Geschichte meines Lebens
(1962)–Henry Van de Velde– Auteursrechtelijk beschermd
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Achtes kapitel
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Auf dem Gebiet der Literatur wagte eine Reihe von Verlegern die ersten Vorstöße in das Reich der Weltliteratur und legte dem Publikum in rascher Folge ausgezeichnete Übersetzungen der Meisterwerke aller Zeiten und Völker vor. So wurden in dieser brausenden Epoche die modernen englischen, russischen, polnischen und skandinavischen Dichter und Schriftsteller in Deutschland populär. Aber man begnügte sich nicht mit den Übersetzungen allein. Die Verleger bemühten sich auch um die künstlerische Erneuerung der Typographie und holten in kurzer Zeit den Vorsprung Englands und Frankreichs ein. Der Insel-Verlag und die ‘Ernst-Ludwig-Presse’ brachten Bücher heraus, die es mit den Erzeugnissen William Morris', Cobden-Sandersons oder der Imprimerie Nationale de France wohl aufnehmen konnten. So groß die Bereitschaft zur Förderung der neuen Strömungen auf den Gebieten der bildenden und angewandten Künste gewesen ist, so sehr begünstigten die Umstände, durch die die Dinge in Fluß geraten waren, das Entstehen gefährlicher Übertreibungen. Maximilian Harden wies in seiner Zeitschrift ‘Die Zukunft’ mit sehr freundlichen Worten auf mich hin. Er hatte den jungen Kritiker Karl Scheffler veranlaßt, einen Artikel zu schreiben, in dem dieser mich willkommen hieß und als Neuerer vorstellte, der nun Deutschland zum Zentrum seiner Bestrebungen machen werde. Scheffler hatte schon vorher einige Aufsätze verfaßt, die von den Lesern der ‘Zukunft’ - den Gegnern des Regimes Wilhelms II. aus den Kreisen der unabhängigen Künstler und Intellektuellen, die sich allwöchentlich an Hardens Zeitschrift ergötzten - besonders geschätzt worden waren. Im Anschluß an Schefflers Artikel häufte sich auf meinem Schreibtisch eine Fülle von Briefen aus allen Teilen Deutschlands, in denen ähnliche Gedanken und Gefühle ausgesprochen waren wie in Schefflers Aufsatz. Das Phänomen eines so rasch wachsenden Rufes darf als außergewöhnlich bezeichnet werden. In dieser Situation fühlte ich mich wie berauscht und zugleich beunruhigt, mein rasch erworbener Ruf könnte meine Leistungen übersteigen, und es brauchte enorme Anstrengungen, damit die mir entgegengebrachte Anerkennung nicht zerplatze wie eine Seifenblase. Unsere Beziehungen zu Harry Graf Kessler wurden seit unsrer Übersiedlung nach Berlin immer enger. Harry Kessler ließ keine Gelegenheit vorübergehen, meine Frau und mich bei interessanten Menschen einzu- | |
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führen, wodurch sich der Gesellschaftskreis, in dem wir lebten, ständig vergrößerte. Kesslers Appartement in der Köthener Straße war zu einem Zentrum geworden, wo sich Deutsche und Ausländer, vor allem aus Kreisen der Diplomatie, trafen, deren Unabhängigkeit in künstlerischen Meinungen und deren fortschrittlicher Geschmack als verbindende Kräfte wirkten. Die deutschen und ausländischen Künstler, die bei Kessler verkehrten, gehörten zur großen Familie der freien, unabhängigen Geister, die sich von den Fesseln der offiziellen geistigen und künstlerischen Mentalität gelöst hatten. Den unwiderstehlichen Charme, den Harry Kessler auf seine Freunde ausübte, hatte er von seiner Mutter geerbt. Eine geborene Irländerin, war sie - brillanten und hochkünstlerischen Geistes - durch Heirat Deutsche geworden. Der Geist der Versöhnung, der in ihrem Hause lebendig war, schuf die Atmosphäre, in der Harry seine Jugend verlebte. Viele Jahre später, als Harrys Mutter fast blind, gebrechlich und tief bemitleidenswert geworden war, wünschte sie, mich als den Freund ihres Sohnes zu sehen. Das Bild dieser Frau, das Harry Kessler in seinem Buch ‘Gesichter und Zeiten’ als Zeugnis der Liebe aufzeichnete, hat sich mir als einer der tragischsten Eindrücke meines Lebens tief eingeprägt. Harry bereitete jeden Lunch, jeden Tee mit größter Überlegung und Feingefühl vor. Wie ein kluger und erfahrener Regisseur ließ er diese Zusammenkünfte nach einem wohlaufgebauten Programm ablaufen, bei dem es keinem der Teilnehmer zu Bewußtsein kam, daß er gleichsam als Schauspieler mitwirkte. Alles ging nach einem Zeremoniell vor sich, in dem jedes falsche Wort, jede falsche Geste die Atmosphäre wie eine Beleidigung verdorben hätte, deren Urheber sich der allgemeinen Mißbilligung ausgesetzt hätten. Denn es herrschte bei Kessler der Geist ästhetischer Vollendung, der sich ebenso unmittelbar verbreitete wie die Morgenfrische einer taubedeckten Wiese oder der salzige Hauch des Meeres. Im Speisezimmer saß man unter dem großen Gemälde Seurats, in den kleineren Räumen nahm man den Tee angesichts der Bilder Cézannes, Bonnards, van Goghs - Kessler besaß das ergreifende Bildnis des Doktors Gachet-, Gauguins und anderer französischer Meister. Man traf die Spitzen der Gesellschaft, die ersten Schauspieler Berlins, in späteren Jahren Theaterleute wie Max Reinhardt und Barnowsky, die berühmtesten internationalen Dirigenten, Diaghilew und seine Tänzer, die Pawlowa, Nijinskij und den | |
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Maler Léon Bakst, der die Dekors für ‘Scheherazade’ und andere russische Ballette geschaffen hat; es war der Traum vieler Menschen, bei Harry Kessler eingeladen zu werden. Harry blieb immer Herr im Haus und vermied geschickt allzu enge Bindungen, die zu Komplikationen führen konnten. Er und einige seiner Freunde gehörten zu den glühendsten Bewunderern Friedrich Nietzsches; für seine Mission als ästhetischer Bahnbrecher stützte er sich auf die Prinzipien des Denkers, der ‘mit dem Hammer philosophierte’ und den neuen Menschentypus predigte, dem wir selbst anzugehören hofften. Maria und ich schätzten an der Berliner Gesellschaft vor allem den Enthusiasmus, welcher der Kunst und Kultur der außerdeutschen Länder entgegengebracht wurde. Im Reich der Musik wurden Werke Berlioz' aufgeführt, und Bizet wurde hoch verehrt. Wir haben während unserer Berliner Zeit kaum einen Tag verbracht, an dem wir nicht ein bisher unbekanntes Werk von entscheidender Bedeutung kennenlernten. Unser Horizont erweiterte sich mehr und mehr, und der Kontakt mit der zeitgenössischen Kunst bereicherte uns täglich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wehte in Berlin ein Wind, der den Nebel vertrieb, der in den westlichen Ländern über einer beschränkten, dünkelhaften und veralteten Kultur lag. Maria und ich waren glücklich. Wir kauften eine Fülle von Büchern für unsere Bibliothek in ‘Bloemenwerf’, wo die Regale wohl bald nicht mehr ausreichten.
Die Fülle der literarischen und musikalischen Erlebnisse gehört zu den schönen Erinnerungen an unsere damalige Berliner Zeit. Über meine eigene künstlerische Tätigkeit dagegen fühlte ich mich infolge der Enttäuschungen und Beunruhigungen deprimiert, die sich im Zusammenhang mit meinem Vertrag mit dem ‘Hohenzollern-Kunstgewerbehaus’ ergaben. An Hand eines Kataloges der von Hirschwald in der geräumigen zweiten Etage seines alten Hauses in der Leipziger Straße veranstalteten Ausstellung und mit Hilfe einiger Zeitschriftenpublikationen aus jener Epoche kann ich einiges über die Formensprache sagen, die auf dem Gebiet des Möbelbaus und anderer Gattungen des Kunstgewerbes damals (um 1900) so überzeugend wirkte, daß sie sofort angenommen wurde und sich allgemein verbreitete: zum Beispiel die halbrunde Form des Schreibtisches als Ergebnis der ausgreifenden Bewegung der Arme, die die verschiedenen Dinge auf | |
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dem Tisch auf Grund ihres natürlichen Aktionsradius' erreichen wollen; bestimmte Konstruktionen von ornamentlosen Stühlen und Sesseln, bei denen die Armstützen unmittelbar aus der Rückenlehne nach vorn gezogen sind; ein Henkel, der sich direkt aus dem Volumen eines Teekessels entwickelt, ein Fenster- oder Türgriff oder das Profil eines Treppengeländers, in denen sich der Druck der menschlichen Hand ausprägt - alles Formgebilde, die auf Grund der konsequenten Anwendung logischer Gestaltungsprinzipien entstanden. Sie tauchten damals sehr rasch in vielen Schaufenstern und Katalogen auf. Ich fand sie auf meinen Reisen in vielen Ländern, wie ich auch meinen linearen Ornamenten zum Beispiel in einigen Speisewagen der großen europäischen Eisenbahnlinien wiederbegegnete. Was die nachgeahmten oder abgeleiteten von den von mir selbst geschaffenen Formen und Ornamenten unterscheidet, ist, daß sie auf billige Weise ‘übernommen’ und ‘in Marsch gesetzt’ worden sind. Im Lauf der Jahre habe ich nirgends eine Verbesserung, größere Reife oder Vollendung dieser Formen konstatieren können. Es war betrüblich, zu sehen, wie schon damals die Industriellen und die Kunsthandwerker Kompromisse schlossen und das Niveau senkten, statt durch neue praktische Methoden, technische Kenntnisse und Formerfahrungen das weiterzuentwickeln, was der Künstler vorgeschlagen hat. Jede neue Form, jedes neue Ornament hat für den Industriellen nur so lange einen Sinn, solange sie Sensation machen! Die geradezu verschwenderische Fülle unserer Entdeckungen und Erfindungen auf so vielen Gebieten des Kunstgewerbes führte die Industriellen insofern auf einen falschen Weg, als sie glaubten, wir selbst wünschten nichts anderes, als Neues um des Neuen willen hervorzubringen. Diese Interpretation führte von Anfang an zu schlimmen Mißverständnissen. Später klärten mich meine Beziehungen zu den Industriellen in Thüringen darüber auf. Im allgemeinen hatten sie eine zwar schmeichelhafte, aber völlig falsche Vorstellung von meinen Zielen und von dem, was meine Arbeiten eigentlich bedeuteten. Ich war aufgetaucht wie die Vorsehung oder wie ein Zauberer, der neue Quellen zum Springen bringt. Es schien, als würden sie niemals versiegen; so entstand Neues auf Neues. Noch mehr: die Großzügigkeit, mit der ich den Industriellen meine Entwürfe zur freien Verwendung überließ, veranlaßte sie zu unbeschränktem Vertrauen in meine schöpferische Kraft. Sie | |
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55 Maximilian Harden
56 Max Liebermann Karl Scheffler, 1918
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57 Laden der Habana-Compagnie in Berlin, 1899
58 Friseursalon Haby in Berlin, 1901
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59 Folkwang-Museum in Hagen, Treppenhaus, 1901/02
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60 Arbeitszimmer des Grafen Kessler in Weimar
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dachten wie jener Museumsdirektor, der mir eines Tages bedeutete, nachdem es mir ein erstes Mal gelungen sei, einen Stil zu schaffen, würde ich meinen Ruhm bald durch die Schaffung eines zweiten Stils steigern. ‘Neue Modelle’ und ‘neue Kreationen’ - das waren die Forderungen der Fabrikanten, wenn sie bei den jährlichen Messen keine unvermeidlichen Katastrophen riskieren wollten. Aus diesem Grund wurden meine Modelle und Ornamente von den Industriellen skrupellos verballhornt, um so mehr, als sie weder unsere Bestrebungen geteilt, noch unsere Absichten wirklich verstanden hatten. Ich selbst wurde wenigstens dadurch entschädigt, daß der Stil solcher Produkte auf meinen Namen getauft wurde: Van-de-Velde-Stil oder abgekürzt Veldescher Stil! Diese ‘Liebenswürdigkeit’ kostete die Fabrikanten nichts. Im Gegenteil: indem sie meinen Namen mißbrauchten, kamen sie ihrerseits auf ihre Rechnung. Sie boten unter dieser Marke sinnlose und häßliche Imitationen an, die das Publikum guten Glaubens als Originale kaufte. Und ich hatte keine juristische Möglichkeit, gegen solchen Mißbrauch einzuschreiten. Ich greife mit dieser Schilderung kommenden Ereignissen vor. Aber ich sah schon in meiner Berliner Zeit Gefahren entstehen, die mit meiner Bindung an Hirschwald zusammenhingen. Die Eingliederung meiner Brüsseler Ateliers in die Firma Hirschwald und die Übertragung aller Befugnisse der ‘Société van de Velde’ an Hirschwald selbst erwiesen sich als schwere Fehler, die mir bittere Enttäuschung bereiteten. Hirschwald handelte, als ob er mich absichtlich ruinieren wollte. Jede Bemühung, seine Passivität zu bekämpfen oder ihn zu zwingen, die enormen Ansprüche herabzusetzen, durch die er einen übertriebenen Nutzen aus meinen Arbeiten ziehen wollte, war aussichtslos. Er unternahm nichts und ließ nichts herstellen und war offenbar entschlossen zu warten, bis ein naiver Kunde in sein Netz geriet, um dann auf einen Schlag die Summe hereinzubringen, die er für die Erwerbung der ‘Société van de Velde’ aufgewendet hatte. Das Unternehmen, mit dem ich vertraglich auf Gedeih und Verderb verbunden war, verfügte nicht mehr über das erforderliche Kapital zur Einrichtung von Werkstätten. Es hatte nicht einmal mehr die Mittel, meine Entwürfe ausführen zu lassen, auf die das Publikum mit seinem Appetit auf Neues wartete. In Hirschwalds Ausstellungsräumen erschienen keine neuen | |
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Dinge, die ich entworfen hatte, so daß die Käufer enttäuscht waren und das Vertrauen in die Vitalität und Entwicklungsfähigkeit meines Schaffens zu verlieren drohten. Was von meinen Arbeiten noch vorhanden war, wirkte in den neuen Räumen mit ihrer langweiligen musealen Aufstellung tot und ohne jede Beziehung zu den Menschen, die etwas kaufen wollten. Alles war isoliert angeordnet und ohne die Harmonie mit dem geplanten Ganzen. Was man so sah: Möbel, Lampen, Teppiche, Glasfenster, nichts hätte in eine Wohnung gepaßt. Der Zusammenbruch aller Hoffnungen, die die Verlegung meiner Tätigkeit nach Berlin bei mir und meinen Freunden erregt hatte, war oder schien unabwendbar. Während einerseits mein Name in den Himmel gehoben wurde, während mir offensichtlich großer persönlicher Erfolg beschieden war und Berlin mir einen denkbar herzlichen Empfang bereitete, drohte mir andererseits ein Sturz, der nicht minder plötzlich hätte sein können als mein Aufstieg. Noch einige Monate dieses Zustandes, und ich wäre ohne Zweifel untergegangen. Ich fühlte mich an eine Totgeburt gebunden. Ich konnte mich nur durch die Wiedergewinnung meiner Freiheit retten. Zwei große Aufträge, die ich unter dem Regime Hirschwald erhielt - das Folkwang-Museum in Hagen und der Friseursalon Haby in Berlin -, bestätigten in trauriger Weise die Richtigkeit meiner Auffassung. Die Handwerksbetriebe, denen die Ausführung meiner Entwürfe anvertraut war, konnten keine entsprechend gute Arbeit liefern, weil die Rabatte, die Hirschwald ihnen auferlegt hatte, ihre Kalkulation über den Haufen warfen. So konnten sie nur an der Qualität des Materials und an der praktischen Ausarbeitung sparen, um auf ihre Kosten zu kommen. Schikanen und Prozeßdrohungen, feindliche Beziehungen an Stelle des gegenseitigen Vertrauensverhältnisses waren die Folgen dieser, einer ausschließlich merkantilen Einstellung entspringenden Gewissenlosigkeit. Meine Gedanken schweiften zurück nach Uccle und zu der naiven Art, mit der sich dort die Geschäfte abgewickelt hatten; Bande der Freundschaft zwischen mir und meinen Kunden waren die Folge gewesen! In Berlin erlebte ich die ganze Schmach und Abscheulichkeit, die mit einem rein kommerziellen Unternehmen verbunden ist. Das Aushängeschild ‘Kunst’ war nur eine Tarnung, um den Betrieb lukrativer zu machen. Ich fühlte mich mitschuldig und kompromittiert. Osthaus wie Haby waren | |
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Zeugen meiner Schande. Aber beide, jeder auf seine Art, haben Verständnis für meine unselige Lage bewiesen. Osthaus ist einer meiner treuesten Freunde und leidenschaftlichsten Verteidiger geblieben. Die Zuneigung beruhte auf gemeinsamen schweren Erlebnissen, und sein Wohlwollen ist die Ursache, daß er meine Absichten nicht mit denen des Kaufmanns identifizierte, dessen Opfer ich aus Unvorsicht geworden war. Damals konnte ich mich auch auf die Anhänglichkeit anderer Freunde stützen, die die Gefahr erkannten, in der ich schwebte: auf den Maler Curt Herrmann und seine Frau, die Warburgs, den Bankier Julius Stern und seine Frau und viele andere. Vor allem aber auf Hermann Paechter, an dessen Freundlichkeit und Güte sich eine ganze Generation von Berliner Künstlern und Sammlern erinnert. Er war es, dem ich später meine Erlösung vom Joch Hirschwalds verdankte. Aber dennoch hielt mich mein Glaube an die notwendige Erfüllung meiner Mission und die Verkündung der Prinzipien eines neuen Stiles aufrecht. Um diese Zeit kamen die ersten Schüler zu mir. Und damals kamen zahlreiche Aufforderungen, in Deutschland Vorträge zu halten. Es machte mir Spaß, auf einer Landkarte die Städte einzuzeichnen, in denen ich über die Grundsätze des neuen Glaubens zu sprechen und die Geburt eines neuen Stiles zu verkünden hatte. Diese armselige Karte ist in den vielen Stürmen, die ich zu bestehen hatte, längst verschwunden. Sie hätte mir bei den verschiedenen Haussuchungen durch die Polizei noch einige Schwierigkeiten bereiten können! | |
Besuch bei Elisabeth Förster-NietzscheMit besonderer Bewegung erinnere ich mich an die Freundschaft, die mich seit 1900 mit Friedrich Nietzsches Schwester verband. Sie gehörte zu den Menschen, die mit größtem Eifer bestrebt waren, mich nach Weimar zu ziehen. Und sie setzte sich während meiner Weimarer Jahre mit Leidenschaft für mein Schaffen ein, verteidigte meine Sache beharrlich und hoffte auf meine Rückkehr, als ich Weimar im Zuge der Ereignisse des Ersten Weltkrieges verlassen hatte. Ich begegnete Elisabeth Förster-Nietzsche zum ersten | |
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Male in Berlin bei Cornelia Richter, die trotz ihres Alters und ihrer Gebrechlichkeit mit Grazie und unvergeßlicher Überlegenheit die Rolle der Gastgeberin spielte. Bei Cornelia Richter sprach ich mit Elisabeth Förster-Nietzsche über die Verehrung, die ich schon seit Jahren zusammen mit einigen belgischen Freunden ihrem Bruder entgegenbrachte. In der bedeutenden belgischen Zeitschrift ‘La Société Nouvelle’ waren-in französischer Übersetzung-einige Kapitel aus dem ‘Zarathustra’ erschienen, die uns aufs tiefste erschüttert hatten. Im Laufe unseres Gesprächs vertraute mir Frau Förster-Nietzsche ihre Absicht an, am Todestag Nietzsches - es war der 25. August - das Grab ihres Bruders in Roecken, seinem Geburtsort, zu besuchen. Sie lud mich ein, sie auf dieser Wallfahrt zu begleiten, was ich mit dem Gefühl großer Dankbarkeit annahm. Ich ahnte, daß die Übereinstimmung unserer Gedanken im Anblick von Nietzsches Grab zu einer unverbrüchlichen Freundschaft zwischen uns führen würde, die ich damals von Herzen herbeiwünschte. Und so geschah es auch.
Als ich bald nach dieser Einladung die Stufen des Bahnhofs in Weimar hinabstieg, empfand ich die Bewegung aller jener Intellektuellen, die wie ich zum ersten Male den heiligen Boden Ilm-Athens berührten. Während aber seit fast einem Jahrhundert Goethe das Ziel der Pilgerfahrten war, zu denen man auszog wie die Moslems zu Mohammed nach Mekka, galt mein Kult einem anderen Titanen, zu dem sich in jener Zeit nur wenige bekannten. Der einzige Wagen, der am Bahnhof zu finden war, brachte mich zu Elisabeth Förster-Nietzsches Haus, in dem der Philosoph die letzten acht Jahre seines Lebens gewohnt, in Wahrheit nur vegetiert hatte. Die Fahrt führte mich über einen Viadukt, am Alten Theater vorbei nach dem neuen Wohnviertel Weimars, das banal aussah wie die neuen Wohnviertel in vielen deutschen Städten. Es ging hügelaufwärts, die Pferde liefen im Schritt. Das Nietzsche-Haus lag von einem Gitter umgeben auf einem Plateau, von dem der Blick über die ganze Altstadt schweifte. Ein alter Diener führte mich in den großen Raum im Erdgeschoß, wo Elisabeth Förster-Nietzsche mich erwartete. Ich schritt auf sie zu. Aber alles | |
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verblaßte vor einer meisterhaften Zeichnung, die mich in ihren Bann schlug: Nietzsche auf dem Diwan liegend, auf dem er, stets in Weiß gekleidet, die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Eine gewaltige Zeichnung in natürlicher Größe. Das unregelmäßige Oval des Gesichtes verriet Nietzsches slawische Herkunft, ein dichtes Büschel mächtiger schwarzer Haare verbarg den Mund; außergewöhnlich dichte Brauen hingen über den tiefen Höhlen, in denen die Augen lagen. Ich fühlte mich von ihnen angezogen wie von Abgründen, in denen Vipern hausen - und ich dachte an die bitteren Aphorismen, die Zarathustra seinen Jüngern entgegenschleudert. Die Erregung, von der der Zeichner erfaßt worden war, während er die Züge seines Modells festhielt, ging auch auf mich über - so faszinierend, daß ich mir auch heute kaum vorstellen kann, ich habe Nietzsche nicht als Lebenden gesehen! Elisabeth Förster-Nietzsche entriß mich der Verzauberung dieser imaginären Gegenwart. Sie nahm mich bei der Hand und führte mich zum Tisch in der Veranda, wo zwei Gedecke unserer warteten. Während des Essens erzählte sie mir von ihrem Leben. Von den Jahren, in denen sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes die schwere Verantwortung für dessen Kolonisationswerk in Paraguay übernehmen mußte; wie sie alles aufgab, um in Naumburg ihre alte Mutter zu entlasten, die ihren paralysierten, geistesgestörten Sohn aufgenommen hatte. Als die Schwester, an der Nietzsche mit scheuer Anhänglichkeit hing, empfand sie die gebieterische Pflicht, ihn zu pflegen. Es war eine doppelte Pflicht. Es mußte das kranke Geschöpf gepflegt werden, das der Menschheit eine Philosophie geschenkt hatte, die alle Werte umstürzte, die die Grenzen des philosophischen Denkens, ja des Gegenstandes der Philosophie selbst sprengte und bis zu einem Punkt hinausrückte, an den kein Philosoph vor ihm je gelangt war. Und es mußten alle noch nicht publizierten Schriften gesammelt und vor allem den Händen derer entzogen werden, die mit Hilfe der ahnungslosen Mutter Nietzsches aus sentimentalen oder religiösen Gründen gern zerstört hätten, was als umstürzlerisch und unchristlich an ihnen erscheinen konnte. über diesen Punkt erfuhr ich später noch Ungeheuerliches, über das Berufenere als ich zu berichten haben werden. Ich fragte Elisabeth Förster-Nietzsche, ob in den Weimarer Jahren je ein | |
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Funke von Klarheit die düstere Nacht durchdrungen habe, die über dem Geist ihres Bruders lag; ob Nietzsche je das geringste Zeichen von Erinnerung gezeigt habe, was er war und was er geschrieben hatte. Sie antwortete, ihr Bruder habe stets, wenn er sich auf den Diwan niederlegte, auf dem er von morgens bis abends verblieb, verlangt, daß ein Buch neben ihn gelegt werde. Ein einziges Mal habe sie geglaubt, das Blut in seine Wangen steigen und seine Augen aufleuchten zu sehen, als er das Buch berührte und, mit kaum hörbarer Stimme zu seiner Schwester gewendet, die Worte aussprach: ‘Aber ich, auch ich habe Bücher geschrieben.’ Und welche Bücher! Meine Freunde und ich hatten vor Jahren das zweite Buch Nietzsches, das in französischer Sprache erschien, ‘Jenseits von Gut und Böse’, verschlungen und voller Ungeduld auf die nächsten Werke gewartet. Und nun sah ich alle Bände auf einem Bücherregal stehen, die zu Nietzsches Lebzeiten in Deutschland erschienen waren. Ich konnte ganze Stöße seiner handgeschriebenen Zettel berühren, die im Nietzsche-Haus von Dr. Rudolf Steiner als erstem Archivar klassifiziert wurden, von jenem Rudolf Steiner, der später die Dornacher anthroposophische Bewegung gründete. Ich blickte in einen Abgrund von Einsamkeit, Entbehrung, Verzweiflung und Wahnsinn. Die physischen Bande zwischen Elisabeth Förster-Nietzsche und ihrem Bruder waren noch kaum gelöst. Seine Blicke waren ihr noch aufgeprägt, ihr, die alle ihre Kräfte dem Titanen geschenkt hatte, den ein Blitzstrahl niederstreckte, weil er den Grundwahrheiten zu nahe gekommen war. Der Kutscher, der mich an jenem Abend in das berühmte Hotel ‘Erbprinz’ brachte, machte mich auf das große Haus aufmerksam, das Goethe nach dem Vorbild der schönen Frankfurter Patrizierhäuser sich hatte erbauen lassen. Die Mauern der Fassade standen in wohlausgewogener Balance zu den Fenstern und Türen, deren Höhen- und Breitenverhältnisse ausgezeichnet überlegt waren. Das Haus war in einem schönen, dem Orange der prismatischen Skala benachbarten Gelb gestrichen. Dann kam eine enge Durchfahrt, eine scharfe Biegung, das Großherzogliche Palais am Park - wir befanden uns im Herzen des alten Weimar. Im Hotel schien es mir noch zu früh, schlafen zu gehen. So setzte ich mich in die geräumige Halle, an deren Wänden sich eingerahmte Briefe illustrer Gäste befanden, die Weimar zur Zeit Goethes und Karl Augusts und in den Jahren besucht hatten, während Franz Liszt am Weimarer Hof lebte. Der | |
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Besitzer des Hotels gab sich besondere Mühe, mein Interesse für diese wertvollen Zeugnisse der Bewunderung und Verbundenheit zu erwecken. Aus Höflichkeit und um nicht als kulturloser Ausländer angesehen zu werden, hörte ich mir zerstreut seine Erklärungen an. Als ich dann schließlich mit einer kleinen Flasche ausgezeichneten Pfälzer Weins allein geblieben war, kam mir die Andeutung in den Sinn, die Elisabeth Förster-Nietzsche am Ende unserer Gespräche gemacht hatte: Weimar könne eines Tages ein günstiger Boden für die Verwirklichung meiner Mission werden, die ich entschlossener als je zu verfolgen trachtete. Wie ein Tropfen war diese Bemerkung in meine Eindrücke dieses Abends gesunken. Ich ging mit der festen Absicht zu Bett, mich durch nichts vom Ziel und von der Besonderheit meines Besuchs ablenken zu lassen - weder durch die Erscheinung und die Rolle Goethes am Hof zu Weimar noch durch Liszts Auftreten während der zweiten weimarischen Blütezeit. Am nächsten Morgen um zehn Uhr holte mich Frau Förster-Nietzsches alter Diener mit dem Wagen im Hotel ab. Während der Fahrt nach Roecken sprach ich zu ihr von den Eindrücken, die ich am Abend zuvor empfangen hatte. Ich war von dem Gedanken irritiert, als erster Fremder die Wallfahrt zu Nietzsches Grab zu machen, wohin in Zukunft Hunderte von Nietzsche-Verehrern pilgern würden. Nach langer Reise auf holprigen Straßen gelangten wir nach Roecken. Die Dörfer, durch die wir fuhren, waren alle gleich farblos. In diesen ländlichen Gegenden Thüringens ist die Architektur ohne jeden Reiz und ohne Phantasie. In Roecken hielten wir vor dem ausgesprochen banalen Eingang zum Kirchhof. In der Mitte stand die Kirche, auch sie ohne jede Physiognomie. An einer der Außenseiten dieser Kirche befindet sich das Grab, in dem die sterbliche Hülle eines der größten und mutigsten Denker aller Zeiten ruht. Sein Name ist in eine aufrecht stehende Platte eingemeißelt. Meine erste Regung war grausame Enttäuschung. Was hatte ich mir vorgestellt, was erwartet? Wohl etwas Gewaltiges, das der Größe des Geistes entsprach, der im Gedicht ‘Letzter Wille’ seinen Verleumdern das Wort entgegenschleuderte, daß er ‘sterbend siegen’ und ‘siegend vernichtend’ sterben werde. Der Fluch der Götter hatte seine Kühnheit gebrochen, seinen Geist verdunkelt und sein Leben in düsteres Siechtum verwandelt. Aber es stand nicht in ihrer Macht, die Entfaltung der Kräfte zu verhindern, mit denen | |
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seine Werke geladen sind, die Aphorismen auszulöschen, die das Individuum von den Fesseln befreien, mit denen es auf Gnade und Ungnade dem verabscheuungswürdigen und heuchlerischen Regiment der Autorität und des Geldes ausgeliefert war. Ich war tief betroffen, mich nicht vor einer eindrucksvollen Gedenkstätte oder einem Nietzsches würdigen Denkmal verneigen zu können. Mich verfolgte jenes Bild, das Nietzsche von sich selber gesehen hatte: ‘Mutwillig und tief
in der Schlacht ein Tänzer -,
unter Kriegern der Heiterste,
unter Siegern der Schwerste,
auf seinem Schicksal ein Schicksal stehend,
hart, nachdenklich, vordenklich -.’
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Gesellschaftliches Leben in BerlinUnter den gesellschaftlichen Ereignissen jener Berliner Zeit sind mir zwei Begegnungen bei Cornelia Richter in besonders lebendiger Erinnerung geblieben. Ich wohnte dem historischen Abend bei, an dem sich Cosima Wagner und Friedrich Nietzsches Schwester zum ersten Male nach dem Bruch Nietzsches mit Richard Wagner und nach seiner Verwerfung der Wagnerschen Musik und alles dessen, was Bayreuth betraf, begegneten. So ernst die Versöhnung von seiten Cornelia Richters gemeint war, so wenig aufrichtig war sie in Wahrheit. Es lag nicht in der hochmütigen und despotischen Natur Cosimas, eine Kränkung zu verzeihen, eine Lästerung zu vergessen oder die geringste Kritik am olympischen Ideal zuzulassen, als dessen Hüterin sie sich fühlte. Stolz und gleichgültig zugleich nahm sie die Hand Elisabeth Förster-Nietzsches entgegen, die immer noch von der tiefen Bewunderung erfüllt war, die sie zur Zeit der Bindung ihres Bruders mit Richard Wagner Cosima gegenüber empfunden hatte, sie, die im Grunde nie die Heftigkeit der plötzlichen Abwendung Nietzsches von einem Werk und einem menschlichen Idol ver- | |
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61 Brief von Graf Kessler vom 9. März 1900 an Henry van de Velde
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stand, das er einst in den Himmel gehoben hatte. Die Eiseskälte Cosimas stand in peinlichem Kontrast zur Haltung Elisabeths, die nur ein Wort, eine Geste, einen Funken erwartete, der die Flamme in ihrem Herzen wieder entzündet hätte. Statt dessen sahen wir - als bescheidene Kavalier-Statisten - Tränen in ihre Augen steigen. Noch eine andere Erinnerung führt mich zu Cornelia Richter und in das von ihr bewohnte Palais Meyerbeer zurück. Bei einem der Empfänge war ich dem Reichskanzler Fürst Bernhard von Bülow vorgestellt worden und hatte mit ihm einige Worte gewechselt. Frau Richter wollte durch ein intimes Diner, an dem außer ihr und ihrem ältesten Sohn nur zehn Personen teilnahmen, einen engeren Kontakt mit Bülow herstellen. Sie rechnete damit, daß Fürst Bülow im Anschluß an dieses Diner den Kaiser über meine Person, mein Schaffen und meine Mission unterrichten würde. Wilhelm II. war gegenüber allem, was seinem und seiner akademischen Ratgeber Geschmack nicht entsprach, feindselig gesinnt. Cornelia Richter glaubte, daß ein günstiger Bericht Bülows an den Kaiser diese Abneigung mildern könnte. Die Anwesenheit Hugo von Tschudis, des sehr fortschrittlichen Direktors der Berliner Nationalgalerie, sollte dazu beitragen, den Reichskanzler über moderne Gesichtspunkte, die in den künstlerischen Kreisen Deutschlands lebhaft diskutiert wurden, aufzuklären. Der runde Tisch war mit einer Überfülle von Blumen und prachtvollem Tafelsilber geschmückt. Es fiel kein Wort, das das beabsichtigte Gespräch hätte in Gang bringen können. Fürst Bülow roch den Braten und vermied geflissentlich, den Gesprächsbereich auch nur zu streifen. Mit seltener Virtuosität führte er das Wort während des ganzen Diners, das als Musterbeispiel einer Geselligkeit gelten konnte, deren Sinn darin besteht, fade Worte ohne jede Bedeutung auszutauschen. Kritik, versteckte Bosheiten, zweideutige Insinuationen hätten dem Gespräch etwas Würze verleihen können. Aber auch im Salon Cornelia Richters war derartiges nicht erwünscht. Was eine solche Einladung auch an Luxus, Toiletten, Perlenkolliers und Schmuck, an feierlicher Bedienung, vorzüglichen Speisen, duftenden Weinen bieten mag - man verläßt das Haus mit dem gleichen Gefühl, das man empfindet, wenn man eine Visitenkarte auf einem Silbertablett abgibt: man hat eine leere gesellschaftliche Pflicht erfüllt. | |
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Durch das unlautere und inaktive Verhalten Hirschwalds geriet ich immer wieder in die peinlichsten Schwierigkeiten meinen Auftraggebern gegenüber. Ich bat Hermann Paechter, der mir so besonders freundlich gesinnt war, um Hilfe. Er war älter und erfahrener als ich. Meine vertragliche Bindung an Hirschwald erschien ihm mit Recht als eine schwere Belastung der ausgezeichneten künstlerischen und gesellschaftlichen Situation, die Maria und ich uns in Deutschland so rasch hatten schaffen können. Paechter versuchte Hirschwald klarzumachen, wie schädlich es sich für sein Unternehmen auswirken könnte, wenn ich meinen Vertrag mit einem Eklat lösen und die gerichtliche Klage Osthaus' unterstützen würde, die dieser gegen Hirschwald wegen qualitativ mangelhafter Lieferungen eingereicht hatte. Wir ließen die Dinge jedoch noch in der Schwebe, um Hirschwald die Möglichkeit einer freundschaftlichen Lösung offenzuhalten. | |
Die Berufung nach WeimarInzwischen bahnten sich Ereignisse an, die meinem Leben und meiner Arbeit eine neue Wendung gaben. Im Jahre 1901 hatte Wilhelm Ernst in Weimar als Nachfolger seines Großvaters, des Großherzogs Karl Alexander, den Thron bestiegen. Der junge Fürst war für die Bevölkerung von Sachsen-Weimar wie auch für ganz Deutschland ein unbeschriebenes Blatt. Als Leutnant der Potsdamer Garnison stand er völlig unter preußisch-militärischem Einfluß, dem die älteren regierenden Fürsten dreißig Jahre nach der Gründung des Deutschen Reiches immer noch mit gemischten Gefühlen gegenüberstanden. Zu Lebzeiten Karl Alexanders, der gerne daran erinnerte, daß er als Kind auf Goethes Knie gesessen hatte, kümmerte sich kein Mensch in Weimar oder gar in den intellektuellen Kreisen Deutschlands um den jungen Mann, der nun das schöne, aber schwere Erbe zweier außergewöhnlich ruhmvoller kultureller Epochen anzutreten hatte, der Regierungszeiten Karl Augusts und Karl Alexanders. Der junge Großherzog Wilhelm Ernst (geboren 1876), der so plötzlich aus orthodoxem preußischem Militärmilieu nach Weimar, einem Zen- | |
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trum universaler literarischer und künstlerischer Kultur, verpflanzt wurde, zeigte sich bei Hofe und vor der Bevölkerung nur in Uniform. Bei der Tafel führte er die deutsche Sprache ein an Stelle des traditionellen Französisch, auch die Menü-Karten wurden in Deutsch abgefaßt. Die eleganten, phantasievollen, kapriziösen Bezeichnungen für die Speisen, die ausgesuchte Genüsse versprachen, wurden durch pedantische, trockene Worte ersetzt. Ärgerliche Indizien, die einige Freunde Graf Kesslers, die dem Weimarer Hof angehörten, mit Unruhe erfüllten, so daß sie sich fragten, ob ein Bruch mit den großen Epochen der Tradition bevorstehe. Auch in Berlin stellte man sich in den Kreisen der Gesellschaft wie auch in den Cafés, in denen Schriftsteller, Künstler, Journalisten verkehrten, die Frage, was in Weimar wohl geschehen würde. Alles wäre zweifellos ohne jede Konsequenz für mich geblieben, wenn sich nicht drei Menschen zusammengetan hätten mit der Absicht, die verantwortlichen Kreise in Weimar an die Bedeutung der Tradition zu erinnern und den jungen Fürsten auf die Möglichkeit hinzuweisen, die Tradition in würdiger Weise fortzusetzen. Diese drei Menschen waren Elisabeth Förster-Nietzsche, Graf Werthern, der nach dem Tod seines Vaters das Haupt einer der angesehensten thüringischen Familien geworden war, und als jüngster Harry Graf Kessler. Ihr Gedanke war, eine neue, dritte Epoche weimarischer Kultur in die Wege zu leiten, in deren Mittelpunkt der ‘neue Stil’ stehen sollte, dem ich mich verschrieben hatte. Elisabeth Förster-Nietzsche hatte dem Staatsminister Rothe, Harry Kessler dem Grafen Werthern, dem Schwager des Hofmarschalls General Palézieux den Plan vorgetragen: die dritte Epoche sollte - in gehöriger Distanz zu den früheren - die Wiederbelebung des Kunsthandwerks wie der industriellen Kunst bringen und den Weg für einen architektonischen Stil und eine Ästhetik unserer Zeit frei machen. Sollte mich, dachte ich, das Schicksal nach Deutschland gerufen haben, um eine Aufgabe zu erfüllen, die für jene, die sie ins Auge gefaßt hatten, ebenso kühn war wie für mich vermessen? Der Augenblick war günstig. Eine mächtige Grundwelle hatte das Interesse des deutschen Publikums für die neuen Kunstströmungen erweckt, die seit der Dresdner Ausstellung von 1897 ans Licht getreten waren, und die Künstler aller Kunstzweige sammelten sich unter der neuen Fahne. Die Kunstkritik hielt die Öffentlichkeit in Atem. In Darmstadt hatte der junge | |
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hessische Großherzog Ernst Ludwig einer Ausstellung seine hohe Protektion und seine finanzielle Unterstützung geliehen, die auf der ‘Mathildenhöhe’ stattfand. Dort zeigten die vom Großherzog nach Darmstadt berufenen Künstler und Architekten Häuser und Inneneinrichtungen, die nach neuen künstlerischen Prinzipien geschaffen waren. Diese Ausstellung bedeutete nichts weniger als ‘ein Dokument deutscher Kunst’. Es war wichtig, dem Großherzog von Sachsen-Weimar unser Programm zu unterbreiten und ihn zu überzeugen, daß die Folgen unserer Pläne dem Land Thüringen größte Vorteile und seiner Regierung hellen Glanz verschaffen würden. Die verschiedenen Heimindustrien des Großherzogtums lagen darnieder, und die wenigen kunstgewerblichen Betriebe, die in einigen Dörfern bestanden, kämpften um ihre Existenz; die in den größeren Orten Jena, Eisenach, Weimar und Apolda waren ohne Führung und ohne jede Aussicht, gegen die besser ausgerüsteten und günstiger gelegenen deutschen Firmen aufzukommen, die sich zur Verführung des kaufkräftigen Publikums der Mitarbeit schöpferischer Künstler versichern konnten. Paechter, der von den Weimarer Projekten nichts ahnte, übte einen immer stärkeren Druck auf Hirschwald aus, um die Lösung meines verhängnisvollen Vertrages zu erreichen. Ich mußte unter allen Umständen frei werden, um im Augenblick, in dem die Sondierungen in Weimar zu einem bestimmten Punkt gekommen waren, unbelastet dazustehen. Es kam der Moment, Paechter über die Vorbesprechungen zu orientieren. Ich tat es in einem der von ihm entdeckten kleinen Restaurants, in denen man nach seinem, des Epikureers Urteil besser und gepflegter bedient wurde als in den aufgedonnerten, bekannten Berliner Lokalen. Von diesem Tag an rastete der gute Mann nicht, bis er mir den von Hirschwald unterschriebenen Brief bringen konnte, der die Aufhebung unseres Vertrages bestätigte. Im übrigen blieb mir nichts als zu warten. Es gibt Augenblicke im Leben, in denen man sich dem Lauf der Entwicklung überlassen und darauf verzichten muß, ihn zu beschleunigen. Für mich lautete die Frage: Wird mich das Schicksal nach Uccle zurückführen oder wird es mich in Deutschland festhalten? Ich mußte nicht lange warten. Harry Kessler ging mit solch zielbewußtem | |
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Eifer vor, daß er die Gleichgültigkeit und Vorsicht der Hofleute überwand, die vor jeder Verantwortung zurückschrecken und zu warten pflegen, bis der Souverän, dem sie mehr dienen, als daß sie ihn beraten, ihnen das Wort erteilt. Hier jedoch handelte es sich um ein Projekt von größter Bedeutung, dem ein unerfahrener, nur militärisch vorbereiteter Fürst zustimmen sollte: ein neues Beispiel zu geben durch die Pflege einer kunstgewerblichen und architektonischen Kultur, der erfahrungsgemäß Malerei und Bildhauerei folgen, Kunstzweige, denen Großherzog Karl Alexander nur dilettantisches Interesse entgegengebracht hatte. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit wurde ich offiziell von Staatsminister Rothe und Hofmarschall General Palézieux zu einer Unterredung in einem der großen Hotels am Potsdamer Platz aufgefordert. Es sollte mein Programm besprochen und die Aufgabe umschrieben werden, die ich am Hof des Großherzogs und in Weimar zu erfüllen hatte. Elisabeth Förster-Nietzsche hatte den beiden Herren offenbar nur Lobenswertes über mich gesagt; sie war vom Wunsch beseelt, die Atmosphäre der Mittelmäßigkeit zu verscheuchen, die Weimar seit dem Verschwinden Liszts erstickte. Sie träumte von einem ‘dritten Weimar’, in dessen Zentrum das ‘Nietzsche-Archiv’ stehen sollte, dem sie alle Dokumente aus Nietzsches Leben und die gesamten Einkünfte aus seinen Werken überließ. Die beiden Exzellenzen und ich saßen an einem großen Tisch im Salon des von ihnen bestimmten Berliner Hotels in einem Erker. Sie hörten mit gelegentlichen kurzen Unterbrechungen, die nebensächlichen Fragen galten, meine Darlegungen aufmerksam an. Ich sprach vom Kunsthandwerk und den kunstindustriellen Betrieben des Großherzogtums und von den zu erwartenden Aufträgen meiner Privatkundschaft, von der Einrichtung eines ‘Kunstgewerblichen Seminars’, das heißt von Ateliers, wo die Kunstgewerbler und Fabrikanten neue Modelle sehen und verarbeiten und wo sie Ratschläge zur Verbesserung der eigenen Produkte erhalten konnten, von der Möglichkeit, Werkstattleiter, Modelleure und Zeichner unter meiner Leitung an neuen Modellen arbeiten zu lassen. Ich erklärte, wie unter meiner ständigen Mitarbeit das handwerkliche und ästhetische Niveau der in den zerstreuten armen Dörfern verbreiteten Heimindustrie gehoben werden könnte, was den Absatz der damals in Mißkredit geratenen Er- | |
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zeugnisse auf den Märkten und Messen zweifellos rasch steigern würde. Im Zusammenhang mit solchen Versuchswerkstätten, die unter dem Protektorat des Großherzogs einzurichten seien, sah ich die erste Etappe der neuen Aufgabe, mit der mich der Fürst betrauen sollte. Als zweite Etappe schlug ich die Einrichtung eines ‘Aufsichtsamtes’ zur Kontrolle von Geschmacks- und Produktionsfragen für die Gebiete des Kunsthandwerks und der Kunstindustrie vor. Als Inhaber dieses Postens sollte ich den Großherzog und die Regierung auch in Fragen der bildenden Künste beraten. Für den Augenblick sollten indessen meine Vorschläge weder den Großherzog noch mich zu weiterem verpflichten. Im Geiste sah ich, daß meine Vorschläge erheblich darüber hinausführten: zur vollständigen Erfüllung meiner Mission, in voller Freiheit und Unabhängigkeit alle meine Kräfte auf die Verwirklichung eines ‘neuen Stils’ zu richten. Während meines Vortrages glaubte ich, auf der spiegelglatten Oberfläche des Tisches, an dem wir saßen, die Figuren einer imaginären Schachpartie zu sehen, die ich gewinnen wollte. Als ich endete, hoben die beiden Exzellenzen die Augen, die auf mich gerichtet waren, und tauschten einen Blick, der Zustimmung zu bedeuten schien. Minister Rothe brach das Schweigen und gab mir freundlich lächelnd zu verstehen, daß ich bald über die Meinung und eventuelle Verfügungen Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs unterrichtet werden würde. Sie selbst würden dem Fürsten Vortrag halten. Alles hatte sich in einer ungezwungenen Atmosphäre gegenseitiger Achtung und ohne jedes Zeremoniell abgespielt.
Einige Tage nach diesem Gespräch erreichten mich am gleichen Morgen zwei Telegramme. Das eine kam aus Weimar mit der Einladung des Großherzogs zum Diner am kommenden Abend, das andere aus Antwerpen mit der Nachricht, daß mein Vater gestorben sei und daß das Begräbnis am übernächsten Tag stattfinde. In die Erinnerungen an diesen für mich schicksalsmäßig so wichtigen Abend des 21. Dezember 1901 sind die Gedanken an meinen toten Vater eingewoben. Noch heute empfinde ich tiefen Schmerz, daß er nicht mehr die Entwicklung meiner Laufbahn und die offizielle Bestätigung meiner Mission erfahren durfte. Es hätte gewiß seinen Kummer über den tragischen Tod von drei seiner fünf Söhne gemildert. Seit dem Tod meiner Mut- | |
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ter fühlte er sich einsam, wenn auch meine Schwester Jeanne und ihr Mann, der meinem Vater herzlich verbunden war, mit liebevoller Aufmerksamkeit sich um ihn kümmerten. Wie gerne hätten Maria, die meinen Vater sehr liebte, und ich zu seiner Freude beigetragen!
Mein Bericht über diese Periode wird eines Tages mit Hilfe von Harrys Aufzeichnungen wesentlich ergänzt werden können. Wir hatten uns eine hoffnungslose Aufgabe gestellt, als wir versuchten, den Großherzog, einen von Natur aus mittelmäßigen Menschen, der einen nahezu rohen Charakter besaß, trotz allem zu einer historischen Gestalt zu machen. Heute bin ich überzeugt, daß es bei vielen historischen Gestalten nicht anders steht; sie gehen gegen besseres Wissen und Gewissen ins Buch der Geschichte ein. In Weimar begann ein Drama, über das sich wenige Zeugen dieser Epoche bewußt wurden und dessen Unvermeidlichkeit erst dann in klarem Licht erschien, als alle Illusionen geschwunden waren. Harry Kesslers fragmentarische Aufzeichnungen, die mir seine Schwester, Wilma de Brion, zugänglich gemacht hat, sind so anschaulich, daß ich es mir nicht versagen kann, sie meinen Lesern mitzuteilen: ‘21. Dezember 1901: Früh nach Weimar gefahren. Dort van de Velde. Mit ihm Besuch bei Frau Förster-Nietzsche, bei Exzellenz Rothe, von Palézieux etc. Rothe schlug vor, der Großherzog sollte van de Velde mit dem ganz allgemein gehaltenen Auftrag berufen, das Gewerbe und Kunstgewerbe im Lande zu heben und zu beraten. Gehalt 6000 Mark. Von einem Darlehen des Großherzogs zum Bau eines Institutes will er nichts wissen, um die Sache nicht zu komplizieren! Van de Velde schlug vor, er wolle das Geld selber aufbringen, wenn ihm in Weimar wenigstens ein Terrain unentgeltlich zugesichert werde. Im übrigen machte Rothe noch alles abhängig von der noch nicht erfolgten Entschließung des Großherzogs. Um sieben Uhr Diner beim Großherzog. Diesmal in den Prunkräumen der ersten Etage. Dort die Erbgroßherzogin, die beiden Gräfinnen Bodmer, von Palézieux, Rothe, von Egloffstein, von Schlieffen, Graf Otto Werthern, ein Oberleutnant Müller aus Südafrika, ein Hauptmann Fliesbert aus China und einige andere. Ich saß zwischen Müller und Egloffstein; rechts neben Müller der Großherzog, van de Velde neben der Erbgroßherzogin. Nach Tisch, | |
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beim ‘Cercle’ kam die Erbgroßherzogin gleich auf mich zu und sagte mir, ihr Tischnachbar wäre ihr sehr angenehm gewesen, ‘il cause’ und wäre sehr amüsant. Die Erbgroßherzogin ging bald zurück, und wir gingen hinauf in die Zimmer des Großherzogs. Dieser sprach zuerst fast eine Stunde mit van de Velde allein in einer Ecke. Dann kam er bald zu mir und fragte mich, wie die Sache mit Krefeld (Direktor Deneken) sei. Ich sagte ihm, was ich wußte. Darauf er ganz betroffen: ‘Ja, was wird dann aus uns in Weimar?’ Ich erwiderte: ‘Das haben Königliche Hoheit ja ganz in der Hand. Van de Velde hält sich an Weimar vorläufig noch gebunden. Königliche Hoheit brauchen ihm nur den bestimmten Vorschlag unter den heute bei Minister Rothe besprochenen Bedingungen zu machen und van de Velde wird sofort ja sagen.’ Der Großherzog meinte, das würde er gern tun. Darauf ich: ‘Soll ich van de Velde vielleicht dazu herholen?’ ‘Ja, bitte!’ ich ging darauf auf van de Velde zu, der im Gespräch war mit jemandem, den Rücken gekehrt, faßte ihn an und drehte ihn um, dem Großherzog zu. Der Großherzog streckte ihm unter verlegenen Worten die Hand entgegen, und die Sache war gemacht. Nachher, bis halb ein Uhr mit Werthern und van de Velde im Hotel ‘Erbprinz’ gesessen.’ Harry Kessler notiert in seinem Journal unter dem Datum des folgenden Tages einen Abschiedsbesuch bei Frau Förster-Nietzsche, die wir als erste von dem Ereignis in Kenntnis setzten, und unsere Aufwartung bei der Großherzoginmutter in Schloß Belvedere. Eine Allee von mächtigen, mehr als hundertjährigen Kastanienbäumen verbindet Weimar mit dem Schloß. Auf halbem Weg öffnet sich der Blick auf die weite hügelige Ebene; hier beginnt der Anstieg zum Plateau, auf dem das Schloß steht. Oberstallmeister Graf von Finckenstein kutschierte persönlich. Schon bald sah man wie durch einen dichten Schleier, der vom Geäst der mit ein wenig Schnee bedeckten Bäume gebildet wurde, die kadmiumgelbe Fassade des in italienischem Barock erbauten Schlosses. Im weiten Park befindet sich das Gartentheater, für das Goethe einige Stücke geschrieben hat, die er selbst dort zur Aufführung brachte. Hier fühlt man sich dem ruhmreichen historischen Weimar näher als im Stadtpalais. Die Großherzoginmutter empfing uns mit betonter Herzlichkeit. Beim Tee erzählte sie uns ungezwungen von ihrem Leben in den Frühlings- und Sommer- | |
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monaten. Dieses Jahr hatte sich ihre Übersiedlung nach ihrem Winterquartier Rom verzögert, von wo aus sie verhältnismäßig bald zurückzukehren gedachte. Sie erklärte sich mit Vergnügen bereit, vom Frühling an zu meiner Verfügung zu sein, um möglichst rasch die Verbindungen zu den Kunsthandwerkern und den Vertretern der Kunstindustrie herzustellen. Sie hätte uns noch lange bei sich behalten, wenn ich nicht dem Grafen von Finckenstein und Harry Kessler zugeflüstert hätte, daß ich unbedingt in einer halben Stunde am Bahnhof sein müsse. Dieser plötzliche Aufbruch war ein Verstoß gegen die Etikette, die vorschreibt, daß die Fürstin das Zeichen zur Beendigung eines Gespräches oder Besuches gibt. Ich hatte niemand erzählt, welches tragische Zusammentreffen mich zwang, den Abendschnellzug Berlin-Frankfurt zu nehmen, um rechtzeitig in Antwerpen anzukommen. Kessler instruierte den Oberstallmeister, und ich verabschiedete mich von meiner Gastgeberin, die über mein vorschriftswidriges Verhalten verstimmt war. Mir war die grundlose und grobe Kränkung der Großherzoginmutter, die sich mir gegenüber so entgegenkommend und liebenswürdig gezeigt hatte, unendlich peinlich. Graf Finckenstein übernahm es, mich noch am gleichen Abend bei der Großherzoginmutter zu entschuldigen. Für mich war es eine harte Prüfung, den Schmerz über den Tod meines Vaters während der zwei Tage zu unterdrücken, die mich an Weimar und an einen Fürsten binden sollten, über dessen Charakter niemand etwas ahnte. Wenn ich damals schon die Prinzessin Reuß, die Schwester des Vaters Wilhelm Ernsts gekannt hätte, so hätte sie mich vor dieser raschen Entscheidung gewarnt, die einen so tiefen Einfluß auf mein Schicksal und das der Meinen haben sollte.
Der Leser mag sich vorstellen, in welchem Zustand ich in Antwerpen ankam. Ich fühlte mich wie ein plötzlich erwachender Nachtwandler vor dem Sarg meines Vaters, den die Nachricht über die Entscheidung in Weimar tief befriedigt hätte. Und wie wünschte ich selbst, ihm meine Dankbarkeit für seine Güte zu bezeigen, mit der er materielle Opfer auf sich genommen hatte, damit ich in aller Unabhängigkeit bis zum Augenblick meiner Hochzeit meinen Weg gehen konnte. Maria gegenüber empfand ich Skrupel, daß ich die für sie und unsere Kinder so wichtige Entscheidung allein getroffen hatte. Harry hatte am | |
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Morgen seiner Rückkehr nach Berlin - zur gleichen Stunde, zu der ich dem Begräbnis meines Vaters beiwohnte - Maria über alles unterrichtet. Mit der gleichen Entschlossenheit, die sie seit unserer Verlobung stets bewiesen hatte, stimmte sie dem Opfer zu, welches das Schicksal von mir forderte: dem endgültigen Verzicht auf das Haus ‘Bloemenwerf’ und auf unsere Freunde in Belgien. Es stand uns die Lösung einer Reihe von großen Schwierigkeiten bevor. Ich sage ‘uns’, weil Maria an all diesen Problemen lebhaften Anteil nahm und weil sie viel dazu beitrug, die Lage zu entwirren: einen Aufenthalt abzubrechen, der von der Berliner Gesellschaft mit so viel Interesse und Wohlwollen begrüßt worden war, und vor allem den Vertrag mit Hirschwald aufzulösen, bevor die sensationelle Neuigkeit meiner Berufung nach Weimar bekanntgegeben werden konnte. Aus diesem Grund hatte ich vom Großherzog von Sachsen-Weimar einen Aufschub von wenigen Monaten erbeten. Paechter gelang es rasch, von Hirschwald die Einwilligung zu einer gütlichen Trennung zu erhalten. Viele, scheinbar widersprechende Gründe veranlaßten Hirschwald zu dieser Entscheidung: der fanatische Antisemitismus Karl Ernst Osthaus'; die Gefahr, die Kundschaft aus den Kreisen der Aristokratie und der hohen Beamtenschaft des Reiches zu verlieren, die auf meiner Seite standen, und die Furcht, sich zu sehr in einer künstlerischen Richtung vorgewagt zu haben, welcher der Kaiser ablehnend gegenüberstand. Paechter hoffte, daß Weimar für uns ein sicherer Hafen würde als Berlin, wo - wie er in seinem saftigen Berliner Dialekt sagte - der Künstler wie ein Fisch behandelt werde, dessen gutes Fleisch man genießt und ebenso rasch vergißt; am nächsten Tag verzehrt man den nächsten Fisch. Bevor wir Berlin verließen, hatten wir noch viele gesellschaftliche Verpflichtungen zu erfüllen und vor allem von vielen Freunden Abschied zu nehmen. Das Abschiedsessen, das wir Maximilian Harden, Walther Rathenau und Samuel Sänger gaben, dem eifrigen Mitarbeiter der unabhängigen Zeitschrift ‘Die Neue Rundschau’, der später Marias jüngere Schwester, die Schülerin des Geigers Eugène Ysaye, heiratete, erhielt eine besondere Bedeutung. Harden wollte ich den Dank für die Unterstützung abstatten, die er meiner Sache in seiner Zeitschrift ‘Die Zukunft’ geliehen hatte, und zu Rathenau hatte sich seit meinen Vorträgen im Hause Cornelia Richters | |
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eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Gegen Ende der Mahlzeit waren unsere Geister vom lebhaften Gedankenaustausch, von den ausgezeichneten Speisen und dem guten Wein erhitzt. Als Maria die Tafel aufgehoben hatte und wir uns in den Salon begaben, sagte ich zu Harden: ‘Könnte ich nur einmal wie Sie, mein lieber Freund, in einer Festung oder einem Gefängnis in Ruhe leben und mich sammeln, um die Entdeckung zu überdenken, zu der mich gerade eben unser Gespräch geführt hat.’ Wir saßen um den Tisch, Maria füllte unsere Kaffeetassen und Likörgläser. Harden nahm das Gespräch wieder auf und wendete sich an Rathenau und Sänger: ‘Van de Velde hat ein so großes Bedürfnis nach Ruhe, daß er bereit zu sein scheint, sich mit radikalen Mitteln den Verpflichtungen zu entziehen, die ihn hindern, über eine eben gemachte Entdeckung nachzudenken. Er beneidet mich um die Methode, die ich anzuwenden pflege: das Verbrechen der Majestätsbeleidigung.’ Es verstand sich von selbst, daß ich nähere Erklärungen schuldig war. Maria wollte gehen, um uns ‘unter Männern’ allein zu lassen; sie blieb stehen, um die neue Wahrheit zu erfahren, die mir aufgegangen war. Im Laufe unseres Gesprächs über die Fragen vernunftgemäßer Gestaltung war ich mir darüber klargeworden, daß die Entwicklung der von den Architekten und Kunsthandwerkern verwendeten Materialien seit der Antike in einer einzigen Richtung erfolgt: in der Richtung einer fortschreitenden Entmaterialisierung und Verringerung ihrer Schwere. Ich erinnerte an einige Beispiele. An die Entwicklung des Steines, die in der Gotik zu einer völligen Entmaterialisierung führt, an mittelalterliche Schmiedearbeiten, an das Filigran orientalischen Schmuckes, an venezianisches Glas, persische Teppiche und an Brüsseler Spitzen. Harden riß ein Blatt von seinem unvermeidlichen Notizblock, notierte den wesentlichen Inhalt meiner Worte und ließ sie von den Anwesenden unterschreiben. Dieses Blatt ist das erste Zeugnis einer Beobachtung, der alle Anwesenden in einer Atmosphäre von Begeisterung und guter Laune kapitale Bedeutung beimaßen. Ich selbst wünschte sechs Monate Ferien, um über die Entdeckung zu meditieren und ein Manuskript auszuarbeiten, das Harden zur Verfügung gestellt werden sollte. | |
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In Berlin vollendete ich noch die letzten Zeichnungen und Modelle für die Einrichtung von Osthaus' Folkwang-Museum. Ich versuchte, Profile zu entwerfen, die zu den Balken und zum Metallgerüst des Gebäudes paßten. Mir schwebte dabei eine enge Zusammenarbeit von Architekt und Ingenieur vor. Es waren für die kleinen isolierten oder in Bündeln zusammengefaßten Stützbalken neuartige Profile zu schaffen, die mit der Konstruktion aufs engste zusammengingen. Die entstehenden Kurven und Profile waren ebenso frei von jedem dekorativen Hintergedanken wie die organisch entstandenen Kapitelle des dorischen oder ionischen Stils. Ich hatte ein Problem zu lösen, das in der Natur durch das Verhältnis von Skelett und Fleisch vorgebildet ist. Von hier aus gesehen, beantwortet sich die Frage nach der Verkleidung eines Metallgerüstes in gesunder und normaler Weise. |
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