacht wurden. Auf alles, was nicht unter meiner ständigen Leitung und Überwachung im direkten Umkreis meines Ateliers geschah, hatte ich nur wenig oder überhaupt keinen Einfluß. In den Werkstätten der Weimarer Kunsthandwerker jedoch, wo ich wohlgelitten und sehr oft mit dabei war, fühlten sich die mit der Ausführung der Modelle und Zeichnungen betrauten Arbeiter ermutigt, so daß die Ergebnisse auch entsprechend gut waren. Außerhalb Weimars kümmerten sich nur verhältnismäßig wenige Kunsthandwerker oder Fabriken um unsere Bestrebungen. Die Porzellan-, Tep- | |
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pich- und Spielzeugindustrie produzierte vor allem Massenware zu möglichst billigen Preisen. Die erfreulichsten Auswirkungen meiner Anstrengungen realisierten sich in den Erzeugnissen der Töpferei in Bürgel, der Korbflechtereien in Tannroda und der Fabrik in Ruhla, die Pfeifen und Zigarrenspitzen aus Meerschaum herstellte.
Was in Weimar geschah, war kein vereinzeltes Experiment. Auch das Verantwortungsgefühl des Großherzogs der Tradition gegenüber, das ihn zum Handeln bestimmte, hatte seine Ursachen. Den Fürsten der deutschen Bundesstaaten war jede Initiative auf dem Feld der großen Politik und jede tatsächliche Mitwirkung an der Leitung des Kaiserreiches versagt. Wenn ihnen nach den Jahren des Militärdienstes oder als Korpsstudenten einer Universität noch eine Spur von Interesse außer für die Jagd verblieb, suchten sie eine gewisse Befriedigung durch Förderung dessen, was man Kunst und Kultur nannte. Unter aufgeklärten und begeisterungsfähigen Fürsten hat es immer Rivalitäten gegeben, die sich oft als fruchtbar erwiesen. So entwickelte sich je nach der besonderen Vorliebe des regierenden Souveräns eine Tradition, die bald dem Theater, der Musik, der Literatur oder der Malerei zugute kam. Weimar, Gotha, Meiningen, Karlsruhe und Stuttgart, München und Dresden wetteiferten auf den Gebieten der Kunst, wie die zahlreichen deutschen Universitäten zum großen Vorteil der Wissenschaft miteinander rivalisierten. Wir erlebten damals den Konkurrenzkampf der großen Zentren Berlin, Hamburg, Frankfurt, Köln oder Düsseldorf auf dem Gebiet der Museen, ein Beispiel der Großzügigkeit der Bürger, die aus Lokalpatriotismus bestrebt waren, mit ihren eigenen Museen diejenigen der Nachbarstädte zu übertrumpfen. Verglichen mit solcher allgemeinen Aktivität mußte die mir zugewiesene spezielle Aufgabe - das moralische Niveau und damit die Qualität der Produktion zu heben - als ungewöhnlich erscheinen. Wir befanden uns in einem kleinen Land, dessen patriarchalische Sitten und Vorstellungen noch nicht dem Schock sozialer und ökonomischer Erschütterungen ausgesetzt worden waren. Abgesehen von den beiden Weltfirmen Zeiss und Schott in Jena waren die zahlreichen Industrien des Landes Eigentum kleiner Leute. Wenn sie auch gezwungen waren, ein wenig über ihren eigenen Horizont zu schauen, so behielten sie doch die alten | |
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thüringischen Sitten und ihre jahrhundertealte Anhänglichkeit an das Fürstenhaus bei. Ich erkannte, daß gerade aus dieser Anhänglichkeit und den traditionellen Produktionsbedingungen Nutzen zu ziehen sei. Eine Reihe von Berichten an den Großherzog war das Ergebnis meiner ersten Inspektionen. Es hätte mir noch Freude gemacht, diese Rapporte aus den Akten des Ministeriums auszugraben, wo sie zusammen mit anderen Aktenstößen verstaubten. | |
JugendstilZur Zeit meiner Amtsübernahme in Weimar beschränkte sich das Kunsthandwerk auf die schon erwähnte ausgezeichnete Kunsttischlerei Scheidemantel, auf eine Metall- und Goldschmiedewerkstatt, deren beide jungen Inhaber den besten Willen an den Tag legten, auf einen leider kränklichen Kunstschmied und auf eine intelligent und interessiert geleitete Lederwerkstatt. Die anderen Kunsthandwerker und Kunstindustrien, die ‘modern’ eingestellt waren, unterlagen den Anziehungskräften des ‘Jugendstils’, das heißt seiner sensationellen ‘Neuheit’, durch welche die Kundschaft und die der Kundschaft hörigen Reisenden angezogen wurden. Was dieser ‘Jugendstil’ näher besehen eigentlich war, darauf konnte man weder von den thüringischen noch von den Industriellen anderer Länder in Europa eine Antwort erwarten. Es hatte eine Überschwemmung zweier auseinanderfallender Gestaltungsprinzipien stattgefunden: einerseits der linearen Ornamentik, die ich auf Plakaten, bei Stoffen und Tapeten, bei den übermäßig bewegten Strukturen meiner Möbel um 1900 benutzt und in Wort und Schrift propagiert hatte; andrerseits der stilisierten naturalistischen Motive, die von den Bildern und Illustrationen der englischen präraffaelitischen Maler übernommen worden waren. Es besteht kein Zweifel, daß Otto Eckmann sich als erster dieser Zwittermischung bediente, anfänglich in den Illustrationen der Münchner Zeitschrift ‘Die Jugend’, später bei Teppichen, Tapeten und Metallarbeiten (Lampen), die ihm größten Erfolg brachten. Obwohl diese Tatsache be- | |
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kannt war, wurde mir die Urheberschaft zugeschoben, als der Zusammenbruch dieses ‘Stils’ offenkundig wurde, und meine oberflächlichen Gegner versuchten, mich als den vermeintlichen Erfinder zu verurteilen. Die Wahrheit sieht anders aus. Die gewundenen Linien Eckmanns stammen ab von den Zeichnungen Walter Cranes mit ihren naturalistischen Elementen, mit ihren faden, schmachtenden Gestalten in wehenden Gewändern und mit aufgelösten Haaren, über denen die Düfte seltener Blumen ausgegossen zu sein scheinen. Meine Formensprache jedoch geht ebenso auf meine Entdeckung der Kräfte der Linie und des dynamischen Ausdrucks der Formen wie auf die Struktur der Ornamente zurück, die mich in meiner frühen Entwicklungsphase zu gewissen Übertreibungen führten. Was ich damals als definitiv annahm, waren jedoch erst die Skelette der Formen und Ornamente. Ich empfand das Bedürfnis, meinen ‘Fall’ gründlicher zu überdenken, als es in den bewegten Zeiten unseres Berliner Aufenthaltes möglich gewesen war. In der Ruhe Weimars und der klösterlichen Atmosphäre des Prellerhauses, vor den einfachen, ornamentlosen Wänden, den bescheidenen Möbeln, den Schiefertafeln und dem primitiven Arbeitsgerät fand ich die Atmosphäre der Moral und des Spirituellen wieder, aus der meine ersten Arbeiten entstanden sind. All das Sensationelle, Spektakuläre - will sagen Gefährliche - war wie durch einen Zauber weggewischt. Ich wurde mir klar, daß ich mich während des Jahres in Berlin von den einfachen, gesunden Prinzipien, aus denen das Haus ‘Bloemenwerf’ entstanden war, und von den Grundlagen entfernt hatte, von denen aus ich um die Wiedergeburt des Geschmacks kämpfte. | |
Inspektionsfahrten mit der GrossherzoginmutterIn den ersten Weimarer Monaten hatte ich mir alle Unterlagen über die Kunsthandwerker und Fabriken verschafft, bei denen sich die Mitarbeit eines Künstlers und eine ästhetische Beratung und Kontrolle lohnten. Die lange Hoftrauer nach Karl Alexanders Tod und die Verpflichtung, sich in die Regierungsgeschäfte einzuarbeiten, ließen dem Großherzog nur | |
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wenig Zeit, meine Aktivität und meine ersten Erfahrungen mit dem Seminar zu verfolgen. Er wünschte, daß seine Mutter mich nach ihrer Rückkehr aus Rom bei den Kunsthandwerkern und Fabrikdiretoren, von denen die Existenz der arbeitenden Bevölkerung abhing, einführte. Als sich die Großherzoginmutter Pauline im Sommer des Jahres 1902 wieder in Schloß Belvedere eingerichtet hatte, legte ich ihr mein Programm und die Liste der Betriebe vor, die wir im Namen des Großherzogs zu besuchen hatten. Die Fürstin sagte mir ihre volle Unterstützung zu; sie interessierte sich offenbar sehr für meine Pläne. Es wurde beschlossen, die Fahrten mit Pferd und Wagen zu machen. Auf solche Weise konnte die Großherzoginmutter zugleich mit der Bevölkerung näheren Kontakt aufnehmen und sich von den Untertanen über ihre Sorgen und Nöte aufklären lassen. Auf unseren Fahrten und den Besuchen der Gemeindebehörden, Fabriken und Werkstätten erfuhr die Großherzoginmutter, was Popularität bedeutet. Während ihrer Ehe mit dem Erbprinzen hatte ihr Schwiegervater Karl Alexander sie zu einer Zurückgezogenheit gezwungen, die nach dem Tod ihres Gatten, der zu Lebzeiten Karl Alexanders eintrat, noch größer wurde. Ihr Sohn Wilhelm Ernst wurde Erbe des Thrones. Die ihr übertragene Aufgabe, mit mir zusammenzuarbeiten, machte sie überglücklich. Unsere Reisegesellschaft bestand jedesmal aus zwei oder drei Wagen. Den ersten, einen Vierspänner, lenkte der Oberstallmeister selbst. Die Großherzoginmutter und die Oberhofmeisterin befanden sich auf dem Vordersitz, der Oberhofmarschall und ich auf dem Rücksitz. In den anderen Wagen hatten verschiedene Würdenträger Platz genommen. Die Kutscher und Lakaien trugen Gala-Uniformen. Von allen Teilnehmern der Kavalkade war ich der einzige, dem eine Stelle aus dem schönen Buch ‘Ruskin et la Religion de la Beauté’ des französischen Ästheten Roger de la Sizeranne in den Sinn kam: die Beschreibung der feierlichen Ansprache, die Ruskin vor einer Versammlung von Anarchisten, Deisten, Nonkonformisten und Quäkern hielt, und die theatralische Art, mit der er sich von seinen bestürzten Zuhörern verabschiedete und seine Sänfte bestieg, während sein Diener sich tief verneigte. Dieser Besuch meines berühmten Vorläufers blieb damals ohne jede Folgen, wogegen unsere Visiten positive Ergebnisse zeitigten. Noch vor Sommersende konnten | |
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wir auf einer Fahrt, bei der die Großherzoginmutter vom Oberhofmarschall des Großherzogs begleitet war, eine Reihe von Gegenständen sehen, die von den kleinen Industrien des Landes nach meinen Entwürfen ausgeführt worden waren. Bald darauf waren in den Geschäften Berlins, Münchens, Hamburgs und Düsseldorfs Rohrmöbel zu haben, die von den ‘Vereinigten Korbflechtereien Tannrodas’ auf den Markt gebracht wurden. Und im Winter sah man in Weimar im Schaufenster von Bauer einige Vasen und ein kleines Teeservice aus den neubelebten Bürgeler Töpfereien. Gegenüber zeigten der Kunsttischler Scheidemantel Möbel und andere Einrichtungsgegenstände, das Goldschmiedegeschäft Müller Metallarbeiten, und nicht weit davon fand man Ledereinbände - alles von mir entworfene Dinge, die jedermann in Weimar kaufen konnte. Im darauffolgenden Frühling hatte Harry Kessler zu Ehren der von Rom zurückgekehrten Großherzoginmutter im Museum am Karlsplatz schon einen ganzen Saal mit derartigen kunstgewerblichen Gegenständen gefüllt. | |
‘Laienpredigten’ und Folkwang-MuseumNeben allen meinen Arbeiten in Weimar mußte ich den Verpflichtungen nachkommen, die ich vor meiner Übersiedlung nach Weimar in Berlin übernommen hatte. Die beiden wichtigsten waren die Einrichtung des Folkwang-Museums in Hagen und die Fertigstellung des Textes für das Buch ‘Kunstgewerbliche Laienpredigten’ für den Verleger Ernst Arthur Seemann in Leipzig, das meine in Belgien gehaltenen Vorträge ‘Wie ich mir freie Bahn schuf’, ‘Eine Predigt an die Jugend’ und ‘William Morris, Kunsthandwerker und Sozialist’ sowie einen in Berlin gehaltenen Vortrag ‘Prinzipielle Erklärungen’ enthält. Die ‘Prinzipiellen Erklärungen’ der ‘Kunstgewerblichen Laienpredigten’ bestehen aus vierzig Abschnitten mit einem einleitenden Kommentar über die Wiedergeburt der vernunftgemäßen Gestaltung der Formen und ihrer vollständigen und verständlichen Funktion. Weitere Paragraphen befassen sich mit der Schöpfung einer linearen, abstrakten und organischen Ornamentik, die ebenso selbstverständlich aus den Gegenständen heraus- | |
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wächst, wie die Pflanze Ornamente hervorbringt, die nicht Dekoration, sondern Lebensbestandteil sind. Mir schwebte die Rückkehr zu einer vernunftgemäßen (logischen) Schönheit vor, wie sie in der Urzeit des Menschen und in den primitiven Epochen hervortritt. Während der Arbeit an den ‘Prinzipiellen Erklärungen’ wurde ich mir einer Wahrheit bewußt, die zu einer der Grundlagen des ‘neuen Stils’ wurde: das Gift, der Virus der Phantasie hat zwar unsre Augen, aber weniger unser Gehirn verdorben. Ein leidenschaftlicher Appell kann den Verstand aus der Erstarrung lösen, aber die Augen bleiben der Häßlichkeit gegenüber unsicher, trübe, gleichsam gelähmt und unempfindlich, solange die Vernunft nicht auf sie einwirkt. Ich habe früher schon gesagt, in welchem Augenblick meines Lebens ich diesen Appell an die Vernunft vernommen habe und bei welcher Gelegenheit - es war beim Bau und bei der Einrichtung des Hauses ‘Bloemenwerf’ - ich meine Bereitschaft kundgab, meinen Beitrag zu leisten und mit gutem Beispiel voranzugehen. Für die Einrichtung des Folkwang-Museums war ein Teil der Aufträge Weimarer Kunsthandwerkern übertragen worden, das meiste wurde jedoch von einer gewissenhaft geleiteten Berliner Kunsttischlerei hergestellt. Bei der Eröffnung des Museums, dessen deutsch-mythologischer Name durch nichts gerechtfertigt war, erschien Karl Ernst Osthaus nicht mehr als der verlegene junge Mann, als der er im Haus ‘Bloemenwerf’ aufgetaucht war. Sein Geschmack und die Ziele, die er sich mit dem Museum gesetzt hatte, waren andere geworden. Im gut beleuchteten Souterrain waren die Schmetterlings- und Käfersammlungen untergebracht, im Erdgeschoß alles, was er von seinen Reisen heimgebracht hatte. Im Obergeschoß befand sich die Gemäldesammlung in einem großen Saal, der unmittelbar mit einem Musikraum verbunden war, wo Osthaus Kammermusikaufführungen zu veranstalten gedachte. Von den Düsseldorfer Landschaftsmalern war nichts mehr zu sehen. Seit unsrer Begegnung hatte sich eine vollständige Wandlung in Osthaus' Geschmack vollzogen, besonders nachdem ich ihn mit den Kunsthändlern Ambroise Vollard in Paris und Paul Cassirer in Berlin zusammengebracht hatte. Seine Bekehrung war spontan eingetreten, und sein Sinn und das Verständnis für Kunstwerke von hoher Qualität entwickelte sich außergewöhnlich rasch. In weniger als einem Jahr hatte er Werke von Monet, | |
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Renoir, Seurat, Signac, Cross, van Gogh, Gauguin und Skulpturen von Minne, Rodin und Constantin Meunier erworben. Bevor die Freundschaft zwischen uns entstand, waren Osthaus die Namen all dieser Maler und Bildhauer nicht bekannt gewesen. Aber es macht mir Freude, festzustellen, daß er später unabhängig die ästhetischen Entwicklungen verfolgte, allein architektonische Entscheidungen traf und selbständig seine Kunstsammlungen ausbaute. Die Einweihung des Folkwang-Museums fand am 19. Juli 1902 statt. Es erschien als eine Art Gegenstück zu der 1901 eröffneten Künstlerkolonie ‘Mathildenhöhe’ in Darmstadt, die ein ‘Dokument deutscher Kunst’ genannt wurde. Kein erfahrener Kritiker konnte jedoch zweifeln, welches dieser beiden ‘Dokumente’ entscheidend war. Beide erhoben Anspruch darauf, mit der Stil-Imitation gebrochen zu haben. Aber während die Darmstädter Künstler sich voll und ganz der dekorativen Phantasie hingaben, bemühte sich der Erbauer des Hagener Museums um Form und logische Konstruktion. Die Darmstädter Künstler hatten sich mit Fragen des Geschmacks, aber nicht mit ästhetischen Prinzipien beschäftigt. Prinzipien hätten kaum das Interesse des hessischen Großherzogs erregt, den ich später kennenlernte. Sein impulsiver Wunsch war, Künstler um sich zu scharen, seinem Land und seinem Hofe Glanz zu geben, um den Großherzögen von Sachsen-Weimar und Sachsen-Meiningen nicht nachzustehen. Seine persönliche Vorliebe galt der Architektur und den dekorativen Künsten. Daher die Wahl der von ihm berufenen Künstler, die er in seiner Hauptstadt ansiedelte. Der Idee fehlte es nicht an Größe, aber die Wahl der Künstler war strittig. An die Spitze der Gruppe stellte der Großherzog Ernst Ludwig den Wiener Architekten Josef Olbrich, einen der begabtesten Schüler Otto Wagners, des Vorkämpfers der neuen österreichischen Architektur. Die Berufung eines anderen, der Wiener Schule zugehörenden Architekten, wäre gerechtfertigter gewesen: Josef Hoffmanns, der später sein Talent und seine künstlerische Kultur durch ausgezeichnete Bauten und auch durch die Wahl seiner Mitarbeiter - vor allem Gustav Klimts - bewiesen hat; auch an der Gründung der ‘Wiener Werkstätten’, die er später mit großer Autorität leitete, war Hoffmann entscheidend beteiligt. An zweiter Stelle stand Peter Behrens. Er zeichnete sich durch hervorragenden Geschmack aus, war in der | |
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Sicherheit seines Stils seinen Kameraden überlegen und drängte nach größeren Aufgaben. Berlin wurde später das Feld seiner Tätigkeit.
Zu Beginn der Weimarer Jahre fühlte ich mich in meinen Beziehungen zum Publikum gestört. Es war mir unangenehm, als ein Star, als ein Zauberer, gewissermaßen als ein Clown betrachtet zu werden. Bei einem Besuch, den ich dem Maler Franz von Stuck in München machte, kam mir dies blitzartig zum Bewußtsein. Stuck hatte sich ein Palais bauen lassen, wobei er sich das Palais des berühmten Porträtisten Franz von Lenbach zum Vorbild nahm. Wie bei Lenbach war alles falscher, geschmackloser Luxus. Die üppigen Wand- und Deckentäfelungen schienen aus wertvollem Holz zu sein; in Wirklichkeit waren sie aus Gips. Zwei junge Damen warteten im Vorzimmer Stucks auf einem großen Sofa auf den Augenblick, in das ‘Allerheiligste’, das Atelier des Meisters eingelassen zu werden. Ein galonierter Diener nahm meine Karte in Empfang. Ich setzte mich den beiden sittsam wartenden jungen Damen gegenüber. Nach ein paar Minuten kehrte der Diener zurück und verkündete feierlich: ‘Herr Professor von Stuck läßt Herrn Professor van de Velde (er betonte den Titel) bitten, einige Augenblicke Geduld zu haben. Herr Professor von Stuck wird ihn sofort empfangen.’ Mein Name genügte, um die beiden Frauen zu elektrisieren. Der Diener hatte noch nicht die Tür geschlossen, und schon änderten sie ihre Haltung. Sie warfen ironische Blicke auf alles, was sich in diesem feierlichen Vorraum befand, damit ich sie ja nicht mit den ‘Altmodischen’ verwechseln sollte, über die ich mich ebenso gerne lustig machte wie über die Wohnungen der Großmütter und alten Tanten. Ich hatte meinen grausamen Spaß an der Zappelei der beiden jungen Damen. Schließlich erschien der Meister, reichte mir die Hand, und die Szene war zu Ende. Die Damen in Weimar waren wie die Münchner ‘Gänse’ überzeugt, daß ich nur nach Neuheit und Extravaganz haschte. Sie waren begierig, die zum Trocknen aufgehängte Wäsche unserer Kinder zu betasten. Ihre Enttäuschung, nichts Außergewöhnliches zu finden, wurde durch ein Dutzend Kinderkleider von originellem Schnitt und buntscheckigem, fröhlichem Kattun entschädigt, dessen Farben den echten Batiken angeglichen waren, die die holländischen Fabriken nach Indonesien verschifften. | |
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Am Weimarer HofDas ruhige Leben der Residenz stand im Gegensatz zur fieberhaften Atmosphäre Berlins. Im Vergleich zu dem, was wir in der Reichshauptstadt mitgemacht hatten, belasteten uns die gesellschaftlichen Verpflichtungen in Weimar nicht sehr. In der ersten Regierungszeit Wilhelm Ernsts - vor seiner Verheiratung - gab es nur wenige Veranstaltungen bei Hofe und ab und zu ein Souper nach Galavorstellungen im Theater. Ich hatte vereinbart, die Hoftenue für Zivilpersonen - den betreßten Frack, Zweispitz, weiße Hosen und Degen - nicht tragen zu müssen. An meinem ersten Geburtstag, den ich in Weimar feierte, erhielt ich den Titel ‘Professor’. Ich mußte ihn annehmen, obwohl ich gewünscht hatte, von Ehrenauszeichnungen verschont zu bleiben. Aber der gerade damals zum Direktor der Kunstakademie berufene Maler Hans Olde wurde mit diesem Titel ausgezeichnet, und es wäre als schockierend empfunden worden, wenn ich nicht den gleichen Rang wie Olde erhalten hätte. Am Weimarer Hof spielte wie an allen anderen Höfen der Rang eine entscheidende Rolle. Die deutschen Zeitungen hielten ihre Leser über meine Arbeit auf dem laufenden. In manchen Meldungen war der Unterton des Angriffs gegen den selbstgefälligen autoritären Geschmack des Kaisers nicht zu überhören. Die Haltung der Großherzöge von Sachsen-Weimar und von Hessen gab Anlaß zu Andeutungen in dieser Richtung. Die satirischen Wochenschriften ließen es an sarkastischen Anspielungen, Karikaturen und kleinen Geschichten nicht fehlen. Ich habe den Wunsch des Großherzogs nach guten Mitarbeitern verstanden, nach wirksamer Unterstützung vor allem bei der Vorbereitung seiner Reden und in Situationen, in denen sein Mangel an allgemeiner Bildung nur zu sehr in Erscheinung trat. Aber ich bemerkte bald, daß er auf den hartnäckigen Widerstand seines allernächsten Kreises stieß. Keiner der hohen Würdenträger des Hofes dachte auch nur daran, den geringsten Teil der Autorität preiszugeben, die er mit seiner Person und Funktion verbunden glaubte. Erst später erfuhr ich, daß sie nichtsdestoweniger alle um ihre Stellung zitterten und sich ständig von Feinden umgeben glaubten. Zunächst war ich mir nicht darüber klar, daß der Mangel an allgemeiner | |
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Kultiviertheit bei Wilhelm Ernst größer war, als man normalerweise bei einem ausschließlich auf der Potsdamer Militärakademie erzogenen jungen Offizier erwarten konnte. Ich wurde bald eines Besseren, richtiger eines Schlechteren belehrt. Der Großherzog hatte nach einem Gastspiel Coquelins des Jüngeren, der im Hoftheater Molières ‘Eingebildeten Kranken’ spielte, den berühmten Schauspieler der Comédie Française zu einem Souper in die Privatsalons des Schlosses eingeladen. Coquelin hatte seine Rolle mit unvergleichlicher Virtuosität gespielt. Ein kleines Dutzend Personen war um den Großherzog und seinen illustren Gast versammelt. Alle sprachen fließend Französisch; nur Wilhelm Ernst hatte einige Schwierigkeiten. Zu Beginn des Soupers hatte er einige Worte gesprochen, dann war das Gespräch ins Stocken geraten. Die Diskussion über Molière war bald erschöpft, und auch über die ausgezeichnete Schauspielertruppe, zu der die beiden Coquelin gehörten, gab es nicht mehr viel zu reden. Der Großherzog schwieg wie ein bescheidener Gast in einem etwas fremden Milieu. Coquelin bestritt schließlich die ganze Unterhaltung allein, bis er durch eine Bemerkung von mir erfuhr, daß ich Maurice Maeterlinck kannte, dessen Stern am Theaterhimmel plötzlich aufgestiegen war. Coquelin berichtete uns über den Erfolg, den Maeterlincks jüngstes Drama ‘Monna Vanna’ in der Comédie Française in Paris errungen hatte. Coquelin war glücklich, in mir, dem Belgier, der sich in der französischen und belgischen Literatur auskannte, einen interessierten Gesprächspartner zu finden. So geschah es, daß der Großherzog und die anderen Anwesenden unserem Gespräch zuhörten, ohne auf Coquelins Bemerkung zu reagieren, ‘Monna Vanna’ sei Maeterlincks Meisterwerk. Ich war etwas anderer Meinung. Mein Freund Charles van Lerberghe und ich hatten vor Jahren in einem der flämischen Seebäder Maeterlinck selbst sein Stück ‘Princesse Maleine’ vorlesen hören, das wir unsrerseits neben ‘Pelleas et Mélisande’ für sein Meisterwerk hielten. Der Großherzog hatte zu dieser Meinungsverschiedenheit nichts zu sagen. Auch seine Gäste wußten nichts von Maeterlinck, dessen Namen sie an diesem Abend zum ersten Male gehört hatten. Der Großherzog beendete den etwas kläglich verlaufenen Abend mit einem banalen Kompliment für den großen Schauspieler, drückte Coquelin die Hand und verschwand. | |
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Am nächsten Tage besuchte uns der Oberhofmarschall General Palézieux wie schon mehrmals nach dem Abendessen. Er wohnte in unserer Nähe. Die Gesellschaft mit Maria machte ihm Freude, und er genoß die kleinen Desserts und die Pfälzer Weine, die sie ihm anbot. Diesmal kam ‘Seine Exzellenz’, um mich zu schelten und mich, mit nicht zu großem Ernst, auf die Beobachtung der ‘Etikette’ aufmerksam zu machen. Nicht weil ich zuviel gesprochen hatte-der Großherzog wendete ja nichts gegen mich ein-, sondern weil ich anderer Meinung war als der illustre Gast und weil ich ihm widersprach, hatte ich die Etikette verletzt. ‘Wer Ohren hat zu hören, der höre’, sagt, wie ich mich erinnere, Molière in einer seiner Komödien. Ich nahm mir des alten Generals wohlwollende Lektion zu Herzen. Der Oberhofmarschall hatte es nie eilig, nach Hause zu gehen. Er verabschiedete sich von Maria und hielt mich stets noch eine gute Viertelstunde vor dem Haus auf dem Trottoir fest. Er war an diesem Abend gesprächiger als sonst, ein Zeichen seiner inneren Unruhe, ja seiner fixen Idee, von der er nicht loskommen konnte. ‘Sie, lieber Professor’, sagte er, ‘sind zu beneiden. Sie sind der einzige am Hof, der nicht fürchten muß, entlassen zu werden. Ich dagegen muß mich jeden Tag beim Aufwachen fragen, ob ich noch Oberhofmarschall bin.’ Es war schwer, ihn zu beruhigen. Die über ihm schwebende Drohung wurde allerdings erst akut, als der Großherzog Harry Graf Kessler zur Leitung der Museen nach Weimar berief. | |
Graf Kessler in WeimarElisabeth Förster-Nietzsche führte in diesen Monaten dem Minister Rothe immer wieder die Vorteile vor Augen, die Harry Kesslers Anwesenheit in Weimar mit sich bringen würde. Graf Kessler war der eigentliche Urheber des Experimentes, das in Weimar zu einer künstlerischen und geistigen Erneuerung führen sollte. Ein paralleler Versuch auf dem Gebiet der bildenden Künste versprach ähnliche Erfolge. In Weimar gab es zwei Museen. Das eine, das normalerweise von den Fremden besucht wurde, enthielt Werke der Lokalkünstler, vor allem die dekorativen Bilder des schon erwähnten Preller; das andere war eigentlich | |
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ein Magazin, in dem ohne Sinn und Methode aufgestapelt war, was der von seinem Hofmarschall zu Antiquaren geschleppte Großherzog auf seinen Reisen in Deutschland und im Ausland mit ebensowenig Kenntnissen wie Geschmack erworben hatte. In diesem ‘Museum’ befand sich ein Saal, der bisher den Professoren der Akademie und einigen anderen in Weimar lebenden Künstlern zu wechselnden Ausstellungen zur Verfügung stand. Der Direktor der Akademie, Hans Olde, besaß nicht die notwendige Durchschlagskraft, um das Niveau dieser Ausstellungen zu heben oder wenigstens die Werke fortgeschrittener Akademieschüler zu zeigen. Nur der Landschaftsmaler Theodor Hagen hatte eine gewisse künstlerische Lebendigkeit bewahrt. Ein Anschluß an eine der Sezessionsgruppen, die in Berlin, München oder Dresden im Kampf unabhängiger Künstler gegen die offizielle Kunstauffassung und -politik entstanden waren, schien angesichts der Mentalität des Lehrkörpers der Akademie unmöglich. Junge Künstler waren nur nach Weimar zu ziehen, wenn ihnen eine frische, lebendige künstlerische und kulturelle Atmosphäre geboten werden konnte, die dem bürgerlich konservativen Geist der Residenz entgegengesetzt war. Der Posten des Direktors der Museen war frei. Wer konnte ihn besser ausfüllen als Harry Graf Kessler? Der Großherzog hatte den Charme, der von Harry Kessler als einem vollendeten Gentleman ausging, die Autorität seiner breiten Kultur wie auch seine Leidenschaft für die Kunst deutlich empfunden. Er hatte die Art nicht vergessen, mit der Harry ihm, dem Großherzog, die mit meiner Berufung verbundenen Vorteile für das künstlerische Leben seines Landes dargelegt hatte. Wenige Monate nach dem Beginn meiner Arbeit in Weimar bot Wilhelm Ernst dem Grafen Kessler die Leitung der Museen an. Sie wurde für Harry das Instrument, die Weimaraner mit der Entwicklung der modernen Kunst und mit den verschiedenen Schulen bekannt zu machen, die seit dem Bruch der Malerei und Plastik mit den klassisch-akademischen Doktrinen auf den Plan getreten waren. Zu jener Zeit gab es weder in Deutschland noch in Frankreich oder England einen fähigeren und berufeneren Menschen als Harry Kessler, der in der Lage war, die Verbindung zwischen den großen Künstlern Europas und dem Weimarer Hof herzustellen. Keinen, der wie er begeisternd für | |
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geistigen Austausch wirkte und Freundschaften aufblühen ließ; keinen, der besser als er Ausstellungen und alljährliche literarische Kongresse organisieren konnte. Er war Diplomat und Ästhet von Natur aus und verkehrte freundschaftlich mit den entscheidenden großen Malern, Bildhauern und Schriftstellern seiner Zeit. Sein ererbtes Interesse für alles, was das Theater betraf, hatte ihn mit vielen bedeutenden Schauspielern und Regisseuren in Verbindung gebracht. Seine künstlerische Leidenschaft führte ihn zu unbekannten kleinen Kunsthändlern, in die Boutiquen und winzigen Galerien, die in Paris wie Pilze aus dem Boden schossen. Auch in Deutschland gab es damals schon eine Reihe solcher Kunsthandlungen, wo die Freunde moderner Kunst erstklassige Werke der Impressionisten und Neo-Impressionisten, aber auch Gemälde von Liebermann, Corinth und Slevogt finden konnten. England blieb in der Entwicklung zurück. Whistler und Rothenstein mußten ihre Werke in Paris zeigen, um zu Verkäufen zu gelangen. Auch ich wies die einflußreichen Kreise Weimars immer wieder auf das Glück hin, das Harrys Anwesenheit bedeutete, der wie keiner durch sein optimistisches Wesen die muffige gesellschaftliche Atmosphäre zu beleben in der Lage war. Wenn ich dem Großherzog meine Auffassung persönlich mitgeteilt hätte, so hätte ich der Sache eher geschadet. Mir schwebte die Schaffung einer Generalintendanz der Künste vor, die im Museum, im Theater, in der Akademie und auch in dem unter meiner Leitung stehenden Seminar und den Werkstätten eine analoge künstlerische und kulturelle Politik verfolgen sollte. Bis jetzt handelte jeder Direktor für sich, und nicht alle waren so fortschrittlich gesinnt und auch praktisch tätig wie ich in meinem Institut. Nur eine dominierende Generalintendanz der Künste konnte meiner Meinung nach die divergierenden und teilweise sich widersprechenden Tendenzen zusammenfassen und eine neue Ära verwirklichen. Meine Gedanken fanden bei den Ministern und den anderen Würdenträgern des Hofes wenig Widerhall. Sie waren in ihre geheimen Rivalitäten verstrickt und fürchteten nichts mehr, als daß ein einzelner durch die Gunst des Großherzogs mit Machtvollkommenheiten ausgestattet würde, die ihre eigenen Machtstellungen bedrohte. Unter diesen finsteren Voraussetzungen trat Harry Kessler sein Amt als Direktor der Museen an. Er schrieb mir unter dem 15. Oktober 1902 in einem Brief aus Paris: ‘Ich werde nach Weimar kommen und besonders gern kommen, wenn es Kämpfe, Intrigen, Ge- | |
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fahren gibt, die gegen die Aufgaben gerichtet sind, die Sie verwirklichen müssen. Aber ich bin weniger pessimistisch als Sie. Was wollen wir eigentlich? Schaffen - wie könnten uns Intrigen daran hindern? Sie sind Ihr eigener Herr in Ihren Ateliers, ich in meinem Museum. Wir werden aufbauen, was uns vorschwebt: eine klare, gesunde, stärkende und produktive Lehre. Mögen die anderen mit saurer Miene folgen, es wird nicht viel ändern... das Nichtige, das sie dem gegenüberstellen, was wir schaffen, kann uns nicht verwunden. Die Hauptsache ist, daß wir ‘fruchtbar’ sind. Ich selbst werde selbstverständlich schaffen und werde andere zum Schaffen veranlassen. Vor diesen Tatsachen werden alle Phantome verblassen. Ihre Nerven halten Phantome für wirkliche Gefahren. Wenn Sie in einer Woche Ihre Kräfte wiedergewonnen haben, werden Sie selbst darüber lachen. Und ich bin überzeugt, wir werden zusammen noch viel schönere Dinge verwirklichen, als wir es jetzt nur ahnen können.’
Ich hatte für Harry ein Haus zu finden, in dem er die Einrichtung seiner Berliner Wohnung unterbringen konnte. Wenige Schritte von unserem Haus in der Cranachstraße stand ein Bau kurz vor seiner Vollendung. Es bestand die Möglichkeit, noch einige Änderungen vorzunehmen, so daß wenigstens im Inneren eine gewisse Haltung geschaffen werden konnte, die Kesslers aristokratischer Lebensführung entsprach. Der Treppe, die zu den Empfangsräumen in der ersten Etage führte, konnte eine einigermaßen stilvolle, weniger bürgerliche Allüre gegeben werden. Die Halle, das Eßzimmer und Kesslers Arbeitsraum erhielten ihre Physiognomie durch die Möbel und Teppiche, die ich für seine Berliner Wohnung geschaffen hatte, durch die Panneaux von Maurice Denis und die Gemälde Cézannes, van Goghs, Renoirs, der Neo-Impressionisten, unter denen sich ein ausgezeichneter Cross befand. Helene von Nostitz beschreibt in ihren 1933 erschienenen Erinnerungen ‘Aus dem alten Europa’ Kesslers Wohnung mit Begeisterung: ‘Alle Erscheinungen, die mir in diesen Räumen begegneten, bekamen dort einen Zusammenhang mit der Welt. Es waren in höherem Sinn die Schranken gefallen. In dem Eßzimmer, wo die träumerischen Renoirs mit ihrem sanften Rosa uns umgaben, entspannen sich unter dem matten Licht unpersön- | |
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liche, weit ausholende Gespräche. Denn das Stoffliche wurde auch im Wort wie in den Kunstwerken überwunden, und es entstand jene Ferne und jener Schwung, der neue Welten jede Stunde schuf und etwas Frühlinghaftes diesen Räumen gab, ich möchte sagen eine Lieblichkeit voll früher Ahnung, die am stärksten vielleicht in diesem Jüngling von Maillol zum Ausdruck kam, der erstaunt dort neben den Waldnymphen von Maurice Denis um sich blickte. Ich muß dabei an das Wort von Eberhard von Bodenhausen denken, der mit bewegter Stimme einmal sagte: ‘Wir wissen gar nicht genug, in welchem Frühling wir leben - überall regt es sich!’ Und der Gastgeber verstand es, auf die Stimme dieses leise sich regenden Frühlings zu lauschen und ihn plastisch in seiner Umgebung darzustellen.’
Man kann sich nicht vorstellen, unter welchen erbärmlichen Bedingungen Kessler die Direktion der beiden Museen übernahm. Das Budget des einen reichte kaum für die Unterhaltungskosten; das Budget des zweiten war gleich Null. Harry Kessler hatte einen weitausgreifenden, ehrgeizigen Plan, den damals kein Museumsdirektor ins Auge fassen oder auch nur in Angriff nehmen konnte - allein schon wegen der Schwierigkeiten praktischer Art und wegen der Beschränktheit der Mittel, die den Museen im allgemeinen zur Verfügung standen. Sein Plan bestand darin, in einer Reihe von Ausstellungen ein Panorama der malerischen und plastischen Kunstrichtungen in verschiedenen europäischen Ländern zu vermitteln. Niemand konnte sich wundern, daß Kessler in diesem Zusammenhang der modernen französischen Kunst den Vorrang einräumte. Die englischen, holländischen, belgischen, deutschen und die Richtungen der nordischen Länder sollten nacheinander an die Reihe kommen. Die der französischen Malerei gewidmeten Ausstellungen begannen mit Delacroix und Courbet. Harry gelang es, die Pariser Händler und Sammler zu bewegen, ihm für das Weimarer Museum aus ihren Galerien und Sammlungen wertvolle Werke zur Verfügung zu stellen. Obwohl mit den Transporten große Risiken verbunden waren und wenig Aussicht bestand, Käufer für ihre - wie sie zynisch sagten - Ware zu finden, machten sich die großen Händler eine Ehre daraus, die Weimarer Ausstellung zu unterstützen. Ich habe in Paris Verhandlungen Kesslers mit Durand-Ruel und Bernheim beigewohnt und war hingerissen von Harrys Enthusiasmus und der | |
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Beharrlichkeit, mit denen er alle Schwierigkeiten aus dem Wege räumte. Er war zu jedem, auch finanziellen Opfern um so mehr bereit, als die großen deutschen Zeitungen ihre bekannten Kunstkritiker zu den Weimarer Ausstellungen schickten. In ausführlichen Feuilletons wurde ganz Deutschland auf die beispielhafte Arbeit des Weimarer Museumsdirektors hingewiesen, deren Früchte das Publikum Weimars und seiner Umgebung genießen konnte. Allerdings fand dieses Publikum, das sich sonntags nach dem Gottesdienst im Museum einfand, statt der gewohnten mittelmäßigen einheimischen Kunstwerke nun andere Dinge vor. Die instinktlosen Besucher, die keinerlei Vorbildung besaßen, waren oft aufgewühlt, ja entrüstet. Mit der Gemütsruhe, mit der die Betrachter bisher von ihrem sonntäglichen Besuch nach Hause zurückkehrten, war es vorbei. Viele fühlten sich beleidigt, und an den Familientischen, an denen man früher über die Banalitäten geschwärmt hatte, gab es nun scharfe Auseinandersetzungen. Der Streit blieb nicht auf die vier Wände beschränkt, denn fast jede Familie stand in freundschaftlichen, wenn nicht sogar verwandtschaftlichen Beziehungen zu einer der Koryphäen des Kunstvereins oder der Kunstschule. Selbstverständlich geriet auch die einheimische Presse in Verlegenheit. Harry Kessler war zwar vom Großherzog berufen worden, die Einstellung der Kammerherren und anderer hochgestellter Personen ihm gegenüber aber war zweideutig, mißtrauisch, zumindest reserviert. Trotzdem war auch positiver Widerhall festzustellen. Die Lokalpresse ließ sich von den Kommentaren Kesslers in den Einleitungen der Ausstellungskataloge inspirieren, die fortschrittlichen Künstler in Deutschland waren dankbar für Kesslers Initiative, und die internationale Presse begann sich für die neue Entwicklung in Weimar zu interessieren. Den Weimarer Reaktionären und den Lokalkünstlern blieb nur noch eine Waffe: anonyme kleine Artikel schüchterner Korrespondenten oder unterzeichnete Beiträge in der Rubrik ‘Eingesandt’, die von den Zeitungen des Großherzogtums wichtigtuerisch und mit perfider Bereitwilligkeit aufgenommen wurden. Harry ließ sich in seiner Intensität durch nichts beirren, und er kümmerte sich nicht um die wachsende Feindseligkeit, die ihm entgegengebracht wurde. Andere, weniger bestimmte Naturen hätten sich in dem Gefühl, Perlen vor die Säue zu werfen, entmutigen lassen - Kessler verlor nie sein Ziel aus den Augen, Weimar zu einem Zentrum der Kunst zu machen. | |
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Geistiges Leben in Schloss BelvedereSchloß Belvedere ist eine fürstliche Sommerresidenz. Die landschaftliche Lage bestimmt vor allem seinen Reiz, und die Disposition des Schlosses mit seinen um einen weiten Hof gelegenen Nebengebäuden für die Kammerherrn, die Gäste, für das Gesinde und für die Ställe hat etwas Gewinnendes. Das Ganze wirkt unprätentiös. Keine auffallenden Beziehungen zu einem historischen Stil, aber doch italienischen Charakters, offenbar von einem oberitalienischen Architekten und seinen Stukkateuren geschaffen. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, zu fragen, wann das Schloß entstanden, für welchen Fürsten es gebaut worden ist oder wie die Landschaft aussah, bevor der Park angelegt wurde, an dem nichts Künstliches war: weite, offene Räume mit ausgezeichnet verteilten Grünflächen, üppigen Baumgruppen und Gewässern, die vom Thüringer Wald herabkommen. Die Wege nehmen auf natürlichste Weise Rücksicht auf die Höhendifferenzen des Geländes, so daß keine Spur von gewaltsamem menschlichem Eingriff in die Natur fühlbar wird. Selbst das sensibelste Auge empfindet nichts Gewolltes, keinen Mißton. Wo man sich auch befindet, wirkt die Umgebung sammelnd auf die Gedanken; ein gegebener Ort zur Meditation. Wie oft ging ich in diesen Park, um mich zu erholen, um meinen Willen zu stärken oder über einen Rückschlag, über Demütigungen und Kränkungen hinwegzukommen. Bis dahin hatte kaum eine Wolke den Himmel getrübt. Helle Stunden warfen ihren Glanz auf die Beziehungen, die uns mit Schloß Belvedere und der Großherzoginmutter Pauline verbanden. Kein Schatten fiel auf das Verhältnis zwischen dem Großherzog und seiner Mutter, die sich für meine Arbeit im Seminar interessierte und ausländische wie deutsche Künstler empfing, die Harry Kesslers und meine Gäste waren. Das Vertrauen, das der Großherzog uns entgegenbrachte, war so groß, daß er den von Harry und mir ausgedachten Plan billigte, unseren gemeinsamen Freund Eberhard von Bodenhausen als Hofmarschall zur Großherzoginmutter Pauline zu berufen, als Graf Medem um seine Entlassung bat. Eberhard hätte der Großherzoginmutter unschätzbare Dienste leisten können. Seine weitverzweigten Freundschaften, die er der Mitarbeit in der Redaktion des ‘Pan’ verdankte, das Wissen, das ihm die Vorlesungen des Heidelberger Kunsthistorikers Henry Thode vermittelten, sein leidenschaft- | |
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liches Interesse für die moderne französische Malerei und die Sicherheit seines Geschmacks hätten unsre Bestrebungen in schönster Weise unterstützt. Er arbeitete zu jener Zeit an einer Monographie über den altniederländischen Maler Gérard David, dessen Werke damals noch wenig bekannt waren. Leider konnte sich Eberhard von Bodenhausen nicht entschließen, unserem Vorschlag zu folgen, weil ihm die damit verbundenen Opfer - ein Aufenthalt von sieben bis acht Monaten während des Winters in Rom und dadurch die Trennung von seiner Familie und die Aufgabe seiner kunsthistorischen Arbeiten - untragbar erschienen. Graf Kesslers Aufstieg setzte sich fort. Er verteilte seine Zeit in einem bestimmten Rhythmus auf Weimar, Paris und London, wo er im Hotel Cecil eine kleine Wohnung besaß. Nach Weimar brachte er stets Gäste mit. Dann gab es in Kesslers Haus Lunches und Diners, bei denen es zu Kontakten zwischen den Ausländern und bedeutenden deutschen Persönlichkeiten kam. Und es war die Regel, daß die Gäste von der Großherzoginmutter in Schloß Belvedere und auch von Elisabeth Förster-Nietzsche im Nietzsche-Archiv empfangen wurden. Zu den Empfängen und Mahlzeiten lud Harry immer auch Würdenträger des Hofes und hochgestellte Beamte ein, die den Großherzog auf dem laufenden hielten. Daß die Weimarer Bevölkerung voller Neugierde war und daß Übertreibungen und Gerüchte kolportiert wurden, war nicht verwunderlich. Zu den ersten Gästen zählte der französische Schriftsteller Léon Werth, ein scharfer Kritiker aus Octave Mirbeaus Schule, mit dem mich bald eine dauerhafte Freundschaft verband. Dann kamen meine belgischen Freunde Théo van Rysselberghe und seine Frau. Sehr bald erschien auch der norwegische Maler Edvard Munch. Er kehrte mehrmals zu längeren Aufenthalten in Weimar ein, wobei eine Reihe von Porträts entstand: Kessler, Elisabeth Förster-Nietzsche, ich selbst, meine beiden Kinder-von denen er eine überaus seltene Lithographie schuf - waren seine Modelle. Auch André Gide kam zwei- oder dreimal nach Weimar. Gide - Autor der ‘Nourritures terrestres’, der ‘Voyage d'Urien’, des ‘Immoraliste’ - war damals von schlanker Gestalt, über den Durchschnitt groß, elegant in der Haltung, die gut proportionierten Glieder in einem engen schwarzen Anzug von strengem Schnitt, wie ihn anglikanische Priester zu tragen pflegen. Das schöne Oval des Kopfes, der ungetrübte Blick, die glatten Wangen | |
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waren durch einen ziemlich langen, schwarzen Schnurrbart betont, dessen Fransen über seine Lippen fielen. Die Großherzoginmutter gab Gide einen brillanten Empfang, zu dem die Elite der Intellektuellen und Künstler Weimars geladen war, um der Vorlesung des französischen Schriftstellers beizuwohnen. André Gide las seinem exquisiten Auditorium einen Essay vor, dessen erste Bekanntgabe er zu Ehren des Großherzogs und seiner Bestrebungen in Weimar bestimmt hatte. Die Anwesenden waren von dem aus Gides Worten sprechenden Vertrauen beeindruckt. Als erste erfuhren sie aus dem Mund des Pariser Schriftstellers, daß die französischen Literaten, als deren Wortführer er erschien, den Weimarer Zielen ihre volle Sympathie entgegenbrachten. Nach Gide kamen die deutschen Dichter Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal und später auch Rainer Maria Rilke nach Schloß Belvedere. Diese Dichterlesungen fesselten durch ihre Lebendigkeit und geistige Freiheit die Großherzoginmutter Pauline mehr als die Gespräche, die sie in Rom mit Gelehrten, Professoren und Prälaten zu führen pflegte. Die Großherzoginmutter war literarisch und künstlerisch an sich nicht gebildeter als ihr Sohn, aber sie genoß mit lebhaftem Interesse den geistigen Austausch, der bei diesen Zusammenkünften entstand, bei denen sie sich doch als eine Art Mittelpunkt empfand. Bald versammelte man sich im Freien im Schatten der üppigen Bäume, bald in einem der Salons des Schlosses. Nur die Dienerschaft mit ihren starren, ausdruckslosen Zügen erinnerte uns an die Vorschriften der Etikette, die unsre freimütigen Diskussionen kaum behinderten. Der Besuch Gerhart Hauptmanns ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Die Großherzoginmutter erkundigte sich unbefangen nach den Anfängen von Hauptmanns Laufbahn als Dramatiker. Hauptmanns Bericht über seine Entwicklung und seine ersten Dramen machte auf uns, die wir einigermaßen orientiert waren, einen ebenso tiefen Eindruck wie auf sie. Hauptmann war an jenem Tag ausgezeichnet aufgelegt und von der Natürlichkeit der Großherzoginmutter und unsrem Interesse geradezu hingerissen. Er redete nicht nur von seinem ersten Stück, sondern auch von den ‘Webern’, von ‘Florian Geyer’ und den anderen Dramen, die zuerst bekämpft und jetzt als Hauptwerke einer neuen nationalen Literatur gefeiert wurden, welche sich neben Ibsen, Strindberg, Tolstoi und Gorki behauptete. Es war ein langer Mono- | |
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log; wir hingen buchstäblich an seinen Lippen, bis uns der Hufschlag der Pferde im Schloßhof und das Erscheinen der Lakaien daran erinnerten, daß wir Abschied zu nehmen hatten. Mit großem Geschick meisterte die Großherzoginmutter die Situation, erhob sich und dankte Hauptmann in ihrem und unserer aller Namen mit schlichter, bezaubernder Liebenswürdigkeit. Talent und Persönlichkeit Richard Dehmels waren bei den deutschen fortschrittlichen Schriftstellern unbestritten. Mit dem Roman in Romanzen ‘Zwei Menschen’ war er mit einem Schlag an die Spitze der jungen Literatur gelangt. Nun wollte er in einem Kreis von Gleichgesinnten in Berlin, München oder in Weimar leben. Ich hatte ihn bei einem Diner bei der Gräfin Dohna in Berlin kennengelernt, wo wir in ein langes Gespräch gerieten. Als ich seine Unsicherheit in bezug auf die Wahl eines Domizils wahrnahm, schlug ich ihm vor, einige Tage in Weimar in unserem Kreis zu verbringen, um sich von unseren Bestrebungen eine Vorstellung zu machen, bei denen auch die fortschrittliche Literatur eine bestimmte Rolle spielte. Ich dachte dabei an die Zusammenkünfte bei der Großherzoginmutter und an das Nietzsche-Archiv. Richard Dehmel folgte meiner Einladung und traf bald darauf mit seiner Frau in Weimar ein. Die beiden erschienen als die Verkörperung der ‘Zwei Menschen’. Beide hochgewachsen, er wie ein nordischer ‘Gentleman-Bauer’, sie, sehr schwarz, von ausgesprochen beduinisch-semitischem Aussehen, immer mit schwerem, leuchtendem Schmuck. Ich machte mir keine Sorgen über den Empfang des Paares im Nietzsche-Archiv. Kessler hatte die beiden Dehmels bei einer seiner Einladungen, an der auch Staatsminister Rothe und seine Frau teilnahmen, mit Elisabeth Förster-Nietzsche zusammengebracht. Bald darauf wurden sie von der Großherzoginmutter in der schmeichelhaftesten Weise empfangen. Aber ich hegte Bedenken, ob das Paar wirklich in unseren Kreis passen würde. In unseren Kreis, der gestimmt war wie ein Orchester im Augenblick, in dem der Dirigent am Pult erscheint. Aber der Dirigent erschien in diesem Augenblick nicht. Es liefen in Weimar Gerüchte um über eine baldige Heirat des Großherzogs. Das hätte bedeutet, daß der Großherzog die Rolle des Dirigenten übernehmen würde. Aber wir mußten noch warten. Fürstenhochzeiten gehen offenbar lange und zähe Verhandlungen der verschiedenen Hofinstanzen voraus. Ich ahnte nichts Gutes und sah, wie sich Wolken zusammenzogen. | |
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Der Kontakt zwischen unserem Freunde Hugo von Hofmannsthal und der Großherzoginmutter Pauline war schwerer zu schaffen als die Beziehung zu Gerhart Hauptmann. Schon die äußeren Umstände waren ungünstiger. Die Teestunde im Salon verlief zeremonieller als im Park. Aber auch bei Hofmannsthal lagen Hemmungen vor. Selbst für intime Freunde war der wirkliche Zugang zu ihm nicht leicht. Man wußte nie, ob man gelegen kam. (Ich hingegen überließ ihm immer die Initiative bei seinen häufigen Besuchen bei Harry Kessler oder auf Schloß Neubeuern, wo wir uns alljährlich von 1901 bis 1913 zwischen Weihnachten und Neujahr mit Eberhard und Dora von Bodenhausen und ihrer Schwester Julie von Wendestadt, mit Rudolf Alexander Schröder, Hugo von Hofmannsthal und seiner Frau, dem Baron Egon von Beroldingen, der Gräfin Ottonie von Degenfeld und anderen trafen, unter denen sich manchmal auch Walther Rathenau befand.) Solange wir uns im Schloß Belvedere befanden, verharrte Hofmannsthal in zeremonieller Haltung, die - übrigens ohne jede Unterwürfigkeit - angesichts der Beziehung zwischen ihm und dem Hof das gegebene war. Diese reservierte Haltung verschwand, als die Großherzoginmutter uns zum Gartentheater führte, das sie nach den langen Jahren, in denen es nicht benutzt worden war, wieder hatte instand setzen lassen. Harry hatte vorher schon die Großherzoginmutter auf die Rolle hingewiesen, die Hofmannsthal für die Wiederauferstehung dieses zauberhaften Theaters spielen könnte, für das Goethe einige geniale Stücke geschrieben hatte. Lange Jahre hatte weder ein Besuch noch irgendein Lärm die Stille durchbrochen, die zwischen den Bäumen und den Kulissen aus Thuja herrschte, die einst Goethe gepflanzt hatte. Die Bühnenfläche war gesäubert, und auf dem gepflegten Rasen fehlten nur noch die Sessel, so daß man hätte glauben können, an diesem Abend werde das Theater wieder eingeweiht! Unsere kleine Gesellschaft blieb auf dem Rasen stehen. Über uns leuchtete das Firmament. Hugo befand sich allein auf der Bühne, huschte zwischen den beschnittenen Thujahecken hin und her, trat an die Rampe und sprach heraus, was er empfand. Sein Gebärdenspiel war völlig entspannt, die Anwesenheit der Großherzoginmutter war ihm entschwunden. Er hielt einen Dialog mit Harry und sprach von Stücken, die er für dieses Theater schreiben wollte. Plötzlich schwieg er und blieb, wie von einem kalten Traum überfallen, unbewegt stehen. | |
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62 Edvard Munch Bildnis Graf Kessler, 1906
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63 Großherzogin Karoline von Sachsen-Weimar
64 Großherzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar
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65 Gartengesellschaft bei der Großherzoginmutter - Schloß Belvedere bei Weimar
66 Eröffnung der Rodin-Ausstellung in Weimar 1904, rechts stehend, Profil, Henry van de Velde
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Empfand er - fragte ich mich - die heimliche Anwesenheit Goethes, fühlte er sich verwirrt, an der Stelle zu stehen, wo der Schöpfer des ‘Faust’ seine Schauspieler kritisiert, ermutigt und versucht hatte, sie vom Lampenfieber zu befreien, unter dem sie litten? Vielleicht dachte er daran, hier seine Stücke aufzuführen, die ihm schon in jugendlichem Alter ein Ansehen und zugleich einen Ruhm eingetragen haben, dessen Gewicht für seine jungen Schultern vielleicht zu groß gewesen ist. Die Identifikation mit dem Theater im Belvedere-Park, die Vorstellung von Goethes Gegenwart, der Gedanke eines neuen dichterischen Aufbruchs und der Teilnahme an einem neuen Weimar hatten sein Wesen im Innersten ergriffen. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, was in jenem Augenblick im Herzen Hugo von Hofmannsthals vor sich ging. Die Großherzoginmutter Pauline starb, noch ehe Hofmannsthal das Versprechen einlösen konnte, für das Belvedere-Theater ein Stück zu schreiben. | |
Schiffsbaupläne und Orientreise
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Kunsthandwerker und Industriellen des Großherzogtums eine unverhoffte und bedeutende Chance. Begreiflich, daß meine Freude und die meiner Mitarbeiter groß war. Alles begann unter glücklichen Vorzeichen. Ich wurde von Generaldirektor Ballin eingeladen, zu Beginn des Jahres 1903 an einer Vergnügungsfahrt auf einem der Schiffe der ‘Hamburg-Amerika-Linie’ nach dem Orient teilzunehmen. Der Reiseplan sah den Besuch von Genua, Sizilien, Konstantinopel, Griechenland, Palästina, Syrien, Alexandria, Kairo, Neapel und Marseille vor. Nach meiner Rückkehr hatte ich einen Bericht über meine Vorschläge zur praktischen Einrichtung und zur künstlerischen Ausstattung zu machen. Es war allgemein bekannt, daß Ballin einer der intimsten Freunde und Ratgeber des Kaisers war. Impulsiv und autoritativ, wie er seiner Natur nach war, konnte sich Ballin nicht vorstellen, daß die Selbstherrlichkeit und Sprunghaftigkeit des Kaisers sich einer Entscheidung widersetzen würde, die er, Ballin, als richtig und sinnvoll ansah. Die ‘Hamburg-Amerika-Linie’, die stark unter der Konkurrenz der englischen und italienischen Schiffahrtslinien zu leiden hatte, wollte wieder an die Spitze gelangen und plante deshalb eine radikale Modernisierung der Einrichtungen, der Möblierung und der dekorativen Ausstattung ihrer Schiffe, die den Reisenden mehr Bequemlichkeit und auch eine geschmacklich bessere Atmosphäre bieten sollten. Die Neuigkeit dieser ehrenvollen Einladung an mich machte in Weimar die Runde und erregte bei der Bevölkerung lebhaftes Aufsehen. Die meisten Weimaraner hatten bisher in dem Erfolg unserer Anstrengungen einen Verstoß gegen die sakrosankte Tradition gesehen, als deren Hohepriester sich vor allem die Mitglieder des ‘Kunstvereins’ betrachteten, ob sie selbst Künstler waren oder nur Laien. Auf dem Schiff ‘Augusta Victoria’ begab ich mich im Februar 1903 auf die sechswöchige Reise, für die mir von Ballin eine Luxuskabine zur Verfügung gestellt worden war. Die Mahlzeiten nahm ich am Tisch des Kapitäns ein, wo sich das kleine Dutzend der persönlichen Gäste des Kaisers traf, für die die Schiffahrtslinie stets eine bestimmte Zahl von Plätzen zur Verfügung stellte. Unter den Eingeladenen befand sich Graf von Fritsch, der sich mir bald anschloß. Von den anderen Gästen des Kaisers unterschied er sich durch seine künstlerischen Neigungen und durch das Inter- | |
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esse, das er meiner speziellen Aufgabe entgegenbrachte. Ich ahnte nicht, daß er schon bald erster Adjutant des Großherzogs von Sachsen-Weimar und sogar Oberhofmarschall werden sollte. Unsere ganze Gruppe wurde während der Reise mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt, und sie genoß außerordentliche Vorrechte von seiten des Kapitäns, seiner Offiziere und der Mannschaft. Außer den Maschinenräumen, den Schotten und den Kojen der Matrosen deutete bei diesen Luxusdampfern nichts auf ihre Herkunft und auf ihr Wesen als Wasserfahrzeug. Die Kabinen, die Gesellschaftsräume, die Restaurants und Bars unterschieden sich nicht von den entsprechenden Räumen eines ‘Palace-Hotels’. Nichts war aus der Natur der Maschine entwickelt, die ein Schiff im Grunde ist, nichts entsprach seiner natürlichen Gestalt. Der nun einmal verlangte Luxus seiner Einrichtungen sollte meiner Meinung nach bis zu den Möbeln und der dekorativen Ausstattung vom gleichen Prinzip der vernunftgemäßen Gestaltung durchdrungen sein, von dem aus die Ingenieure und anderen Spezialisten die Konstruktion einer solchen mächtigen und prächtigen Maschine entwerfen. Wie das Auto, das sich erst vor kurzem vom Vorbild der Pferdekutsche frei gemacht hatte, war der Ozeandampfer in veralteten, lächerlichen Formen steckengeblieben. Gewissenhaft beobachtete ich die Bedürfnisse der Vergnügungsreisenden und überlegte mir, wie die Umwelt für die Menschen gestaltet werden könnte, die auf solchen Dampfern von Hamburg nach New York fahren. Diese ununterbrochenen Studien hinderten mich jedoch keineswegs an dem Genuß, den mir die Eindrücke in Sizilien, Rhodos, Konstantinopel, in Athen, Palästina und Ägypten bereiteten. Bei den Empfängen und Diners beim Sultan, bei den verschiedenen Gesandtschaften und im Palais des Khediven in Kairo, zu denen die kaiserlichen Gäste und selbstverständlich auch ich als Gast Ballins eingeladen waren, sah ich vieles, was man besser nicht nachahmt und von dem es nichts zu lernen gibt. Nur ein Diner im berühmten ‘Sheppard Hotel’ in Kairo ist mir in Erinnerung geblieben. Wände und Plafond des weiten Saales waren in mattem Weiß gehalten und mit Ornamenten eines diskreten orientalischen Barock verziert; die großen Büfetts an den Wänden wie die Türen, die Tische und Stühle in weißem Lack; die Stühle mit scharlachrotem, ornamentiertem Samt bezogen, im gleichen Rot wie der große Bodenteppich. Als wir den Saal | |
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betraten, standen in gleichmäßigen Abständen, unbeweglich, sudanesische Neger aufgereiht. Ihre Haut glänzte wie das Leder schwarzer Lackschuhe. Sie trugen weiße Zwillichanzüge. Kronleuchter, Tischgarnitur und die Gedecke waren aus Silber. Das Ganze bildete eine vollkommene Harmonie, bei der die Fräcke der Herren zusammen mit den unbeweglichen Zügen der Neger die Grundtöne verstärkten. Nur die geschmacklosen Farben der Abendtoiletten einiger Damen, die jede noch so sorgfältig ausgedachte Harmonie vernichtet hätten, unterbrachen den einheitlichen Eindruck. Die Frauen ahnen nicht, in welchem Maß sie mit ihren Toiletten die Einheitlichkeit einer geschmackvollen Gesellschaft stören können. Ich erinnere mich an die optische Harmonie bei Diners am Hofe zur Zeit der Hoftrauer, wenn die Damen wie die Herren in Schwarz gekleidet sind und als einzigen Schmuck nur Perlen tragen.
Kaum in Weimar angekommen, legte ich Ballin einen kurzen Bericht vor. Bisher hatte ich keine Gelegenheit gehabt, mit ihm in persönliche Berührung zu kommen. Jetzt ließ er mich zu einer Unterredung nach Hamburg bitten. Von kaum einem Menschen wurde ich je tiefer beeindruckt. Das Fluidum von Macht und Bestimmtheit, das von diesem Menschen ausging, war geradezu magisch. Ich fühlte mich unwiderstehlich angezogen, und es brauchte keinerlei Anstrengung, seine Aufmerksamkeit zu fesseln und ihn zu überzeugen. Er hörte zu, ohne mich zu unterbrechen und ohne den geringsten Versuch, meine Argumente in Zweifel zu ziehen. Ich sprach vor einem Mann, der offenbar von vornherein meine Überzeugungen teilte. Als ich meine Darlegungen beendet hatte, erhob sich Ballin. Wir setzten uns zusammen an einen kleinen Tisch, auf dem eine Mappe mit einer Menge Photographien der englischen, amerikanischen, deutschen und holländischen Jachten lag, die bei den berühmten Kieler Regatten, bei denen Ballin jedes Jahr mit dem Kaiser zusammentraf, siegreich gewesen waren. Besser hätte mir Ballin nicht zu verstehen geben können, daß er meinen Auffassungen zustimmte und daß er meiner Meinung war, man müsse den veralteten Schiffstypen neuartige Modelle entgegenstellen, deren Einrichtungsstil den logischen Geist der Schiffskonstruktion atmete. Von den Beispielen, die mir Ballin mit offenbarem Vergnügen vorlegte, gingen Eindrücke von undefinierbarer, souveräner Schönheit aus. Ein unwider- | |
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stehlicher Schwung der Form und ein Minimum von materieller Schwere, von denen der Sieg dieser eleganten, zerbrechlichen Schiffsgebilde abhing, neben deren gespannten Segeln die heroischste Kavallerieattacke plump und gewöhnlich wirken mußte. Ich war ganz erfüllt, durfte aber den vielbeschäftigten Generaldirektor, den Sklaven seiner Pflichten, den wichtigsten Mann aller in Hamburg ansässigen Weltfirmen nicht länger aufhalten. Ballin bestätigte mir das dem Großherzog von Sachsen-Weimar gegebene Versprechen, mich mit der Einrichtung des demnächst vom Stapel laufenden Ozeandampfers zu betrauen, und forderte mich auf, das im Bau befindliche Schiff im Trockendock zu besichtigen. Aber die Nachwirkungen eines grotesken Zwischenfalls, ein Affront des Kaisers mir gegenüber, brachten den Plan Ballins und damit ein Experiment zu Fall, von dem sich Ballin ebensoviel versprochen hatte wie ich mir selbst. | |
Affront des KaisersKurz nach meiner Übersiedlung nach Weimar hatte mir die Leitung der ‘Düsseldorfer Industrieausstellung 1902’, auf der vor allem prachtvolle moderne Maschinen gezeigt wurden, in der Abteilung der angewandten Künste einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem ich meine neuesten Arbeiten zeigte. Unter ihnen befanden sich in einer Vitrine in der Mitte des Saales Steingutarbeiten aus Höhr-Grenzhausen. Während der letzten Wochen meines Berliner Aufenthaltes hatte mich die preußische Kunstverwaltung beauftragt, die Verbindung mit den Keramikern von Höhr-Grenzhausen aufzunehmen, um mit ihnen zusammen neue Modelle für die Düsseldorfer Ausstellung auszuarbeiten, deren kunstindustrielle Abteilung von hohen Funktionären des Staates und der Industrie sowie von Düsseldorfer Akademieprofessoren organisiert wurde. Die Produkte von Höhr-Grenzhausen waren weit umher bekannt. Aber sie waren künstlerisch veraltet. Meine Aufgabe war, die Produktion im neuen Sinn zu beleben. | |
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In anderen Vitrinen, die ich entworfen hatte - sie entsprachen den bewegten Formen, wie ich sie während meiner Berliner Zeit in den Räumen der ‘Habana-Cie.’ verwendet hatte-, befanden sich Seidenstoffe, Webereien und Teppiche, die nach meinen Entwürfen von Krefelder Fabrikanten ausgeführt worden waren. Tapeten und einige noch in meinen Brüsseler Werkstätten ausgeführte Möbel vervollständigten das wohlabgestimmte Ensemble, das in keiner Weise an irgendwelche historischen Stile erinnerte, jedoch keineswegs provokant wirkte. Im Laufe des Sommers entschloß sich Kaiser Wilhelm II., die Ausstellung zu besuchen. Die Ausstellungsleitung, die mich dem Kaiser vorstellen wollte, lud mich ein, und ich begab mich nach Düsseldorf. Für den Kaiser war ich einer von jenen, die der Diktatur seines Geschmackes trotzten, zudem ein Ausländer, der freidenkende Künstler um sich scharte, Vorträge in allen wichtigen Städten Deutschlands hielt, in denen die Revolte Fuß faßte, und der den berühmtesten ‘Salon’ Berlins, den Cornelia Richters, ‘erobert’ hatte. Weder die Mitglieder der Ausstellungsleitung noch irgend sonst wer konnte ahnen, was bevorstand. Der Kaiser war mit großem Gefolge gekommen. Die Ausstellung enthusiasmierte ihn. Er hielt sich lange im Saal der Firma Krupp auf, vor dem enormen Bug eines Ozeandampfers für die ‘Hamburg-Amerika-Linie’, dessen gigantische Erscheinung den Saal beherrschte. Der Bug stand in der Reinheit seiner Linie und der Schönheit der Form der Silhouette einer den Wellen entsteigenden Venus nicht nach. Der Kaiser mit Gefolge setzte sich wieder in Bewegung bis zur Schwelle des Raumes, den einer der führenden Herren des Komitees als Repräsentation meines Schaffens ankündigte. Der Kaiser blieb brüsk stehen, warf einen erzürnten Blick in den Saal, machte kehrt, wendete sich seiner Suite und der nachfolgenden Menge zu und erklärte mit schneidender, weithin verständlicher Stimme: ‘Nein, nein, meine Herren, ich verzichte darauf, seekrank zu werden.’ Ich kann mich nicht erinnern, ob dies die genauen Worte des Kaisers gewesen sind. Daß es ihr Sinn war, dessen bin ich gewiß. Die Kritiker benutzten damals bei der Besprechung meiner Arbeiten mit Vorliebe den Ausdruck ‘Wellenlinie’, und die Gedankenassoziation von ‘Seekrankheit’ und ‘Wellenlinie’ war nur zu naheliegend. Das Gefolge trat beiseite, um den Kaiser vorbeizulassen, der mit triumphierender Geste den Arm erhob. Unter den Herren in Frack und Uniform | |
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entstand Betroffenheit und einige Unordnung. Ich befand mich mitten unter ihnen, blaß vor Wut, beleidigt, von einem heimtückischen Hieb getroffen, gegen den ich mich nicht wehren konnte. Der Zug ging weiter. Gedemütigt blieb ich allein zurück. Ich brauchte einige Zeit, um mich von der Beleidigung zu erholen. Und von der Erkenntnis, daß niemand aus dem Gefolge oder aus der Menge gewagt hatte, mir die Hand zu reichen, hätte er es auch von Herzen gewünscht. Die Nachricht des mir zugefügten öffentlichen Affronts verbreitete sich noch am gleichen Tag in den deutschen Abendblättern, die ihre Leser mit verschiedenen Kommentaren über den Vorfall unterrichteten. Tags darauf glaubte die Presse schon die Folgen des Konfliktes ankündigen zu können, der über meine Person hinaus den Großherzog von Sachsen-Weimar und alle anderen betraf, die mehr oder weniger direkt mit den modernen Kunstströmungen und mit ‘Neu-Weimar’ verbunden waren. Manche Journalisten glaubten vermuten zu dürfen, daß ich demnächst Weimar und Deutschland überhaupt verlassen würde! Indirekt fühlte sich auch die Leitung der Düsseldorfer Ausstellung getroffen, ebenso die Berliner Staatsfunktionäre, in deren Auftrag ich die Verbindung mit den Keramikern des Westerwaldes aufgenommen hatte, wie auch die Direktoren der Krefelder Seidenindustrie und alle anderen Firmen in Deutschland, die ihre Produkte mit dem verlockenden Etikett ‘Entwurf Professor van de Velde’ ihren Käufern anboten. Auf den Rat meiner Weimarer Freunde kümmerte ich mich nicht um die Herausforderung des Kaisers, der mit seinem Verhalten auch den Großherzog gekränkt hatte, und blieb dabei, meinen Weg weiterzugehen. Der Düsseldorfer Vorfall hatte aber für meine Beziehungen zur ‘Hamburg-Amerika-Linie’ und den mir in Aussicht gestellten Auftrag katastrophale Folgen. Was sich im einzelnen abgespielt hat, habe ich nie erfahren können. Offenbar hatte der Kaiser von Ballins Plänen Kenntnis erhalten und einen Wink gegeben, so daß sich der mächtige Ballin vor der übergeordneten Macht beugte. Er durfte unter keinen Umständen riskieren, die ‘Hamburg-Amerika-Linie’ einer Ungnade des Kaisers auszusetzen. So konnte ich lange auf Nachrichten von Ballin warten; der Kaiser hatte sein Veto eingelegt, gegen das Ballin, obwohl er zum Kaiser freien Zugang hatte, machtlos war. | |
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Wenn auch die Wunde, die ich damals erlitten habe, nie ganz vernarbt ist, so ist doch die Erinnerung an Ballin im Grunde nicht getrübt worden, und ich habe ihm nie einen Vorwurf gemacht. Bedauert habe ich nur, daß wir, die Opfer des gleichen Schicksals, uns nie wieder begegnet sind. | |
Die Junge GrossherzoginSeit der Verlobung des Großherzogs regte sich im Weimarer Palais neues Leben. Auch in den Kreisen des Adels und anderer Würdenträger erwartete man ein gesteigertes Interesse des jungen Fürsten, der sich bisher nur wenig um seine persönliche Umgebung gekümmert hatte. Jeder hatte dabei seine privaten Wünsche und Hoffnungen. Die Hochzeit mit der jungen Prinzessin Karoline von Reuß (ältere Linie) fand im Frühling 1903 statt. Es gab eine Kette glänzender Bälle, Diners und Konzerte, die alles überstrahlten, was bisher an gesellschaftlichen Veranstaltungen stattgefunden hatte. Anläßlich der Hochzeit des Großherzogpaares erhielt ich einen Auftrag von außerordentlicher Bedeutung. Im Namen der Bevölkerung des Großherzogtums bestellte ein Komitee bei mir das Tafelsilber für das junge Paar. Ich entwarf die für feierliche Einladungen bestimmten Gegenstände: neben dem üblichen Service große Fruchtschalen, Blumenkörbe und reiche Kerzenleuchter, deren Zeichnungen ich dem Weimarer Hofjuwelier übergab. Da diese Firma jedoch damals nur wenige Arbeiter beschäftigte, sollte der Auftrag einem bekannten Juwelier in Frankfurt übertragen werden. Ich geriet dadurch in Verlegenheit, der Oberhofmarschall wie Staatsminister Rothe, denen ich den Fall vorlegte, veranlaßten mich, mein Einverständnis zu erteilen. Der Höhepunkt der Festlichkeiten war das Hochzeitsmahl, bei dem die junge Großherzogin der Hofgesellschaft vorgestellt wurde. Mehr als hundert Gäste erwarteten stehend im Rahmen der Tischordnung das Fürstenpaar. Die Großherzogin erschien uns wie ein Idol. Schlank, voller Liebreiz, von ungewöhnlicher Schönheit, mit Perlen und Juwelen bedeckt - mit einem in unendliche Ferne gerichteten, verlorenen Blick, wie von einem Abgrund angezogen, aus dem der Tod steigt. | |
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Ich war nicht der einzige, der von der Vorahnung einer drohenden Katastrophe betroffen wurde. Auch andere bemerkten, wie sich der Blick der jungen Herrscherin plötzlich verschleierte und ihre wundervollen Züge sich verzerrten. Nach einigen Tagen tauchten Gerüchte auf, denen die Bevölkerung des Großherzogtums um so mehr Glauben schenkte, als die brutalen Neigungen des Großherzogs, die sich schon in seiner frühen Jugend gezeigt hatten, nicht unbekannt waren. Skandalöse Ereignisse sollten sich in dem Leipziger Hotel abgespielt haben, in dem das Paar nach den Festlichkeiten die Nacht verbrachte. Ich selbst konnte die Großherzogin Karoline nur als ein Opfer betrachten, das unerbittlich dem Martyrium geweiht war, als ein vom Gedanken an Selbstmord verfolgtes Wesen, der ihr angesichts der Beschmutzung von Körper und Seele als einziger Ausweg erschien. Während zwanzig Monaten waren wir, die wir sie liebten und bereit waren, ihr zu helfen, ohnmächtige Zeugen ihrer Tragödie. Sie war, früh verwaist, bei ihren wenig begüterten Großeltern in der kleinen Residenz Bückeburg aufgewachsen, in einer offenen, liberalen Atmosphäre der Opposition gegen eine Reichsverfassung, die alle Souveräne des alten Deutschen Bundes zum Vasallentum erniedrigte. Die Prinzessin war aufs stärkste vom Charakter ihres Großvaters beeinflußt, der sie zärtlich liebte und seine Ansichten auf sie übertrug. Obwohl er nur ein kleines Fürstentum regierte, hatte er es als einziger gewagt, gegen die Form der Reichsgründung zu protestieren, und immer wieder erklärt, seine Unterwerfung sei erzwungen worden. Die Haltung dieses Fürsten war ein Beispiel vollkommener, stolzer Würde und wirkte trotz einer gewissen Paradoxie in keiner Weise lächerlich. Die junge Großherzogin besaß eine ebenso stolze und entschlossene Natur wie ihr eigenbrötlerischer Großvater, der in seinem Schloß Bückeburg lebte. Ihre offensichtlich wachsende Entschlossenheit, sich nicht zu beugen, sich durch keine Demütigungen schwächen zu lassen, auf ihren Meinungen und ihrer vom Großvater ererbten geistigen Unabhängigkeit zu bestehen, führte zu ihrer Isolierung im Kreis des Weimarer Hofes. Wenn sie irgendeinen kleinen Fehler machte, verzieh man ihr nicht, auch nicht im Hinblick auf ihre Schönheit - wie wir, Harry und ich und unsere Freunde, es taten, vor denen sie für kurze Augenblicke die Maske fallenließ, hinter der sie sich verbarg und Distanz hielt. | |
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Die Großherzogin fehlte bei keiner Ausstellungseröffnung im Museum am Karlsplatz. Sie kam oft zu mir ins ‘Kunstgewerbliche Seminar’ und fand bei diesen Gelegenheiten Zugang zu einem Gebiet, das sie in Bückeburg nicht gekannt hatte. Die neuen Entdeckungen und Erlebnisse, zu denen sie sich gerne anleiten ließ, begeisterten sie. Monets Landschaften, Renoirs Akte oder Blumenstillleben berührten sie aufs tiefste, und ihr Interesse für meine Aufgabe und die Probleme des Kunstgewerbes und der Kunstindustrie wurde immer lebhafter. Ihre Teilnahme an unseren Veranstaltungen, ihre Zustimmung zu unseren künstlerischen und kulturellen Bestrebungen, die zu einer gewissen Konsolidierung der Beziehungen zwischen dem Weimarer Hof und den Künstlern führten, imponierten mit der Zeit auch unseren rabiatesten Gegnern. | |
Gründung des ‘Deutschen Künstlerbundes’ 1903Harry Kessler hatte sich vorgenommen, dem Großherzog und der Großherzogin in stetiger Folge die Werke vorzuführen, die in den Ausstellungen der verschiedenen Sezessionsgruppen in Berlin, München und Dresden bei den fortschrittlichen Kunstfreunden Widerhall gefunden hatten. Von diesem Plan bis zum Projekt, eine Vereinigung dieser drei Gruppen zu bilden und alljährlich eine Ausstellung ihrer Mitglieder zu organisieren, war nur ein Schritt. Harrys Plan wurde von den drei Gruppen mit Begeisterung aufgenommen und die Vereinigung unter dem Namen ‘Deutscher Künstlerbund’ gegründet. Der Künstlerbund bildete eine ‘Auslese der Auslese’, der die bedeutendsten der unabhängigen Künstler Deutschlands angehörten. Der Maler Leopold Graf von Kalckreuth, dessen Vater zur Zeit Karl Alexanders Leiter der Weimarer Akademie der Künste gewesen war, wurde zum Präsidenten gewählt, Harry zum Generalsekretär; Großherzog Wilhelm Ernst übernahm das Patronat der neuen Vereinigung. Der Staat genehmigte eine provisorische Renovierung der Säle des Museums alter Kunst als Interimslösung bis zum Bau eines neuen Museums | |
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für zeitgenössische Kunst, das Harry Kessler offiziell zugesagt worden war. Die Säle, deren Erneuerung mir übertragen wurde, standen für die erste Ausstellung des ‘Deutschen Künstlerbundes’ zur Verfügung. Was für später geschehen sollte, blieb noch offen. Diese erste Ausstellung stieß auf großes Interesse, und die neue Einrichtung der Säle wurde wohlwollend aufgenommen. Am Abend der Eröffnung vereinigte ein glänzendes Fest im Schloß den Großherzog und die Großherzogin mit den Mitgliedern des Vorstandes des Künstlerbundes, unter denen sich die berühmtesten Sezessionisten Deutschlands befanden. Die Studenten der Universität Jena erschienen in einem großen Festzug mit Fahnen und Fackeln im Schloßhof, um den Großherzog und die Großherzogin zu feiern. Als die Fürstlichkeiten nach dem Diner im Kreis der Gäste, unter denen sich Max Liebermann, Max Klinger und der Graf Kalckreuth befanden, auf dem Balkon erschienen, war der Begeisterungsausbruch so groß, daß die Bevölkerung Weimars von ihm mitgerissen wurde. Die Menge, die sich ebensowenig wie die Studenten über das Drama klar war, das sich im Innern der Großherzogin abspielte, sah im Bild des Fürstenpaares das Symbol der Weimarer Tradition: die Souveränität der freien Kunst unter dem Schutz des angestammten Souveräns. Nachdem sich die Königlichen Hoheiten zurückgezogen hatten, erwarteten die Studenten mit wehenden Fahnen und brennenden Fackeln die Künstler beim Ausgang des Schlosses. Sie zogen mit ihnen zum Restaurant ‘Kunstverein’, dem Sitz der Opposition gegen die künstlerische Freiheitsbewegung, dem Nest mißgünstiger und eifersüchtiger Mittelmäßigkeit. In diesem Lokal, einem Musterbeispiel des Typus ‘Auerbachs Keller’, wo die Luft ebenso nach Intrige roch wie nach Bier und Rauch, brachten die Studenten flammende Trinksprüche auf die Kunst und auf die Künstler aus, die sie, um sie den Anwesenden zu zeigen, auf ihre Schultern hoben. Die Begeisterung riß in dem überfüllten Lokal alle mit. Der Applaus ließ die Scheiben zittern, als Harrys und mein Name genannt wurden. Die Bonzen, die an ihrem Stammtisch jeden Abend gallige Bemerkungen gegen uns äußerten, waren Hals über Kopf verschwunden, als die Studenten das sakrosankte Lokal überschwemmten. Das Fest dauerte bis zum ersten Schein des kommenden Tages, und auch die Menge auf den Straßen feierte die ganze Nacht hindurch. | |
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Das Nietzsche-ArchivIm Herbst des gleichen Jahres 1903 wurden die Räume des Nietzsche-Archivs eingeweiht, deren architektonische Gestaltung Elisabeth Förster-Nietzsche mir übertragen hatte. Damals befand sich auch Nietzsches treuester Freund und Vertrauter aus der Zeit, in der der Denker einsam von Ort zu Ort wanderte, der Komponist Peter Gast, in Weimar. Peter Gast und einigen jungen Nietzscheanern - unter anderen Harry Kessler, Eberhard von Bodenhausen und dem Leipziger Philosophieprofessor Raoul Richter, Cornelia Richters ältestem Sohn - ist es zu danken, daß Elisabeth Förster-Nietzsches Energie durchhielt. Mit ihnen beriet ich mich über die Möglichkeiten des Umbaus, der dem Haus eine einigermaßen würdige Gestalt und den drei Räumen des Erdgeschosses ein weniger banales und bürgerliches Aussehen geben sollte. Keiner meiner Freunde sah in der von mir geplanten Veränderung einen Akt der Pietätlosigkeit, als ich vorschlug, eine Wand zu entfernen, um einen größeren, feierlichen Bibliothekssaal zu gewinnen, in dem fünf oder sechs Dutzend Menschen für Vorträge, Konzerte und andere Veranstaltungen Platz finden konnten. Nietzsche hatte seit dem Tag, an dem ihn seine Schwester von Naumburg nach Weimar gebracht hatte, in der oberen Etage gelebt, deren Räume - auch das Sterbezimmer - unberührt blieben. Während der Wochen der Arbeit an meinen Entwürfen für das Nietzsche-Archiv habe ich nicht allein im Geist des Philosophen gelebt; ich habe seine Manuskripte berührt, ich habe in ihnen geblättert, ich habe den ersten Aphorismus, den ersten Abschnitt des ‘Zarathustra’ in der Originalhandschrift gelesen. Ich habe die Notizblätter in der Hand gehabt, die er auf seinen Wanderungen im Gebirge beschrieben, und auch die Bücher, die er gelesen und deren Seiten er mit Randbemerkungen übersät hat. Viele dieser Bücher stammten von französischen Autoren. Stendhals Gesammelte Werke sind mir besonders in der Erinnerung geblieben. Ich konnte das Manuskript von ‘Ecce Homo’ lesen. Es gelang uns, von Elisabeth Förster-Nietzsche die Einwilligung zu einer ersten Veröffentlichung (in beschränkter Auflage) durch den Insel-Verlag zu erhalten. Ich entwarf die Typographie und zeichnete die Ornamente des Einbandes und der ersten Seiten dieser Ausgabe, die einige Jahre später herauskam. | |
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An der einen Schmalseite des neuen Bibliotheksraumes stand die Stele aus karrarischem Marmor, auf der sich der überlebensgroße Kopf Nietzsches befand, den Max Klinger, ein glühender Bewunderer des ‘Philosophen mit dem Hammer’, geschaffen hat. Bis zum Jahre 1914 fanden in diesem Raum zahlreiche Vorträge, Konzerte und wissenschaftliche Sitzungen statt. Und viele der in dem gastfreundlichen Hause verkehrenden deutschen und ausländischen Nietzsche-Verehrer kamen in Kontakt mit Seiner Exzellenz dem Staatsminister Rothe und anderen Persönlichkeiten des Hofes. | |
‘Das neue Weimar’So umstritten unsere Tätigkeit in Weimar war, so sehr interessierte man sich in den kulturellen Zentren Deutschlands für unsere Bestrebungen. Die Redaktion eines der in Berlin und Deutschland meistgelesenen Blätter, des ‘Tag’, beorderte ihren als maßgebend geltenden Kunstkritiker Hans Rosenhagen nach Weimar. Er kam im Herbst 1903, als unsere Aktivität schon eine gewisse Breite erreicht hatte. Kurz darauf erschien im ‘Tag’ Rosenhagens Feuilleton von neun Spalten mit dem Titel ‘Das neue Weimar’. Es ist pikant, daß sich die ersten drei Worte dieses Feuilletons - ‘Was ist Pietät?’ - auf Angriffe bezogen, die gerade damals in infamer Weise gegen mich entfesselt worden waren. Durch eine falsche und böswillige Interpretation wollte man mich aufs Glatteis locken, auf dem ich ausgleiten sollte. Ich hätte, so bot man herum, im Hause des Philosophen Rudolf Eucken in Jena bei Tisch erklärt, das Gefühl der Pietät nicht zu kennen. In Wirklichkeit hatte ich gesagt, nur vor den höchsten Schöpfungen, vor genialen Werken und vor den schönsten künstlerischen Erzeugnissen sowie vor dem menschlichen Erfindungsgeist überhaupt diejenige Achtung zu haben, die mit Pietät gleichbedeutend ist. In diesem Sinn wurde meine Feststellung von allen Anwesenden verstanden und gedeutet. Niemand hatte auch nur daran gedacht, Widerspruch zu erheben. ‘Was ist Pietät?’ - mit dieser Frage begann Hans Rosenhagen sein Feuilleton. ‘Ehrt man das Andenken großer Männer besser dadurch, daß man das von ihnen hinterlassene Erbe in unverändertem Zustand für ewig | |
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zu erhalten sucht, oder dadurch, daß man ihr Werk in irgendeiner Weise, unter Umständen sogar auf einem ganz anderen Gebiet, jedenfalls aber in ihrem Sinne fortzusetzen trachtet? Für Menschen voll Tatkraft und Initiative kann die Entscheidung nicht fraglich sein. Sie werden stets das Verlangen spüren, Besseres mit ihren Kräften zu vollführen, als den Toten zu opfern, als die Last großer Namen ständig auf ihren Schultern zu tragen. Wie wollte die Welt weiterkommen, wenn solche Menschen nicht wären! Aber es ist klar, daß ihre Absichten häufig mißverstanden werden, besonders von jenen, für die Pietät im Nichtrütteln am Alten und Gewohnten besteht. Und weil dem nun einmal so und die Zahl der aktiv pietätvollen Menschen klein ist, herrscht dort, wo einst ein großer Mann gewirkt, leicht eine Totenstille. Alle Welt stellt sich in den Dienst seines Andenkens. Schwer drückt das Gewicht seines Ruhms auf die, die nach ihm kamen. Es ist noch nicht gar lange her, daß der Besucher Weimars, trotz Eisenbahn und anderen modernen Errungenschaften, von der Stadt Goethes und Schillers den Eindruck empfing, einen Ort zu betreten, in dem die Zeit lange, lange stillgestanden. Die Schatten der großen Vergangenheit gingen am hellichten Tage um, und jeder laute Ruf des Lebens schien unterdrückt, damit sie nicht verjagt würden. Wer kurze Zeit blieb, empfand diese verzauberte Welt mit dem süßen Behagen, mit dem er als Kind seinen Märchen gelauscht - die Aussicht auf einen dauernden Aufenthalt hätte selbst für den nervösesten Großstädter nichts Verlockendes; denn wenn dieser auch für sich ruhig leben möchte - er will die anderen schaffen sehen, will die Stimmen des Lebens an seinem Ohr haben. Mit dem Regierungsantritt des jungen Großherzogs Wilhelm Ernst nun hat sich die drückende Atmosphäre über Weimar verflüchtigt. Das Pompeji der deutschen Literatur umfängt mit seinen Mauern wieder frisches Leben und geht, wenn nicht alle Zeichen trügen, einer neuen Zukunft entgegen. - Der junge Großherzog weiß ganz genau, daß eines Fürsten Machtspruch nicht große Dichter und Musiker ins Leben rufen kann, daß das Verdienst der Fürsten, die, wie Karl August, als Schützer und Förderer der Künste Unsterblichkeit gewonnen haben, hauptsächlich in dem sicheren Gefühl für das Reifwerden der ihrer Zeit das Gepräge verleihenden Begabungen, also in einem Voraussehen bestanden hat. Und je nach Bedarf bringt die Zeit einen Plato, einen Leonardo, einen Wagner hervor. Man kann sie nicht | |
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zwingen, kann nicht gewaltsam eine Blüte der Dichtkunst, der Bildhauerei, der Staatskunst herbeiführen, wenn die schöpferischen Kräfte fehlen oder sich im stillen vielleicht eine ganz andersgeartete Ära vorbereitet. Das Voraussehen schließt das Zurückblicken bis zu einem gewissen Grade aus. Alle wahrhaft kunstfördernden Fürsten waren dem Geschmack ihrer Zeit weit voraus. Sie hielten hoch, was noch umstritten wurde. Unbekümmert um die Meinung der Menge opferten sie den Idealen der Zukunft. Darauf beruht auch ihre Wirkung auf die Kunst. Sie helfen, deren Ideale, die in jeder Zeit neue sind, mitschaffen. In diesem Sinne scheint der Großherzog Wilhelm Ernst seine Absichten verwirklichen zu wollen. Er teilt unser aller Empfindung, daß, nachdem Frankreich so Ungeheures auf dem Gebiet der Kunst geleistet hat und jetzt müde zu werden beginnt, Deutschland seine Kunstblüte erleben wird und muß, und hat bereits die ersten Schritte getan, um seinerseits deren Entwicklung zu fördern. Mit sicherem Blick hat der Großherzog erkannt, daß alle seine Kunstbestrebungen in der Luft schweben würden, wenn er ihnen nicht einen Rückhalt an der vorhandenen Kultur des Landes, an dessen Industrien gäbe, und so ging er zuerst daran, diese mit den neuen künstlerischen Gedanken der Zeit in Verbindung zu bringen. Er berief, sich über alle Vorurteile gegen die Nationalität des Künstlers hinwegsetzend, Henry van de Velde in seinen Dienst, mit dem vollen Bewußtsein, in ihm einen der führenden Geister unserer Zeit zur Seite zu haben. Der Staat hat mit dieser Berufung nichts zu tun; aber der Künstler ist für das ganze thüringische Land da. Jeder Handwerker, jeder Industrielle, der das Bedürfnis fühlt, seine Leistungen mit den Ansprüchen der Gegenwart in Übereinstimmung zu bringen, neue Formen, neue Muster, neue Gebrauchsgegenstände zu produzieren, darf sich an van de Velde wenden, ihm Pläne zur Korrektur vorlegen, seinen Rat und selbst, sofern es not tut, Entwürfe von ihm verlangen. Wenn dieses Unternehmen so fortgesetzt wird, wie es angefangen wurde, dürften die Industrien und das Kunstgewerbe im thüringischen Lande binnen kurzer Zeit einen unerhörten Aufschwung nehmen. Man hat, wenigstens in den intelligenten Kreisen des Handwerks und der Industrie, volles Verständnis dafür, daß die Befruchtung durch einen neuen künstlerischen Geist das beste Mittel ist, um den an sich guten Leistungen ein größeres Absatzgebiet zu schaffen. Van de Velde hat alle Hände voll zu tun. Da wol- | |
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len die Handtöpfereien und die großen keramischen Fabriken neue Formen, neue Farbenzusammenstellungen, neue Dekors; da können die Thermometer- und Barometermacher ihre in der Aufmachung veralteten Muster nicht mehr loswerden und bitten um moderne Vorlagen für ihre Holzschnitzer; da verlangen die Handwebereien Entwürfe für elegante Westenstoffe und Krawatten, die großen Betriebe solche für Möbelbezüge und Vorhänge. Alle Welt hat von dem Dasein des Künstlers Vorteil. Der bedeutende Kunsttischler Weimars und der Hofjuwelier haben ihre Etablissements beträchtlich vergrößern müssen, um die ihnen auf Grund der Entwürfe van de Veldes zuströmenden Bestellungen bewältigen zu können. Sie arbeiten fast nur noch für seine Auftraggeber. Der Großherzog ist mit eignen Ansprüchen bisher ganz zurückgeblieben; aber wie hoch er persönlich den Künstler schätzt, geht daraus hervor, daß er den Wunsch geäußert hat, das ihm von seinem Lande als Hochzeitsgeschenk angebotene Silbergeschirr für die Tafel möchte nach Entwürfen van de Veldes angefertigt werden. Das ist geschehen, und der Künstler hat mit dieser Arbeit sich selbst übertroffen. Keine Fürstentafel der Welt hat augenblicklich edlere und eigenartigere Jardinieren, Armleuchter, Fruchtschalen, Teller und Bestecke in Silber aufzuweisen als die im weimarischen Schloß. Und bei aller Neuheit der Formen dürfte man den ganzen Schatz in irgendeinem historischen Interieur benützen, ohne daß der Stil des Silbers als Gegensatz zu dem des Raumes empfunden würde. Van de Velde, der seit über einem Jahr in Weimar wirkt, hat sich außerordentlich entwickelt. Seine Arbeiten haben, ohne Einbuße an Originalität, alles Provokante, alles Barocke verloren. Der Künstler ist zu einer schlichten, vornehmen und heiteren Schönheit gekommen, die fast an die Antike gemahnt, durch Klarheit der Absicht und Reinheit des Ausdrucks, und über die seine Imitatoren todunglücklich sein werden, weil dieser Stil unnachahmlich ist. Es gibt in Weimar ein paar Interieurs von van de Velde, die jeden Gegner seiner Richtung durch ihre Schönheit entwaffnen müssen und keinen Anspruch an Eleganz und Abwechslung unbefriedigt lassen. Das eklatanteste Dokument seiner Entwicklung in die Höhe aber bildet hier seine Einrichtung des Nietzsche-Archivs, in dem Frau Elisabeth Förster-Nietzsche dem Andenken ihres genialen Bruders ein würdiges Denkmal und den Verehrern von dessen froher Wissenschaft einen erquicklichen | |
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68 Elisabeth Förster-Nietzsche, auf dem Schreibtisch Bucheinbände von Henry van de Velde
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69/70 Nietzsche-Archiv in Weimar, 1903
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71 Nietzsche-Archiv in Weimar, Türgriff, 1903
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72 Perspektive des Entwurfs für das Dumont-Theater in Weimar, 1903/04
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Raum der Belehrung und Sammlung gestiftet hat. Wie hier aus einer an sich nicht sehr glücklichen architektonischen Anlage ein Raum geschaffen wurde, der durch ruhigen Ernst an seine Bedeutung mahnt, dabei aber nichts aufdringlich Sakrales hat, so daß er zugleich den Zwecken einer Bibliothek, eines Lese- und Vortragssaales dienen kann - das verdient, aufrichtig bewundert zu werden. Als Farben wirken in dem Archiv: Paneele, Schränke, Möbel aus gelbrötlichem Buchenholz, fräsfarbene Bezüge, weiße Wand und Decke und ein Kamin in gelber Bronze. Einen besonders kostbaren Schmuck wird der Raum durch Max Klingers marmorne Nietzsche-Büste in diesen Tagen erhalten. Für Verehrer des unsterblichen Philosophen sei übrigens bemerkt, daß das Nietzsche-Archiv nicht allgemein zugänglich ist, sondern nur den Freunden des Hauses von seiner Besitzerin geöffnet wird. Wie stark auch außerhalb seines jetzigen Wirkungskreises die Bedeutung van de Veldes anerkannt wird, geht weiter daraus hervor, daß die Meißener Porzellanfabrik ein großes Tafelservice bei ihm bestellt hat, für das ein von Meißen entsandter Former nach Entwürfen des Künstlers unter dessen Augen in Weimar soeben die Modelle anfertigt. Indessen nicht nur die Anwesenheit und das Wirken van de Veldes in Weimar ist dem Großherzog Wilhelm Ernst zu danken, auch die wichtigen Veränderungen, die jetzt nach und nach mit der Kunstschule vorgehen, sind sein Werk. Es besteht die beste Aussicht, daß Weimar auch als Kunststadt wieder ein größeres Ansehen erlangen wird. Ein Künstler von vorzüglichen Fähigkeiten und entschieden moderner Physiognomie, der schleswigsche Maler Hans Olde, den er vor kurzem als Direktor ernannte, hat den höchst begreiflichen Ehrgeiz, an der Spitze eines von tüchtigen, fortschrittlich gesinnten und rühmlich bekannten Künstlern gebildeten Lehrerkreises zu stehen. Der wichtigste Gewinn, den er bei dem Heranziehen neuer Kräfte bisher gemacht, ist einstweilen der Eintritt Ludwig von Hofmanns, der als Mensch, Name und Künstler der Kunstschule zur Zierde gereichen und möglicherweise im stillen Weimar erfolgreicher schaffen wird als in dem unruhigen Berlin. Oldes Pläne für die Leistungen seiner Schule decken sich ungefähr mit den reformatorischen Grundsätzen, die für die Verbesserung des Kunstunterrichts von den Gegnern der Akademien aufgestellt sind. Der Großherzog hat ferner eine Reorganisation der Kunstsammlungen | |
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ins Auge gefaßt. Es wird jetzt ein neues Museum für Kunst und Kunstgewerbe geschaffen. Die Leitung dieses Museums, die Sichtung und Ordnung der vorhandenen Bestände hat der durch seine feinsinnigen kunstästhetischen Arbeiten und seine Beteiligung an der Leitung des ‘Pan’ bekannte Graf Harry Kessler übernommen. Graf Kessler beabsichtigt, in diesen Ausstellungen nur ausgesuchte und eigenartige Schöpfungen der neuesten Kunst vorzuführen, so daß man in Weimar sehr bald ebenso gut über die modernsten Künstler und ihre Leistungen Bescheid wissen wird wie in Berlin. Nichts soll dem Zufall überlassen sein. Der Klinger-Ausstellung werden Vorführungen von Werken Leibls, Liebermanns, Menzels, Trübners folgen. Die Bilder französischer Impressionisten und Neo-Impressionisten, der besten Belgier, der feinsten Engländer werden in Weimar erscheinen, so daß mannigfache Anregungen sowohl für die Einwohner als auch in besonderem Maße für die jungen Kunstschüler von diesem Museum ausgehen dürften. Man sieht, daß der Großherzog auch bemüht ist, die für die Entwicklung der Kunst nötige künstlerische Atmosphäre zu schaffen, die Situation also nach allen Richtungen mit vollstem Verständnis überschaut. Wenn wir uns auch alle als Kinder unserer Zeit fühlen, so gibt es doch wenige, die den Mut haben, in großen und wichtigsten Dingen den Ansprüchen, der Stimmung der Zeit zu folgen. Und nicht viele Fürsten sind darunter; denn diese sollen Traditionen pflegen und halten es in der Regel damit so wie die meisten Menschen mit der Pietät. Es gehört eben Talent dazu, ein moderner Mensch zu sein, denn nur der ist es, dem die Fähigkeit gegeben wurde, die Stimme der kommenden Zeit zu vernehmen, und der den Mut hat, festen Schrittes, auf unbegangenen Wegen, ihr entgegenzuwandeln. Es ist nicht nur für Weimar ein Glück, daß auf dem Throne der Ernestiner jetzt ein Fürst sitzt, der ein moderner Mensch ist, sondern für ganz Deutschland. Denn wir brauchen Erneuerer!’
Ich habe diesen Artikel wörtlich zitiert, weil er den Kern meiner Bestrebungen trifft. Wenn Hans Rosenhagen verzichtet hat, die außerordentliche Bedeutung von Harry Kesslers Museumstätigkeit im einzelnen darzustellen, und wenn er die Regeneration des Lehrkörpers der Kunstschule durch | |
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deren Leiter, Professor Hans Olde, nur mit wenigen Worten streift, so ist der Grund wohl darin zu finden, daß er mich für bedrohter hielt als meine deutschen Kollegen. In seiner Klarheit bot Rosenhagens Artikel der Großherzogin Karoline viel Stoff zum Nachdenken über meine Rolle und die Mission, die ich in Weimar erfüllte. Ich wiegte mich in der Hoffnung, sie würde mit gleichem Interesse dem Fortgang meiner Arbeiten folgen wie die Großherzoginmutter Pauline, die infolge einer langen Krankheit ihre Zusammenarbeit mit mir hatte unterbrechen müssen, die ihr so viel Freude bereitete. Mit dem Tod der Großherzoginmutter im April 1904 endete ein Kapitel meiner ersten Weimarer Zeit, in dem sich der noch ungetrübte Optimismus spiegelt, mit dem ich an die Arbeit ging. | |
Ein Adliges OriginalDie Schatten, die inzwischen aufzogen, treten in der Erinnerung an eine bemerkenswerte Frau in Erscheinung, der ich zu jener Zeit begegnete. Gegenüber dem Haus, in dem Liszt seine glänzenden letzten Weimarer Jahre verbracht hatte, bewohnte die Baronin von Meyendorff eine weitläufige Etage. Es kam mir in den Sinn, daß diese Baronin von Meyendorff eine der beiden Damen war, die ich in meiner Jugend beim Liszt-Festival in Antwerpen in Liszts Begleitung gesehen hatte. Seitdem Liszt Weimar verlassen hatte, erschien sie nicht mehr in der Gesellschaft der Stadt. Ich besuchte sie kurz vor ihrer endgültigen Übersiedlung nach Rom. In seiner Liszt-Biographie erwähnt Graf Guy de Pourtalès, daß ihr Gatte russischer Botschafter in Weimar war und daß die Baronin nach seinem Tod in aller Offenheit mit dem großen Meister zusammenlebte, der ‘in ihrer Nähe die letzten weltlichen Genüsse erlebte’. Pourtalès hebt die Macht hervor, die die Baronin von Meyendorff auf die großen Männer ausübte, die ihr begegneten: auf Berlioz, Villiers de l'Isle-Adam und andere. Sie besaß Geschmeidigkeit, Intelligenz und einen unerschütterlichen Willen - die Reize einer Katze. Man nannte sie ‘La Chatte’. Sie war eine geborene Prinzessin Gortschakoff, die typische Vertreterin der hohen russischen Aristokratie. Ihre großen Wohnräume erinnerten mich | |
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an die Salons, in denen sich die Heroinen der Romane Tolstois bewegen. Die Einrichtung war prächtig, aber es war ein ziemliches Durcheinander zusammengewürfelter Dinge, die irgendein Dekorateur im Stile Hans Makarts arrangiert hatte, dessen verheerender Einfluß in den adligen Kreisen auch am Anfang des Jahrhunderts noch ungebrochen war. Die Baronin erschien stets in Schwarz. Ihre Kleider waren von strengem, altmodischem Schnitt, hochgeschlossen bis zum Hals, im Stil jener Damen, die während ihrer winterlichen Aufenthalte in Rom hohe päpstliche Würdenträger empfangen. Sie bewegte sich mit der eindrucksvollen Gemessenheit der ‘grande dame’. Weibliche Reize besaß sie nicht mehr, und ihre Stimme klang rauh und heiser. Ich erzählte ihr, wie tief Liszt mich als jungen Menschen beeindruckt hatte, als er sich an den Flügel setzte und die Tasten berührte, und wie traurig ich damals war, wegen meiner Schularbeiten nicht genügend Zeit zur Ausbildung meiner Fingerfertigkeit zu haben. Sie ihrerseits behauptete, sich des Besuchs bei meinem Vater zu erinnern. Über Harrys und meine Pläne für ein ‘neues Weimar’ war sie erstaunlich gut unterrichtet. Aber ich glaubte, aus ihren Augen und den Runzeln ihrer Stirn ihren Zweifel lesen zu können, daß irgend etwas imstande wäre, Weimar aus der Lethargie zu erwecken, die sich seit den legendären Zeiten Liszts ausgebreitet hatte. Sie wollte mich nicht entmutigen, aber sie konnte die Geringschätzung nicht verheimlichen, die sie dem Großherzog und den Hofleuten gegenüber hegte. Obwohl mein erster Besuch eher enttäuschend verlief, lud sie mich freundlich ein, wiederzukommen. Bei meinem nächsten Besuch erzählte ich ihr zu ihrem großen Vergnügen, daß ich bei meiner Berufung nach Weimar verlangt hatte, keine Kammerherren-Uniform tragen zu müssen. Es hatte sich daraus vor kurzem ein kleiner Zusammenstoß mit dem Großherzog ergeben. Bei einem Galadiner war ich der einzige Gast im Frack. Wilhelm Ernst machte daraufhin eine Anspielung, und ich hatte die Stirn zu antworten, Königliche Hoheit möge sich vorstellen, der Präsident der Vereinigten Staaten habe einen Botschafter an den Weimarer Hof entsandt. Der Großherzog quittierte meine Antwort mit einem Stirnrunzeln, das mehr bedeutete, als es im Augenblick scheinen mochte. Als ich der Baronin diese Geschichte erzählt hatte, wurde der Ton unserer Unterhaltung weniger zeremoniell und die männliche Stimme der Baronin weniger rauh. | |
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Bei einem späteren Besuch sprach sie von den Beziehungen Liszts zu Großherzog Karl Alexander und zum Hof, von den Demütigungen, die er in seinen letzten Weimarer Jahren zu erdulden hatte. Sie beschuldigte Karl Alexander des Unverständnisses für Liszts Plan, aus Weimar das zu machen, was später Bayreuth geworden ist. Die ‘Chatte noire’ verlor in diesem Augenblick ein wenig die Haltung und wiederholte die Worte, mit denen Liszt die Herren und Damen des Hofes apostrophiert hatte: ‘Esel rechts, Esel links, ich gehe meinen Weg!’ Bösartig skandierte sie diese deutschen Worte; mit der gleichen Heftigkeit, mit der sie als junge russische Prinzessin zweifellos bereit gewesen war, ihre Leibeigenen zu prügeln. Tage- und wochenlang verfolgte mich der verwünschte Refrain: Esel rechts, Esel links... | |
Das tragische Ende der GrossherzoginHarry Kessler führte seine Pläne weiter. Schritt um Schritt folgten Ausstellungen von Courbet, Manet und von den Neo-Impressionisten. 1904 sahen wir Werke von Cézanne, der - wie Harry im Ausstellungskatalog schrieb - ‘darauf ausgeht, mit neuen Farben und Färbungen des Impressionismus einen neuen, strengen Stil zu schaffen’. Während Ausstellungen von Seurat und van Gogh vorbereitet wurden, verwirklichte Harry ein Projekt, das ihm besonders am Herzen lag: eine Rodin-Ausstellung mit Skulpturen und Zeichnungen, ergänzt durch eine Reihe photographischer Aufnahmen. Großherzogin Karoline wohnte der feierlichen Eröffnung dieser Ausstellung bei, die während der Monate Juli und August 1904 die Aufmerksamkeit aller Kunstkritiker, der Kunsthistoriker, der Kunstfreunde und vor allem der unabhängigen Künstler Deutschlands erregte. Für Harry bedeutete diese Ausstellung einen großen persönlichen Erfolg. Im Laufe des Jahres 1904 hatte sich das Interesse der jungen Großherzogin für meine Tätigkeit belebt. Bei ihrem letzten Besuch im Seminar zeigte ich ihr die Pläne für eine großes Gebäude, das das Seminar, meine Privatateliers und Räume für eine Kunstgewerbeschule beherbergen sollte. Die Zahl der Schüler, die bei mir zu arbeiten wünschten, nahm ständig zu. | |
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Ein von mir entworfener großer Neubau für die Kunstschule war eingeweiht worden. Er enthielt geräumige Ateliers für die Professoren und daneben jeweils Räume für die Schüler sowie einen Aufenthaltsraum. Dieses Gebäude lag an einer in die Belvedere-Allee einmündenden Straße. Ich plante, in seiner nächsten Nähe eine Schule für Kunstgewerbe und Kunstindustrie zu errichten, die ein größeres Terrain benötigte. Meine Ateliers und einen Teil des Baus gedachte ich längs der gleichen Straße zu legen. Ein zweiter, größerer Flügel war in einem gewissen Abstand projektiert. Zwischen beiden Bauten sollte eine Wiese mit Bänken liegen, auf der sich die Schüler der beiden Institute treffen konnten. Bei ihrem letzten Besuch folgte die Großherzogin aufmerksam meinen Darlegungen über die Vorteile einer solchen Anlage und über die günstigen Auswirkungen der geplanten Anstalt auf die künstlerische Kultur des Großherzogtums. Auch auf die grundsätzliche Wichtigkeit der Schule wies ich hin, die die Fortführung meiner kunsterzieherischen Ziele auch für den Fall sicherte, daß ich aus irgendeinem Grund einmal meinen Weimarer Posten verlassen würde. Die Großherzogin wiederum erkundigte sich nach dem Verlauf des geplanten Unterrichts, vor allem nach dem Lehrgang für junge Mädchen. Ich erklärte ihr die Aufgaben und Ziele der Klassen für Weberei, Stickerei, Batik, Emaille, Buchbinderei und versuchte zu charakterisieren, in welcher Atmosphäre und in welchem Geist ich die Ateliers, ‘meine Schule’, geführt wissen wollte. Es sollte weder Snobismus noch Dilettantismus geduldet werden, und alles sollte sich auf so hohem Niveau abspielen, daß - wie ich mich hinreißen ließ zu sagen - auch eine Landesherrin ohne Scheu dort arbeiten könnte. Ich faßte mich rasch wieder und fügte bei, ich wisse wohl, daß ein solcher Wunsch kaum toleriert und die Etikette ihm ein unbarmherziges Veto entgegenstellen würde. Mit klarem Blick schaute mir die Großherzogin in die Augen und erwiderte: ‘Glauben Sie, Professor, daß mich irgend jemand hindern könnte, wenn ich eines Tages einen solchen Wunsch hätte?’ Und nach einer langen Pause fuhr sie in noch bestimmterem Ton fort: ‘Und wenn man auch versucht, eine gekrönte Marionette aus mir zu machen!’ Zu Beginn des Winters 1904/05 gingen am Hof Gerüchte um, die auch bald die Bevölkerung beunruhigten. Die Großherzogin sei aus Staatsgründen zur Heirat gezwungen worden, obwohl ihr Herz einem anderen, Un- | |
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ebenbürtigen zugewandt war. Verzweiflung habe sie in Todesgefahr getrieben, als sie - eine leidenschaftliche Reiterin - gejagt von selbstmörderischen Gedanken, auf ihren Ritten durch die verschneiten Wälder, Hals und Brust der eisigen Kälte aussetzte. Im Laufe des Januar 1905 starb die junge Großherzogin an den Folgen einer bei einem Ausritt zugezogenen Lungenentzündung, die sie innerhalb zweier Tage hinwegraffte. Harry und ich folgten aufs tiefste erschüttert ihrem Sarg, der in der Weimarer Fürstengruft beigesetzt wurde. Wir hatten in der Großherzogin Karoline die Frau verloren, die eine ideale Schutzherrin aller unsrer Wünsche hätte werden können. Der Hof hielt sich an die strikten Regeln und das Zeremoniell der Hoftrauer. Man ignorierte geflissentlich die Kälte, die zwischen der Bevölkerung und dem Großherzog entstanden war. Der Fürst vermied lange Aufenthalte in Weimar. Er verbrachte den größeren Teil des Jahres auf seinen schlesischen Besitzungen, jagte Hirsche und Wildschweine und zog die Gesellschaft seiner dortigen Nachbarn derjenigen des Hofes und seiner Minister in Weimar vor. Der Tod der Großherzogin, den die Bevölkerung als eine Tragödie empfand, schuf eine Leere, für die der Großherzog die Verantwortung zu tragen hatte. Schon die erste Trauer nach dem Tod der Großherzoginmutter Pauline im April 1904 hatte einen Vorhang fallen lassen. Jetzt war der Vorhang zum zweiten Male niedergegangen. Für Harry Kessler und mich gab es jedoch keine Pause. Wir fuhren fort, unsere Positionen auszubauen und den Enthusiasmus unserer Freunde und Helfer anzufeuern. | |
Das Projekt eines Theaters für Louise DumontDas ‘Theater’ bedeutet in meinem Leben eine Folge schwerer Enttäuschungen. Sie begannen mit der Weigerung des Großherzogs, der Schauspielerin Louise Dumont ein Terrain für das von ihr geplante ‘Dramatische Nationaltheater’ zur Verfügung zu stellen, und enden mit dem Bau des Werkbundtheaters der Ausstellung in Köln im Jahre 1914, das während des Krieges 1914/18 seinen Zwecken entfremdet und später abgerissen wurde. | |
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Der Plan Louise Dumonts, einer der berühmtesten Tragödinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bestand darin, gemeinsam mit ihrem Gatten, dem ausgezeichneten Regisseur Gustav Lindemann, in Weimar ein Theater zu errichten, in dem, ähnlich wie in Wagners Bayreuther Haus, alljährlich während drei Sommermonaten Festspiele stattfinden sollten. Das Ensemble sollte aus den besten Schauspielern und Schauspielerinnen Deutschlands bestehen, und alle Rollen, bis zur bescheidensten, sollten von allerersten Kräften übernommen werden. Den Spielplan wollte Louise Dumont allein bestimmen. Sie hatte die Absicht, sich unserer Bewegung des ‘neuen Weimar’ anzuschließen und durch künstlerisch außergewöhnliche Aufführungen ihrerseits einen Beitrag zu leisten. Sie gedachte, selbst große Rollen zu übernehmen und gemeinsam mit Gustav Lindemann Regie zu führen. Louise Dumont beauftragte mich mit dem Entwurf eines vorläufigen Projektes, für das ich einen Platz an der Belvedere-Allee halbwegs zwischen Weimar und dem Schloß Belvedere in Aussicht nahm. Die Dumonts und ihre Freunde, die das Kapital für den Bau zur Verfügung gestellt hatten, erwarteten vom Großherzog nur die Bereitschaft, den Platz kostenlos zur Verfügung zu stellen. Der Großherzog oder die Regierung hatten lediglich ja zu sagen. Für alles andere war Louise Dumont bereit zu sorgen. Es gab im Großherzogtum und in ganz Deutschland keine Gegner dieses schönen Projektes, abgesehen von einigen deutschen Kollegen, die mich um diesen Auftrag beneideten. Aber der Intendant des Weimarer Hoftheaters und seine Freunde bei Hof bekämpften es aufs heftigste, weil es ihren eigenen Plan der Errichtung eines neuen Theaters in den Hintergrund drängte, der den Abbruch des alten, zu Goethes Zeit erbauten Theaters voraussetzte. Mit den niedrigsten und hinterlistigsten Argumenten wurde die lokale Presse alarmiert, und die vom Intendanten geführte Kampagne erniedrigte sich so weit, daß sie Louise Dumont ihre jüdische Herkunft und mir meinen Status als Ausländer vorwarf, ja sogar versuchte, mich mit dem Hinweis auf angebliche jüdische Ahnen zu diskreditieren. Schließlich hatten Louise Dumont und ihre Freunde von den Angriffen, den Winkelzügen und der unklaren Haltung des Großherzogs genug. Sie verzichteten auf den Weimarer Plan, den sie in anderer Form schließlich in Düsseldorf verwirklichten. Und ich wurde der Möglichkeit eines Beitrages beraubt, den ich für die Architektur des ‘neuen Stils’ Beginn des 20. Jahrhunderts hätte leisten können. | |
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Die Studien für das Dumont-Theater führten mich auf ganz neue Wege. Aus dieser Zeit stammen meine Untersuchungen und Überlegungen zur Entwicklung eines Zuschauerraumes, der den neuen künstlerischen Bedürfnissen mehr entsprach als die Säle der italienischen und französischen Theater des sogenannten Guckkastenprinzips oder auch das von Semper wiederaufgenommene Prinzip des Amphitheaters, auf dessen Grundideen Wagner das Bayreuther Festspielhaus errichten ließ. Mehr als andere künstlerische Veranstaltungen interessierten mich in Berlin und Paris die Schauspielhäuser, die ich fleißig besuchte. In Berlin das ‘Kleine Theater’ Max Reinhardts, in dem er zu Beginn seiner brillanten Laufbahn auf einer winzigen Bühne Stücke von Gorki, Björnson und Tolstoi zur Aufführung brachte, und Brahms ‘Deutsches Theater’, wo die Dramen Ibsens, Strindbergs und Gerhart Hauptmanns gespielt wurden. In Paris war ich häufiger Gast in den kleinen Theatern Antoines, Lugné-Poes und Copeaus, in denen ich moderne französische Dramatik kennenlernte. Alle diese Stücke breiteten vor den Zuschauern ‘Fälle’ aus und stellten ‘Probleme’ zur Diskussion, zu denen die Besucher, jeder auf seine Art, Stellung nahmen. Unter solchen Voraussetzungen waren die Aufführungen keine spektakulären ‘Schaustellungen’ mehr, sondern wurden, je nachdem, gleichsam Gerichtssitzungen oder Vorlesungen in einem Hörsaal, in dem der Professor vor den Studenten einen psychiatrischen Fall mit allen seinen Konsequenzen darlegt. Der Gerichtshof, beziehungsweise die Wissenschaft spricht das Urteil. In solchen Situationen gibt es keine in sich geschlossene Zuschauerschaft mehr, und jede Einheit des Gefühls ist verschwunden. An seine Stelle tritt die Disputation, die bis zu unausgesprochenen gegenseitigen Schmähungen führen kann. In der Kirche steigert die Anwesenheit der Gemeinde meine eigenen Empfindungen. Im Theater dagegen, wo die Phasen eines psychologischen Konfliktes abrollen, stört mich der Gedanke, daß mein Nachbar auf die Äußerungen, die Handlungen der Schauspieler, auf den Ablauf und die vom Autor ausgedachte Lösung des Dramas anders reagiert als ich. Angesichts solcher Probleme schien es mir manchmal besser, überhaupt nicht ins Theater zu gehen, sondern das Drama allein am Kaminfeuer oder im Schein einer freundlichen Lampe nur zu lesen. Diese Lösung bedeutete allerdings den Verzicht auf den Genuß der Interpretation und der Attrak- | |
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tion, die der Schauspieler oder die Heldendarstellerin auf den Zuschauer ausübt; für den Autor hingegen den Verzicht auf das Erlebnis, die von ihm geschaffenen Gestalten lebendig auf der Bühne zu sehen. Ich erinnerte mich der Besuche, die ich als Knabe mit meinem Vater im Gefängnis von Antwerpen machte, an die Isolierung der Gefangenen während des sonntäglichen Gottesdienstes, dem sie, jeder für sich in kleinen Kästen, getrennt beiwohnten, um einzig auf den Ablauf der Messe konzentriert zu sein. Dieses System konnte für das Theater natürlich nur beschränkt Verwendung finden. Mit Leidenschaft vertiefte ich mich in diese Probleme, die auf den ersten Blick unlösbar schienen. | |
Sigurd FrosterusMein hilfsbereiter Zeichner Hugo Westberg war stets darum besorgt, daß ich während meiner privaten Arbeit nicht gestört wurde, der immer die Morgenstunden gewidmet waren; nachmittags arbeitete ich für das Seminar. Eines Tages handelte er gegen die Instruktion, trat, etwas zögernd, bei mir ein und meldete mir den Besuch eines Ausländers, den er angesichts der Dringlichkeit, mit der er mich zu sprechen wünschte, glaubte, nicht abweisen zu dürfen. Westberg hatte mit dem aus Finnland kommenden Besucher einige schwedische Worte gewechselt. Er hatte von ihm einen ausgezeichneten Eindruck empfangen. Auf der Visitenkarte stand: Sigurd Frosterus, Architekt. Der Name war mir nicht unbekannt. Mein Brüsseler Freund Willy Finch, der von Belgien nach Finnland gegangen war, wo er an die Akademie der Künste in Helsinki als Lehrer für Keramik berufen wurde, hatte mir den Besuch eines jungen Architekten angekündigt, der seine Studien an der Polytechnischen Hochschule absolviert hatte. In Finchs Brief vom September 1903 heißt es: ‘Du darfst Vertrauen zu ihm haben. Er ist sehr kultiviert, hat kunstkritische Aufsätze geschrieben... nimm ihn freundlich auf.’ Ich setzte mich mit Sigurd Frosterus an den Tisch, auf dem sich der Plan für den Zuschauerraum des Dumont-Theaters befand, den ich gerade voll- | |
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endet hatte. Mein Besucher war aus Helsinki nach Weimar gekommen. Ohne viele Worte legte er mir seinen Wunsch dar, von mir in die Probleme des ‘neuen Stils’ eingeweiht zu werden. Er wollte mein Schüler werden. Keiner meiner bisherigen Mitarbeiter und Schüler war mir mit solchem Freimut, solchem Enthusiasmus und solcher offenkundigen Hochachtung entgegengetreten. Sein jugendliches Auftreten, der Ton seiner Worte und sein eindring-licher Blick machten mir die Entscheidung leicht. Die Anziehungskraft seiner schönen Züge, sein tadelloses Benehmen taten ein übriges. Frosterus sprach fließend Deutsch und Französisch. Er war über alles unterrichtet, was die neuen Kunstströmungen betraf; er kannte die verschiedenen Richtungen in der europäischen bildenden Kunst, vor allem aber in der Architektur und im Kunsthandwerk; er hatte die Publikationen in den deutschen, belgischen, englischen und französischen Kunstzeitschriften studiert und die Reproduktionen genau angesehen. In meine Schriften hatte er sich gründlich vertieft. Frosterus blieb vom Oktober 1903 bis Ende März 1904 in Weimar. Ich übergab ihm alle meine Studien und Skizzen, die ich auf Grund des mir gestellten Programmes für das Theater gemacht hatte. Unter meinen Dokumenten, die infolge des häufigen Wohnungswechsels, zu dem ich durch den Verlauf meines Lebens gezwungen worden bin, sehr viele Lücken aufweisen, fand ich weder Skizzen noch Pläne zu diesem Theaterentwurf. Mag sein, daß ich mich von der Gleichgültigkeit des Großherzogs und von seinen Schachzügen, mit denen er ein für Weimar und für mich selbst so wichtiges Projekt zum Scheitern brachte, abgestoßen fühlte und mich deshalb nicht mehr um das Schicksal dieser Pläne kümmerte. Mit großer Befriedigung erinnere ich mich an die Zusammenarbeit mit Frosterus, einem Architekten von beachtlichen beruflichen Kenntnissen und von außergewöhnlicher Sensibilität. Und ich habe die vielen Diskussionen am gemeinsamen Arbeitstisch oder bei unseren Spaziergängen im Weimarer Schloßpark und im Park von Belvedere nicht vergessen. Ich empfand das Bedürfnis, den Arbeitsgefährten, den mir ein glückliches Geschick aus einem fernen Lande zugeführt hatte, im einzelnen in meine Überzeugungen und Ansichten einzuweihen. Mein junger Freund, der sich bald die Zuneigung meiner Frau, meiner Kinder und auch der treuen Mitkämpfer für ein ‘neues Weimar’ erwarb, | |
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machte sich rasch mit allem vertraut, was das Seminar und meine Mission betraf, die mir der Großherzog übertragen hatte. Auch bei seinen späteren Aufenthalten in Weimar - im Sommer 1905 und während der Monate November und Dezember des gleichen Jahres - verfolgte Frosterus mit größtem Interesse meine Arbeiten und meine Funktion als Berater der Kunsthandwerker und der Kunstindustrien. Ich wünschte, Sigurd für eine engere und längere Zusammenarbeit mit mir zu gewinnen. Aber ich fühle mich heute noch erleichtert, daß es nicht dazu kam, denn er - und mit ihm seine charmante und intelligente Frau - hätte mit mir die Enttäuschungen, Erniedrigungen und Schicksalsschläge teilen müssen, die ich später in Weimar erlitten habe. Dankbar bin ich Sigurd Frosterus für die wertvolle und immer freundliche Hilfe, die er mir bei der gemeinsamen Arbeit am Vorprojekt für ein Ausstellungsgebäude der Berliner Sezession und auch für das neue Museum in Weimar, das dem Grafen Kessler versprochen worden war, geleistet hat. Für die Berliner Sezession stand ich in Konkurrenz mit zwei anderen Architekten, deren Namen ich vergessen habe. Meine Berliner Freunde, Curt Herrmann, Max Liebermann, der Bildhauer Georg Kolbe, der Sekretär der Berliner Sezession, Paul Cassirer, und andere einflußreiche Mitglieder des Vorstandes, hatten mich überredet, ein Vorprojekt auszuarbeiten, obwohl ich überzeugt war, daß einer der anderen Architekten, der gute Verbindungen zu den Geldgebern unterhielt, den Auftrag erhalten würde. Auch bei einem anderen Projekt, das ebenfalls zu einer Enttäuschung führte, arbeitete Sigurd Frosterus mit. Die Regierung hatte mir den Auftrag erteilt, für einen Neubau des Restaurants ‘Webicht’, eines beliebten Ausflugortes in den Wäldern der Umgebung Weimars, einen Entwurf auszuarbeiten. Das Projekt wurde dem Baurat des zuständigen Ministeriums vorgelegt, der es scharf kritisierte. Trotzdem legte die Regierung meine Pläne zusammen mit dem Rapport des Baurats dem Parlament vor, das die Mittel zu bewilligen hatte. Das Parlament stellte sich auf die Seite des Baurats, verweigerte die Bewilligung und leitete mein Projekt dem Staatsminister zu. Die Regierung gab nach und rechnete damit, daß nunmehr der Großherzog, der sich herausgefordert fühlen mußte, aus seiner Privatschatulle die Mittel für die Ausführung meines Entwurfes - seines Beraters - zur Verfügung stellen würde. Aber es geschah nichts. Der für die Ausgaben der Privat- | |
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schatulle verantwortliche Hofrat bemerkte ironisch, man hätte vermeiden sollen, Seine Königliche Hoheit zu verletzen. Und der Bau unterblieb. Weitere Kränkungen folgten. Den Garten des Goethe-Hauses umgab eine häßliche, allzu hohe Mauer. Eine Reihe von Persönlichkeiten, an deren Spitze der frühere Hofmarschall von Wedel, zu denen auch Harry Graf Kessler, Ludwig von Hofmann und ich gehörten, reichte beim Großherzog eine Petition ein, die auf die Beseitigung des unwürdigen Zustandes zielte. Das Resultat war eine gegen mich gerichtete kleinliche, gehässige Kampagne, die nicht nur in den Lokalblättern ihren Niederschlag fand, sondern bis in die Witzblätter gelangte. In dieser Lage war es für mich eine Freude, in Sigurd Frosterus einen jungen Menschen um mich zu haben, der bereit war, meinen Gedanken zu folgen. Ich besprach mit ihm Abschnitt für Abschnitt die Thesen meiner ‘Laienpredigten’, die ich jetzt präziser zusammenfaßte und auf die neuen Horizonte hin orientierte, die sich mir inzwischen gezeigt hatten. Meine Vorläufer Ruskin und Morris hatten vergebens die Wiederkehr der Schönheit gepredigt, die unmöglich geworden war, weil Wesen und Begriff der Schönheit seit dem Altertum immer unklarer und widerspruchsvoller geworden sind. Deshalb verlangte ich, daß zuvorderst die Häßlichkeit und die Verseuchung, die von ihr ausgeht, bekämpft werden müßten. Die Waffe, die der Menschheit für diesen Kampf gegeben ist, heißt Gestaltung nach den Prinzipien der Vernunft. Im Bewußtsein, diese den Virus der Häßlichkeit vernichtende Waffe zu besitzen, sah ich eine Periode einer gewissen Neutralität voraus, in der die Idee der Schönheit zwar gegenwärtig bleibt, aber gleichsam in einer Art Schwebezustand nur schwer zu fassen oder zu definieren ist. Sigurd und ich haben in langen Gesprächen diese Probleme diskutiert und sind gemeinsam zu dem Schluß gekommen, daß die Phase der Neutralität auch in der Entwicklung meiner Arbeiten erkennbar ist, in denen die expressive Heftigkeit des Linearen und auch der Volumen und Strukturen meiner frühen Werke in beruhigtere, neutralere Formen übergeht. Das tiefe Verständnis, das Frosterus meinen künstlerischen Ideen entgegenbrachte, spiegelt sich in den Briefen, die er nach seinem Besuch im Nietzsche-Archiv an seine Mutter schrieb: ‘Ohne Zweifel das schönste, was van de Velde geschaffen hat, das geschlossenste, das reinste, das gehaltvollste | |
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Werk, das die moderne Kunst bis jetzt hervorgebracht hat. Alles, Wände und Möbel, ist in hellen Tönen gehalten. Die Möbel sind mit einem Samt in mattem Rot bezogen, der an die Reflexe der untergehenden Sonne auf den Schneegipfeln der Alpen erinnert. Das Rotbuchenholz der Möbel läßt durch die Tiefe seiner Färbung die Valeurs der Stoffe in höchster Differenzierung hervortreten. In den strengen Linien der Möbel liegt eine außergewöhnliche Kraft, Geschmeidigkeit und Elastizität, in allem Ornamentalen eine ausgewogene, wunderbare Harmonie. Sie sind weder zu leicht noch zu schwer, weder ‘elegant’ noch ‘lässig’ im englisch-amerikanischen Sinn. Mit einem Wort eine ‘feierliche’ Einheit; nichts fällt aus dem Rahmen, nichts springt in die Augen, aber auch nichts dürfte weggelassen werden. Solche Dinge können nur geschaffen werden, wenn Herz und Seele zusammenwirken, was nicht oft im Leben vorkommt.’ Und in einem späteren Brief heißt es: ‘Nichts ist dem Zufall überlassen, und nirgends zeigt sich auch nur eine Spur von Hast. Mit der gleichen eindringlichen Sorgfalt sind ein Stuhlbein, das Profil eines Tisches, das große Cheminée oder die Nische gezeichnet, in der Klingers schöne Nietzsche-Büste steht. Als Innenarchitekt überragt van de Velde seine Zeitgenossen um vieles, ja ich möchte fast sagen, daß es unter den Modernen nur einen einzigen gibt, der sich mit den großen Meistern der Vergangenheit messen kann, und das ist er.’ Sigurd Frosterus, mit dem ich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder die Verbindung aufnahm, hat in Helsinki eine glänzende Laufbahn durchschritten. Als Vermittler meiner architektonischen Prinzipien hat er auf die ihm folgende Generation einen starken Einfluß ausgeübt. Der geniale finnische Architekt Alvar Aalto hat mir ausdrücklich die große Achtung bestätigt, die er und seine Freunde dem gesunden und zugleich sensiblen Schaffen ihres älteren Kollegen entgegenbringen. Für mich bedeuteten die Jahre 1903 bis 1905 und vor allem die Zusammenarbeit mit Frosterus eine glückliche und wertvolle Vorbereitung meiner pädagogischen Tätigkeit an den Instituten in Weimar und später in Brüssel.
Eine eher groteske Erinnerung führt mich noch einmal zu Frosterus zurück. Es handelte sich um die ‘Verkleidung’ einer Villa in Chicago, die an einer Straße gelegen war, wo jedes Haus aussah wie das andere. Ein höchst origineller amerikanischer Oberst, der eine dieser Villen besaß, wollte | |
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als erster seinen Mitbürgern eine Fassade vorführen, wie er sie an einem Haus in Ostende gesehen hatte, das ich einem Bewunderer meiner linear-abstrakten Ornamente in meiner ersten belgischen Periode gebaut hatte. Dieser Oberst, der einst seine Truppen in der Schlacht von Gettysburg zum Sieg geführt hatte, war Besitzer eines der größten ‘Drugstores’ von Chicago. Er hatte mich in Belgien gesucht und war schließlich nach Weimar gekommen. Dieser ungewöhnliche Schritt rührte mich, und die Bewunderung des Amerikaners machte mir Eindruck. Ein weiter Horizont öffnete sich vor mir, und ich glaubte schon, Amerika in einem Handstreich erobern zu können. Ich nahm den Auftrag an und ließ ein Modell dieser Fassadenverkleidung in ziemlich großem Maßstab herstellen; einige Motive sogar in natürlicher Größe. Frosterus führte die Vorzeichnungen zur größten Zufriedenheit des Auftraggebers aus. Die Sache machte in Chicago solche Sensation, daß der Oberst mir vorschlug, auch sämtliche Etagen seines ‘Drugstores’ auf diese Weise zu renovieren. Sein telegraphisches Angebot war mit der Bedingung verbunden, mich sofort einzuschiffen und während der Ausführung der Pläne, der Modelle und der Bauarbeiten in Chicago zu verbleiben. Eine Zusage hätte mich auf die Dauer von sechs Monaten von meinen Weimarer Pflichten ferngehalten, ganz abgesehen davon, daß ich um die Einwilligung des Großherzogs hätte nachsuchen müssen. Unter diesen Umständen konnte ich nicht daran denken, den Auftrag anzunehmen, geschweige denn den Großherzog in einem Augenblick um Urlaub zu bitten, in dem zwei wichtige Entscheidungen bevorstanden: der Bau eines neuen Hoftheaters und die Vergebung der Bauarbeiten für den von mir entworfenen Neubau der Kunstschule. Wenn ich den Auftrag in Chicago hätte annehmen können, so wäre die künstlerische Entwicklung in Amerika vermutlich rasch in Fluß geraten. Ich wäre vielleicht nach Amerika übergesiedelt und hätte jenen Architekten den Weg bereitet, die - Gropius, Mies van der Rohe, Mendelsohn und andere - nach der Machtergreifung durch die ‘Nazis’ nach den Vereinigten Staaten kamen. | |
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Ein neues Hoftheater?Nachdem der Plan Louise Dumonts zum Scheitern gebracht worden war, drängte der Intendant von Vignau auf die möglichst baldige Errichtung eines Neubaus für das Weimarer Hoftheater. Schon zur Regierungszeit Karl Alexanders hatten solche Absichten bestanden, und der frühere Intendant Hans Bronsart hatte von der Firma Hellmer & Felner in Wien, die sich als Theaterspezialisten eines europäischen Rufes erfreute, Pläne ausarbeiten lassen. Für ihre zahlreichen Theater in Deutschland und Mitteleuropa benützte diese Firma ein Schema, das von Garniers ‘Großer Oper’ in Paris abgeleitet war, dem wichtigsten Bau im ‘Stil des zweiten französischen Kaiserreiches’; einem Musterbeispiel sinnlos zusammengewürfelter Formen aller Stile, einer Anhäufung widersprechender Elemente. Der Großherzog hatte das Exposé seines Intendanten wohlwollend angehört. Allerdings wußte Herr von Vignau, daß der Großherzog die Pläne mir hatte vorlegen lassen. Und er wußte, daß der Großherzog mich um meine Meinung über den Wert der Pläne und über die Frage, ob sie als Grundlage für neue Entwürfe dienen könnten, gebeten hatte. In diesem Vorgehen des Großherzogs lag für den Intendanten etwas Beunruhigendes. Es wies auf die Absicht hin, mich in die Probleme beim Bau des neuen Hoftheaters einzubeziehen, was der Intendant seinerseits unter keinen Umständen wollte. Um diese Möglichkeiten zu vereiteln, war Herrn von Vignau kein Mittel schlecht genug. Er war es, der Louise Dumonts Projekt eines Nationaltheaters zu Fall gebracht hatte. Und er nützte damals die Gelegenheit aus, die öffentliche Meinung gegen mich und meine Freunde des ‘neuen Weimar’ aufzuhetzen. Das Echo dieser Angriffe war noch nicht verklungen, das Feuer glühte noch unter der Asche. Von Vignau appellierte an die öffentliche Meinung und veranlaßte eine Mitteilung in der Presse, derzufolge ich meine Kandidatur für den Entwurf der Pläne des neuen Weimarer Hoftheaters angemeldet hätte. Dieser falsche Alarm genügte, um die Angriffe gegen mich wieder aufflammen zu lassen. Ein weiterer Schritt verbaute mir den Weg. Herr von Vignau wandte sich an Heilmann und Littmann in München, die als jüngere Architekten über die modernen Ansprüche, die das an Richard Wagner geschulte Publi- | |
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74 Samowar, Silber mit Holzgriff, um 1902
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75 Stuhl für das Nietzsche-Archiv, 1903, und Stehpult, um 1907
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76 Eßbesteck, Silber, 1902/03
77 Gürtelschnallen, Silber, 1898 (oben), um 1900 (unten)
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kum dem Theaterbau gegenüber stellte, besser unterrichtet und die Forderungen der Bühnen- und Beleuchtungstechniker, die auf ein Maximum von Naturalistik zielten, zu erfüllen bereit waren. Heilmann und Littmann mobilisierten das ganze Personal ihres Büros für die Ausführung der Pläne, die von Vignau dem Großherzog vorlegte. Diese Pläne setzten ohne jeden Skrupel und nur um das neue Theater an der gleichen Stelle wie das frühere zu errichten, die Opferung des alten Goethe-Theaters voraus. Dieser gegen Ende des 18. Jahrhunderts errichtete Bau galt als eine Reliquie. Goethe war Jahre hindurch Intendant des Hauses gewesen und hatte auf dieser Bühne seine eigenen dramatischen Werke und die anderer Dichter inszeniert; von hier aus entwickelte sich die dramatische Kunst in ganz Deutschland. Hier hatte Liszt die ersten Werke Wagners zur Aufführung gebracht und später jüngeren Komponisten den Weg zur Bühne geebnet. Unzählige Erinnerungen waren mit diesem Theater verknüpft, das in seiner Art ausgezeichnet war. Die Akustik war vorzüglich, und in dem Zustand, in dem es sich befand, konnte es noch lange dienen. Genau erinnere ich mich der hingebungsvollen Aufmerksamkeit, mit der wir jedes Jahr zu Ostern den Aufführungen beider Teile des ‘Faust’ beiwohnten; ich denke zurück an den ‘Prinzen von Homburg’ oder auch an den ‘Barbier von Bagdad’. In der einfachen und klaren Atmosphäre des Raumes spürte man etwas von der Bescheidenheit und von dem Glauben, unter deren Zeichen Goethe und Liszt in diesen Räumen gewirkt hatten. Ich war nicht der einzige, der die Zerstörung des Goethe-Theaters als ein Sakrileg, als einen Akt des Vandalismus empfand. Angesichts der pietätlosen Absichten des Intendanten erschien es mir als meine Pflicht, den Großherzog auf die Gefahr und auf die Kritik aufmerksam zu machen, denen er sich im Falle seiner Zustimmung zu den Plänen von Vignaus seitens der Goethe-Gesellschaft und anderer Vereinigungen aussetzen würde, die fanatisch an der Pflege aller Erinnerungen an den Halbgott festhielten. Während der drei Jahre meiner Dienste beim Großherzog hatte ich niemals um eine Audienz nachgesucht. Immer hatte sich eine direkte Gelegenheit gefunden, bei der ich mit ihm über Fragen sprechen konnte, für deren Entscheidung an seine Autorität zu appellieren war. In meiner Funktion als künstlerischer Berater konnte ich in voller Unabhängigkeit handeln. Jetzt aber bestand die Gefahr, daß ich in eine gefährliche Angelegenheit ver- | |
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wickelt werden würde, und auch meine Freunde, die mit mir stets für die Verwirklichung neuer Dinge eintraten, konnten Mißdeutungen ausgesetzt sein. In diesem Zustand der Bestürzung entschloß ich mich, eine Audienz zu erbitten. Ich empfand den dringenden Wunsch, meinen Standpunkt darzulegen und neuen Angriffen zuvorzukommen. Ich wollte dem Großherzog erklären, welche Gründe mich gebieterisch zwangen, jede Verbindung mit dem Intendanten und seinen Plänen abzulehnen. Und ich wollte mich vor allem aus allen Intrigen heraushalten. Bevor es jedoch zu der erbetenen Audienz kam, ereignete sich ein Vorfall, der die Öffentlichkeit in ungewöhnlicher Weise beschäftigte und mich die Gefahren erkennen ließ, die mir drohten. Einige Tage, nachdem ich mein Audienzgesuch eingereicht hatte, wohnte ich einem Konzert im Palais bei. Jede große Soirée des Fürsten endete mit dem ‘Cercle’. Nachdem der Großherzog das letzte Dutzend der Gäste, die nicht übersehen werden durften, ‘erledigt’ hatte, ließ er mich durch seinen Adjutanten rufen. Beim ‘Cercle’ ist es Brauch, daß nur einige wenige liebenswürdige, oberflächliche Worte gewechselt werden. Diesmal verlief die Sache anders. Der Großherzog drückte mir die Hand und begann ein Gespräch, das allen Anwesenden nicht enden zu wollen schien. Wir standen allein in der Mitte des großen Saales, und der Großherzog kümmerte sich weder um den Ort, noch um den Moment, noch um seine Gäste. Er fragte mich ohne Umschweife nach meiner Meinung über das brennende Problem des neuen Theaters. Unter den Gästen, die in einem weiten Kreis um uns standen, entstand eine außerordentliche Bewegung und Unruhe. Der Oberhofmarschall, der den ‘Cercle’ leitete, aber nicht eingreifen konnte, lief hin und her wie ein Schäferhund um seine Herde. Immer wieder versuchte er, sich dem Adjutanten bemerkbar zu machen, der in vorgeschriebener Distanz regungslos der Befehle des Souveräns harrte. Aber der Großherzog redete immer weiter. Ich legte ihm die verschiedenen Punkte des Problems dar: die Sinnlosigkeit der früheren Pläne, die durch die Fortschritte der Bühnentechnik und auch der künstlerischen Regie überholt seien; die historische Bedeutung des alten Theaters, die gute Absicht der Vertreter der Tradition, die sich gegen seine Zerstörung und gegen den Vandalismus des Intendanten wendeten, die Bedenken gegen die zu geringe Bodenfläche des alten | |
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Theaters für einen modernen Neubau und nicht zu vergessen die Unmöglichkeit, mich mit dem Intendanten zu verständigen, der beim Projekt Louise Dumonts auch mich verletzt hatte. Schließlich gab ich dem Großherzog meinen Wunsch zu verstehen, in meiner Funktion als Berater nichts mehr mit der Sache zu tun haben zu wollen, wenn er seine Entschlüsse gefaßt habe. Unser Gespräch hatte weit mehr als die übliche Zeit in Anspruch genommen. Der Großherzog bedeutete dem Adjutanten, daß er sich zurückzuziehen wünschte. Er dankte mir, gab mir die Hand, ließ verstehen, daß er allein sein wolle, und zog sich in seine Gemächer zurück. Die Anwesenden grüßten ehrerbietig, waren aber verstimmt darüber, daß sie - abgesehen von den Eingeweihten, die die aktuellen Fragen des Hofes kannten - einem Gespräch beigewohnt hatten, dessen Inhalt ihnen unbekannt war. Sie hatten zwar die Entspannung der sonst eher harten Züge des Großherzogs bemerkt, konnten aber nicht wissen, daß ich gleichsam einen Dorn aus seinem Fuß gezogen hatte. Die dem Hof Nahestehenden fürchteten, ich hätte den Großherzog veranlaßt, mir die Ausführung der Pläne für das neue Theater zu übertragen. Im allgemeinen Durcheinander, in dem sich der ‘Cercle’ auflöste, verließ ich den Saal durch eine Tapetentür und erreichte die Garderobe, ohne von Neugierigen ausgefragt zu werden. Ich ging allein nach Hause und war erleichtert, im Augenblick jeder Verpflichtung entgangen zu sein. Aber ich hatte auch Illusionen verloren. Der Oberhofmarschall und Staatsminister Rothe, die oft ins Nietzsche-Archiv kamen, erfuhren von Elisabeth Förster-Nietzsche, daß ich mich von allem, was das neue Theater betraf, völlig distanziert hatte. Auf Veranlassung des Intendanten und des Oberhofmarschalls wurden Heilmann und Littmann in München endgültig mit der Ausarbeitung der Pläne beauftragt, und im Jahre 1908 wurde das neue Theater am Platz des mutwillig zerstörten Goethe-Theaters eröffnet. | |
1905 in Paris - Gordon Craig in WeimarIm Laufe des Jahres 1905 hielt ich mich mehrmals in Paris auf. Harry Kessler mochte glauben, ich triebe mich in mondänen Lokalen herum - er | |
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machte in einem seiner Briefe in dieser Richtung eine Andeutung -, in Wirklichkeit arbeitete ich mit den von Scheidemantel nach Paris entsandten Kunstschreinern an der Einrichtung der Wohnung von Victor und Natascha Golubeff. Die ganze Werkstatt Scheidemantels war mit der Herstellung der Dinge für diese luxuriöse Wohnung an der Avenue du Bois de Boulogne beschäftigt. Im privaten Rahmen - also ohne das Gewicht und die Herausforderung einer Ausstellung - erschienen die Erzeugnisse der verschiedenen kunsthandwerklichen Werkstätten des Großherzogtums Sachsen-Weimar, Möbel, Möbelstoffe, Teppiche, Beleuchtungskörper, Werke der Goldschmiedekunst und Porzellan, zum ersten Male in Paris. Alle Mitarbeiter waren bestrebt, ihr Bestes zu geben, und die verschiedenen Kunsthandwerker des Großherzogtums waren an einer Aktion interessiert, die sie unter sich die Eroberung von Paris nannten. Ich selbst erwartete die Revanche für den ‘Durchfall’, den ich 1896 bei Bings ‘Art Nouveau’ -Ausstellung mit meinen Arbeiten erlebt hatte, die den Unwillen der Pariser Presse und des von ihr beeinflußten Publikums hervorgerufen hatten. Victor und Natascha Golubeff hatten die Absicht, einen Kreis von Künstlern, Kritikern und Angehörigen der obersten Schicht der Pariser Gesellschaft um sich zu scharen. Victor besaß herrliche asiatische Kunstschätze und eine Sammlung persischer Miniaturen, die Aufsehen erregten. Natascha, die von ihren Freunden ‘Tata’ genannt wurde, war eine Schönheit. Sie hatte eine wundervolle Stimme und sang mit großem Charme und unvergeßlicher innerer Bewegung Lieder der deutschen Romantiker. Von Wuchs und Haltung eine Prinzessin, war sie von vollendeter Eleganz und sehr verschwenderisch. Victor besaß in Rußland eine große Anzahl von ‘Seelen’ und verfügte über kaukasische Landgüter von unmeßbarer Größe. Auch er war ein Grandseigneur von Natur. Der Salon der Golubeffs, auf die ich im Laufe meiner Erzählung noch zurückkommen werde, wurde rasch, nicht zum geringsten wegen seiner Einrichtung, zu einem Zentrum des Pariser gesellschaftlichen Lebens. Während eines meiner damaligen Pariser Aufenthalte erhielt ich von Harry Kessler folgenden, am 6. Dezember 1905 in Weimar geschriebenen Brief: ‘Während Sie, mein lieber Freund, in Paris in eleganten Lokalen bummeln, ereignen sich hier Dinge, Dinge...! Madame van de Velde hat Ihnen wohl geschrieben, daß Max Reinhardt nach Weimar gekommen ist. | |
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Gestern haben Hofmannsthal und ich ihm Ihre Theatermodelle gezeigt. Er war vollkommen überzeugt. Er hält Ihre Lösung für das Ei des Kolumbus und empfand die ‘pathetische’ Schönheit der architektonischen Form. Das Nietzsche-Archiv hat seine Begeisterung auf die Spitze getrieben. Heute morgen habe ich ihn am Wickel genommen und ihm schlankweg vorgeschlagen, Ihnen den Umbau des neben dem ‘Deutschen Theater’ gelegenen ‘Emberg’-Saales zu übertragen, den er erworben hat. Er will ihn in ein kleines Theater für vierhundert Personen verwandeln. Begreiflicherweise hat er geantwortet, sich nicht binden zu können, ehe er Sie gesehen und erfahren hat, ob Sie sich für eine solche Arbeit interessieren, und er bittet Sie, gleich nach Ihrer Rückkehr aus Paris zu ihm nach Berlin zu kommen.’ Später heißt es im gleichen Brief: ‘Noch ein Theatercoup: der Großherzog hat sich für Samstag zu mir zum Diner angesagt.’ Der Adjutant des Großherzogs, Graf von Fritsch, hatte den Abend mit Reinhardt und Hofmannsthal bei Kessler verbracht. Mit von Fritsch hatte ich während der Orientreise Beziehungen angeknüpft, noch bevor er erster Adjutant des Großherzogs wurde. Der Graf hatte sich einen Platz in unserem Kreis geschaffen und zugleich das Vertrauen des Großherzogs erworben. Sehr bald bemerkte er die feindselige Gesinnung des Oberhofmarschalls von Palézieux gegen Kessler, den er darüber orientierte. Den Großherzog bat er um Zurückhaltung gegenüber dem Oberhofmarschall, der ihn möglicherweise über Kessler falsch und verleumderisch unterrichtet hätte, um dessen Sturz und sein Verschwinden aus Weimar herbeizuführen. Auch darüber schrieb mir Harry in einem Brief: ‘Ich zweifle nicht, daß mir von Fritsch die Wahrheit gesagt hat. Denn vor ein paar Tagen berichtete mir Staatsminister Rothe, daß mein Name für den General von Palézieux ein rotes Tuch sei, und daß er in Wut gerate, wenn er ihn nur hört. Ich erklärte dem Minister, daß ich unter solchen Umständen lieber von der Leitung des Museums zurücktreten würde. Rothe bat mich, es noch nicht zu tun, denn die Dinge könnten sich bessern.’ Der Adjutant versuchte, sich für eine bessere Atmosphäre zu verwenden, aber das Diner war die erste Szene des Dramas, dem wir nur allzubald beiwohnen sollten und dessen finsteren Ablauf weder von Fritsch noch Minister Rothe aufhalten konnten. | |
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Die Ideen über Theaterbau nahmen weiter mein Interesse in Anspruch. In München und Berlin hatten sich die Dinge in Richtung auf intime Räume für eine verhältnismäßig kleine Zuschauerschaft entwickelt, in denen eine gesammelte Atmosphäre, etwas von der Ambiance eines Klubs entstehen konnte. Reinhardt dachte für den Umbau des Emberg-Saales an solche Möglichkeiten, aber er verlor nach einiger Zeit das Interesse an meinen Studien. Kessler war mit dem englischen Regisseur und Bühnenbildner Gordon Craig befreundet, dem Sohn der berühmten Schauspielerin Ellen Terry. Craig hatte Dekorationen und Kostüme geschaffen, die ohne eine Spur von Imitation auf die Einfachheit der Inszenierung, der Masken und der Kostüme des antiken griechischen Theaters zurückgingen. Harry erzählte ihm von meinen Modellen, meinen Studien und unserer gemeinsamen Arbeit in Weimar. Craig lebte in Florenz und ging nur gelegentlich zu Inszenierungen nach London. Auf Kesslers Vorschlag kam er kurze Zeit, nachdem Max Reinhardt meine Modelle gesehen hatte, zu Besuch nach Weimar. Er war dabei mehrmals in meinem Atelier und studierte lange mein Material. Craigs wachsendes Interesse befeuerte meinen Eifer. Seine neuen Inszenierungsideen, seine Prinzipien für den Bau von Dekorationen und seine Beleuchtungsmethoden führten zu einer Vertiefung meiner eigenen Studien der technischen Erfordernisse der Bühne. Seit der Erfindung der Drehbühne und anderer technischer Neuerungen war die Theatertechnik höchst kompliziert geworden. Gordon Craig suchte, sie zu radikaler Einfachheit zurückzuführen. Der geniale Bühnenreformator gelangte bei den wenigen praktischen Möglichkeiten, die ihm bei Inszenierungen in London und Berlin gegeben wurden, zu einem Maximum an Wirkung bei einem Minimum an technischem Aufwand. Gordon Craig interessierte sich lebhaft für das Seminar. Er veranlaßte meine Schülerin Erica von Scheel, ihm bei der Ausarbeitung eines Bühnenhimmels zu helfen, von dem er sich eine verblüffende Wirkung versprach. Es war ein Gebilde aus dicht zusammengenähten ultramarinfarbenen Quasten, auf denen das Scheinwerferlicht in einer Art spielte, daß der Eindruck einer immateriellen Unendlichkeit hervorgerufen wurde, wie er - so sagte Gordon Craig - auf der Bühne noch nie erreicht worden war. Erica von Scheel führte mit größter Geduld aus Hunderten von solchen Quasten ein Fragment dieses Bühnenhimmels aus, und die Wirkung war noch größer, als | |
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78 Petition an Max Reinhardt vom 1. Mai 1906
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Craig es erwartet hatte. Im großen Saal des Museums veranstaltete Harry Kessler eine Ausstellung von Entwürfen Gordon Craigs. Als ich meine Ateliers im Neubau der Weimarer Kunstgewerbeschule einrichtete, nahmen meine Theatermodelle einen bevorzugten Platz ein, an dem ich mich oft niederließ, um mich zu sammeln oder um mich bei plötzlichen Ermüdungen, die mich bei besonders anstrengenden Arbeiten überfielen, zu erfrischen. Nach dem Krieg 1914-1918 war ich kurze Zeit in Weimar, um meine Ateliers zu räumen. Die Theatermodelle waren verschwunden, und in den Mappen fand sich keine Spur von den Skizzen, nach denen meine Modelle ausgearbeitet und hergestellt worden waren. |
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