Geschichte meines Lebens
(1962)–Henry Van de Velde– Auteursrechtelijk beschermd
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Viertes Kapitel
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28 Paul Signac (?): Henry van de Velde, Zeichnung
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und Pierre Olin in dem kleinen Gasthof auf den Dünen bei Cadzand angekommen war. Sie erwarteten mich zu einem Ausflug nach der hübschen kleinen Stadt Sluis. Kaum war der Bote, den meine Freunde zu mir geschickt hatten, von seinem Fahrrad abgestiegen, saß er wieder auf, um meine Zusage zu überbringen: ich käme zu Fuß nach Cadzand. Die Ebbe gab mir die Möglichkeit, auf festem Sand am Meer entlangzugehen und so die holländische Grenze und den Gasthof trockenen Fußes und ohne allzu große Anstrengung zu erreichen. | |
Freundschaft und Ehe mit Maria SètheBei meiner Ankunft in Cadzand am nächsten Morgen winkten mir meine Freunde schon von weitem zu. Sie empfingen mich mit überströmender Freude wie Schüler in den Ferien. Ihre Sorglosigkeit irritierte mich, ihre Überschwenglichkeit stand im Gegensatz zu meiner Bedrücktheit. Vor dem Gasthof hatte Théo eine Landkarte ausgebreitet, auf der er mir die geplante Fahrtroute zeigte. Er war ein Liebhaber von geographischen Karten und behauptete, von Reiseorganisation mehr zu verstehen als jeder Angestellte eines offiziellen Reisebüros. Man saß noch beim Frühstück, das seit je in Holland eine gewichtige Mahlzeit ist, mit Kaffee, ‘Broodjes’, Butter und Zwieback, Eiern und geräuchertem Fleisch, Pfefferkuchen, Käse und Konfitüre. Zweimal mußte der Wirt uns sagen, daß der Wagen unten an der Düne warte, bis meine Freunde sich entschlossen, aufzustehen. Die primitiven holländischen Wagen sind schmal, aber lang genug, damit der Bauer seine Frau und die zahlreiche Familie unterbringen kann. Die schweren Rosse gingen in Galopp über, sowie wir den Deich erreicht hatten, der mitten durch die fruchtbaren Polder von Hazegras zieht. Théo van Rysselberghe ließ Freudenrufe erschallen, und Emile Verhaeren gestikulierte um so heftiger, je unendlicher die Ebene und je weiter die Sicht wurde. Wir genossen die strahlende Pracht dieses Frühlingsmorgens. In St. Anna-ter-Muiden machten wir zum Apéritif halt. Von da ging es über | |
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eine von hohem Ahorn gesäumte Chaussee nach dem malerischen holländischen Städtchen Sluis. Dort endet der Kanal von Brügge, der an der ‘Amme’ vorbeiführt, wo der Legende nach Thyl Uilenspiegels Wiege gestanden haben soll. Wir trennten uns und stöberten in den zahlreichen kleinen Läden des Ortes. Um die festgesetzte Zeit trafen wir uns wieder in einer der merkwürdigen ‘Vergunningen’ am kleinen Hafen. In wildem Durcheinander warfen wir unsere Einkäufe auf einen Tisch. Wir waren uns nicht einig, wer bei der Jagd nach seltenen und merkwürdigen Dingen die glücklichste Hand gehabt hatte. Erst als Maria van Rysselberghe, die ‘Matata’ genannt wurde, und ihre Freundin Maria Sèthe einen dicken orangenen Flanellstoff, dessen Leuchtkraft die Kunden des Farbhändlers Block in Vieux-Dieu bei Antwerpen vor Neid hätte erblassen lassen, auf den Tisch legten, waren sich alle einig, daß die beiden ins Schwarze getroffen hatten. Aus diesem Stoff ließ sich Théo eine Atelierjacke machen, die erste in Orange, die je ein Künstler getragen hat. Die Jacke machte Furore; bald hatten die Maler aus dem Kreis der ‘Vingt’ und ihre französischen Maler- und Dichterfreunde keine Ruhe mehr, bis sie sich diesen orangenen Stoff verschafft hatten. Nach dem zweiten Frühstück, der traditionellen ‘Koffytafel’, verließen wir Sluis. Wir folgten einem anderen Weg zurück, und die starken Rosse mußten den Wagen über einen Sandweg ziehen. Ich stieg als erster ab, um es den Tieren leichter zu machen; Maria Sèthe folgte mir. Seit ich sie bei Rysselberghes - sie war Schülerin Théos - kennengelernt hatte, hatte ich mit ihr nur wenige und nur unwesentliche Worte gewechselt. Diesmal sollte das Gespräch inhaltsreich werden. Das blasse Licht, der Sand, die getrockneten Muscheln - alles ringsum war von einem wundervollen Blond, dem gleichen Blond wie die Haare des jungen Mädchens. Ein Charme besonderer Art ging von ihr aus. Sie war schön, ihre Haut war ambrafarben, ihr blondes Haar wie reifes Korn. Ihr Gang, ihre Haltung hatten etwas Freies, Fremdartiges. Und tatsächlich: sie war Ausländerin. Ihre Vorfahren waren Schotten, der Großvater, Astronom am Hof eines Prinzen von Hessen, war Deutscher geworden und wurde später Holländer. Ihre Mutter war eine Deutsche aus dem Rheinland, sie selbst in Paris geboren, wo ihre Eltern bis zum Jahre 1870 gelebt hatten. | |
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Nachdem wir ungefähr eine Stunde gegangen waren, setzte sich Maria Sèthe nieder; vor uns lag das weite Meer. Sie stellte zunächst einige Fragen über die Gründe, die mich von der Malerei weggeführt hatten. Über meinen Entschluß war offenbar am Abend vorher im Kreis meiner Freunde gesprochen worden, wobei man mir Mangel an Selbstvertrauen vorgeworfen hatte. Die Direktheit ihrer Fragen erschütterte mich, und das ganze Verteidigungssystem, das ich um mich errichtet hatte, brach wie ein Kartenhaus zusammen. Alles, was ich aus Stolz meinem intimsten und treuesten Freund, Max Elskamp, was ich Théo, seiner Frau, was ich Emile Verhaeren verborgen hatte, vertraute ich rückhaltlos diesem Mädchen im ersten Gespräch an. Ich ließ vor Maria Sèthe die großen Gestalten von Ruskin und William Morris erstehen und sprach zu ihr von dem tiefen Eindruck, den ihre Schriften wie auch die Werke der Anarchisten Bakunin, Kropotkin und Elisée Reclus auf mich gemacht hatten. Ich gestand, daß ich entschlossen war, Ruskin und Morris auf ihrem Weg zu folgen bis zur Verwirklichung ihrer Prophezeiung: der Wiederkehr der Schönheit auf Erden und des Anbruchs einer Ära sozialer Gerechtigkeit und menschlicher Würde. Ich war bereit, zu kämpfen und allen Verzicht, jedes Opfer und auch die Armut zu ertragen, wenn der Kampf es verlangte. Ich hatte mit fiebriger Hast gesprochen, wie wenn ich von einer höheren Macht überrascht und vorwärtsgetrieben worden wäre. Als ich innehielt, fühlte ich mich plötzlich erleichtert, ja glücklich. Ich verstummte und erwartete eine Antwort. Maria Sèthe blieb still, den Kopf in ihre Hände gestützt. In diesem Augenblick brachten uns die Hallo-Rufe unserer Freunde in die Wirklichkeit zurück. Maria Sèthe beruhigte meine Erregung. Ich entschuldigte mich und bat sie um Diskretion. Sie wünschte, das Gespräch, das wir begonnen hatten, bei nächster Gelegenheit weiterzuführen, und schlug vor, sie zu besuchen, wenn ich nach Antwerpen zurückgekehrt sei. Es läge ihr daran, sagte sie, mich mit ihrer Mutter bekannt zu machen.
Im Jahre 1889 war ich Mitarbeiter der Brüsseler Zeitschrift ‘L'Art Moderne’ geworden. In einer Reihe von Artikeln hatte ich den offiziellen Kunstunterricht in Belgien scharf kritisiert. Kein Wunder, daß die Behör- | |
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den, denen ich einen Plan zur Einführung eines Kurses über ‘Die Geschichte des Kunstgewerbes und der Kunstindustrie’ an der Antwerpener Akademie zu unterbreiten beabsichtigte, schlecht gegen mich gestimmt waren. Der Kurs sollte eine Lücke ausfüllen und zugleich meine Ideen unterstützen. Ich suchte eine Hörerschaft, vor der ich Kunstgewerbe und Kunstindustrie gegen die ungerechtfertigte Mißachtung verteidigen konnte, denen sie im allgemeinen ausgesetzt waren. Nachdem ich monatelang auf die Antwort des Direktors der Antwerpener Akademie gewartet hatte, wandte ich mich unmittelbar an die Verwaltungskommission der Akademie. Ich konnte dort auf einige Unterstützung durch politische Freunde meines Vaters rechnen. Und ich gewann die erste Runde der Partie, die zwischen dem Direktor und mir ausgetragen werden sollte. Der Direktor wurde vor die Kommission zitiert und mußte erklären, weshalb er meine Angelegenheit so lange hinzog. Von da an konnte ich dem Augenblick entgegensehen, an dem ich meinen Kreuzzug beginnen würde. Auf einem Spaziergang mit Camille Lemonnier, den alle fortschrittlichen belgischen Künstler als den Führer der Rebellion gegen die offizielle Kunst betrachteten, erzählte ich von meinen Plänen. Lemonnier, der ‘Marschall der Literatur’, wie ihn die belgischen Schriftsteller nannten, blieb bei der großen Rotonde der Avenue Louise, wo sich heute sein Denkmal befindet, stehen, faßte mich lebhaft unter den Arm und rief aus: ‘Man muß sie bekehren!’ ‘Wen?’ - ‘Die jungen Menschen!’ Mit einer leidenschaftlichen Geste schien er mich aufzufordern, den Weg des Apostolates zu beschreiten. Am gleichen Tag ließ mich Maria Sèthe wissen, daß sie nächstens nach London fahren und einige Monate dort verbringen werde. Sie erbot sich, mir möglichst vollständige Unterlagen über die Wiederbelebung des Kunsthandwerks und über die Ergebnisse der Aktivität Ruskins und Morris' zu sammeln. Mich interessierten vor allem Muster von Stoffen und Tapeten, Kataloge und Reproduktionen von aller Art Gegenständen aus dem Haus ‘Liberty’, der ‘Boutique’ von William Morris, und den verschiedenen Ausstellungen der ‘Arts and Crafts Guilds’, die ich bei meinem bevorstehenden Kurs in Antwerpen verwenden wollte. | |
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Wegen einer Verschlimmerung des Zustandes ihres kranken Vaters wurde Maria Sèthe bald von London zurückgerufen. Nach ihrer Rückkehr hatte sie den Wunsch, die begonnenen Studien weiterzuführen. Zu diesem Zweck wurde in der großen Villa Sèthe ein Zimmer zur Verfügung gestellt. So kam es, daß ich sehr bald wöchentlich zwei bis drei Nachmittage in Uccle verbrachte. Den Kranken sah ich nie; er hätte sich über die Anwesenheit eines Künstlers in seinem Hause und obendrein in der Nähe seiner Tochter zu sehr erregt. Vater Sèthe, ein Industrieller und weitblickender Mann, mochte Künstler nicht. Seine Frau dagegen war eine leidenschaftliche Musikerin, die gern in ihrem Haus junge Virtuosen und Künstler aus dem Kreis der ‘Vingt’ um sich versammelte. Eine der Töchter hatte, mehr oder weniger gegen den Willen des Vaters, den Bildhauer Paul Dubois geheiratet, einen etwas rauhen, aber freundlichen und der Kunst mit ganzem Herzen ergebenen Menschen. Nach einigen Wochen starb Marias Vater. Meine Besuche wurden häufiger, nachdem mich der Direktor der Antwerpener Akademie informiert hatte, daß ich meinen Kurs Anfang Oktober beginnen könne. Ich mußte mich in einer Rekordzeit vorbereiten. Das von Maria und mir zusammengetragene Material mußte vervollständigt, und viele in Bibliotheken befindliche Bücher mußten eingesehen werden. In der Brüsseler Nationalbibliothek befanden sich mehr Kunstzeitschriften als in Antwerpen. Also fuhr ich jede Woche zweimal nach Brüssel und ging zur Teezeit an den Dieweg in Uccle. Zwischen diesen Besuchen empfanden wir das Bedürfnis, uns zu schreiben. Ich hatte genügend Selbstbeherrschung, die Flamme zu zügeln, die hinter meinen Skrupeln und meinem Zögern glühte. Die Tatsache, erst in ferner Zukunft eine bescheidene Existenzgrundlage schaffen zu können, verpflichtete mich zu Zurückhaltung. Maria war freier. Ich hatte ihr eines der aufregendsten Dramen Ibsens gegeben: ‘Brand’, dessen Held, ein Pastor, zwischen seiner Pflicht und seiner Liebe schwankt und sich zerschmettert fühlt. Als Maria mir das Buch zurückgab, fand ich einen Zettel, auf den sie geschrieben hatte: ‘Ich bin die Frau, die um jeden Preis Ihr Glück will, die entschlossen ist, zusammen mit Ihnen zu kämpfen, und sei der Kampf auch ohne Hoffnung.’ | |
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Die Neigung, die ich für das Mädchen empfand, dem ich als erstes das Geheimnis und die Mission meines zukünftigen Lebens anvertraute, war zu einer echten Zuneigung geworden. Ich empfand den glühenden Wunsch, sie als Helferin neben mir zu haben, mit ihr das bescheidene Heim zu gründen, das sich von allen anderen durch seine einfache Einrichtung und seine moralische Atmosphäre unterscheiden sollte, in deren Sauberkeit und Schönheit wir leben könnten; wir - meine Frau, meine Kinder und ich! Doch statt glücklich zu sein, sah ich wieder die großen Hindernisse und fühlte mich verpflichtet, Marias Mutter die Gründe meines Verhaltens und die Unsicherheit meiner Situation darzulegen. Maria war mir aber zuvorgekommen. Sie hatte ihrer Mutter ihre Gefühle anvertraut und auch die Skrupel, die mich bedrängten. Ich konnte Marias Mutter meine Bedenken rasch erklären: meine materielle Abhängigkeit von meinem Vater, die Pflicht - ich hatte es meiner Mutter versprochen - bei ihm zu wohnen, nachdem meine ältere Schwester, die bisher mit ihm lebte, sich unerwarteterweise verheiratet hatte. Ich bat sie inständig, keine anderen Gründe zu suchen, wenn meine Besuche von nun an seltener würden. Meine Gefühle seien unverändert; sie würden mir helfen, alle Schwierigkeiten zu überwinden. Die impulsive Natur von Marias Mutter, die immer auf schnelle Verwirklichung ihrer als richtig erkannten Wünsche und Pläne hinzielte, schob alle meine Einwände beiseite, und ich kehrte ‘verlobt’ nach Antwerpen zurück. | |
Vorlesungen in Antwerpen und BrüsselDank der Intervention des Vorsitzenden der Sektion Kunst der Antwerpener Stadtverwaltung, de Winter, der dem Vorstand der Akademie angehörte, konnte ich im Oktober 1893 mit meinem Kurs beginnen. De Winter hatte darauf bestanden, daß mir die größtmögliche Unterstützung zur Darstellung meiner Theorien und Methoden gewährt werden sollte. Die einzige Bedingung für die Teilnahme am Kurs bestand darin, daß die Hörer ordnungsgemäße Schüler der Akademie sein mußten. Zwei Stunden pro Woche | |
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verbrachte ich mit den etwa zwanzig Schülern, die sich eingeschrieben hatten und mit steigendem Interesse meinen Vorträgen folgten. Diese begannen mit der ‘Predigt an die Jugend’, die später in dem Band ‘Kunstgewerbliche Laienpredigten’ in deutscher Übersetzung erschienen ist. Die ‘Bekehrung’, wie ich sie verstand, entsprach vielleicht weniger der Vorstellung des feurigen Romanciers und scharfen Kunstkritikers Camille Lemonnier, und die geduldige Zurückhaltung, mit der ich meine Mission einleitete, gefiel meiner zukünftigen Schwiegermutter nicht sehr. Meine Mission hatte nichts Spektakuläres. In nichts glich meine Rolle derjenigen Ruskins, von dessen glänzenden prophetischen Gaben ich ebensowenig besaß wie von denen eines militanten Anarchisten. Meine Aufgabe bestand vielmehr darin, Quellen aufzudecken und den Verlauf der Entwicklung aufzuzeigen. Gleichsam als älterer Bruder wandte ich mich an meine Hörer. Erst vor wenigen Jahren hatte ich die Akademie verlassen. Alle wußten, daß ich mir seit jener Zeit ein gewisses Ansehen erworben und daß ich auf eine aussichtsreiche Karriere als Maler verzichtet hatte, um mich in den Dienst der Wiedereroberung der Einheit der Künste und der Gleichheit des Ansehens von Maler, Bildhauer und Kunsthandwerker zu stellen - der Kunsthandwerker, die als Mitarbeiter der Architekten, jeder nach seinem Grad, zur Größe und Schönheit der öffentlichen Bauten, der Paläste der Fürsten, der Wohnungen des Bürgers oder des Bauern beitrugen. Ich sprach vor meinen Hörern als bescheidener Jünger der genialen englischen Pioniere. Meine Kenntnisse waren jungen Datums, so daß ich nur als Pfadfinder vorgehen konnte, der mit seinen Kameraden Gegenden erforscht, in denen einst blühendes Leben herrschte, die aber heute verlassen und von Unkraut überwuchert waren. Mehrere Vorlesungen widmete ich der Lesung und der Erklärung der inhaltsreichen und prophetischen Werke Ruskins, dem gegenüber ich schon damals einige Zweifel hegte, und der Vorträge und Schriften William Morris', die mir konzentrierter und methodischer zu sein schienen. Andere Stunden galten den Schöpfungen Morris' auf den Gebieten der Tapisserien, der Glasfenster, der Tapeten und Möbelstoffe; vor allem aber der Bücher, deren Lettern und Vignetten Morris selbst gezeichnet hatte, alles Werke, die an Schönheit und Ausführung es mit den Erzeugnissen aus der Blütezeit des Mittelalters aufnehmen können. Auch | |
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die Arbeiten der Mitglieder der ‘Arts and Crafts’-Gilden, unter denen der Architekt Voysey und der Buchbinder Cobden-Sanderson die angesehensten waren, wurden behandelt. Cobden-Sanderson war mir insofern vorausgegangen, als er seine hochgeachtete Stellung als Advokat aufgab, sich der Bewegung zur Wiedererweckung der Schönheit anschloß und zu einem Meister der künstlerischen Buchbinderei wurde. An Hand von Reproduktionen und originalen Mustern, die ich besaß, gab ich einen Überblick über die verschiedenen Zweige des Kunsthandwerks und über die Entwicklung der verschiedenen Techniken, die in jüngster Zeit von der manuellen zur mechanischen Arbeit übergegangen waren. Eine Revolution hatte sich vollzogen, die auch der heftigste Widerstand Ruskins nicht hatte aufhalten können, der durch seine paradoxe, exzentrische Haltung die Kraft seines Protestes nur verringerte. Es war falsch, der Maschine die Schuld an der Häßlichkeit zuzuschieben. Richtig war es, die niedrige Geldgier der Industriellen anzuprangern, die - dank der Maschine - in den Stand gesetzt wurden, die früher mit der Hand hergestellten Scheußlichkeiten zu vervielfachen und die Weltmärkte mit ihnen zu überschwemmen. Ich selbst wie auch die Künstler der Gruppe ‘Arts and Crafts’ wollten nicht die Maschine und die maschinelle Herstellung diskreditieren. Im Gegenteil: wir waren der Meinung, daß die Schöpfung von Modellen und die Wahl der Materialien beim industriellen Herstellungsprozeß Künstlern anvertraut werden müßten. Wir sahen darin weder Abstieg noch Erniedrigung. Die Repräsentanten der Kunstindustrie ihrerseits mußten sich bewußt sein, daß in Zukunft ihr Ansehen unmittelbar von dem ästhetischen und moralischen Wert der in ihren Fabriken erzeugten Produkte abhing. Am Ende des Semesters vermied ich es, meine Besorgnis über den eines Tages bevorstehenden Zusammenbruch des romantischen Kreuzzuges Ruskins zu äußern; auch wollte ich nicht über den drohenden Einsturz des Gebäudes von Morris sprechen, der geglaubt hatte, auf der Basis einer sozialen Ordnung und des neo-gotischen Dekors eine künstlerische Welt zu errichten, der die Frische der echten Jugend fehlte. Ich wünschte, daß meine Hörer wie ich selbst einem der nobelsten und genialsten Künstler des 19. Jahrhunderts ihre Achtung und Verehrung bewahrten. Meinen Hörern verschwieg ich, daß ich die Vorlesungen, die sie wie mich | |
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befriedigt hatten, im kommenden Winter nicht wiederaufnehmen würde. Ich war zu der Überzeugung gelangt, daß zur Erzielung fruchtbarer Ergebnisse eine Abteilung errichtet werden müßte, in der ich meine Schüler durch praktische zeichnerische Arbeit zur Schaffung von neuen Formen auf Grund neuer Motive anleiten könnte.
1893 war das Jahr der Auflösung der ‘Vingt’ gewesen. Der Schatzmeister der Vereinigung hatte die Bilanz der zehn Jahre vorgelegt: 50000 Goldfranken Überschuß. Auf dieser Basis konnte Octave Maus, der Sekretär der ‘Vingt’, einen neuen Anfang wagen. Im folgenden Jahr wurde der alljährlich stattfindende Salon unter dem neuen Namen ‘La Libre Esthétique’ eröffnet. Die Weiterführung der Bestrebungen der ‘Vingt’ war gesichert. Die ‘Vingt’ waren ein Kreis von Künstlern, die ‘Libre Esthétique’ sollte eine Vereinigung sein, deren Mitglieder die neuen Kunstströmungen, die belgischen und die ausländischen, und ihre verschiedenen Tendenzen unterstützten. Sie sollte nur einen einzigen Verwaltungsdelegierten haben. Octave Maus wählte sich selbst und übernahm das Amt. Das ganze Gewicht des Unternehmens ruhte auf ihm allein: die jährlichen Ausstellungen, die Konzerte, die Vorträge. Und als der Krieg von 1914 seiner Arbeit das Ende setzte, hatten die Erfahrungen ihn zur Überzeugung gebracht: ‘Autokratie’ für den Organisator, ‘Anarchie’ oder genauer gesagt: absolute Freiheit für den eingeladenen Künstler, einzusenden, was er für gut hält, und für den Vortragenden Freiheit, zu sagen, was ihm richtig scheint. Selbstverständlich, daß der Autokrat kompetent sein mußte. Und Octave Maus war es. Nachdem ich für den ersten Salon der ‘Libre Esthétique’ kein Werk einschicken konnte, bestand Octave Maus darauf, mich wenigstens mit einem Vortrag ankündigen zu können. Als Titel und Stoff schlug er vor: ‘L'Art futur’ (Die zukünftige Kunst). Der Titel ‘Déblaiement d'Art’ (Säuberung der Kunst), unter dem der Vortrag 1894 veröffentlicht wurde, umschreibt seinen Inhalt deutlicher. Ich betrachte ihn als den ersten Schritt auf dem Weg des Apostolates für einen ‘Neuen Stil’. Für den Augenblick handelte es sich nur um eine Loslösung und Richtungsänderung. Das eine der zwei Axiome, auf die ich mich stützte, war die Sinnlosigkeit einer Rückkehr zur Gotik, das andere die Pietätlosigkeit der Künstler | |
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des 16. Jahrhunderts, die sich darauf versteiften, im Gegensatz zu der in Verruf geratenen Gotik Elemente der römischen Architektur zu verwenden, einen Stil, den sie ‘Renaissance’ nannten. Eine Renaissance, die bei genauem Hinsehen nichts anderes war als die Wiederaufnahme des von der römischen Architektur praktizierten Mißbrauchs, die organischen Elemente der griechischen Architektur in dekorative Motive umzudeuten. Die Renaissance machte aus diesem Mißbrauch ein System; dem Barock war es vorbehalten, die ausgefallensten und abgeschmacktesten Kombinationen dieser widernatürlichen Umdeutung hervorzubringen.
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Ich schrieb ‘Déblaiement’, dessen Stil ich wie auch den der 1895 erschienenen ‘Aperçus en vue d'une Synthèse d'Art’ (Allgemeine Bemerkungen zu einer Synthese der Kunst) später künstlich, manieriert und müde fand, unter dem verwirrenden Eindruck des Gedichtes ‘En vain’ (Umsonst) aus dem Band ‘Poema Paradisiaco’ von Gabriele d'Annunzio, dessen Stern am Firmament der Dichtung gerade aufgegangen war. In zwölf aufpeitschenden Zeilen stellt der ebenso brillante wie unheimliche Dichter den völligen Zusammenbruch aller jener Bestrebungen dar, an denen ich bald zehn Jahre teilgenommen hatte, der Bestrebungen, die im Laufe einer mächtigen Entwicklung auf allen Gebieten der Kunst Werke allererster Ordnung hervorgebracht hatten. Noch selten waren so viele neue Namen von Musikern, Dichtern, Bildhauern und Malern derart plötzlich in Erscheinung getreten wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Augenblick war gekommen, ‘aufzuräumen’, breitere Bahnen zu öffnen und neue Horizonte zu erschließen. Die Stunde schien mir günstig, der negativen Bilanz d'Annunzios die Leistungen aller jener Künstler entgegenzusetzen, die in den verschiedensten Ländern für etwas kämpften, dessen Wesen weder durch Erfahrung noch durch praktische Ergebnisse näher zu definieren war. Mich leitete bei den Studien für meine Kurse in Antwerpen und später ein Gedanke: die gebieterische Pflicht, auszusprechen, was ich entdeckt hatte: die Existenz eines Virus, der seit der Renaissance alle Schöpfungen der Architektur verheerte. Die Unterstützung und das Interesse, die Marias Mutter unseren Ideen und meinen Arbeiten entgegenbrachte, und die Bereitwilligkeit, mit der mich mein Vater von jeder Verpflichtung ihm gegenüber entband, hatten
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die Wolken vertrieben, die wir an unserem neuen Horizont aufziehen sahen. Es war eine reine, strahlende Zeit. Nichts mehr hinderte die Bekanntgabe unserer Verlobung. Wer mich die ‘Montagne de la Cour’ in Brüssel am Arm von Maria Sèthe heraufkommen sah, hätte sich kaum vorstellen können, daß ich drei Jahre vorher, gebeugt von seelischer Last, durch den Park von ‘Vogelenzang’ und über die Wege ging, die nach den Dünen von Calmpthout führen. Für die Mutter meiner Braut konnte ein Wunsch nie schnell genug in Erfüllung gehen. Sie wollte, daß wir heirateten und bei ihr in ihrem Haus wohnten. Die Hochzeit fand im Mai 1894 in Uccle statt. | |
Besuch bei Madame Théo van GoghFür unsre Hochzeitsreise hatten wir uns etwas Besonderes vorgenommen. Wir wollten von Dordrecht aus, wohin wir mit der Bahn fuhren, nur noch Schiffe auf den Kanälen benutzen. Diese Art, mit ‘beurt’ oder ‘trekschuit’ zu reisen, verlangte zwar mehr Zeit und erleichterte die Fahrt keineswegs; aber das war uns gleichgültig. Wenn wir irgendwo ausstiegen, mußten wir schauen, wie wir weiterkommen konnten. Aber waren wir nicht auf Überraschungen ausgegangen? Keine Unannehmlichkeit, keine Unbequemlichkeit konnte unser Entzücken schmälern, das sich uns darbot: das Schauspiel fruchtbarer Ebenen, die Unendlichkeit der Felder, auf denen das Vieh weidete; die blühenden Obstbäume längs der Kanäle und Flüsse, der Himmel Hollands, über dessen Horizont sich im Frühling weiße, goldgeränderte Wolken türmen, wie man sie größer in keinem Land der Welt erblickt; die malerische Farbigkeit, die es sonst nirgends in Europa gibt, die Städte und Dörfer, wo das Weiß, das Grün, das Blau und Gelb der Tür- und Fensterrahmen und -läden auf dem Hintergrund der dunklen Backsteine wie Fan- | |
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faren wirken. Die Märkte von Alkmaar, Gouda und Edam hatten unsere besondere Begeisterung hervorgerufen. Tagelang genossen wir den in einem Crescendo sich steigernden Zauber von Dordrecht und Rotterdam, von Delft und dem Haag, von Leyden, Haarlem, Amsterdam, Edam, Hoorn und Enkhuizen. Im kleinen Hafen von Volendam an der Zuidersee setzte uns ein Fischer, der gerade seinen ‘Botter’ ausgeladen hatte, nach der kleinen Insel Urk über, wo wir ein paar Tage ausruhten. Mein Freund, der holländische Maler und Kunstkritiker H.P. Bremmer, der als erster die Bedeutung Vincent van Goghs für die Geschichte der Malerei erkannt hatte, gab uns einen Empfehlungsbrief an die Schwägerin Vincents, die Witwe Théo van Goghs, mit, die in ihrem Haus in Bussum alle Bilder und Zeichnungen Vincents aufbewahrte, die Théo zusammengebracht hatte. Madame van Gogh empfing uns sehr freundlich. Nach einer kurzen Unterhaltung in der ‘Zitkamer’ im Erdgeschoß ihres Hauses brachten wir unseren dringenden Wunsch zum Ausdruck, vor unserer Rückkehr nach Belgien die Werke Vincents sehen zu dürfen. Ohne viele Worte führte uns Madame Théo van Gogh auf den Speicher. Alle Bilder - fast das gesamte Oeuvre Vincents - standen ungerahmt mit der Bildseite gegen die Wände. Auf Tischen lagen dicke Mappen mit Hunderten von Zeichnungen. Madame van Gogh bat uns, die Bilder umzudrehen und die Mappen zu öffnen, entschuldigte sich, sie erwarte eine Freundin, und ließ uns allein. Eine unbeschreibliche und fast scheue Erregung erfaßte uns, so plötzlich und so unmittelbar vor den Werken eines der größten Genies der Geschichte der Malerei zu stehen und an Hand dieser Bilder seinen ganzen tragischen Lebensweg verfolgen zu können. Während wir Bild um Bild umwandten, fühlten wir uns in eine Sphäre versetzt, in der unser eigenes Empfinden eins wurde mit der Verzückung, von der Vincent erfaßt war, als er die Bilder malte, die wir jetzt berührten. Wir sahen ihn vor uns, wie er rasend den Pinsel ergriff, die Tuben auf der Palette ausdrückte, wie er bisher Unempfundenes und Ungesehenes verwirklichte: eine Landschaft, ein Motiv oder Blumen - jene ‘Sonnenblumen’ von einer bis jetzt ungeahnten majestätischen Monumentalität. Kein Wort kam über unsere Lippen. Ergriffen gaben wir uns den Eindrücken hin. | |
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Die Zahl der Bilder, die wir umwandten, nahm kein Ende. Eine Reihe von Porträts, unter ihnen das Bildnis des Doktors Gachet, der Vincent bei sich aufgenommen und bis zum Eintritt der Katastrophe gepflegt hatte, verschlug uns buchstäblich den Atem. Dieses unbeschreiblich intensive Bild habe ich zitternd wieder gegen die Wand gekehrt. Es war offenbar, daß ein Maler, der in diesem Maß die äußersten Grenzen überschritt, von einer Krise niedergestreckt werden mußte. Wir zweifelten, ob wir noch genügend Kraft hätten, die Mappen mit den Zeichnungen zu öffnen. Auf zwei Stühlen saßen wir am Tisch und setzten uns noch einmal der unheimlichen Verzauberung aus, von der wir uns gerade losgerissen hatten. Diese Blätter waren von einem Gewirr von Strichen aus Kreide oder chinesischer Tusche bedeckt; Schraffierungen reckten sich auf, verfolgten und stießen sich zurück, loderten wie Flammen auf und sanken als Schaum nieder. Uns war, als ob es uns die Hände verbrennen würde. Ohne Passepartout oder Rahmen schienen sich die Blätter in unseren Händen zu winden, wie um der Dunkelheit zu entfliehen, in die sie eingeschlossen waren. Wir waren derart ergriffen, daß wir keine Worte der Entschuldigung dafür fanden, daß - ohne daß wir es merkten - mehr als zwei Stunden verstrichen waren und daß wir das Feingefühl Madame van Goghs mißbraucht hatten, die uns nicht hatte stören wollen. Als wir von dem uns heilig gewordenen Ort herunterkamen, war im Salon zum Tee gedeckt. Noch ganz erschüttert von den empfangenen Eindrücken, hörten wir nur mit halbem Ohr, was Madame Théo van Gogh erzählte. Sie ließ uns wissen, welches lebhafte Interesse das Erscheinen der Zeitschrift ‘Van nu en straks’ in holländischen literarischen Kreisen erweckt hatte. Bei einem kürzlichen Besuch hatte mein Freund Auguste Vermeylen, der Redakteur der Zeitschrift, in deren nächster Nummer eine Reihe von Briefen Vincents erscheinen sollte, ihr mitgeteilt, daß ich Mitglied der ‘Vingt’ gewesen und als Angehöriger der Redaktion Vignetten und andere lineare, abstrakte Ornamente für die Zeitschrift geschaffen hätte. Die van Gogh-Nummer von ‘Van nu en straks’ enthielt ein Porträt van Goghs, das ein Schüler, der zur gleichen Zeit wie van Gogh die Antwerpener Akademie besuchte, auf ein Kuvert gezeichnet hatte. Ich stellte auf einigen Seiten den Maler-Märtyrer den Lesern vor. | |
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Erste Kunstgewerbliche ArbeitenNach unserer Rückkehr fanden wir in der Villa meiner Schwiegereltern am Dieweg in Uccle eine bequem eingerichtete Wohnung vor und schlugen unsere Ateliers in zwei großen, dafür bestimmten Zimmern auf. Von den Fenstern ging der Blick auf die weiten Felder und Obstgärten am Abhang des Hügels der Villa Sèthe. In den verschiedenen, von mir als Atelier benützten Räumen habe ich immer an Tischen gearbeitet, die ich vor großen Fenstern aufstellte. Wenn ich für einen kurzen Augenblick des Nachdenkens den Kopf hob, half mir der Blick in die Weite, die Lösung plötzlich auftauchender Probleme leichter zu finden. Meine Schwiegermutter hatte es sich vorbehalten, unsere erste Auftraggeberin zu werden. Sie ließ mich für ihre Tochter Irma, eine außergewöhnlich begabte Geigerin und Lieblingsschülerin Eugène Ysayes, Möbel entwerfen und einen kleinen Salon einrichten, in dem die junge Virtuosin ihre Freunde empfangen konnte. Ein Violinenschrank für die drei Instrumente meiner Schwägerin - unter ihnen das Werk eines berühmten italienischen Meisters - war das Hauptstück des kleinen Salons. Er war in Zedernholz ausgeführt, war viel einfacher und unauffälliger als die von Georges Serrurier geschaffenen Möbel, aber er unterschied sich nur wenig von den Arbeiten aus der Gruppe der englischen ‘Arts and Crafts’-Bewegung. An den Wänden befand sich die erste von Maria und mir entworfene Tapete, das ‘Dahlia’-Muster. Im übrigen beschäftigten sich meine Frau und ich vor allem damit, unsere Forschungen fortzusetzen und die Dokumente zu vervollständigen, die mir dazu helfen sollten, die Voraussetzungen für die Wiedergeburt des Kunstgewerbes in England aufzuklären. Ich fragte mich, ob Aufsätze, Vorträge und Kurse mir genügende Möglichkeiten zur Erfüllung meiner Mission geben würden.
An dieser Stelle meines Berichtes muß ich einen Blick zurückwerfen. Ich überlasse es anderen, darüber zu streiten, wem von den vier ersten belgischen Vorkämpfern in den Jahren 1893 bis 1895 - Georges Serrurier-Bovy und mir auf den Gebieten des Möbels und der Dekoration, Paul Han- | |
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kar und Victor Horta im Reich der Architektur - die schöpferische Priorität zukommt. Ich möchte nur an die mehrfach von mir gemachte Feststellung erinnern, daß der Kunsttischler Serrurier-Bovy in Lüttich als erster die revolutionäre Bedeutung der englischen Künstler, Kunsthandwerker und Fabrikanten erkannte und daß er als erster auf dem Kontinent Möbel nach neuen ästhetischen Prinzipien geschaffen hat. Er fand seine Bewunderer und Käufer in den Kreisen der ‘Vingt’ und der ‘Libre Esthétique’. Aber während wir den Sinn und die Tragweite des Werkes von Ruskin und Morris zu vertiefen suchten, wandte sich sein Interesse als Fabrikant und angesehener Industrieller auf die praktischen Möglichkeiten, die sich aus diesem neuen Auftrieb für die Kunstindustrie ergaben. Die Beziehungen, die Serrurier und mich mit den englischen Künstlern und Kunsthandwerkern verbanden, waren schwach. Die Verbindungen der Engländer mit der kunstgewerblichen Tradition und der ländlichen Architektur der großen Insel waren dagegen eng und dauerhaft. Serrurier löste sich, wie er mir schrieb, 1894 vom englischen Einfluß. Dies gilt aber nur für seine Möbel, denn auf dem Gebiet der Dekoration hat er sich nie von den Engländern freigemacht. Ich hingegen verwendete noch 1895 für Möbelbezüge und für Vorhänge Stoffe von William Morris. Paul Hankar und Victor Horta waren die ersten Architekten, die auf dem Kontinent mit der Imitation der historischen Stile und mit den architektonischen Moden des 19. Jahrhunderts brachen, die den niedersten Grad eines verderbten Geschmackes erreicht hatten. Paul Hankar ist im Alter von vierzig Jahren gestorben. Es ist anzunehmen, daß er eine Entwicklung durchlaufen hätte ähnlich wie Berlage, der große holländische Architekt. Ich selbst habe nur wenig Beziehungen zu Hankar gehabt. Mein Enthusiasmus für seine Fassaden war nicht groß. Mit ihm zusammen wurde ich später (1897) zur Mitarbeit an der Kolonialausstellung in Tervueren hinzugezogen, an der er großen Anteil hatte. Wir sprachen aber weder über die Ziele unserer Bestrebungen noch über die Prinzipien einer neuen Ästhetik. Hortas Beziehung zum ‘Neuen Stil’ entsprach ungefähr derjenigen Serrurier-Bovys. Nachdem er das ‘Volkshaus’ in Brüssel gebaut hatte, ging er zu einem Modernismus über, der seiner Natur als ‘offizielle Persönlichkeit’ entsprach. Er besuchte mich in Uccle | |
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in dem Augenblick, als er die Einrichtung und Dekoration des Hauses ‘Rue de Turin’ in Brüssel beendete. Er kam als Unbekannter zur Villa Dieweg mit einer Empfehlung des Ingenieurs Charles Lefébure, der später einer meiner intimsten Freunde wurde, und interessierte sich für künstlerische Dinge, vor allem für die Aktivität der ‘Vingt’. Lefébure gehörte zu den engsten Mitarbeitern des mächtigen Industriellen Ernest Solvay, der auch als Soziologe sehr beachtet wurde. Auch Emile Tassel, der Bauherr des von Horta entworfenen Hauses ‘Rue de Turin’, gehörte zu dieser Gruppe von Wissenschaftlern. Als Horta zu mir kam, war ich mit der Korrektur eines Stuhlmodells beschäftigt. Er war in Verlegenheit wegen der Tapeten, der Vorhänge und der Beleuchtungskörper für Tassels Haus in der ‘Rue de Turin’ und wollte sich über die Produkte orientieren, die den neuen dekorativen Auffassungen entsprachen. Horta betrachtete über eine Stunde lang die Muster und Reproduktionen, die ich für die Kurse in Antwerpen benutzt hatte, und wir vermittelten ihm die notwendigen Verbindungen zu den verschiedenen englischen Firmen. Aus allem, was wir Victor Horta zur Verfügung gestellt hatten, wählten Emile Tassel und seine Frau nach dem Rat ihres Architekten das Geeignete aus. Ich hatte also mit der ganzen Sache nichts zu tun. Als Victor Horta uns verließ, dankte er lebhaft für die Hilfe, die wir ihm gebracht hatten. Er blieb vor dem Modell des in Arbeit befindlichen Stuhles stehen: ‘Er wird ein Meisterwerk werden’, erklärte er. Der Stuhl war keineswegs ein Meisterwerk. Er hatte gar nichts Besonderes, es sei denn, daß ich bei seinem Entwurf versuchte, ihn dem sitzenden menschlichen Körper möglichst anzupassen und eine Lösung zu finden, daß er bequem getragen werden konnte. | |
Als Lehrer an der ‘Université Nouvelle’In diesen Monaten waren Maria und ich von den Gedanken an das Kind erfüllt, das wir erwarteten. Wir verließen Uccle nur, wenn wir nach Brüssel zu van Rysselberghes oder zu meiner Großmutter gingen oder wenn wir | |
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meinen Vater in Antwerpen besuchten. Maria genoß es ganz besonders, mit meiner Großmutter zusammen zu sein, die mit ihrem Sohn Polydore und einer geistlichen Pflegerin, die sie seit fünfzehn Jahren betreute, in Brüssel wohnte. Meine Großmutter war damals dreiundneunzig und Onkel Polydore dreiundsiebzig Jahre alt. Die Anmut meiner Frau und die Achtung, die sie den beiden Alten entgegenbrachte, hatten die Befürchtungen meines Onkels zerstreut, dem meine Unabhängigkeit und meine fortschrittlichen Ansichten wenig sympathisch und die von mir gewählte Laufbahn abenteuerlich erschien. Der Respekt, der der Familie Sèthe entgegengebracht wurde, und die Vermögenslage meiner Schwiegermutter haben dann in starkem Maß zur Beruhigung meines Onkels beigetragen. Meine Großmutter hatte sich nie viel Sorgen um mich gemacht. Sie hatte bemerkt, daß ich schon als Kind ‘anders’ als meine Geschwister gewesen war, und begriffen, daß eine Laufbahn in der Staatsverwaltung nichts für mich gewesen wäre; gewiß nicht mein Glück! Dieses stand nun in Gestalt meiner Frau strahlend vor ihr! Aber mit meinem Onkel, der sich endlich von seinen Befürchtungen gelöst hatte, sollte es nur zu bald zu einem Konflikt kommen. Kurz vor meiner Heirat hatten wir uns auf der Terrasse der Villa in Knokke, in Gegenwart meines anderen Onkels, des früheren Kapitäns, wegen meiner sozialen Überzeugungen, die ich seiner Meinung nach allzu offen zur Schau trug, heftig gestritten. Wohl zum ersten Male hatte sich ein Angehöriger seiner Familie erlaubt, eine der seinen entgegengesetzte Meinung zu vertreten. Alle - seine Brüder, Schwestern, Neffen und Nichten - beugten sich vor der Autorität Onkel Polydores, des hohen Magistraten und Verfassers juristischer Werke, die heute noch geschätzt werden. Zweifellos fürchtete er die Anziehung, die Edmond Picard und sein Kreis auf mich ausübten. Es kam allerdings auch zu einem unmittelbaren Konflikt, in dem er sich gegen Edmond Picard und mich wandte. Als eines der einflußreichsten Mitglieder der Verwaltung der ‘Université Libre’ in Brüssel hatte er sich mit dem drohenden Skandal auseinanderzusetzen, der den radikalen linken Flügel der belgischen öffentlichen Meinung fieberhaft erregte. Ein unerwarteter, beleidigender, ungerechtfertigter Entschluß sollte verhindern, daß der hervorragende, weltbekannte Gelehrte, der Geograph Elisée Reclus den Lehrstuhl einnahm, auf den er von der ‘Université Libre’ | |
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berufen worden war. Er war gerade mit seiner Frau und seiner Schwester Louise Dumesnil nach Brüssel übergesiedelt; sein Bruder Elie Reclus hatte sich in einem Haus in Ixelles eingerichtet. In Paris hatte vor kurzem der berühmte und ebenso lächerliche Prozeß gegen die ‘Dreißig’ begonnen, bei dem so doktrinäre Träumer wie Jean Grave und Sébastien Faure und so ausgesprochene Gegner jeder direkten Aktion wie der Maler Maximilien Luce und der avantgardistische Kunstkritiker Félix Fénéon auf der Anklagebank saßen. Beide hatten in Brüssel im Kreis der ‘Vingt’ intime und treue Freunde, zu denen auch ich zählte, der ich ihr Talent und ihren Charakter hochschätzte. Neben den angesehenen, in der Stille wirkenden Revolutionären saßen wirkliche Missetäter und ehemalige Sträflinge. Durch ein unerhört perfides Manöver versuchte man, Elisée Reclus in diesen Prozeß hineinzuziehen, der übrigens zu einem Freispruch der Angeklagten führte, ausgenommen die wirklichen Verbrecher, Diebe und ähnlichen Gesellen. Edmond Picard hielt es für seine Pflicht, sich an die Spitze einer Bewegung gegen die diktatorische Haltung der Verwaltung der ‘Université Libre’ zu stellen, der mit wenigen Ausnahmen die Crème der doktrinären Liberalen angehörte. Es gelang ihm in kürzester Zeit, den Geist des Aufruhrs unter den Studenten zu verbreiten. Die radikalen öffentlichen Körperschaften ganz Brüssels und der Provinzen wurden ebenfalls aufgewiegelt, so daß sie dem von Edmond Picard unverzüglich lancierten Projekt einer ‘Université Nouvelle’ ihre Unterstützung zusagten. Die Brüsseler ‘Université Libre’ war seinerzeit nach einer Revolte gegen die klerikale Regierung geschaffen worden. Dieselben Mitglieder der aus dem Kampf gegen die ultramontanen Tendenzen der Regierung hervorgegangenen ‘Université Libre’ wollten jetzt die Lehrtätigkeit Elisée Reclus' verhindern. In einer Versammlung aller Protestierenden (am 24. März 1894) wurde der ‘Université Libre’ in Brüssel das Recht abgesprochen, einen Unterricht zu erteilen, ‘der nichts mehr mit dem Geist der Unabhängigkeit und der wahren Menschlichkeit zu tun hatte, der die treibende Kraft bei ihrer Gründung gewesen war’. In dieser denkwürdigen Versammlung, bei der der Geist des Gründers, des berühmten Humanisten Théodore Verhaegen beschworen wurde, zielte der Professor Guillaume de Greef in einer feurigen Ansprache auf den ‘Hohen Magistraten’ - der Hohe Magistrat war | |
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mein Onkel Polydore -, der die Pflicht gehabt hätte, seinen Kollegen und der jungen Generation zu zeigen, was ‘Recht’ bedeute, anstatt vorzugehen, wie es nicht einmal ein Kriegsgericht gewagt hätte: ein Urteil auszusprechen und zu vollstrecken, ohne das verurteilte Opfer anzuhören. ‘Ich bin überzeugt’, rief Professor de Greef in herrlicher Erregung des empörten Gewissens aus, ‘daß die Lektion, die ich heute nicht nur den Studenten, sondern vor allem der Verwaltung erteile, allen zum Nutzen gereichen wird.’ Kurze Zeit darauf befand sich die ‘Université Nouvelle’ im Stadium des Entstehens. Ihr Lehrkörper bestand nach Edmond Picards Worten ‘aus einer Equipe, die den Studenten durch geistige Bande und durch den Glauben an die Gegenwart verbunden ist, der so viele Herzen entflammt hat, einer Equipe, in der das Feuer sozialer Solidarität brennt, einer höheren Menschlichkeit, die alle Kräfte vereint zur Verringerung der Leiden, der Ungerechtigkeit, der Ungleichheit und die bereit ist, für Altruismus, Großmut und Hingabe zu kämpfen...’ Am 26. Oktober 1894 kündigte die ‘Université Nouvelle’ den Beginn der Kurse an, die dank einem symbolischen Zufall in einem großen Haus der Rue des Minimes stattfanden, in dem der Gründer der ‘Université Libre’, Théodore Verhaegen, gelebt hatte und gestorben war. Das Studienprogramm umfaßte folgende Kurse: Elisée Reclus ‘Vergleichende Geographie’, Elie Reclus ‘Philosophie der Religionen und der Mythen’, de Greef ‘Elementare allgemeine Soziologie’, M. Girard ‘Philosophie der mathematischen und physikalischen Wissenschaften’, Fernand Brouez (Direktor und Chefredakteur der Zeitschrift ‘La Société Nouvelle’) ‘Die soziale Frage’ und Henry van de Velde ‘Die industriellen Künste und die Ornamentation’. Weitere Kurse begannen im Laufe desselben Winters: Louis de Brouckère ‘Philosophie der Wissenschaften’, Emile Vinck ‘Statistik’, Emile Vandervelde ‘Ökonomische Soziologie’, Bernard Lazarre ‘Wirtschaftsgeschichte der Juden seit ihrer Zerstreuung’, Edmond Picard und Emile Verhaeren ‘Geschichte der Kunst’, M. Kufferath ‘Geschichte der Musik’ und Jules Destrée ‘Die primitiven italienischen Maler’. Als einer der ersten hatte ich mich auf Drängen Edmond Picards und meiner Freunde Emile Vandervelde und Jules Destrée öffentlich mit den Anhängern der Revolte solidarisch erklärt. Ich war mir klar darüber, daß | |
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die Mentalität meiner Hörer der ‘Université Nouvelle’ anders sein würde als die der jungen Künstler, die in Antwerpen meine Vorlesungen besucht hatten. Dementsprechend entschloß ich mich, die philosophischen Zusammenhänge aufzuzeigen und das Geschichtliche mehr als das Technische der verschiedenen Zweige des Kunsthandwerks zu behandeln, von den Anfängen der primitiven Perioden über den Augenblick, in dem sie nacheinander verschwinden oder sich verändern, bis hin zu dem Punkt, an dem sie dank der Erfindung der Maschinen und der Entwicklung der Industrie nichts mehr mit ihrem ursprünglichen Wesen gemeinsam haben. Für die Antrittsvorlesung hatte ich das in Antwerpen behandelte Thema einer ‘Predigt an die Jugend’ wiederaufgenommen und weiterentwickelt. Der Abschnitt, der sich mit dem Schaffen, den Schriften und der tapferen politischen Haltung William Morris' beschäftigte, trug zweifellos zu dem ermutigenden Beifall bei, den mir das ‘Trio’ Reclus zuteil werden ließ. Während des ganzen Kurses in diesem ersten Jahr äußerte ich kein Wort des Zweifels, weder an Ruskin noch an Morris und seinem Vertrauen in die Zukunft einer anarchistisch-kommunistischen Gesellschaft. Der Vortrag, den ich im Januar 1898 im großen Saal des alten ‘Volkshauses’ in Brüssel in der Sektion Kunst der P.O.B. (Parti ouvrier belge, Belgische Arbeiterpartei) unter dem Titel ‘William Morris, Kunsthandwerker und Sozialist’ hielt, bezeugte meine Verehrung und hob die Dankesschuld hervor, die unsere und die kommende Generation niemals wird ganz abtragen können. Zu meiner freudigen Überraschung nahmen an der Vorlesung, mit der ich meinen Kurs einleitete, Professor de Greef, Elisée Reclus und seine Schwester Louise Dumesnil sowie Elie Reclus, der ausgezeichnete Kenner der Geschichte der Religionen und der primitiven Völker, teil. Die ‘Gruppe Reclus’ fehlte bei keiner der späteren Vorlesungen, und auch andere Professoren der Universität fanden sich von Fall zu Fall ein. Nach der Antrittsvorlesung wurden meine Frau und ich dem ‘Trio’ Reclus vorgestellt. Ihre moralische Würde beeindruckte auch diejenigen, die ihre Überzeugungen nicht teilten. Meine Frau und ich waren glücklich, von ihnen als Freunde aufgenommen zu werden. Beim ersten Händedruck empfanden wir gegenseitig tiefe Sympathie. Und von jenem Augenblick an knüpften sich zwischen ihnen, die uns wie intime Verwandte gegenübertraten, und uns, die | |
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wir uns als ihre Jünger fühlten, Bande, die erst der Tod unsrer neuen Freunde auflösen sollte. Während dieser Zeit veranlaßte mich Fernand Brouez, in seiner Zeitschrift ‘La Société Nouvelle’ die Gedanken, die ich in meinem ersten Essay ‘Déblaiement’ verfolgt hatte, noch weiter auszuarbeiten. In den ‘Aperçus en vue d'une Synthèse d'Art’ (Allgemeine Bemerkungen zu einer Synthese der Kunst) nahm ich diese Ideen wieder auf: das Bild des erschöpften Baumes, die Vorherrschaft der ‘hohen Künste’ und ihr Nachleben in den Staffeleibildern und den Nippesfiguren der Malerei und Bildhauerei. Ich gab meiner tiefen Überzeugung Ausdruck, daß die Elite der Menschheit sich von der bequemen Unterwerfung unter den schlechten konformistischen Massengeist abwenden und einem Geschmack sich zuwenden müsse, der vom Ethos des Intimsten, was der Mensch besitzt, von dem seines Heimes bestimmt wird. ‘Wenn ich behaupte’, schrieb ich, ‘daß jeder sein Haus nach seinem Geschmack, nach seinem Willen bauen wird, so wird darauf geantwortet, daß man das niemals können werde. Und zwar nur auf Grund des Vorurteils, daß eine derartige Erfindungsgabe keineswegs jedem gegeben sei. Aber wie ist es eigentlich möglich, daß man bei so wesentlichen Dingen nichts mitzureden haben soll? Wäre es so, so hätte uns die Zivilisation auf ein niedrigeres Niveau geführt als das der Urmenschen. Die meisten Menschen freilich stimmen dieser Entmündigung zu und akzeptieren die Formenwelt, in der sie leben, wie der Hund seine Hütte, das Pferd seine Box, die Kuh ihren Stall. Wer unter uns versucht auch nur, etwas von seinem Selbst, etwas Spontanes, etwas seinem Wesen und Denken Entsprechendes hinzuzufügen?’ Ich fühlte, ich mußte selbst die Antwort geben und durch eigene Werke beweisen, daß meine Erklärungen und Forderungen mehr waren als ein dialektisches, paradoxes Programm. Doch ich war weit davon entfernt, zu ahnen, daß das Schicksal den Schrei ‘Wer von uns wird es als erster versuchen...?’ gehört hatte und daß wir noch einen Zoll von Schmerzen und Tränen würden zahlen müssen, bis ich jener ‘erste’ sein würde! Im Laufe der zwei Jahre, während derer ich an der ‘Université Nouvelle’ lehrte, hielt ich auf Einladung verschiedener künstlerischer Vereinigungen in mehreren Provinzorten Gratisvorlesungen, in denen ich ein wichtiges | |
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Mittel sah, mein Programm zu propagieren. Auch andere Lehrer des Institutes traten auf diese Weise in den Dienst allgemeiner Volksbildung. Das Prinzip der ‘reisenden Volkshochschule’ nahm damals schon in Belgien Gestalt an. | |
Der Schritt zur ArchitekturIm Frühling 1895 hatte die Geburt einer Tochter unsere schönsten Hoffnungen erfüllt. Alles schien gut zu gehen. Doch plötzlich entriß uns der Tod das Kind, bevor wir uns noch bewußt werden konnten, in welchem Maß die Gegenwart solch eines kleinen Geschöpfes zwei Menschen über die Grenzen hinausheben kann, die sie sich für ihr eigenes Dasein gesetzt haben. Mit einem Schlag waren diese Grenzen eng geworden. Sie beschränkten sich auf einen winzigen Sarg in einem Familiengrab. Die Mühe, die sich meine Schwiegermutter zur Wiederaufrichtung ihrer Tochter gab, half zugleich auch ihr selbst, ihre Entschlossenheit und die Fähigkeit zu raschen Entschlüssen wiederzufinden. Offensichtlich beschäftigte sie sich mit einem Plan: Zerstreuung, Ortsveränderung, dachte ich, oder ein anderes Mittel, von dem sie sich Beruhigung und Heilung erhoffte. Sie entschied, daß wir die Räume verlassen sollten, in denen wir bei ihr gewohnt hatten. Aber mit unerwarteten Konsequenzen. Es ergab sich die Gelegenheit, ein Stück Land gegenüber ihrem Haus am Dieweg zu erwerben. Sofort entstand bei ihr der Gedanke, auf diesem Terrain für uns ein Haus zu bauen. Sie teilte uns ihren Entschluß mit und drängte uns von Tag zu Tag mehr, ihren Vorschlag anzunehmen. Meine Frau wie auch ich hatten Bedenken, denn während des Jahres, das wir bei meiner Schwiegermutter verbrachten, hatte sich meine materielle Lage nicht wesentlich geändert. Meine Schwiegermutter schob die Bedenken mit dem Hinweis beiseite, daß sie unwiderrufliche Verpflichtungen eingegangen sei. Hatte ich nicht, meinte sie im übrigen, in den ‘Aperçus’, die in der ‘Société Nouvelle’ erschienen waren, eine Verpflichtung übernommen? Ich hatte behauptet, ‘daß jeder, der ein Heim nach seinem Geschmack, seinem Willen und seinem Herzen errichten wolle, die Pläne eines solchen Hauses selbst ausführen | |
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könne’. Sie war von vornherein der Meinung, daß ich und kein anderer die Pläne für das Haus entwerfen sollte, das sie für uns bauen lassen wollte. Die Würfel waren gefallen; ich setzte mich an meinen großen Arbeitstisch in unserem Atelier und begann mit der Arbeit an den Plänen für das Haus ‘Bloemenwerf’. Die wenigsten Frauen können Grundrisse lesen. Auch meine Schwiegermutter konnte es nicht. Statt dessen hatte sie mir volles Vertrauen geschenkt, in dem sie sich durch nichts erschüttern ließ. Der Bauunternehmer, den sie beauftragt hatte, versuchte ihr einzureden, die Aufgabe könnte meine Kräfte und Kenntnisse übersteigen. Dieser Unternehmer hatte ihr eigenes Haus errichtet, das ihrem und ihres verstorbenen Mannes Geschmack entsprach. Material und Ausführung waren tadellos. Deshalb schätzte sie den Mann. Bei der Übergabe der Kostenanschläge nahm er die Gelegenheit wahr, seine Bauherrin noch einmal darauf hinzuweisen, daß das geplante Haus Gegenstand heftiger Kritik sein würde. Wenn auch sie die Verantwortung übernehmen müßte, so müsse doch er, aus Rücksicht ihr gegenüber, riskieren, den Ruf seiner Firma zu gefährden. Meine Schwiegermutter hatte eine eigene Art, auf Fragen zu reagieren, die sie in Verlegenheit bringen konnten. Sie tat, als habe sie nichts gehört, und kümmerte sich nicht darum. Ich selbst war von unwiderstehlicher Leidenschaft erfüllt. Es genügte mir nicht, die Pläne des Hauses zu entwerfen, sondern ich entwarf alles, was zur Einrichtung und zur Ausschmückung gehörte, außer der sanitären Anlage, der Heizung und anderen industriellen Bestandteilen - zu denen die englischen Messingbetten gehörten -, die wie die Pläne von ‘Bloemenwerf’ das Prinzip des ‘Vernunftgemäßen’ verkörperten. Wegen des Tafelgeschirrs und des Bestecks mußten wir noch warten, bis Werkstätten gefunden waren, für die ich die Modelle schaffen konnte. Freunde wollten Schmuckstücke entworfen haben, und ich dachte schon an den Entwurf von Kleidern für meine Frau. | |
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Samuel Bing, Julius Meier-Graefe
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Als eifriger Leser der auch im Ausland geschätzten, die Gebiete von Philosophie, Soziologie und Kunst umfassenden Zeitschrift ‘La Société Nouvelle’ hatte Julius Meier-Graefe, wie er sagte, meine Bestrebungen verfolgt; meine Schrift ‘Déblaiement d'Art’ hatte ihn über meine Ziele orientiert. Er hatte den Auftrag, mich im Namen der Redaktions-Kommission, der er ebenfalls angehörte, um mein Einverständnis zu bitten, daß mein Name auf die Liste der ausländischen Mitarbeiter gesetzt werde. Im Laufe des Gespräches erfuhr ich, daß Bing und Meier-Graefe am Morgen lange das ‘Kunsthaus’ (Maison d'Art) besucht hatten, das gegen Weihnachten 1894 in Brüssel im bisherigen Haus Edmond Picard eingerichtet worden war. Dieses ‘Kunsthaus’ war das erste seiner Art, Vorbild für ähnliche Unternehmen, die später in Frankreich, Holland und Deutschland entstanden. Sein Zweck? Es sollte den individuellen Anstrengungen der Künstler und Kunsthandwerker einen kaufmännischen Hintergrund geben und für eine größere Resonanz zugunsten der Künstler sorgen. Bing interessierte sich lebhaft, als er diese meine Interpretation der Aufgabe vernahm, aber er hütete sich, auch nur anzudeuten, daß ihn seine Rundreise bestimmen könnte, in Paris ein solches Haus einzurichten. Der Raum, in dem das Gespräch stattfand, war zufällig das Musikzimmer, das ich neu eingerichtet hatte. Die Wände waren gerade mit meinem zweiten Tapetenentwurf, der ‘Dahlia’, neu bezogen worden. Ich hatte das bis zur äußersten Grenze stilisierte Blumenmotiv unter den Zeichnungen gefunden, die Maria im Atelier Brangwyns, der damals in Brüssel einen gewissen Ruf besaß, ausgeführt hatte. Bing und Meier-Graefe waren begeistert über die harmonische Wirkung des Amarantrot, Grün und Indigoblau der Tapete und der Farbe des Zedernholzes der Möbel. Ohne etwas von meinen Besuchern zu wissen, trat meine Frau ein. Sie trug Trauerkleidung. Bing machte eine diskrete fragende Geste, und ich unterrichtete die beiden von dem Unglück, das uns betroffen hatte. Auf rührende Weise sprach Bing sein Beileid aus, Meier-Graefe schloß sich ihm an. Dieser Zufall beendete den sehr höflich verlaufenen Besuch. Beim Abschied sprach Bing den lebhaften Wunsch aus, mich nach seiner Rückkehr in Paris zu sehen. | |
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Wenige Wochen später fuhr ich nach Paris. Bing empfing mich in seinem kleinen Arbeitszimmer in der Rue Vézelay. Ohne weitere Einleitung teilte er mir seinen Entschluß mit, seine Galerie in der Rue de Provence in ein Haus für ‘Art Nouveau’ umzuwandeln. Der Besuch des ‘Kunsthauses’ (Maison d'Art) in Brüssel, das übrigens nur kurze Zeit bestand, hatte ihn stark beeindruckt, und er glaubte an die Zukunft solcher Unternehmungen. Seine Rundreise hatte ihn davon überzeugt, daß für das Kunsthandwerk eine Wiederbelebung bevorstehe und daß die Künstler, die er in den verschiedenen Ländern aufgesucht hatte, entschlossen waren, mit der früher üblichen Nachahmung der Stile zu brechen. Sein Plan für die erste Ausstellung war, die Objekte, die ihm die Künstler und Kunsthandwerker der neuen Richtung zur Verfügung stellten, nicht in Vitrinen oder auf Podesten, sondern in richtigen Salons und Zimmern zu zeigen. Neuartige Möbel, Beleuchtungskörper, Tapeten, Stoffe, Teppiche - alle diese Einrichtungsgegenstände sollten Teile eines lebendigen Ganzen bilden. Im Augenblick konnte Frankreich nur wenig oder nichts bieten. Der Beitrag der Gruppe von Nancy beschränkte sich - auf dem Gebiet der Möbel - auf die kindliche und zugleich literarisch prätentiöse Neuerung Gallés, Verse von Baudelaire oder Verlaine in eine Tischplatte einzulegen oder in eine Glasvase zu schneiden. Auf seiner ganzen Rundreise hatte Bing nur in Belgien Möbel in neuen Formen gefunden. Er sagte mir in aller Offenheit, welche Bedeutung er meiner Mitarbeit beimaß. Er hatte mir bei der Umwandlung seiner Galerie in neue Ausstellungsräume den Löwenanteil zugedacht: ein großes Eßzimmer, ein Rauchzimmer in Kongo-Holz, ein kleines Kabinett in Zitronenholz und einen rotundenartigen größeren Raum mit Möbeln und Wandfüllungen, die aufeinander abgestimmt sein sollten. Als Mitarbeiter für diesen Raum war der dem Kreis der ‘Vingt’ zugehörige belgische Maler G. Lemmen, für den Plafond der Pariser Maler E. Besnard vorgesehen. Dem Maler Maurice Denis waren die Dekorationen und Möbel eines Schlafzimmers anvertraut worden, dem Engländer Conder ein Boudoir. Vuillard sollte ein Vorzimmer ausschmücken. Das übrige Ausstellungsprogramm befand sich noch im Stadium der Vorbereitung. Bing rechnete damit, ‘La Maison Moderne’ im kommenden Oktober (1895) eröffnen zu können. Für den Umbau des Hauses in der Rue de Provence hatte Bing den | |
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Architekten Louis Bonnier bestimmt, der in Paris Ämter bekleidete, die ihm bedeutenden Einfluß verschafften, für das Dekorative den Londoner Maler und Zeichner Frank Brangwyn. Nach der Besprechung, bei der ich meine prinzipielle Zustimmung zur Mitarbeit an der Ausstellung gegeben hatte, lud mich Bing zu einem Besuch in seiner Privatwohnung ein. Dort hatte er die schönsten Stücke fernöstlicher Kunst vereinigt, die er von seinen Reisen in Japan, Korea und China mitbrachte und die ihm seine Vertreter, die ständig unterwegs waren, lieferten. Die Räume waren ungemein luxuriös und mit vorzüglichem Geschmack eingerichtet. Man fühlte sich in der Atmosphäre eines Grandseigneurs, der sich für Länder begeisterte, denen er einen förmlichen Kult widmete und deren unvergleichliche Wunder er den Sammlern, Künstlern und Ästheten vor Augen führte. An den mit amarantrotem Damast bespannten Wänden standen die Vitrinen, zwischen ihnen hingen Kakemonos und Holzschnitte, alles so erregend schön, daß ich mich wie verzaubert fühlte. Schwere seidene Vorhänge der gleichen Farbe verhüllten die Fenster. Eine raffinierte indirekte Deckenbeleuchtung verbreitete sanftes Licht, wenn Bing mit priesterlicher Gebärde eine Vitrine öffnete. Den Boden bedeckten kostbare, weiche chinesische Teppiche. Die wenigen Tische, Stühle und Schränke, die sich in den Räumen befanden, waren von höchster Qualität. Das Ganze wirkte streng und zugleich elegant. Wenn Bing einen Schrank öffnete, waren die darin befindlichen Wunderwerke plötzlich wie von sakraler Helle überflutet; sie rührte von einer für jene Frühzeit des elektrischen Lichtes ungewöhnlich raffinierten Anlage her. Unvergeßliche Augenblicke, wenn man die nackten oder verhüllten Körper der Bildwerke vor sich sah, deren bewegte Linien wie von Musik erfüllt schienen. Unvergeßlich, wenn man dann die Probedrucke der großen Meister Utamaro, Hokusai und Hiroshige betrachten durfte. Bing lag daran, den Besuchern alles zu zeigen. So steigerte sich das Erlebnis zu einer Art Crescendo, an dessen Finale man sich in einem Rausch von Schönheit befand, so daß man schließlich nur noch überwältigt in einen der großen Ledersessel niedersinken konnte. Unter diesen Eindrücken vergaß ich alle Bedenken, die mir am Morgen gekommen waren, als ich Bings Büro verließ. Bedenken wegen Bings zu | |
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rascher Bekehrung, da er doch im Grund, künstlerisch und ästhetisch durchdrungen von der Tradition des französischen Geschmacks, unseren künstlerischen Bestrebungen fernstand, die gerade aus dem Bruch mit diesen Traditionen hervorgewachsen waren. Aber kaum war die Schwärmerei dieses einzigartigen Nachmittags verschwunden, kamen die Bedenken von neuem. Mir wurde klar, daß eine Kundgebung von der Bedeutung der von Bing vorbereiteten Ausstellung die Kritik und die Feindschaft all jener herausfordern mußte, die an der Erhaltung der jetzigen Lage interessiert waren: an der Vorherrschaft des französischen Geschmacks und an der unbestreitbaren Überlegenheit Frankreichs in Beziehung auf die Kunst wie auf die Kunstindustrie - ideell und materiell. Ich fürchtete, daß man an den sogenannten ‘guten Willen’ appellieren und daß die - bezahlte - Presse und gewissenlose Kunstkritiker dem Publikum vormachen würden, eine solche Kundgebung sei unpatriotisch und das Werk meist ausländischer Aufrührer, die entschlossen seien, Paris und Frankreich zu erobern, um ihnen ihr unveräußerliches Gut zu entreißen: das Monopol auf Phantasie, Mode und die Stile, die ihr Entstehen Frankreichs Königen verdanken. Aber nach meiner Rückkehr nach Uccle - nachdem ich in Paris zum ersten Male dem Architekten Bonnier und dem Malerzeichner Brangwyn begegnet war - beschäftigte mich nur noch der Gedanke, daß ich aufgefordert worden war, an der ersten zusammenfassenden Ausstellung bisher zerstreuter Kräfte mitzuwirken und in Paris in vorderster Linie einer Schlacht zu stehen, die gerichtet war gegen ‘Möbel und Einrichtung der Wohnungen, in denen die französische Gesellschaft sich verkroch’. Ich hatte Bings Auftrag, der viel größer war als alles, was ich bisher nach meinen Entwürfen hatte ausführen lassen, ziemlich leichtsinnig angenommen. Die Lieferfrist für die vielen Möbel, Lampen, Tapeten und anderen Dinge war sehr kurz bemessen. Ich mußte mich fragen, ob mein Brüsseler Kunsttischler über genügend Arbeitskräfte verfügte, um rechtzeitig alles fertigzustellen, was dann in Paris eingerichtet werden mußte. Schon die Beschaffung des Materials - eine große Menge Zedernholz für den Eßraum, Zitronenholz für den Salon und Kongo-Paddok für das Lese- und Rauchzimmer - war schwierig. Persönlich hatte ich mein eigenes Problem. Was ich bisher geschaffen | |
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hatte, war immer für vorhandene Räume bestimmt und für Auftraggeber, deren Geschmack und Bedürfnisse ich kannte. In irgendwelchen Zweifelsfällen konnte ich mich mit ihnen besprechen. Die Arbeit für unbekannte Kunden und für nicht existierende Räume war mir fremd. Dieses Mal sollte ich - umgekehrt - Räume auf Grund entworfener Möbel gestalten. Ich gewöhnte mich nur langsam und schwer an diese ungewöhnlichen Voraussetzungen und fürchtete, die in ungewöhnlicher Hast entstehenden Dinge nicht zur Zeit liefern zu können.
Kein Zweifel, daß das Vertrauen und der Enthusiasmus, mit dem sich Bing zum Schrittmacher von ‘Art Nouveau’ erklärte, ihm von Julius Meier-Graefe eingeflößt worden waren. Damals hatte sich Meier-Graefe nur durch die aktive und bestimmende Rolle bekannt gemacht, die er in der Leitung der jungen deutschen Zeitschrift ‘Pan’ spielte. Der Einfluß, den er auf Bing ausübte, fiel zeitlich mit einer Krise zusammen, die zu seiner Trennung von seinen Mitarbeitern beim ‘Pan’ führte. Meier-Graefe hatte vergebens versucht, seine Freunde von der Notwendigkeit der Gründung eines ähnlichen Unternehmens wie desjenigen von Bing zu überzeugen. Ich vermute, daß seine Freunde mehr wegen seines vorzeitigen Enthusiasmus und seines unüberlegten Vorgehens zurückhaltend waren als gegen die Chancen eines solchen Unternehmens, das vielleicht in Berlin fruchtbaren Boden gefunden hätte. Das Unternehmen ‘Art Nouveau’ war tatsächlich denkbar schlecht vorbereitet. Der Mangel an faktischen Kenntnissen des einen Organisators und die dickköpfige, gefährliche Unüberlegtheit des andern mußten zu einem Mißerfolg führen. Man braucht nur den Ausstellungskatalog durchzublättern, um den Mangel an Einheit und Zusammenhang dessen zu erkennen, was Bing und Meier-Graefe sich unter ‘Art Nouveau’ vorstellten. Das Publikum sagte ‘Stil Art Nouveau’, nachdem die bezahlte und unbezahlte Propaganda diesen barbarischen Ausdruck mit allen Mitteln mundgerecht zu machen versucht hatte. Ohne Unterscheidungsvermögen, ohne Stellungnahme, ohne Programm war angehäuft, was den beiden Reisenden an ‘Neuheit’ aufgefallen war. Im Grunde wollten sie vor allem aus der ‘Neuheit’ Vorteil ziehen; die | |
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zweifellos entstehende Sensation sollte dabei helfen. Sie kümmerten sich nicht im geringsten um Widersprüche, die sich in Schöpfungen von geradezu antipodenhafter Gesinnung offenbarten. Wie hätte man sonst unter dem gleichen Sammelbegriff meine Schöpfungen und solche von Carabin, Gläser von Tiffany, Powell und Köpping, Leuchter von Benson und von Eckmann präsentieren können? Um von den völlig unklaren Prinzipien Bings einen Begriff zu geben, genügt es, daran zu erinnern, daß die Besucher neben meinen Räumen ein von Maurice Denis entworfenes Schlafzimmer bewundern konnten, dessen elefantenartige Möbel ebenso unsinnig waren wie der Sessel des berühmten Bildhauers Carabin, der nichts anderes war als ein naturgroßer weiblicher Akt in akrobatenhaft sitzender Pose, dessen Schoß als Sitz und dessen Arme als Lehnen dienen sollten. Hätte Bing die grundlegenden Prinzipien und die sittlichen Ziele, denen ich mit allen meinen Kräften zustrebte, erkannt, so hätte er meine Arbeiten bestimmt abgelehnt. Die Idee, mit künstlerischer Gestaltung der Moral zu dienen, und die Rückkehr zu einfachen, wahrhaften Formen konnten ihm nichts sagen. Die Wahl der Mitarbeiter bei Bings nachfolgenden Ausstellungen bestätigte diese Annahme. Der ‘Pavillon de l'Art Nouveau’, den de Feure in Bings Auftrag später für die Pariser Weltausstellung von 1900 geschaffen hat, und die in diesem Pavillon ausgestellten Gegenstände zeigen die Tendenz Bings, eine ‘neue Eleganz’ zu entdecken. Ihre reizvolle Dekadenz und ihre ungeheure Virtuosität erscheint den Bildern Boldinis oder Gandaras und den Goldschmiedearbeiten Laliques verwandt.
Die Eröffnung der Ausstellung bei Bing fand in den letzten Dezembertagen statt. Es kam zu einem Skandal, der sich bis zum Aufruhr steigerte. Eine elegante Menge drängte sich in den Sälen, laut, feindselig und entrüstet. Die Creme der Pariser Gesellschaft, berühmte Persönlichkeiten der Académie Française, Künstler und bedeutende Gelehrte, Ästheten und Kunstkritiker waren sich darüber klar, daß hier die traditionellen Stile attackiert und daß ein revolutionärer Bruch vollzogen wurde, der etwas unverzeihlich Beleidigendes bedeutete. Ein allgemeines Gemurr, Verwünschungen, Bosheiten waren zu hören. Mit Bing hatte man Mitleid. Man betrachtete | |
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ihn als das Opfer eines heimtückischen Attentats revolutionärer Künstler, die seine Naivität ausnutzten. Auf der Straße, beim Ausgang vor der vom Architekten Bonnier - einem der zartesten und wohlwollendsten Männer, denen ich je begegnet bin - ‘verschandelten’ Fassade, schienen die Besucher, die in den Sälen völlig entfesselt waren, sich langsam zu beruhigen. Um die berühmtesten Persönlichkeiten bildeten sich Gruppen. Edmond de Goncourt, der sich als würdiger Gentleman in der Ausstellung beherrscht hatte, erhob auf der Straße die Arme als Zeichen des Abscheus. Er erklärte den Umstehenden, die seine Meinung hören wollten, der Lächerlichste der Ausstellenden, van de Velde, entwerfe seine Möbel nach den Gesetzen des Schiffsbaus. Es scheine, er praktiziere einen ‘Jacht-Stil’. An dieser Beobachtung war unbewußt etwas Wahres. De Goncourt hatte das Wesen der ‘vernunftgemäßen Gestaltung’ erkannt, die meine Möbel mit Schiffen verband. Rodin kam Edmond de Goncourt zu Hilfe und stieß Verwünschungen an Meier-Graefes Adresse aus, den er für den Schuldigen hielt, daß Bing der französischen Tradition abgeschworen und sich dem abscheulichsten Internationalismus angeschlossen hatte. ‘Ihr van de Velde’, rief er unter dem Beifall der Menge, ‘Ihr van de Velde ist ein Barbar!’ Aber auch dieser niederschmetternde Ausruf war gar nicht so herabsetzend, wie der große Meister glaubte. Er, der die Kathedralen so liebte und ihre Erbauer so heiß bewunderte, hätte daran denken müssen, daß der gotische Stil - vor allem in Frankreich - als eine Erfindung von ‘Barbaren’ angesehen wurde. Ich hätte stolz sein können, als ihr Verwandter angeprangert zu werden. Zur gleichen Zeit suchte innen im Hause Bing, der eine ganz andere Aufnahme erwartet hatte, sichtlich verstört einen Halt. Er drückte uns krampfhaft die Hände und murmelte: ‘Besnard und Sie, van de Velde, Ihr habt mich gerettet.’ Von Rettung konnte keine Rede sein; der Ausgang der Schlacht war nur zu niederschmetternd. Die Presse konstatierte fast einstimmig die Niederlage von ‘Art Nouveau’ wie den Triumph des guten Geschmacks und des französischen Genies. Die akkreditierten Kritiker Octave Mirbeau und Arsène Alexandre machten, bis zum äußersten entrüstet, die Ausstellung in bissigster Weise verächtlich. Gabriel Mourey nahm zunächst eine abwartende Haltung ein. Als einzige zeigten Camille Mauclair in der Zeit- | |
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schrift ‘Renaissance’, Gustave Geffroy und Thadée Nathanson in der ‘Revue Blanche’ wohlwollende Sympathie. Kurz, das allgemeine Urteil war vernichtend. Bing und ‘Art Nouveau’ wurden verhöhnt, und die Ausstellung wurde als Skandal hingestellt. In den Artikeln, die später in den Kunstzeitschriften erschienen, billigten die weniger auf Aktualitäten bedachten und weniger käuflichen Kritiker dem Ereignis einige Bedeutung zu. Gabriel Mourey schrieb einen achtungsvollen Aufsatz im ‘Studio’, der damals lebendigsten englischen Kunstzeitschrift, unter dem Titel ‘Das große Ereignis der gegenwärtigen Kunstsaison’. Gustave Geffroy hatte im ‘Journal’ vom 3. Januar 1896 gesagt: ‘... diese Männer sind auf der Suche nach einfacher und tiefer Kunst; sie wenden eine gute Methode dabei an: unablässige Arbeit. Ihr persönlicher Beitrag ist an bestimmten Einzelheiten zu erkennen. Wenn man zum Beispiel die von Henry van de Velde ausgeführten Räume betrachtet, so wird man die Ausgewogenheit aller Linien der Möbel bemerken, die bewußt gewollt ist; man wird die feine Grazie in der Umrahmung einer Scheibe oder eines Spiegels erkennen, und man wird sehen, wie die in Holz eingelegten Kupferinkrustationen rings um das Zimmer eine Folge von höchst reizvollen Arabesken ergeben.’ Nach Rückkehr in seinen ‘grenier’ - wie man seine Dachwohnung nannte - schrieb Edmond de Goncourt seine Eindrücke des denkwürdigen Tages nieder. In meinen Arbeiten, die er gegenüber denen aller anderen Aussteller hervorhob, erblickte er eine auffallende Verwandtschaft mit den Konstruktionsprinzipien der Jachten. In seinem ‘Journal’ vom 30. Dezember 1895 heißt es: ‘Ich wende mich nicht gegen die Idee der Ausstellung als solche, sondern nur gegen die jetzige, die von heute. Jawohl, unser Land, das die koketten, rundlichen und bequemen Möbel des 18. Jahrhunderts hervorgebracht hat, wird von den unfreundlichen, eckigen Möbeln bedroht, die für ungebildete Höhlenbewohner und Pfahlbauer gemacht zu sein scheinen. Frankreich wäre also zu Formen verurteilt, die bei einem Häßlichkeitswettbewerb preisgekrönt worden sind; zu Türen und Fenstern in der Art von Schiffsluken, zu Kanapees, Sesseln und Stühlen, die wie flache Blechplatten aussehen, die mit Stoffen bezogen sind, auf denen kackgelbe Vögel auf einem gepißten Waschwasserblau herum- | |
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fliegen; zu Toilettentischen und anderem Mobiliar, das an Zahnarztwaschtische erinnert. Und der Pariser sollte in diesem Speisezimmer mit Wandverkleidungen aus falschem Mahagoni und Arabesken aus Goldstaub sein Mahl einnehmen, in der Nähe des Cheminées, das wie ein Handtuchgestell in einem öffentlichen Bad aussieht; der Pariser sollte in einem Bett zwischen zwei fürchterlich geschmacklosen Stühlen schlafen, in einem Bett, das nichts anderes ist als eine auf einen Grabstein gelegte Matratze? Sollen wir wirklich entnationalisiert werden, besiegt durch eine Eroberung, die schlimmer ist als der Krieg in einer Zeit, in der in Frankreich die moskowitische, skandinavische, italienische und vielleicht bald auch die portugiesische Literatur dominiert, in einer Zeit, zu der in Frankreich nur noch für angelsächsische oder niederländische Möbel Platz zu sein scheint? Nein - das sollen in Zukunft die Möbel in Frankreich sein? - nein und nochmals nein!’ Was im übrigen den Ausdruck ‘Barbar’ betrifft, den Rodin mir entgegengeschleudert hatte, so glaube ich, daß man Autodidakt sein muß, um nach der Art eines ‘Barbaren’ Formen hervorzubringen. Man muß aus Quellen schöpfen, die weder von den auf die italienische Renaissance folgenden Stilen in Frankreich, den Niederlanden und anderen zivilisierten Nationen noch durch den offiziellen akademischen Unterricht verdorben worden sind. Man muß sich an die natürliche Logik halten und allen Problemen mit der jungfräulichen Unbefangenheit des Troglodyten gegenübertreten, der aus weggeworfenen Knochen und Steinen, die er vor seiner Höhle findet, seine Werkzeuge und Waffen machte. Ich fühlte und handelte in ebendiesem Zustand der Jungfräulichkeit während der ganzen Zeit, als ich die Pläne des Hauses zeichnete, in dem wir bald wohnen sollten. | |
Haus ‘Bloemenwerf’ - Besuch Toulouse-LautrecsIm Frühjahr 1896 bezogen wir unser neues Haus. Wir nannten es ‘Bloemenwerf’ in Erinnerung an eines der schönen, bescheidenen Landhäuser dieses Namens, das wir auf unserer Hochzeitsreise auf den Kanälen zwi- | |
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schen Utrecht und Amsterdam gesehen hatten. Wie diese alten Häuser lag das unsrige vor einer Wiese, umrahmt von großen Bäumen, die zum Teil mehr als hundert Jahre alt waren. Damals wußte ich noch nicht viel von den Anforderungen, die der Bau eines Hauses an mich stellte, und über das, was zur Einrichtung eine Haushaltes gehört, hatte ich niemals nachgedacht. Ich sah mich plötzlich vor Fragen gestellt, die rasche Entscheidungen verlangten; zauderte ich, so bestand die Gefahr, daß der ‘finstere’ Bauunternehmer, der das Vertrauen meiner Schwiegermutter genoß, sie an meiner Stelle traf. Ich war also gezwungen, rasch zu handeln, wobei ich mich immer von dem leitenden Gedanken bestimmen ließ: was sind meine persönlichen Bedürfnisse und was unsre besonderen Wünsche? Die Errichtung des Hauses ‘Bloemenwerf’ erregte sofort Aufsehen und brachte mich ins Gerede. Das Besondere und Ungewöhnliche, das dazu Veranlassung gab, kam von der Unerbittlichkeit, mit der ich die Konsequenzen aus den Notwendigkeiten zog, die mir in bezug auf das Haus als Ganzes wie auf die elementaren und logischen Zusammenhänge im einzelnen als entscheidend erschienen waren. Ich war weder durch vorgefaßte Meinungen noch durch angelernte Vorschriften belastet. Ich trat den Problemen naiv gegenüber, und keine Lösung schien mir zu kühn oder zu ungewohnt. Weder die Terrainarbeiten noch die Grundrisse, die Schnitte, die Aufrisse oder die Fassaden machten mir irgendwelches Kopfzerbrechen. Als ich mich entschloß, die Pläne zu unserem Haus auszuführen, hatte ich keine Ahnung von Architektur. Ich war totaler Autodidakt. Der Gebrauch von Lineal, Reißschiene und Winkel machte mir ziemliche Schwierigkeiten; ich mußte mir viel von dem unfreundlichen und eingebildeten Bauunternehmer-Architekten zeigen lassen. Allerdings glaube ich heute noch, daß im Grunde ein Bleistift und die innere Triebkraft, die ihn führt, genügen. Der Unternehmer machte immer wieder seine Bedenken geltend, und seine schlechte Laune wuchs, je höher die Mauern des Hauses wurden. Denn schon hörte man allerlei munkeln, und die Leute, die am Bauplatz vorbeikamen, begannen zu kritisieren, so daß der Bauunternehmer seine Reputation immer mehr bedroht sah. Um so dankbarer war ich meiner Schwiegermutter, die sich durch nichts erschüttern ließ. Sie hatte gelernt, der Unveränderlichkeit und Unfehlbarkeit von Dogmen zu mißtrauen; zu | |
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33 Haus ‘Bloemenwerf’, Uccle, 1895/96
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34 Henry van de Velde, um 1897
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36 Atelier im Haus ‘Bloemenwerf’
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37 Haus ‘Bloemenwerf’, Eßzimmer
38 Haus ‘Bloemenwerf’, Halle
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39 Maria van de Velde mit Nele im Garten von ‘Bloemenwerf’
40 Henry van de Velde im Haus ‘Bloemenwerf’
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viele hatte sie auf den Gebieten der anderen Künste zusammenbrechen sehen, deren fortschrittlichste Vertreter - Musiker, Maler, Bildhauer und Literaten - gerne in ihrem Haus verkehrten. Nun hatte die Stunde des Umsturzes der Dogmen der Architektur geschlagen, zu dem, abgesehen von mir, in Belgien auch andere mit ebensoviel Enthusiasmus beitrugen. Heute scheint es kaum glaublich, daß ein so einfacher, bescheidener, vernünftiger Bau wie dieses Landhaus beim Publikum so viel Aufregung und bei den Architekten so viel Anregung hervorrufen konnte. Vielleicht war aber das Befremdende gerade die Einfachheit, Bescheidenheit und die Vernunft in einer Zeit, in der die bürgerliche und die monumentale Architektur genau das Gegenteil darstellten und der Unsinn zum Kriterium der Schönheit geworden war. Selbstgefälligkeit und Protzerei hatten das Verständnis für die einfachen Dinge des Lebens so weit verfälscht, daß Bescheidenheit verletzend und als ein Vorwurf wirkte, den man unter keinen Umständen akzeptieren wollte. Man hätte sich vielleicht noch die ungewohnte Fassade, das Format und die Asymmetrie der Fenster, die Form des Daches gefallen lassen. Unverzeihlich war jedoch der Verzicht auf jeden Prunk, um so mehr, als weder Geldmangel oder irgendwelche Sparvorschriften dazu zwangen. Eine solche Gestaltung war daher ‘revolutionär’! Kurz nach der Vollendung des Hauses habe ich im ‘Pan’, der seine Leser über die umwälzenden Ereignisse auf allen Gebieten der europäischen Kunst informierte, einen Artikel geschrieben, in dem ich auch über die Resonanz beim Publikum berichtete. Unser Haus stand in einem großen Garten, weithin sichtbar an einer langen Avenue gelgen, die von Uccle nach einem Friedhof führte, wo viele reiche Brüsseler Familien ihre Erbbegräbnisse hatten. Der Eingang, der außer in der schlechten Jahreszeit immer offen stand, bot Einblick in einen kleinen, teils hell getäfelten, teils mit der Dahlia-Tapete - mein erster Tapetenentwurf und der letzte, bei dem ich auf ‘Stilisierung’ zurückgriff - bezogenen Vorraum. Die drei Farben Amarantrot, Blau und Grün bildeten einen Grundakkord, der im Hause wiederkehrte: im Bräunlichen des Gipses, im Grau und tiefen Grün des Giebels, im rötlichen Grau der Dachziegel. Über dem Vordach des Eingangs befand sich eine breite, nicht sehr hohe, dreiteilige Fensterfront mit Schiebefenstern. | |
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Schon von außen konnte man hinter diesen Fenstern seltsame Dinge sehen: einen über einen Arbeitstisch gebeugten Mann in einem Kittel, überfüllte Bücherregale und eine Handpresse, deren Hebel deutlich zu erkennen war. Dahinter ging der Blick durch eine Bogenstellung in einen großen Raum, darüber war ein Oberlicht, durch das der leere Raum erhellt wurde. Man konnte also schon von außen erkennen, daß ein leerer Kern, eine Halle, das Zentrum des Hauses bildete, um das die verschiedenen Zimmer und Nebenräume angeordnet waren. Im ersten Stock gelangte man von einer die Halle umlaufenden Galerie in die einzelnen Räume. Kurzum, alle Räume waren Teile einer Einheit, die sie ihrerseits in sich aufnahm. Alle Abgrenzungen waren soweit wie möglich aufgehoben, ausgenommen natürlich die Schlafzimmer und einige Nebenräume. Eine solche Anordnung mag nicht jedermann zusagen; unseren Vorstellungen und dem Wunsch, am ganzen Leben des Hauses teilzunehmen, entsprach sie genau. Wir wollten unsere Arbeit und unser häusliches Leben so einrichten, daß es eine Freude sein sollte, mit allem, was vorging, in Berührung zu sein. Solange wir im Haus ‘Bloemenwerf’ wohnten, haben diese Anordnung und dieses Prinzip niemanden gestört. Unser Leben glich in mancher Beziehung dem der Nomaden in ihrem Zelt oder dem der Artisten im Zirkus. Ein einziger Gedanke beherrschte unser Leben: unsere Arbeit! Er drängte sich auch allen denen auf, die uns besuchten. Sie empfanden wie wir die Freude, die von der gewissenhaften Erfüllung der Arbeit ausgeht. Diese Freude heiligte mein Tagewerk und das meiner Umgebung. Vielleicht lag in ihr auch der Grund dafür, daß wir uns von einer Art ritueller Ekstase getragen fühlten und daß es uns nie etwas ausmachte, ‘eng aufeinander gedrängt’ zu leben. Darüber hinaus versuchten wir, die Bande des häuslichen Lebens zu verstärken. So benützten wir das Eßzimmer nur für das Nachtessen, wogegen wir das Frühstück und den Lunch in der Küche einnahmen. Trotz dieser einfachen Lebensgewohnheiten genossen meine Frau und ich den Luxus, wenn man unter diesem Wort, wie wir, die Schönheit der einfachen und edlen Dinge versteht. Wir besaßen ausschließlich solche Dinge; aber nur wenige! Unsere Schlafzimmer waren einfach und praktisch. Außer den Betten enthielten sie nichts, was nicht in die Wände eingebaut oder wenigstens fest montiert war. | |
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In der ‘Halle’ standen der Flügel und einige Sessel. Unsre wenigen Bilder - ein Seurat, ein Finch - waren dort aufgehängt. In der die Halle umsäumenden Galerie des oberen Stockwerks standen zwischen den Pfeilern, die von der Halle bis zum Oberlicht reichten, Vitrinen. Sie waren auf beiden Seiten verglast, so daß man von unten wie von oben die in ihnen befindlichen Gegenstände sehen konnte. Diese Vitrinen bildeten gleichsam die Fortsetzung des langgestreckten Raumes, in dem mein großer Arbeitstisch mit meinen Büchern, Manuskripten und den auf der Handpresse abgezogenen Probedrucken stand. Von dort konnte ich hinab in die Halle oder hinüber in das Atelier schauen, wo die großen Zeichentische standen. Ich denke mit großer Rührung an alle diese Möbel zurück, und mein Herz hängt heute noch an ihnen. Denn sie sind ein lebendiges Bild der Methode, die ich damals und später befolgt habe. Aber darüber hinaus enthüllen sie zudem die ganze Reinheit, die Naivität und das Erstaunen, mit dem ich betrachtete, was ich durch die vernunftgemäße Gestaltung in mir selbst und durch mich selbst wiederzufinden vermochte: befriedigende Konstruktionen und Formen, die in ihrer elementaren und primitiven Unabhängigkeit dem Auge gefallen. Jedes dieser Möbel gelangte durch die Reinheit seiner inspirativen Herkunft in die Nähe des ‘Typus’, das heißt zu einer Synthese als dem schließlichen Resultat meiner Bemühungen, bei denen ich Dutzende von verschiedenen Formen für jede einzelne Kategorie von Möbeln ausprobierte. Ich hatte schon am Beginn meiner Laufbahn erklärt, daß alle meine Anstrengungen auf die Entwicklung der brauchbarsten Form des Stuhles, des Tisches und so weiter gerichtet seien. Ich glaubte fest an diese Möglichkeit. Und soweit nur Verstand und vernunftgemäße Gestaltung bei der Schöpfung solcher Dinge beteiligt sind, ist dieser Glaube auch gerechtfertigt. Aber alles ist in dem Augenblick anders, in dem unsere Sensibilität mitspielt; sie nimmt das Wesen und die Wirkungen der Linie wahr, bestimmt den Ausdruck und durchdringt die Elemente der Konstruktion, der Struktur jedes Möbels oder Gegenstandes und variiert die Formen bis zum Unendlichen! Es wäre genauer, zu sagen, daß es nur eine vollkommene Konstruktion, nur eine vollkommene Struktur gibt; daß nur eine einzige Lösung meine Anforderungen an ein bestimmtes Möbel oder einen bestimmten Gegenstand befriedigte. Um diese Lösung war es mir vor allem zu tun. Ich kämpfte | |
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gegen jede Sentimentalität mit dem hartnäckigen Willen, sie zu überwinden und sie aus dem gesamten Kunsthandwerk und der Architektur zu verbannen. Ich dachte Über alles nach, was von Sentimentalität unbelastet war und was in der Reinheit einfacher Schöpfung unseres Verstandes vor mir stand. Die Möbel unseres Hauses wirkten auf mich völlig unverstaubt, durchaus nicht überladen, frisch wie der abgelegene Winkel eines hellen Tales. In ihrer Reinheit schienen sie all dem Kram aus den Antiquitätenläden zu trotzen. Das helle, polierte Eschenholz und die erfindungsreichen Feinheiten der Konstruktion ergötzten Auge und Geist. Heute können sie niemanden in Erstaunen setzen, seinerzeit machten sie Sensation. Unser Eßtisch wurde besonders bewundert; außergewöhnlich waren aber nur die in der Mitte eingelassenen, etwas erhöhten Keramikplatten von Bigot, auf die auch die heißesten Schüsseln gestellt werden konnten. Diese Anordnung machte die Verwendung von großen, den ganzen Tisch bedeckenden Tischtüchern unmöglich. Wir benützten vier schmale, lange Decken, die um das Mittelstück gelegt wurden. Für diese Decken wählten wir Stoffe in lebhaften, ausgefallenen Farben, vor allem bäuerliche oder exotische Erzeugnisse. An festlichen Abenden waren es Tischtücher aus chinesischer Rohseide mit grünen gestickten Seidenborten. Für solche Abende nahmen wir einen alten Brauch wieder auf: wir verwendeten altes Zinngeschirr. Trotz dieses offenbaren Luxus war die Bedienung bei Tisch denkbar einfach. Das Mädchen, das meiner Frau im Haushalt half, schob von der Küche her die Platten in eine verglaste Durchreiche hinter den Platz Marias. Maria stellte sie dann auf das Mittelstück des Tisches. Wie in flämischen Bauernhöfen stand der Tisch in einer Ecke des Eßzimmers. Außerdem war noch ein offenes Cheminée da, über dem sich ein Glasschrank mit allen für die Zubereitung des Kaffees notwendigen Utensilien befand. Im Gegensatz zur holländischen Gewohnheit spielte sich die Kaffeebereitung bei uns als eine feierliche und festliche Handlung ab. Unter dem aus der Mauer hervorspringenden Schrank hingen auf Keramikplatten - den gleichen wie auf dem Tisch - Wasserkessel, Krüge und einige andere flandrische Töpfereien.
Die Möbel und Gegenstände, die ich für ‘Bloemenwerf’ geschaffen hatte, waren übrigens Anfang des Jahres 1896 in einem besonderen Raum der | |
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‘Libre Esthétique’ in Brüssel ausgestellt. Sie erregten das Interesse des fortschrittlichen Publikums für mich und meine Arbeiten. Immer mehr Menschen nahmen an den Veranstaltungen der ‘Libre Esthétique’ teil, deren Leiter, Octave Maus, mit Grazie und Fingerspitzengefühl die Diktatur bei der Auswahl des Ausstellungsgutes ausübte und es immer wieder verstand, unbekannte Künstler zu entdecken. Auch offizielle Kreise begannen ihr Interesse zu zeigen. Auf diese Weise erhielt ich durch den Generalsekretär des Kolonialministeriums, den Baron van Etvelde, den Auftrag zur Einrichtung eines Saales der ersten Kolonialausstellung, die 1897 eröffnet wurde. Sie machte das belgische Publikum mit einer reichen Sammlung von Materialien und künstlerischen Schöpfungen der Eingeborenen des belgischen Kongo bekannt. Die Einrichtung der Ausstellung war vier Künstlern der neuen Richtung übertragen worden, einem Architekten und drei Kunstgewerblern: Paul Hankar, Serrurier-Bovy, Hobé und mir. Die Initiative, Künstlern statt routinierten Dekorateuren einen solchen offiziellen Auftrag zu übergeben, bedeutete einen bemerkenswerten Schritt.
Der Tag der zweiten Niederkunft Marias näherte sich. Sie wich nicht mehr von meiner Seite, außer wenn sie mit der Pflegerin die Einrichtung des Kinderzimmers überwachte. Nichts, absolut nichts, was mit unserem armen Erstgeborenen zusammenhing, sollte das erwartete Geschöpf berühren. Es war mir nicht klar, weshalb mich meine Frau nicht einen Augenblick allein lassen wollte. Ahnte sie etwas von der Angst und Sorge, von denen ich erfüllt war? Endlich kam das Kind zur Welt. Wenn man Maria mit dem Kind in den Armen sah, schien sie wie befreit und voller Vertrauen, das auch ich wiedergefunden zu haben glaubte. Trotzdem befand ich mich in einem Zustand der Überanstrengung und Überempfindlichkeit. Am achten Tag nach der Geburt unseres Sohnes stand ich an einem der großen Ateliertische und beendete die Vergrößerung einer Vorzeichnung für eine Stickerei, die Maria nach einer meiner Skizzen anfertigen wollte. Immer noch befanden sich Arbeiter in ‘Bloemenwerf’, um kleinere Dinge in Ordnung zu bringen. Ihr Lärm machte mich nervös, weil ich befürchtete, er könne die Ruhe der Wöchnerin stören. Plötzlich fühlte ich eine tödliche | |
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Kälte. Ein Eindringling war heimlich eingetreten und stand hinter mir. Ich wandte mich um und sah einen Schatten mit ausgehöhlten Wangen. Den Werkzeugen in seinem Lederschurz nach ein Schlosser. Als ich mich aus meiner Erstarrung löste, trat ein Mann ein, ein Schlosser wie jeder andere aus Bein und Fleisch. Eine furchtbare Ahnung durchfuhr mich. Die Erscheinung war ein Bote, ein Zeichen. Kein Zweifel, der Tod war in unseren Mauern. Ich eilte zu unserem Kind, deckte es auf und fand einen flammendroten Fleck. Wenige Augenblicke später kam Elisée Reclus' Schwester, Louise Dumesnil, um sich nach Marias Zustand zu erkundigen und ihr Blumen zu bringen. Von diesem Moment an tat ich mechanisch, was sie mir sagte. Was ich für eine Nacht brauchte, warf ich in einen Koffer und ließ mich in den Wagen stoßen, der sie zu uns gebracht hatte. Ich sollte zu ihrem Bruder Elisée fahren, er sollte mir einen Brief an seinen Freund, den Professor Metschnikoff in Paris, geben, der vor kurzem den Bazillus der Streptokokken und des Rotlaufs (érésipèle) entdeckt hatte. Ich traf Elisée Reclus zu Hause, und er gab mir den Empfehlungsbrief. Dann brachte er mich zur Bahn. Auf dem Weg informierte er mich über seinen berühmten Freund. Ich nahm den nächsten Zug nach Paris. Der Besuch im Institut Pasteur und der Empfang durch den russischen Gelehrten bleiben mir unauslöschlich im Gedächtnis. Ich sehe seinen Patriarchenkopf mit dem langen Bart noch vor mir, ich spüre seinen wohlwollenden, freundlichen Blick, die Wärme seiner Hand, als ich mich verabschiedete und das kostbare Serum mitnahm, von dem das Leben unseres Kindes abhing. Aber nichts konnte sein Leben retten. Am zehnten Tag seines Daseins nahm uns der Tod unser Kind. Unsere Freunde standen uns bei und überhäuften uns mit Beweisen ihrer Zuneigung. Sie führten uns neue Menschen zu, unter denen es Neugierige gab, die nur einmal kamen. Andere wiederholten ihren Besuch und zählten bald zu unseren Freunden.
Das Haus ‘Bloemenwerf’ war zum Zentrum eines Freundeskreises geworden, zu dem auch einige anarchistische belgische Künstler zählten: neben Théo und Maria van Rysselberghe und Emile Verhaeren kamen Brunez und seine holländische Gefährtin Nele Doff, Jacques Mesnil und seine Frau, | |
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Willy Finch und einige andere Freigeister, die dem Kult des Individuums und der menschlichen Würde huldigten. Der junge holländische Maler Jan Thorn Prikker, ein feuriger Anarchist, den wir auf unsrer Reise nach Holland kennengelernt hatten und dessen Werke wir bewunderten, war einer der ersten, die als Gäste bei uns wohnten. Er konnte bei uns mit Gesinnungsfreunden seiner sozialen, sittlichen und ästhetischen Überzeugungen diskutieren, die nicht weniger als er bereit waren, auf die von Toren errichteten Barrikaden zu steigen, um irgend etwas umzustoßen. Maria und ich hatten uns vorgenommen, ihn zu kritischerem Urteil, geistiger Ruhe und auch zu mehr Abstinenz zu leiten. Er kam besonders gern mit Willy Finch zusammen, an dessen britischer Ruhe und Hartnäckigkeit, die er von seinen nach Belgien ausgewanderten Eltern geerbt hatte, seine unüberlegten und wirren Attacken abprallten. Finch ging stets als Sieger aus ihren Diskussionen hervor. Emile Tassel und Charles Lefébure, sein ‘alter ego’ und wie er enger Mitarbeiter des Humanisten, Philanthropen und Industriellen Ernest Solvay, vervollständigten die Runde der Getreuen unsres Hauses. Besonders Charles Lefébure fehlte an keinem der Samstagnachmittage. Er war ein begeisterter Photograph, dem ich Aufnahmen verdanke, die ein Bild unsres Lebens im Haus ‘Bloemenwerf’ vermitteln. Seine zweite Liebe galt dem Alpinismus, dem er sich als hartgesottener Junggeselle-zuerst als Bergkamerad Ernest Solvays, später König Alberts I. - mit Leidenschaft widmete. Diesem Freundeskreis schloß sich später Julius Meier-Graefe an. Eines schönen Tages stieg er aus einem Wagen, der ihn vom Bahnhof gebracht hatte, vor unserem Haus aus. In der Hand hielt er eine mit Papieren vollgestopfte Mappe. Nachdem er eingetreten war, lächelte er befriedigt beim Anblick der einfachen Möbel der Garderobe und betrachtete lange die ‘Dahlia’-Tapete; er erinnerte sich, sie bei seinem Besuch mit Bing im Haus meiner Schwiegermutter gesehen zu haben. Die Halle mit Marias großem Blüthner-Flügel überraschte ihn offensichtlich; an den Wänden befanden sich das Porträt Marias am Harmonium, das Théo van Rysselberghe von ihr als junges Mädchen gemalt hatte, einer der schönsten Seurats und eine Zeichnung in chinesischer Tusche von van Gogh, die wir von unsrer Hochzeitsreise mitgebracht hatten. Auf der zur Galerie führenden Treppe rhythmisierten sich seine Schritte so rein und regelmäßig wie die aufsteigenden Töne einer Oktave. | |
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Meier-Graefe sah meine Frau, die damals meine einzige Mitarbeiterin war, an einem Zeichentisch, auf dem ein großes Blatt lag. Nach kurzer höflicher Begrüßung wandte er sich den Vitrinen zu, in denen sich einige Keramiken, ein paar Bücher von William Morris, Zeitschriften von hoher typographischer Qualität aus England und illustrierte Bücher von Walter Crane und Kate Greenaway befanden. Er setzte sich auf einen Sessel vor dem langen Tisch am Fenster des Mittelgiebels, von dem man in den Garten und auf den von der Avenue zum Hauseingang führenden Weg sah. Dann erklärte er, dies sei der Platz, um die Artikel zu schreiben, die die Kunstzeitschriften, an denen er mitarbeitete, von ihm erwarteten. Meier-Graefe schickte seine Berichte - er kam vor allem im Februar zu uns, zur Zeit der Ausstellungen der ‘Libre Esthétique’ - an die kürzlich herausgekommenen deutschen Zeitschriften ‘Dekorative Kunst’ des Verlegers Bruckmann in München und an die ‘Innendekoration’ Alexander Kochs in Darmstadt. In unserem Haus hatte er Gelegenheit, die zu den Ausstellungen der ‘Libre Esthétique’ eingeladenen ausländischen Künstler kennenzulernen, deren jeder zum Besuch nach ‘Bloemenwerf’ kam. Die meisten wurden von Théo van Rysselberghe oder Octave Maus zu uns gebracht. Besondere Schätzung brachte Meier-Graefe den Bildhauern Constantin Meunier und Georges Minne entgegen. Er machte bei beiden Atelierbesuche. Minne hatte sich in St. Job, einer in der Nähe des Diewegs gelegenen Gemeinde, niedergelassen. Der Schöpfer hervorragender Skulpturen und Zeichnungen arbeitete damals an der gewaltigen Komposition für ein Denkmal des Sozialisten Jan Volders, der in den flandrischen Landstrichen ebenso populär war wie Anseele. Minne war überzeugt, daß eine Allegorie der Brüderlichkeit den leidenschaftlichen und edlen Charakter Volders' zutreffender verherrlichen würde als eine konventionelle Porträtstatue. Zwei männliche Gestalten standen sich auf einer Barke gegenüber und hielten sich mit gespannten, stahlharten Muskeln fest, wie um den Stürmen zu widerstehen, die um sie tobten. Im Stil hatte die Gruppe etwas von der ergreifenden Kraft primitiver romanischer Portalskulpturen. Sie war drei Meter hoch, und Minne arbeitete mehr als sechs Monate an ihr. Er hoffte, die stillschweigende, aber heftige Opposition der Brüsseler Sektion der Belgischen Arbeiterpartei (P.O.B.), die den Auftrag erteilen sollte, zu überwinden. | |
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In dieser Zeit kam Minne häufig zu uns. Er sprach auf Maria ein, die sich nur ungern in ihrer Gartenarbeit stören ließ. Eines Tages aber horchte sie auf. Er sagte, wenn wir sein Werk ‘Fraternité’ (Brüderlichkeit) noch einmal sehen wollten, sollten wir nicht zu lange zaudern. Er hatte den Glauben an das Werk verloren. Als wir in Minnes Atelier ankamen, sahen wir Minne ruhig, kalt, erbittert mit Hammerschlägen einen Kopf, einen Arm, einen Schenkel der gewaltigen Plastik herunterschlagen, mitleidlos, scheinbar gleichgültig wie ein Henker. Wir wohnten ohnmächtig, versteinert und machtlos dieser nie wiedergutzumachenden, unwiderruflichen Hinrichtung bei. Ein Abguß des Modells in kleinem Format, das Minne als Vorlage für das Monument diente, begleitete uns auf allen Umzügen; erst bevor ich mich 1947 in Oberägeri in der Schweiz niederließ, schenkte ich ihn dem Musée Royal des Beaux Arts in Antwerpen.
Während seiner Aufenthalte in ‘Bloemenwerf’ arbeitete Meier-Graefe an den ersten Kapiteln seines Werkes ‘Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst’, das ihn mit einem Schlag berühmt machte. Er hatte seine deutschen Leser durch zahlreiche Artikel über die Ereignisse der ‘Art Nouveau’-Ausstellung und über die Äußerungen Edmond de Goncourts und Rodins unterrichtet. Es ergab sich von selbst, daß wir über die Folgen von Bings Fehlschlag sprachen und Über die Möglichkeiten, unser Schiff wieder flottzumachen. Meier-Graefe hatte dem Verleger Bruckmann in München die Herausgabe einer Zeitschrift vom Genre des in London erscheinenden ‘Studio’ vorgeschlagen, das in ganz Europa eifrig gelesen wurde. Später erfuhr ich als erster die Verwirklichung von Meier-Graefes Plan, als 1898 unter seiner Redaktion die schon erwähnte Zeitschrift ‘Dekorative Kunst’ herauskam. Das Terrain unserer Aktivität sollte sich verdoppeln; die ‘Dekorative Kunst’ eroberte die europäischen Länder deutscher Zunge und die der angrenzenden Gebiete des Ostens und Nordens. Meier-Graefe und ich, wir haben uns oft gefragt, wie es möglich war, daß ‘Bloemenwerf’ soviel Diskussionen hervorrief und das Brüsseler Publikum mehr schockierte als Hortas Haus in der Rue de Turin oder die Häuser Paul Hankars. Ob es wohl herausfühlte, daß ‘Bloemenwerf’ ein unmittelbarerer revolutionärer Angriff auf die allgemeine Meinung und | |
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den offiziellen akademischen Unterricht gewesen ist als die von Horta und Hankar seit 1893 errichteten Häuser, die keinerlei Skandal hervorriefen? ‘Neuerer’ waren beide, aber das Publikum hatte an ihren Fassaden nichts auszusetzen. Bei ‘Bloemenwerf’ hingegen war das Fehlen der obligaten Türmchen, prätentiöser Loggien, eines feierlichen Eingangs und vor allem des überflüssigen Ornaments verdächtig. Solche Verzichte ließen auf Hintergedanken schließen, die nur umstürzlerisch sein konnten. Freunde, die uns besuchten, wurden unfreiwillige Zeugen dieser merkwürdigen Reaktionen. Leute, welche allein die ‘Chaussée van der Raeye’ heraufkamen, die an unserem Grundstück entlangführte, blieben stehen, schauten verdutzt und drehten sich um, ob niemand da sei, dem man sein Erstaunen mitteilen konnte. Waren es mehrere, so begannen sie - bald erbost, bald heiter - zu diskutieren, um schließlich jemandem von uns, den sie im Freien oder an einem Fenster entdeckten, eine unverschämte Bemerkung zuzurufen. Die Mißbilligung war allgemein. Sie gelangte unmittelbar und ohne jede Zurückhaltung jedesmal zum Ausdruck, wenn sich ein Leichenzug von den unteren Quartieren Uccles aus zu dem uns benachbart gelegenen Friedhof bewegte. Die Trauernden folgten zu Fuß dem Leichenwagen, dem schweren, prächtigen, belgischen Leichenwagen, der Verlaine so tief beeindruckt hatte. Kaum war ein Zug zur Straßenbiegung gelangt, an der unser Haus mit den drei Giebeln zu sehen war, so entstand eine plötzliche Bewegung. Zuerst ein diskreter Blick zum Nachbar rechts und links, um sicher zu sein, daß auch er gesehen hatte, was sich so plötzlich darbot. Dies war das Signal für eine erste Unruhe. Daraus entstand sofort eine allgemeine Bewegung, die den ganzen Zug ergriff, der vorher wie üblich mit gesenktem Haupt gegangen war. Man stieß sich mit den Ellenbogen, die Köpfe drehten sich in die Richtung auf ‘Bloemenwerf’, und die Impulsivsten unter den Trauernden begannen zu lachen. Diese Heiterkeit pflanzte sich bis in die vordersten Reihen fort, wo sich die nächsten Verwandten des Verstorbenen befanden. Manchmal waren es einige, manchmal alle, die den Kopf hoben, um nach dem Haus zu schauen. Wir im Haus konnten zuweilen ein Gemurmel hören, das langsam anschwoll. Dann verschwand die Heiterkeit plötzlich und wich zornigen Blicken gegen die, die gewagt hatten, die Stille und Zerknirschung zu stören, die ebenso vorgeschrieben sind wie Trauerkleider und Zylinder. | |
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Meier-Graefe amüsierte sich jedesmal köstlich über dieses Schauspiel und bebte vor unterdrücktem Lachen, bis der Leichenzug aus dem Blickfeld der aus dem Fenster Schauenden verschwunden war.
Auch beim erheiternden Besuch Henri de Toulouse-Lautrecs war Julius Meier-Graefe dabei. Théo van Rysselberghe hatte uns mitgeteilt, daß Toulouse-Lautrec sich mit seinem Freund Maurice Joyant bei uns zum Mittagessen einlade. Man kennt in aller Welt die Photographien des verwachsenen kleinen Mannes. Nur sein Kopf und Rumpf waren normal entwickelt. Der Kopf schien auf die stark abfallenden Schultern aufgeschraubt. Ein langer schwarzer Bart wirkte als seltsamer Schmuck. Arme und Beine waren die eines sechsjährigen Knaben. Aber in diesem verkrüppelten Körper steckte eine äußerste Lebhaftigkeit, die Toulouse-Lautrecs Geist fast übertraf. Seine schlagfertigen Antworten - die eines boshaften Clowns - waren verblüffend. Ein Mund von tierischer Sinnlichkeit, seine Redeweise bald unbeherrscht, bald zugespitzt geistreich, bald völlig unkonventionell - aber nur an der Oberfläche. Bei seinem Besuch in ‘Bloemenwerf’ legte er eine ganz besondere Munterkeit und Komik an den Tag. Bei Tisch spielte er den gefräßigen Feinschmecker und Trinker. Als in der Durchreiche der imposante feuerfeste Kochtopf mit dem ‘Hochepôt flamand’, Marias Spezialgericht, erschien, war Toulouse-Lautrec auch schon, kreischend, mit erhobenen Armen auf den Tisch gesprungen. Er stützte den schweren Rumpf auf seine kurzen Arme, senkte den Kopf und blickte gierig in den Topf, aus dem der herrliche Duft von Wintergemüsen, Rindfleisch, Würsten, Schweinsfüßen, Schweinsohren und Geflügel emporstieg, die seit Stunden geschmort hatten. Mit der gleichen Behendigkeit, mit der sich Toulouse-Lautrec auf den Tisch geschwungen hatte, sprang er wieder hinab, zog eine Grimasse tiefer Befriedigung und nahm mit Würde seinen Platz an der Seite Marias wieder ein, die tat, als ob nichts geschehen sei. Das Gelächter der Tischgesellschaft verstummte, und alle widmeten sich der ernsten Prüfung des Inhaltes aus dem unerschöpflichen Topf. Das Mahl endete in höchst belebter Stimmung, die der Champagner, der zum Safran-Reis, dem traditionellen Dessert flandrischer Schlemmerei, gereicht wurde, noch steigerte. Bevor wir aufstanden, verwickelte sich Tou- | |
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louse-Lautrec in eine lange Ansprache. Ich sah irgendeine neue ‘Enormität’ voraus und fürchtete, daß er ein Couplet folgen lassen würde, das ich ihn schon einmal trällern gehört hatte. Es schloß mit einer Pirouette, welche die ungezogenen, richtiger gesagt: obszönen Worte mildern sollte. Es kam aber nicht so weit. Die Atmosphäre unsres Hauses tat ihre Wirkung, und Toulouse-Lautrecs Ansprache mündete in Dankesbezeigungen aus. Er hatte das Besondere unseres Heimes empfunden, das zugleich normal und außergewöhnlich war.
41 Brief Camille Pissarros vom 27. März 1896
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Ein Brief Camille PissarrosZur Zeit der Eröffnung der Ausstellung ‘Art Nouveau’ traf ich in Paris mehrmals Camille Pissarro, dem ich tiefe Verehrung entgegenbrachte. Ich hatte ihn 1894 während seines Aufenthaltes in Belgien kennengelernt, als im ersten Salon der ‘Libre Esthétique’ einige seiner meisterlichen und farbig außergewöhnlichen Bilder ausgestellt waren. Im März 1896 schrieb er mir einen inzwischen historisch gewordenen Brief, der Aufschlüsse über seine Bekehrung zum Neo-Impressionismus und über seine Abkehr von dieser malerischen Methode gibt. | |
Rouen, 27. März 1896Lieber van de Velde, beim Lesen in der ‘Revue Blanche’ finde ich in Ihrem bemerkenswerten Artikel über die Ausstellung der ‘Libre Esthétique’ die folgende Bemerkung: ‘Nächstes Jahr werden die Neo-Impressionisten aufgefordert... etc.’ Sie nennen auch meinen Namen. Ich glaube, mein lieber Freund, es ist meine Pflicht, Ihnen aufrichtig zu schreiben, wie ich meine Versuche beurteile, die ich mit der divisionistischen Malerei unseres verstorbenen Freundes Seurat gemacht habe. Kurz gesagt, ich kann nicht mehr zu den Neo-Impressionisten gerechnet werden, nachdem ich die systematische Anwendung der Theorie des Divisionismus aufgegeben und in mühevoller, strenger Arbeit wiedergefunden habe, was ich verloren hatte. Ich habe eingesehen - ich spreche nur in meinem eigenen Namen -, daß es unmöglich ist, meine raschen Eindrücke festzuhalten, um Leben, Bewegung zu geben; unmöglich, den tausendfältigen Formen der Natur nachzugehen, unmöglich oder zu schwer, meiner Formensprache Charakter zu geben, ohne leer zu werden - ich habe auf den Neo-Impressionismus verzichten müssen, es war hohe Zeit. Wahrscheinlich war ich für diese Art Kunst nicht geschaffen, sie gibt mir das Gefühl der Gleichgültigkeit, des Todes! Ja, mein Freund, des Todes. Ich finde in ihr keine Harmonie und auch nicht modernes Leben. Zweifellos ist das große Bild Signacs ein lobenswerter und mutiger Versuch, aber ich finde es nicht überzeugend, im Gegenteil. | |
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Genau das denke ich... Überlegen Sie selbst, was für eine jämmerliche Figur ich machen würde. Entschuldigen Sie meine Offenheit und seien Sie freundschaftlich gegrüßt.
C. Pissarro
Meine verehrungsvollen Grüße an Ihre Frau und Madame Sèthe.
Wie gut konnte ich diese Enttäuschung verstehen-heute noch besser als damals. Ich mußte andere Qualen durchmachen, um mich zu befreien und von Zweifeln zu lösen. Camille Pissarro kehrte wie ein weiser alter Mann von einem momentanen Rausch zu sich selbst zurück - er malte wieder, ‘wie ein Vogel singt’. Als ich Pissarros Brief erhielt, lebte ich noch in engem Kontakt mit meinen Malerfreunden, und es interessierte mich, neue, unbekannte Maler kennenzulernen. In bestimmten Augenblicken fühlte ich starke Anwandlungen, die Malerei wiederaufzunehmen. Aber ich durfte mich der Verantwortung nicht entziehen, die mir meine Mission auferlegte. |
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