Geschichte meines Lebens
(1962)–Henry Van de Velde– Auteursrechtelijk beschermd
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Sechstes Kapitel
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ten gezeigt wurden. Oft wurde ich auch durch schmeichelhafte Empfänge von Hause ferngehalten. In ihren Briefen ließ mich meine Frau wissen, daß Nele sich über die häufige und lange Abwesenheit ihres Vaters beklagte; Maria selbst empfand wohl ähnliches. Niemand konnte ahnen, daß die vielen Aufträge, die mir vor allem aus Deutschland zukamen, für unser Familienleben eine ernste Bedrohung bedeuteten. Die Dresdner Ausstellung hatte alle diese Dinge ins Rollen gebracht. Es waren Beziehungen mit vielen begeisterungsfähigen Menschen vor allem in Deutschland entstanden, meistens Angehörigen reicher Gesellschaftsschichten, die meinen Glauben an den Sieg eines ‘neuen Stils’ teilten und mir volles Vertrauen entgegenbrachten. Meine Mitarbeit an deutschen Kunstzeitschriften gehört in den Zusammenhang meiner Beziehungen zu künstlerischen und intellektuellen Kreisen des Landes, in dem ich plötzlich bekannt geworden war. In Berlin erschien-ich erwähnte es schon-seit 1895 der ‘Pan’; das Titelblatt stammte von der Hand des Münchner Malers Franz von Stuck. Unter den Mitgliedern der Redaktion befanden sich der Generaldirektor der Berliner Museen Wilhelm von Bode, die Museumsdirektoren Woldemar von Seidlitz in Dresden, Richard Graul in Leipzig, Alfred Lichtwark in Hamburg, der Dichter Otto Erich Hartleben, die Maler Max Liebermann und Ludwig von Hofmann, die Kunstfreunde Eberhard Freiherr von Bodenhausen und Harry Graf Kessler und der Kritiker Julius Meier-Graefe. Die drei letzteren übten auf meine Zukunft einen entscheidenden Einfluß aus. Schon im zweiten Jahr schied Meier-Graefe als Folge des Widerstands einiger Mitglieder des Redaktionskollegiums gegen die Veröffentlichung einer Lithographie Toulouse-Lautrecs, die sie für unmoralisch hielten, aus der Redaktion aus. Eine französische Ausgabe publizierte Übersetzungen von Aufsätzen und Gedichten der deutschen Originalausgabe und außerdem unbekannte Arbeiten französischer Schriftsteller. Als deren Leiter wirkte Henri Albert, der sich durch die Übersetzung von Werken Nietzsches einen Namen gemacht hatte. Als ausländischer Mitarbeiter des ‘Pan’ veröffentlichte ich in der Zeitschrift, die mit der damals schönsten englischen Revue ‘The Hobby Horse’ rivalisieren konnte, eine kurze Studie über ‘Künstlerische Tapeten’. Sie bezog sich auf die von Walter Crane um 1890 entworfenen ersten künstlerisch wertvollen Tapeten aus dem Hause Jeffroy & Co. Ich schloß meinen Artikel | |
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mit den Worten: ‘Wenn einer von uns - auch Walter Crane - nachgedacht hätte, was eine Tapete sein soll, worin ihre Funktion besteht, so hätten wir die Phantasie gezügelt, einfachere Motive gewählt, die mehr der Aufgabe der Tapete entsprechen: die nackte, kalte Wand zu verkleiden, ihr den drohenden Charakter zu nehmen, der etwas von einem Gefängnis hat. Jeder naturalistische Schmuck wirkt laut und aufdringlich. Für die Atmosphäre des Zimmers einer idealen Wohnung träume ich von der Milde einer lauen Herbstnacht ohne das zudringliche Leuchten der Sterne und die erschrekkende Stimme der Vögel am Morgen.’. Für eine Nummer, die 1897 nach der Eröffnung der Dresdner Internationalen Ausstellung erschien, bat mich die Redaktion um einen Beitrag ‘Ein Kapitel über den Entwurf und Bau moderner Möbel’. Später, im Juliheft des Jahres 1900, folgte eine zum Teil frei bearbeitete Übersetzung meiner 1895 in Brüssel erschienenen Broschüre ‘Aperçus en vue d'une Synthèse d'Art’. Bald darauf stellte der ‘Pan’ sein Erscheinen ein.
Unter den zahlreichen Besuchern, die aus Deutschland uns im Haus ‘Bloemenwerf’ aufsuchten, befand sich ein Herr Paechter, den Meier-Graefe geschickt hatte. Paechter führte in Berlin ein Geschäft japanischer Kunst, dem Bing Farbholzschnitte, Keramiken und andere Gegenstände lieferte, die nicht ganz erstklassig waren. Paechter war der vollendete Typ des gutmütigen und zugleich raffinierten Geschäftsmannes. Von der Schönheit seiner Dinge war er so überzeugt, daß der Käufer den Eindruck gewann, ein Geschenk und nicht einen käuflich erworbenen Gegenstand mit nach Hause zu nehmen. Als ich Paechter durch unser Haus führte, arbeitete Maria an ihrem großen Tisch. Nachdem ich ihn vorgestellt hatte, betrachtete er mit großer Begeisterung den ornamentalen Fries, an dem Maria zeichnete. Er erkundigte sich, ob wir ihm diesen verkaufen würden, da er die Absicht habe, den rückwärtigen Raum seines Geschäftes damit zu schmücken, wo er seine besten Stücke seinen intimsten Kunden zeigte. Er meinte, er könne seinen Freunden kein charakteristischeres Beispiel meiner Ornamentierung bieten. Um einen häßlichen Heizkörper in seinem Geschäft zu verdecken, gab er mir überdies den Auftrag, eine ornamentierte, gestanzte Metallplatte zu entwerfen. | |
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45 Verpackungsentwurf für ‘Tropon’, 1898
Später wurde Paechter einer unserer geschätztesten Freunde; er leistete uns einen Dienst, für den wir ihm ewig dankbar blieben. Ebenfalls von Julius Meier-Graefe empfohlen, erschienen in ‘Bloemenwerf’ zwei hochgewachsene, vornehme Besucher: der Baron Eberhard von Bodenhausen von der Redaktionskommission des ‘Pan’ und der Graf Morton Douglas. Sie waren Geschäftspartner. In jenen Jahren versuchten zahlreiche Ari- | |
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46 Karikatur von Franz Christophe auf das ‘Tropon’-Plakat, 1898
stokraten, ohne Rücksicht auf traditionelle Gepflogenheiten, sich in der Industrie oder im Bankwesen Positionen zu schaffen. Eberhard von Bodenhausen und Morton Douglas hatten sich zur Auswertung eines von ihnen | |
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erworbenen Patentes für das Nährmittel ‘Tropon’ zusammengetan. Sie wünschten, mich mit der gesamten Propaganda - Plakate, Verpackung, Inserate in den Zeitungen und so weiter - zu betrauen. Ich sah keinen Grund, das Angebot abzuweisen. Nachdem der übliche Rundgang durch das Haus gemacht war, ließen wir uns im Eßzimmer nieder, wo Maria den Tee bereitet hatte. In einer Atmosphäre natürlichen Vertrauens teilte uns Eberhard von Bodenhausen mit, daß er sich vor kurzem verlobt habe. Dieser Mitteilung folgte der lebhafte Wunsch, ich möchte die Einrichtung der Wohnung übernehmen, die er demnächst in Berlin zu finden hoffte. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß der Kunsttischler, dem ich die Ausführung meiner Möbel anvertraute, nur eine kleine Werkstatt zur Verfügung hatte, in der er höchstens zwölf Arbeiter beschäftigen konnte. Er war durch meine Aufträge, die ich im Anschluß an den Dresdner Erfolg erhalten hatte, überbeschäftigt und konnte, wie ich glaubte, nichts Neues übernehmen. Im Beisein meiner Besucher telephonierte ich mit meinem Tischlermeister, der meine Befürchtungen bestätigte. Eberhard von Bodenhausen und sein Freund verließen enttäuscht unser Haus. Nach einigen Tagen erfuhr ich, daß Eberhard von Bodenhausen und der Berliner Maler Curt Herrmann, der inzwischen einer meiner besten Freunde und mein erster deutscher Auftraggeber geworden war, ein Kapital zusammengebracht hatten, das die Gründung eigener Werkstätten und einer ‘Société van de Velde’ ermöglichte. Dieser großzügige und freundschaftliche Schritt genügte, daß die neue Gesellschaft, an der sich meine Schwiegermutter mit einem Viertel des Kapitals beteiligte, gegründet wurde. Die ersten in den Ateliers hergestellten Möbel waren diejenigen, die Eberhard von Bodenhausen für seine Berliner Wohnung gewünscht hatte. Mit der Gründung dieser ‘Société van de Velde’ verfügte ich über ein großes, im Brüsseler Vorort Ixelles gelegenes Haus. Die Werkstätten für die Herstellung von Möbeln, Beleuchtungskörpern und anderen Einrichtungsgegenständen und auch für Schmuck standen bald in voller Tätigkeit. Das bescheidene Atelier im Souterrain des Hauses ‘Bloemenwerf’, wo ein einziger Arbeiter Beleuchtungskörper und anderes herstellte, war überflüssig geworden. In diesem kleinen Raum hatten sich seinerzeit auch die Keramiken angehäuft, die unser Freund Willy Finch aus Forges in den bel- | |
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47 Inserat der ‘Société van de Velde’ in ‘L'Art Décoratif’, 1898
gischen Ardennen uns zuschickte. Dank meinen Beziehungen zu den verschiedenen ‘Kunsthäusern’ in Paris, Berlin und Den Haag, die meine eigenen Produkte ausstellten und verkauften, konnte ich Finch bei der Verbreitung seiner Arbeiten behilflich sein. Die neuen Werkstätten machten es mir möglich, Aufträge einiger belgischer Intellektueller und Kunstfreunde anzunehmen, die als überzeugte Freunde der neuen Kunstströmung Möbel, Schmuckstücke und Bucheinbände bei mir bestellten. Auch in Deutschland wuchs die Zahl der Auftraggeber. Unter ihnen befand sich der junge, aus einer angesehenen Chemnitzer Industriellenfamilie stammende Herbert Esche, mit dem ich zeit meines Lebens freundschaftlich verbunden geblieben bin. Er setzte sich als einer der ersten schriftlich mit mir in Verbindung. Anhand eines Grundrisses der Wohnung, | |
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die er nach der Rückkehr von einer Reise nach Südamerika mit seiner jungen Frau beziehen wollte, hatte ich die Einrichtung zu entwerfen. Ich hatte völlig freie Hand und konnte aus dem vollen schöpfen, da Herberts Schwiegervater, ebenfalls ein industrieller, großzügig die Kosten übernahm. Einige Jahre später errichtete ich für Herbert Esche in Chemnitz ein eigenes Haus. Im Gegensatz zu Esche, der sich überraschen ließ, folgte Eberhard von Bodenhausen Schritt für Schritt der Entstehung seiner Möbel. Der Artikel, der 1897 im ‘Pan’ erschien, erinnert mich an alle Einzelheiten dieser Tätigkeit, an alle Überlegungen, die wir während der Arbeit an den zeichnerischen Entwürfen austauschten und die das freundschaftliche Band zwischen uns nur noch enger knüpften. Im Anschluß an die immer mehr steigenden Aufträge aus Deutschland, welche die belgischen an Bedeutung und Umfang rasch übertrafen, zeichneten sich organisatorische und wirtschaftliche Probleme am Horizont ab, die zu einschneidenden Veränderungen unseres Lebens führen sollten. | |
München 1898 - Besuch beim PrinzregentenDie Einladung zur Teilnahme an der Ausstellung der Münchner Sezession des Jahres 1898 brachte mir diese Probleme in besonderer Weise zum Bewußtsein. Ich fühlte mich verpflichtet, den einzigen Verwaltungsrat der ‘Société van de Velde’, Eberhard von Bodenhausen, darüber zu orientieren. Die zwei Säle, die mir die Leitung der Münchner Sezession zur Verfügung stellte - ich hatte sie unter eigener Verantwortung vollständig einzurichten -, boten mir die Gelegenheit zu einem ersten Kontakt mit süddeutschen Kunstfreunden. München war damals ein Kunstzentrum, dem in Europa größte Schätzung entgegengebracht wurde. Weder Dresden noch Düsseldorf, geschweige denn Berlin konnten mit München wetteifern. Ich überwachte die Einrichtung eines Arbeits- und Bibliotheksraumes, in dem ich zum ersten Male eine Variante des großen, geschweiften Schreibtisches ausstellte, den ich für Meier-Graefes Pariser Studio in der Rue Pergolèse entworfen hatte. Während dieser Tage hatte ich Zeit, mich in München umzusehen. Ich war frappiert von dem unveränderten Enthusiasmus | |
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der Münchner für Makart und das, was man ‘Makart-Stil’ nannte, von der Verehrung, fast Anbetung, die Richard Wagner entgegengebracht wurde, von der Hochschätzung, die Böcklin, der Porträtist Lenbach und der Bildhauer Adolf von Hildebrand genossen, und von der vielleicht gleichgültigen, aber unbestrittenen Verbundenheit mit der offiziellen akademischen Architektur. Andererseits stellte ich das echte Interesse des Publikums für modernes Schauspiel fest, das in bescheidenen Theatern zur Aufführung gelangte. Dort wurden von wohlinformierten Theaterleitern russische und skandinavische dramatische Autoren gespielt, die in anderen europäischen Ländern - abgesehen von den Heimatländern dieser Autoren - so gut wie unbekannt waren. Nach der Eröffnung der Ausstellung hatte ich den Eindruck, das bayrische Publikum sei apathischer als die Ausstellungsbesucher in Sachsen oder Preußen. Es zeigte sich nicht mehr beeindruckt als von der Maß Bier, die es im Hofbräuhaus schlürfte. Man genoß in München Kunst ähnlich wie das Bier. Man redete gern über Kunst, aber man tat es gemütlich, ohne sich zu ereifern. Renommierte Maler oder Bildhauer, Komponisten, Dramatiker, Schauspieler oder Sänger - man sprach und diskutierte über sie im Bräu. Literatur und Dichtung waren dagegen in den Cafés zu Hause. Wer sich für diese Kunstgattung interessierte, traf dort die berühmten Schriftsteller und Dichter, die verehrt wurden. Sie saßen an ihrem ‘Stammtisch’ und stellten sich gern zur Schau. Um einen Begriff der Resonanz zu erhalten, die meine Teilnahme an der kunstgewerblichen Abteilung der Sezession von 1898 hervorgerufen hatte, mischte ich mich nach der Eröffnung unter die Menge im Hofbräuhaus. Ich wurde mir klar darüber, daß ich eine Schlacht geschlagen hatte - eine Schlacht mehr nach den Kämpfen von Paris und Dresden. Das Publikum hatte einen Schock erhalten. Es hatte die Wucht empfunden, mit der meine Arbeiten sich seiner Bewunderung für den Makart-Stil entgegenstemmten, mit seiner Mischung von Trödel, echt und unecht, mit seinen Alpträumen besessener Anstreicher, die die klein- und großbürgerlichen Interieurs in Deutschland überschwemmt hatten und gegen die Alfred Lichtwark seit Jahren vergebens mit aller Vehemenz kämpfte. In München wurden meinen Werken gegenüber nicht die scharfen Worte | |
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gebraucht, die etwa Edmond de Goncourt verwendet hatte; es gab keine Revolte wie in Paris, keine plötzliche Reaktion in irgendeinem Sinn. Eher hatte ich meinen Ruf als Neuerer bekräftigt und war in einer Richtung vorgestoßen, der sich auch einige andere fortschrittliche Künstler in München verschrieben hatten: Eckmann, Pankok, Riemerschmid und Hermann Obrist, der künstlerischste, persönlichste, der kühnste unter ihnen, der als erster die neuen Wege beschritten hatte. Ein in der ‘Deutschen Kunst und Dekoration’ erschienener Aufsatz über die Abteilung ‘Angewandte Kunst’ in der Sezessions-Ausstellung (der mit den Initialen G.F. - Georg Fuchs - zeichnende Autor bediente sich noch dieser veralteten und diskreditierenden Formulierung) erregte in besonderer Weise meine Aufmerksamkeit. Er befaßte sich mit den ersten Ergebnissen der von Bing inaugurierten ‘Art Nouveau’ und stellte eine für die in Deutschland radikal vorangehende Entwicklung besonders wichtige Frage: Gibt es einen Schnitt innerhalb der Denkweise, dem Brauch und dem Geschmack zwischen den nördlichen und südlichen Landstrichen Deutschlands? Was der Verfasser im einzelnen über meine Teilnahme bei dieser ersten Manifestation in Süddeutschland erklärte, scheint mir wert, festgehalten zu werden: ‘Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man Werke van de Veldes in Berlin, Hamburg, Dresden sieht oder hier bei uns im Süden. Immer werden wir auch hier den ungeheuren Reichtum seiner formalen Erfindung bewundern, nicht minder die Kraft und Mannigfaltigkeit seiner Linienführung, seine staunenswerte Anpassungsfähigkeit an die praktischen Erfordernisse, seine unnachahmliche Leichtigkeit, geradezu mit nichts, mit dem Allerunentbehrlichsten, schön, bedeutend zu erscheinen, kurz, man wird ihm als Künstler und Einzelerscheinung mit außergewöhnlicher Anerkennung gegenübertreten. Ganz anders empfindet man dagegen, sobald man ihn als Symptom, als Entwicklungstypus auffaßt. Im Norden finden wir ihn durchaus begreiflich, wir können uns vorstellen, daß seine Erfolge in Berlin durchaus nicht nur ‘Mode’ sind; für uns im Süden und bei uns gesehen, bleibt er eine ästhetische Merkwürdigkeit, ein hochbedeutendes Phänomen, das unser regstes Interesse herausfordert, dem wir mit Bewunderung in die Einzelheiten seiner überreichen Produktion folgen, das uns jedoch stets fremd bleibt, nicht anders wie etwa ein großer russischer, japanischer oder altassyrischer Meister. | |
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Das charakteristischste Stück ist vielleicht der Schreibtisch. Die ‘Ersparnis’ an Arbeitskraft spricht sich in der ganzen Anlage aus, schnelle Erreichbarkeit aller Dinge, Ordnung, Ruhe, alles, was der rasch und sicher Arbeitende im lautlosen Kampf des modernen Lebens braucht, das ist hier, und zwar nicht nur als sachliche Einrichtung, sondern auch im Ausdruck gegeben, der zwar durch künstlerische Mittel erreicht ist, jedoch so, daß in der Ausgestaltung nur gerade noch soviel über das ‘Schlechthin-Zweckmäßige’ hinausgegangen wird, daß das Reich des Ästhetischen erreicht, nicht aber freien Schrittes betreten und erschöpft ist.’. Die zahlreichen Abbildungen nach Arbeiten der genannten Münchner Künstler, die G.F. seinem Aufsatz beigegeben hat, geben mir die Möglichkeit, auf einen Umstand hinzuweisen, den ich nicht verschweigen kann: auf den fundamentalen, gleichsam biologischen Unterschied aller meiner Werke den Werken der anderen gegenüber, mögen sie Jünger oder auch nur Anhänger sein.
Am Tage nach der Eröffnung der Ausstellung verließ ich am frühen Morgen München zusammen mit einem Mitglied der Sezession. Wir fuhren nach einem Dorf in den bayrischen Alpen. Ich hatte das Münchner Hotel ohne Angabe meiner Adresse verlassen, da ich nicht wußte, wohin mich meine erste Reise in die Welt des Hochgebirges führen würde. An einer mir unbekannten Station verließen wir den Zug und bestiegen einen Wagen, der uns zu einem Dorf führte, wo mein Reisekamerad ein umgebautes Bauernhaus besaß. Der Blick auf einen schneebedeckten Gipfel, der einsam über einem Tal aufragte, machte mir einen überwältigenden Eindruck, der mich mein ganzes Leben begleitete. Die Liebe zum Gebirge und zu den Alpen entstand an diesem Tag. Sie führte dazu, daß ich immer wieder die Berge Oberbayerns, Tirols, der Schweiz und Italiens aufgesucht habe. Am nächsten Tage erwartete mich eine Überraschung: ein Staatstelegramm! Prinzregent Luitpold lud mich zum Déjeuner in sein Münchner Palais ein. Mein Gastgeber war nicht überrascht. Er kannte das traditionelle Interesse, das der bayrische Hof Künstlern und vor allem ausländischen Künstlern von Rang entgegenbrachte, die sich in München aufhielten. Ich sei ein solcher, bemerkte mein Freund. Wir fragten uns, wie und durch wen man bei Hofe hatte erfahren können, wo und bei wem ich mich befand. | |
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Die einzige Auskunft, die der Portier meines Münchner Hotels, der mir den Schlag des Droschkentaxis geöffnet hatte, geben konnte, war, daß ich zum Starnberger Bahnhof gefahren sei. Und doch hatte diese Auskunft genügt, um die Richtung festzustellen, in der ich abgereist war. Die Bahnhofsvorstände und die Hoteliers waren alarmiert worden. Später erzählte mir der Hofmarschall des Prinzregenten, der Stationschef des Bahnhofs, an dem wir ausgestiegen waren, habe berichtet, meinen Gastgeber mit einem Unbekannten gesehen zu haben, dessen Signalement auf mich paßte. Das Essen im Palais hatte nichts Offizielles. Zur Tafel des Prinzregenten waren nur sein Hofmarschall, sein Adjutant, ein Kammerherr, der Maler Hugo von Habermann und die Schwester des Regenten, die Prinzessin Maria von Bayern, geladen, die bei Tisch meine Nachbarin war. Außer der Anwesenheit von zahlreichen livrierten Dienern in Blau und Silber war nichts Zeremonielles zu spüren. Die Tafel war mit schweren Goldschmiedearbeiten überhäuft, die Gläser massiv geschliffen, das wertvolle Tafelgeschirr aus Fayence. Zuerst wurde davon gesprochen, wie ich aufgespürt worden sei, dann von meiner Teilnahme an der Ausstellung der Sezession. Vom zweiten Gang an mußte ich mir einen endlosen Bericht über eine Reise der Prinzessin in Deutsch-Ostafrika anhören. Beharrlich sprach sie davon, wie rasch die Bevölkerung, die bisher in völliger Nacktheit gelebt habe, sich an die Kleider gewöhnt hätte und welche Fortschritte die Sittlichkeit mache. Die Prinzessin redete viel und aß wenig. Ich hätte gerne gegessen, aber ich mußte zuhören, um nicht unhöflich zu erscheinen. Übrigens blieb mir auch sonst keine Zeit, mich zu sättigen; der Prinzregent aß enorm rasch, und da er als erster bedient wurde, war er selbstverständlich auch vor seinen Gästen fertig. Sein aufmerksamer und beflissener Leibdiener servierte infolgedessen mit größter Geschwindigkeit ab. Dies war das Signal, daß auch den Gästen die Teller weggenommen wurden, gleichgültig, ob sie leer oder voll waren. Das war der Ritus an der Tafel des Prinzregenten, dem es zwar an Eleganz, aber nicht an Jovialität, Humor und Wohlwollen mangelte. Er schien geradezu erleichtert, als er seinen Appetit befriedigt hatte, und zeigte sich noch liebenswürdiger und redseliger als vorher. Die Prinzessin zog sich zurück, und wir machten es uns in Klubsesseln um einen niedrigen Tisch bei Kaffee und Schnäpsen bequem. | |
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Alle, außer mir, begannen zu rauchen und ließen sich die dicken Zigarren schmecken. Der Prinzregent rauchte eine Pfeife, deren Kopf am Ende eines langen Rohres aus Kirschbaumholz befestigt war. Seiner Königlichen Hoheit machte es Spaß, einem Mann zu begegnen, der zum ersten Male das Hochgebirge gesehen hatte. Der Prinzregent sprach unaufhörlich und vergaß immer wieder zu ziehen. Die Pfeife ging aus, und, ohne sich zu rühren, hob er das Rohr. Der Kammerherr, der offenbar dafür bestimmt war und sich immer in Bereitschaftsstellung hielt, zündete ein Streichholz an; der Prinzregent konnte weiterrauchen. Bevor die Pfeife zum letzten Male ausging, sprach der Prinzregent über die von ihm bewunderten flämischen Kleinmeister. Im Hinblick auf meine flämische Herkunft schlug er vor, mir die holländischen und flämischen Bilder seiner Privatsammlung zu zeigen. Die von ihm am höchsten geschätzten Gemälde befanden sich in seinem Schlafzimmer, das neben dem Rauchzimmer lag, in dem wir saßen. Der Prinzregent erhob sich und bat mich als einzigen, ihm zu folgen. Der Kammerherr öffnete die Tür, der Prinzregent schob einen schweren Vorhang zur Seite, und wir betraten das Zimmer, das mit karmesinrotem Damast ausgeschlagen war. Meist kleine Bilder in geschnitzten, vergoldeten Rahmen füllten die Wände bis zum Plafond. Werke von Teniers und Brouwer hingen unmittelbar neben solchen von Ferdinand Braekeleer-dem Ahnen einer Malerfamilie, deren letzter, Henri de Braekeleer, einer der bedeutendsten Vertreter der modernen Antwerpener Schule war - und von Verbroeckhoven, einem Maler des 19. Jahrhunderts, der ebenso geschätzt wurde wie Meissonier. War dieser ein Schlachtenmaler, so hatte sich jener auf Schafe spezialisiert. Der Tapezier, der diesen Mischmasch von Bildern aufgehängt hatte, mußte sich für die Schlachtenbilder mehr interessiert haben als für die Schafe, denn diese waren in die oberen Regionen verbannt. Wie dem auch sei, ich sollte des Prinzregenten Bewunderung für die Virtuosität des Antwerpener Malers teilen. Er war unglücklich, daß ich nicht nahe genug an zwei Bilder von Verbroeckhoven herankommen konnte, die hoch über dem Bett hingen. Seine Verlegenheit war groß, dauerte aber nicht lange. Er warf einen kurzen Blick auf die Portiere an der Tür, schob rasch einen Sessel an das Bett, stieg munter hinauf und von da auf das Bett. Ich war über soviel Beweglichkeit bei einem Mann seines Alters verblüfft und | |
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über die ungewöhnliche Lage, in der er sich befand, erheitert. Ehe ich mich von meinem Erstaunen erholen konnte, gab er mir ein Zeichen, ihm auf dem gleichen Weg aufs Bett zu folgen. Zögernd und mit dem Hinweis darauf, daß ich Schuhe trug, gehorchte ich. So standen wir beide auf dem Bett, mein hoher Gastgeber in wahrer Verzückung über die kleinen Bilder Verbroeckhovens! Ich wollte die Szene abkürzen, obwohl ich wußte, daß nach der Etikette dem Fürsten die Initiative zukommt, eine Situation zu beenden oder zu verlängern. Mir schien in dieser seltsamen Lage ein Verstoß gegen die Etikette gerechtfertigt. Ich befand mich näher als er beim Sessel. Mit einer Handbewegung bedeutete er mir, voranzugehen, auf dem Sessel zu warten, damit er sich auf meine Schulter stützen und das gleiche Manöver wiederholen könnte, um auf den Boden, besser gesagt, auf den Teppich zurückzukehren. Im Rauchzimmer saßen wir noch kurze Zeit zusammen und nahmen das mit den anderen Gästen unterbrochene Gespräch wieder auf. Nach kurzer Zeit erhob sich Seine Königliche Hoheit, und wir verabschiedeten uns. | |
Reform der FrauenkleidungMein Tätigkeitsfeld erweiterte sich immer mehr. Die gleichen Kräfte, die mich dazu getrieben hatten, ohne Architekt zu sein, die Pläne unseres Hauses zu entwerfen, Möbel, Beleuchtungskörper und andere Gegenstände zu zeichnen, Tapeten, Matten und Teppiche auszudenken, ohne vorher je an die Hervorbringung solcher Dinge gedacht zu haben, veranlaßten mich, das Prinzip vernunftgemäßer Gestaltung, die fundamentale Methode meiner gesamten Arbeit, auch auf die Frauenkleidung anzuwenden. Wie bei allen meinen früheren Experimenten folgte ich einem inneren, persönlichen Bedürfnis: dem gebieterischen Wunsch, aus meiner unmittelbaren Umgebung alles zu verbannen, was mein vernünftiges Empfinden beleidigte und gegen das moralische Prinzip verstieß, das ich in der Übereinstimmung der äußeren Erscheinung und dem inneren Daseinszweck der Dinge erkannt hatte. Aber kann von einem Prinzip die Rede sein, wenn sich seine Grundform durch kleine Änderungen, kaum merkbare Varianten anpaßt auf einem | |
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Gebiet, wo die Phantasie selbstherrlich regiert und plötzliche Sprünge liebt und wo die ‘Mode’ sich jede Saison mit den abgeschmacktesten Erfindungen breitmacht? Welch ein Wahnsinn von mir, im Namen der Moral einen Angriff auf die Mode und gegen die Macht der Herren Schneider zu wagen! Die Anwendung des Prinzips der vernunftgemäßen Gestaltung auf die Kleidung gehörte in den Zusammenhang der generellen Aktion, alle Gegenstände des täglichen Gebrauchs unter einem neuen Gesichtswinkel zu sehen, der für alle Produkte die gleiche Geltung besaß. Von hier aus betrachtet, mußte sich die Frauen- wie die Männerkleidung schrittweise verändern, bis sie der gesamten Harmonie entsprach, die sich entsprechend den neuen künstlerischen Prinzipien in unserer Umwelt verwirklichen sollte. Die Zukunft klärte mich jedoch darüber auf, eine wieviel größere Anstrengung erforderlich war, das Prinzip der vernunftgemäßen Gestaltung auf dem Gebiet der Kleidung durchzusetzen als auf den Gebieten der Architektur und der industriellen Künste. Die Kleider meiner Frau hatten die Aufmerksamkeit Dr. Denekens, des Direktors des Krefelder Museums, schon bei seinem ersten Besuch erregt. Dr. Deneken, der mehrere Jahre einer der Assistenten des Generaldirektors der Preußischen Museen, Wilhelm von Bode, gewesen war, sagten das Leben und die Aufgaben des Direktors eines Provinzmuseums wenig zu. Er hatte eine Sammlung von Gemälden und Kunstgegenständen geringer Bedeutung zu verwalten. Ankäufe konnte er nur vorschlagen. Über ihre Durchführung hatte eine Kommission zu bestimmen, von deren Mitgliedern eines unzuständiger war als das andere. Seit seiner Berufung nach Krefeld hatte Dr. Deneken eine lebhafte Kampagne zugunsten der Industrien dieses wichtigen Zentrums unternommen. Er wollte den unheilvollen Einfluß Düsseldorfs eindämmen, wo der Geschmack der Akademieprofessoren mit ihrer Vorliebe für Trödel und antiken Plunder herrschte. Von den in Krefeld beheimateten Industrien lag ihm besonders die Seidenindustrie am Herzen. Bis zu dieser Zeit hatte die Krefelder Industrie mit den Seidenindustriellen Lyons zu kämpfen, deren Dessins Krefeld entlehnte. Der neue Museumsdirektor hatte sich vorgenommen, diesen Zustand zu ändern, und begriffen, daß Krefeld die | |
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48 Werkstatt der ‘Société van de Velde’ in Ixelles, um 1899, rechts vorn Henry van de Velde
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49/50 Frauenkleider nach Entwurf von Henry van de Velde, um 1898
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51 Julius Meier-Graefe in seinem Pariser Arbeitszimmer (‘La Maison moderne’), 1898/99. Möbel und Tapete von van de Velde entworfen
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52 Eberhard von Bodenhausen
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Konkurrenz Lyons auf dem Weltmarkt überwinden könnte, wenn es andere Dinge als nur französische Imitationen auf den Markt bringen würde. Deneken schlug mir vor, eine Kollektion von neuen Entwürfen für ‘seine’ Krefelder Fabrikanten zu zeichnen. Damit leistete er mir einen Dienst und wirkte zugleich im Interesse eines der wichtigsten Industrieunternehmen, bei dem er zur Mitarbeit berufen war. Diese Entwürfe führte ich natürlich unter Verzicht auf alle naturalistischen Reminiszenzen aus. Ihre Formen und kompositionellen Prinzipien entsprachen dem Entwicklungszustand meiner künstlerischen Vorstellung, die um so bestimmter wurde, je mehr ich Kenntnis von der Natur, der Kraft und der Wirkung der Linie erlangte. Die Sammlung von Entwürfen wurde zusammen mit den Kleidern, die ich für meine Frau gezeichnet hatte, öffentlich gezeigt. Anläßlich dieser Ausstellung, die 1898 dank der Initiative Dr. Denekens als erste Kundgebung zugunsten einer Reform der Frauenkleidung stattfand, hielt ich meinen ersten Vortrag in Deutschland. Er fand vor einem Forum von Industriellen und Kunstgewerblern statt und war auf dem Kontinent die erste grundsätzliche Begegnung zwischen qualifizierten Vertretern der industriellen Kunst und einem Künstler. Ich wagte es, den Vortrag in deutscher Sprache zu halten. Für das Gebiet der Frauenkleidung beanspruchte ich das Recht der konsequenten, vernunftgemäßen Gestaltung. Es fiel mir nicht schwer, die lächerlichen Verirrungen aufzuzeigen, die auf diesem Gebiet alles übertrafen, was die sich selbst überlassene Phantasie und Einbildungskraft auf anderen Gebieten der Gebrauchsdinge hervorgebracht hatte. Ich stellte die Entwicklung der Männerkleidung jener der Frauen gegenüber und betonte, daß sie im Grunde normal und konsequent verläuft trotz der Trägheit des Menschengeistes, der sich nur ungern von einmal entstandenen Gewohnheiten und überflüssig gewordenen Elementen trennt. Der Verzicht auf einige Rudimente in der Männerkleidung würde schon genügen, sie den strengen Prinzipien vernunftgemäßer Gestaltung zu unterstellen. Die Entwicklung der Frauenkleidung war jedoch ausschließlich den Launen der Mode unterworfen, die nie logisch oder sinnvoll gewesen ist. Die Mode ist unbeständig, treulos, kokett und von Natur aus verlogen. Aber sie gibt diese Fehler wenigstens offen zu, die letzten Endes ihren Charme und ihre verführerische Anziehung ausmachen. Eine erfolgreiche | |
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Revolution gegen die Diktatur der Mode müßte von jenen ausgelöst und durchgeführt werden, die bisher durch Talent und Können zu ihrer Herrschaft beigetragen haben. Auf den Gebieten der Architektur und des Kunstgewerbes war es nicht notwendig, Architekt oder Kunsthandwerker zu sein, um sie zu revolutionieren. Die Erneuerung der Architektur und der industriellen Künste wurde, vor allem in Deutschland, von Malern hervorgerufen. Als unbelastete Autodidakten haben sie diese Gebiete der Gestaltung umwälzend neubelebt. Anders auf dem Gebiet der Frauenkleidung. Die Kleider müssen vor allem gut gemacht sein, und der schönste Entwurf bleibt eine klägliche Sache, wenn nicht das Genie des ‘guten Zuschneiders’, der ‘vortrefflichen Näherin’ und die Feenhände der ‘bonne couturière’ am Werk sind. Was übrigens die ‘Schneider’ bei konsequenter Anwendung vernünftiger Prinzipien leisten können, wird angesichts der Sportkleidung oder der Reisemäntel klar, die schon um die Jahrhundertwende unter der Devise ‘tailor made’ entstanden. In diesem Zusammenhang darf ich feststellen, daß viele der von mir dringend geforderten Reformen sich durch veränderte Lebensverhältnisse spontan verwirklicht haben. Das Beispiel der Erzeugnisse englischer und amerikanischer Schneider läßt dies ebenso erkennen wie die Werke der Maschinenkonstrukteure oder der Erbauer von Brücken und Hallen, von denen man nicht behaupten kann, daß sie nach den Grundsätzen einer konventionellen Ästhetik gearbeitet hätten. Ich verzichte in dieser Hinsicht gern auf irgendwelchen Erfolg meines persönlichen Eingreifens, aber ich möchte in Anspruch nehmen, klar gesehen zu haben. |
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