Geschichte meines Lebens
(1962)–Henry Van de Velde– Auteursrechtelijk beschermd
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Fünftes Kapitel
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Die deutsche Delegation hatte die Absicht, von Paris aus die gleichen Länder, Künstler und Kunsthandwerker zu besuchen, die Bing und Meier-Graefe seinerzeit aufgesucht hatten. Bing machte die Delegation darauf aufmerksam, daß für ihre Ausstellung nichts anderes zu finden sei als die in seiner Galerie gezeigten Gegenstände. Beim zweiten Besuch der Dresdner Herren bezeichnete sich Bing als der Besitzer aller Dinge, zu denen die von mir geschaffenen Zimmereinrichtungen gehörten. Er erklärte sich auch bereit, das gesamte Material an die Dresdner Ausstellung unter der Bedingung zu verkaufen, daß alles in besonderen Räumen vereinigt bliebe, die ausschließlich dem Haus Bing, Paris, ‘Art Nouveau’, vorbehalten bleiben sollten. Die Delegation nahm seinen Vorschlag an und reiste nach rascher Erledigung ihrer Mission nach Dresden zurück. Ich empfand für Bing lebhafte Sympathie. Er kam wieder zu mir nach Uccle, diesmal allein, und legte mir seine Absichten dar: die vier kompletten Zimmer, die ich für ihn entworfen hatte, sollten in Dresden wieder aufgestellt werden. Außerdem bat er mich, einen großen ‘Ruheraum’ zu schaffen, um die Wirkung seiner Spezialabteilung durch eine Schöpfung von besonderer Bedeutung und Monumentalität zu verstärken, natürlich auch, um die Besucher dort länger zu fesseln. Bisher waren unsere Beziehungen offen gewesen. Diesmal sah ich Bing zum ersten Male in Verlegenheit. Nach einigem Zögern kam heraus, daß er vorhatte, dem deutschen Publikum meine Schöpfungen unter seinem Namen, das heißt unter dem seiner Firma ‘Bing, Art Nouveau’ vorzuführen. Er wollte meine Zustimmung dafür haben, daß meine Rolle und mein Name dem Publikum ebenso unbekannt blieben wie der Ausstellungsleitung, die Bing absichtlich im unklaren gelassen hatte. Mir selbst waren das Abenteuer der Pariser Ausstellung und die für mich möglichen Folgen völlig gleichgültig geworden. Abgesehen von einigen Stühlen, Beleuchtungskörpern und Tapeten schien mir alles überholt. Ich gewährte Bing, was er als verlegener Bittsteller von mir verlangte. Die Selbstverständlichkeit, mit der ich diese Forderung auf Anonymität annahm, bereitete Bing größte Überraschung. Ich war von der Bedeutung meiner Sache so durchdrungen, daß mir die Nennung meines Namens unwichtig erschien. Was mich allein interessierte, war, festzustellen, ob die Wirkung auf das deutsche Publikum die gleiche sein würde wie auf die | |
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42 Constantin Meunier
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43 Kunstgewerbe-Ausstellung Dresden, 1897, Ruheraum
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Pariser Ausstellungsbesucher und ob die Kritik unsere Bestrebungen einer Erneuerung von Form und Ornament mit der gleichen Härte beurteilte. Ich hatte in der Praxis die Ermahnungen gerechtfertigt, die ich bei meinen Antwerpener Vorlesungen in der ‘Predigt an die Jugend’ an meine Hörer gerichtet hatte. Damals hatte ich ihnen dargelegt, ‘daß die Eitelkeit und die Sucht nach persönlicher Reklame, die brennende Gier, seinen Namen bekannt zu machen’, mit zu den tiefsten Ursachen des Verfalls der Künste zählten. Ohne irgendeinen inneren Widerstand überwinden zu müssen, stimmte ich Bings Wunsch zu. Ich sah bei dieser Gelegenheit, wie leicht es mir in Zukunft fallen würde, einer von mir selbst festgelegten Verhaltensweise nachzuleben, und daß ich von nun an stets von mir selbst erwarten würde, was ich von anderen verlangte. Es ist gut möglich, daß dieses Vertrauen in mich selbst die Ursache des Glaubens ist, den meine Schüler meinen Worten und meinen Geboten geschenkt haben. | |
Mit Constantin Meunier in DresdenAußer der Teilnahme von Bings ‘Art Nouveau’ hatte sich die Dresdner Ausstellungsleitung noch eine andere, außergewöhnliche Attraktion gesichert. Sie hatte dem genialen belgischen Bildhauer Constantin Meunier zwei große Säle für eine Gesamtschau seines Schaffens zur Verfügung gestellt, wie sie noch nie gezeigt worden war. Zum ersten Male sollten die deutschen Kunstfreunde Meunier als Maler, Zeichner und Bildhauer kennenlernen. Und zum ersten Male sollte sein berühmtes ‘Monument der Arbeit’ in einer bisher unbekannten Fassung zu sehen sein. Ich war schon lange Zeit mit Meunier freundschaftlich verbunden. Seit Jahren kämpfte er mit großer Tapferkeit für den Unterhalt seiner Familie, wobei ihm seine kluge, mutige Gattin beistand. Meunier war ein verkannter Maler. Nur die Künstler der kleinen Gruppe ‘L'Art libre’, die einzigen wirklich künstlerischen belgischen Maler und Bildhauer jener Zeit, schätzten ihn. Durch Protektion war er Direktor der provinziellen Akademie von Löwen geworden. Meine Beziehungen zu Meunier stammen aus jener Zeit. | |
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Ich hatte ihn mehrere Male besucht und miterleben dürfen, wie seine erste große Skulptur entstand, nachdem er die Malerei aufgegeben hatte. Meunier besuchte uns ab und zu in der Villa am Dieweg, um die Arbeiten von Maria und mir zu sehen. Dann kam er zu uns nach ‘Bloemenwerf’, um die Bedenken mit uns zu besprechen, die er der außerordentlich schmeichelhaften Einladung der Dresdner Ausstellungsleitung entgegenbrachte. Der Meister fürchtete, nicht mehr genügend physische Kräfte zu besitzen, um die Mühe und das Risiko einer so langen Reise und der Aufstellung seiner Werke auf sich zu nehmen. Madame Meunier war mit ihm gekommen. Die Vorstellung, ihren kränklichen, betagten Mann allein in ein weit entferntes Land reisen zu sehen - und noch dazu nach Sachsen, dessen Bevölkerung, Dialekt und Sitten sie verabscheute -, verursachte ihr schlaflose Nächte. Andrerseits war sie sich über die Chancen einer solchen Ausstellung klar. Sie hatte erfahren, daß Maria, die fließend Deutsch sprach, mich nach Dresden begleiten und mir zur Seite sein würde. Man überlegte hin und her, bis Meunier das Gespräch unterbrach, um zu sagen, was seine Frau auszusprechen zögerte: ob er mit uns fahren könnte und ob wir bereit wären, ihm, der kein Wort Deutsch verstand, wenn nötig behilflich zu sein. Maria ließ mir keine Zeit zu antworten. Mit Begeisterung sagte sie zu und fügte bei, daß sich der verehrte Meister keinen Augenblick allein fühlen werde, es sei denn, er wünsche, für sich zu sein. Vom Augenblick unserer Abreise an würden wir ein unzertrennliches ‘Trio’ bilden. Wir würden gemeinsam die Museen und das Königliche Theater besuchen. Madame Meunier verließ beruhigt unser Haus. Maria und ich waren glücklich, Meunier, der von zarter Natur war, helfen und zum Erfolg beitragen zu können, den wir beim deutschen Publikum und bei den Künstlern erwarteten, die ihn als einen der großen Bildhauer des 19. Jahrhunderts erkannten.
Zusammen mit Maria und Constantin Meunier verließ ich Brüssel doch mit allerhand Sorgen. Es galt, in Dresden eine Schlacht vorzubereiten, bei der alles eingesetzt werden sollte, was ich für Paris geschaffen hatte. Es schien mir beunruhigend, nach der Pariser Niederlage die gleichen Truppen in den Kampf zu schicken. Die Erfahrungen meines ersten Kontaktes mit Deutschland führten mir | |
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eine Situation vor Augen, die in allen Punkten von der Kultur, die mich geformt hatte, verschieden war. Je klarer ich die vielen Horizonte der deutschen Kultur entdeckte und die Gegensätze zur französischen Kultur erkannte, desto mehr schien es mir, daß es für beide Nationen von Vorteil sei, sich auf den Gebieten des Intellektuellen, des Künstlerischen und des Ästhetischen zu nähern und zu ergänzen. Im Wirtschaftlichen hatte Deutschland einen Vorsprung, den Frankreich nur langsam aufholen konnte. Deutschland war das ‘amerikanischste’ Land Europas, das Land, in dem - innerhalb der gegebenen Proportionen - alles möglich war! Unsere Abreise nach Dresden ging glatt vonstatten und bereitete Madame Meunier nicht allzuviel Aufregung. Wir richteten uns in dem für uns reservierten Abteil des Zuges ein. Meunier ließ einen Seufzer der Erleichterung hören; er schien froh, der übergroßen Sorge entronnen zu sein, die ihm entgegengebracht worden war. In vollem Vertrauen legte er sein Schicksal in unsere Hand, ein ausgeglichener, dankbarer Patriarch, der sich nunmehr mit nichts anderem zu beschäftigen brauchte als mit der Einrichtung seiner Ausstellung. Als wir durch den Bahnhof von Löwen fuhren, erinnerte er mich an den Besuch, den ich ihm gemacht hatte. In Löwen, wo er Direktor der Akademie war, hatte er den Meißel wieder zur Hand genommen, den er am Beginn seiner Laufbahn neben dem Pinsel gehandhabt hatte. Aus der Löwener Zeit stammen Meuniers erste plastische Bergmannsgestalten, die Hochofenarbeiter, die Schiffsarbeiter, die Schnitter - die ganze Serie dieser heroischen Typen, die er zum ‘Monument der Arbeit’ vereinigte. Auf der ganzen Reise kreisten seine Gedanken um dieses Werk. Bei Tisch im Speisewagen wurde nur vom ‘Monument der Arbeit’ gesprochen. Wie viele Arten der Aufstellung haben wir ins Auge gefaßt, bis wir uns endlich in den Schlafwagen zurückzogen! Bei der Ankunft in Dresden erwarteten der Präsident und mehrere Mitglieder der Ausstellungsleitung Meunier, der mit großer Ehrerbietung begrüßt wurde. Meine Frau und ich wurden von Meunier als seine Freunde vorgestellt; meine Frau als seine Dolmetscherin und ich als der mit der Einrichtung der Abteilung ‘Art Nouveau’ beauftragte Repräsentant Bings. Wir wurden zum Hotel Bellevue gebracht, wo wir Zimmer bestellt hatten. Das Hotel befand sich im Zentrum der Stadt beim ‘Zwinger’, in der | |
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Nähe der Hofkirche, der Oper, des Museums und des Königlichen Schlosses, von wo aus sich die ‘Große Brücke’ mächtig und majestätisch über die Elbe wölbt. Der Blick von der Terrasse des Hotels war hinreißend. Der Terrassengarten säumte das Ufer des Flusses. Das elegante Hotelpublikum, zahlreiche Engländer, Passanten und Dauergäste, gefiel Constantin Meunier. Die Museen und die Vorstellungen in der Oper waren Sehenswürdigkeiten von außergewöhnlicher Qualität. Meunier war von den großen Eindrücken ganz erfüllt. Schon am ersten Abend wohnten wir in der Oper einer Aufführung des ‘Tristan’ bei, die Meunier, einen großen Bewunderer der Musik Wagners, in überschäumende Begeisterung versetzte. Fast jeden Morgen während unseres dreiwöchigen Aufenthaltes reservierte uns der Portier des Hotels Plätze für die Oper. So hörten wir einzelne Abende von Wagners Tetralogie, Humperdincks ‘Hänsel und Gretel’, ein uns unbekanntes Werk, die ‘Lustigen Weiber von Windsor’ von Nicolai und verschiedene andere Opern. Meunier hatte mehr freie Zeit zur Verfügung als ich. In Begleitung Marias besuchte er die Museen, deren Direktoren es als eine Ehre betrachteten, ihn zu empfangen. Mit Meunier ging ich in die im Aufbau begriffene Ausstellung, wo wir Maria trafen, nachdem sie die Korrespondenz erledigt hatte. Jeden Tag ging ein Brief an Madame Dumesnil, die uns ihrerseits täglich von unserem vor kurzem geborenen Kind Nele berichtete. Vormittags beschäftigte sich Meunier mit der Aufstellung seiner Werke. Von Tag zu Tag stieg unsere Überzeugung, daß ein überwältigender Erfolg bevorstehe. Die Gestalten des ‘Monumentes der Arbeit’ standen vor einer großen Wand, die ‘Mutterschaft’, eines der neuesten Bildwerke Meuniers, nahm die Mitte der ganzen Gruppe ein. Die packende Wirkung schlug den Betrachter in Bann. Je näher die Eröffnung heranrückte, desto größer wurde die Zahl der Kritiker, die Meunier mit Fragen bedrängten. Das eigentliche Opfer war aber nicht Meunier, sondern seine Dolmetscherin Maria, die seine Antworten den unersättlichen und hartnäckigen Journalisten übersetzen mußte. Um die Mittagszeit entführte ihnen Maria den ebenso genialen wie bescheidenen alten Mann und brachte ihn zum Lunch ins Hotel. | |
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Für mich war es weniger leicht, von den anstrengenden Arbeiten loszukommen, die ich seit Tagen zu leisten hatte. Ich ging mit den belgischen Arbeitern, die die schon einmal in Paris montierten und dann demontierten Einrichtungen wieder aufzustellen hatten, in ein benachbartes Restaurant, um einen Happen zu essen. Ins Hotel kehrte ich erst zum Abendessen zurück; anschließend besuchten wir die Vorstellungen in der Oper. Die von Bing verlangte Anonymität konnte natürlich nicht gewahrt bleiben. Da niemand zur Verfügung stand, die von Paris und Brüssel gekommenen einzelnen Teile zusammenzufügen und das Ganze einzurichten, hatte man mich bitten müssen, zur Überwachung dieser Arbeiten nach Dresden zu kommen. Wer mich bei der Arbeit sah, hielt mich für einen Angestellten der Firma ‘Art Nouveau’, um so mehr, als ich mit Maria, die mich begleitete, Französisch sprach. Doch der Schleier lüftete sich bald. Bei der ‘Vernissage’, das heißt am Vorabend der Eröffnung der Ausstellung, interessierten sich die Kunstkritiker, die Journalisten und die übrigen Eingeladenen in besonderem Maß für die Räume und ihre Einrichtung, die sich so radikal von allem unterschied, was man zu sehen gewohnt war. Ich mußte immer wieder an die Eröffnung in Paris zurückdenken. Es waren die gleichen Gegenstände, die in Paris Entrüstung hervorgerufen hatten. Hier in Dresden waren die Gäste entzückt. Sie lobten Bing und seine Schöpfungen. Aber sie sollten bald die Wahrheit erfahren. Meier-Graefe erschien im Saal. Die Reporter und Kritiker stürzten auf ihn zu und fragten ihn nach dem Namen des Schöpfers, der all diese Möbel und Gegenstände für die Firma ‘Art Nouveau’ entworfen habe. Mein Freund ‘Ju’ breitete die Arme aus, um sich Platz zu schaffen, und erklärte, alles, was hier dem Pariser Unternehmen zugeschrieben werde, sei von van de Velde entworfen und in Brüssel ausgeführt; ich sei der wahre Urheber. Die Anwesenden gaben sich Mühe, meinen Namen zu buchstabieren, um ihn sich notieren zu können. Meier-Graefe wußte nichts von dem Verzicht, den ich seinem Freunde Bing zugestanden hatte. Ahnungslos gab er mein Wort preis, das ich Bing gegeben hatte. Bei der Eröffnung der Ausstellung am darauffolgenden Tag klärten die Mitglieder der Leitung die Vertreter der Behörden auf. Viele der Gäste hatten meinen Namen schon in den Morgenzeitungen gelesen. Die Presse | |
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überhäufte mich mit Lob und sprach von mir als einem Erneuerer, der mit der Nachahmung der Stile Schluß gemacht hätte. Während der gleiche Versuch in Frankreich an der kategorischen Ablehnung der Öffentlichkeit gescheitert war, schloß sich die öffentliche Meinung in Deutschland der Zustimmung der Presse an. Am Tag nach der Eröffnung der Ausstellung war ich in Deutschland plötzlich berühmt geworden. Man sah in mir das Haupt der neuen Bewegung: ich fand Beifall; ich wurde aber auch bekämpft und als ein Fanatiker verdächtigt, der imstande wäre, die radikalsten Umwälzungen hervorzurufen. | |
Mit Meunier in BerlinConstantin Meunier und wir hatten uns entschlossen, uns auf der Rückreise einige Tage in Berlin aufzuhalten. Als wird dort eintrafen, war mir der Ruf meiner plötzlichen Berühmtheit vorausgeeilt. Meunier fand in Berlin ebenso enthusiastische Aufnahme wie in Dresden. Ich suchte den ersten deutschen neo-impressionistischen Maler Curt Herrmann auf, der vor kurzem ein besonders anmutiges Wesen geheiratet hatte, voll jenen Charmes, der blonden Jüdinnen mit poetischen Augen von bleichem Azur zu eigen ist. Die Herrmanns hatten einige der bekanntesten Mitglieder der Berliner Sezession zu Tisch geladen, die Maler Lovis Corinth, Max Slevogt, Leo von König, den Bildhauer Georg Kolbe, den damals angesehensten Kunstkritiker Hans Rosenhagen, den Kunsthändler Paul Cassirer und andere Künstler, die sie mit Constantin Meunier und mir bekannt machen wollten. Meunier wurde mit größter Aufmerksamkeit empfangen und mit allen Beweisen der Verehrung überhäuft. Maria und mich - den plötzlich entdeckten neuen Stern am Firmament der Berühmtheiten - nahm man in diesem Kreis mit zuvorkommendem, wohl etwas neugierigem Interesse auf. Es war ein wundervoller Abend. Das Menü hätte den gewiegtesten Feinschmecker befriedigt, und die Mosel-, Rhein- und Pfälzer Weine, die in dieser Reihenfolge aufgetischt wurden, ließen rasch den etwas rauhen Champagner vergessen, der zu Beginn des Diners zu dem deliziösen Horsd'oeuvre serviert worden war. | |
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Max Liebermann, der diesem Abend nicht beiwohnen konnte, lud uns für einen der nächsten Tage zum Diner. Am gleichen Morgen empfing er uns im Atelier seines Hauses am ‘Pariser Platz’, wo die berühmte Straße ‘Unter den Linden’ am Brandenburger Tor endet. Sein Haus war den Häusern des Bankiers von Mendelssohn, des Grafen Harrach und Frau Cornelia Richters, der Tochter Meyerbeers, benachbart. Liebermann führte dort das Leben eines Grandseigneurs und berühmten Künstlers, beides mit vollendeter Natürlichkeit und Würde. Eine gewisse Vornehmheit legte er nur in jenen Augenblicken ab, in denen er, unter Freunden, die unwiderstehliche Lust verspürte, köstliche oder burschikose Wendungen des Berliner Jargons zu gebrauchen. Das Diner hatte offiziellen Charakter. Zur Feier der Anwesenheit Constantin Meuniers in Berlin waren die höchsten Beamten des Kultusministeriums eingeladen, dem die Kunstinstitute unterstanden: die Museumsdirektoren Wilhelm von Bode, Hugo von Tschudi und Max Lippmann, der Direktor des Kupferstichkabinetts, sowie viele andere bedeutende Vertreter des Berliner künstlerischen Lebens. Wir waren etwa vierzig Personen bei Tisch. An den Wänden befanden sich Bilder von Manet, dem Liebermann ganz besondere Verehrung entgegenbrachte, und von Vincent van Gogh. Für alle Anwesenden bedeutete der Abend die feierliche Ehrung Meuniers, dem zu jener Zeit nur Rodin als Bildhauer verglichen werden konnte. In diesem Sinne hatte Liebermann in seinem Toast bei Tisch gesprochen. Wilhelm von Bode bestätigte Liebermanns Worte und drückte die Verehrung aus, welche die Künstler und Kunstfreunde ganz Deutschlands dem Meister und seiner Kunst entgegenbrächten. Der Augenblick war gekommen, da Constantin Meunier einige Worte des Dankes sagen mußte. Im Laufe des Tages hatte er sich bei Maria erkundigt, wie er sich zu verhalten habe, und ihr gesagt, was er sich als Antwort vorstellte: er wollte von dem enthusiastischen Empfang sprechen, den eine große Nation einem Künstler eines kleinen Landes bereitete, von dem übertriebenen Lob von seiten eines Volkes, das zu seinen Meistern einen Menzel zählte und einen Künstler wie unseren so großzügigen Gastgeber. Das Diner ging seinem Ende entgegen. Meunier hatte sich bei mir erkundigt, was er seiner Nachbarin, Frau Liebermann, in dem Augenblick | |
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sagen sollte, wenn sie, die Tafel aufhebend, aufstände und er ihr die Hand küßte. Bei den Herrmanns hatte er diese Sitte beobachtet und gehört, daß die Herren dabei ein paar Worte murmelten: ‘Mahlzeit’ oder ‘Gesegnete Mahlzeit’; ich hatte ihm dies erklärt und gesagt, daß das Wort ‘Mahlzeit’, ein alter Brauch, genüge. Auf dem Weg zwischen dem Hotel Bristol und dem Pariser Platz hatte Meunier das feierliche Wort mehrmals wiederholt. Aber jetzt, im entscheidenden Augenblick, zögerte Constantin Meunier und warf mir verzweifelte Blicke zu. Er suchte sich zu erinnern, ich gab ihm Zeichen, daß es an der Zeit sei. Plötzlich faßte sich der wunderbare, bescheidene alte Herr ein Herz und brachte, deutlich genug, um die in seiner nächsten Nähe befindlichen Anwesenden zum Lachen zu bringen, die Worte hervor: ‘Hans Sachs’. Meunier war während dieses Tages noch ganz von der Persönlichkeit des Sängers fasziniert, der am Abend vorher die Rolle des Hans Sachs in Wagners ‘Meistersingern’ verkörpert hatte. Der große Eindruck hatte das Wort ‘Mahlzeit’ verdrängt, das er aussprechen wollte!
Nach unserer Rückkehr aus Deutschland wurde Constantin Meunier einer unserer liebsten Gäste in ‘Bloemenwerf’. Die enthusiastische Verehrung hatte ihn verjüngt. Sie brachte ihm auch materielle Vorteile; zahlreiche Museen kauften Werke von ihm an, und in Frankfurt wurde auf der Mainbrücke sein ‘Hafenarbeiter’ aufgestellt. Er war von der Last der materiellen Sorgen befreit. Sein Gang wurde weniger schwer, und seine Augen, die etwas von einem braven, treuen Hund hatten, wurden weniger düster. Als unsere Tochter Nele zu laufen begann, ging Meunier mit ihr im Garten spazieren. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn unweigerlich zur Hütte unseres Schäferhundes Dingo, der neben Meunier der beste Freund des kleinen Kindes war. Immer wieder sprach Constantin Meunier von der Episode meiner plötzlichen Berühmtheit, die ich mir in jenem Frühling 1897 in Dresden und in Deutschland erworben hatte. Er prophezeite, daß ich eines Tages berufen sein würde, in Deutschland, der fortschrittlichsten und am meisten ‘amerikanischen’ Nation Europas, eine Rolle von großer Bedeutung zu spielen. Fünf Jahre vergingen, bis sich die Prophezeiung unseres großen Freundes verwirklichte. Unterdessen setzte eine wahre Wallfahrt nach unserem Haus | |
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‘Bloemenwerf’ ein, das die Besucher sehen und wo sie mit mir über die Verwirklichung einer neuen künstlerischen Ära sprechen wollten. Sie zögerten nicht, mir Aufträge zu erteilen, die alles bisher von mir Geschaffene an Umfang und Bedeutung überstiegen. |
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