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Was dachte Shakespeare über Poesie
von Dr. Paul Hamelius
I
Es bedarf gewiss einer Erklärung, vielleicht sogar einer Entschuldigung, wenn ich mir erlaube, über Shakespeare zu schreiben, ohne die ganze ungeheure Spakespeare-Literatur durchgearbeitet zu haben. Zunächst ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass die von mir darzulegenden
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Gedanken schon anderwärts, wohl gar gründlicher und glücklicher entwickelt worden seien. Das ist allerdings, soweit ich mich in der Shakespeare-Bibliographie habe umsehen können, nicht der Fall. Wenn ich mich aber hierin irren sollte, müsste ich meines unbewussten Plagiats wegen um Verzeihung bitten.
Der Veranlasser und Mitschuldige des Verbrechens wäre dann der englische Professor Knight, der in seinem Grundrisse der Aesthetik gelegentlich bemerkt, dass in Shakespeare ein reicher Schatz von Bemerkungen über Poesie und Kunst enthalten sei, auf welchem man eine ganze Aesthetik aufbauen könnte. Diese Behauptung hat mich veranlasst, alle Stellen in den Werken unseres Dichters zu notiren, woraus sich auf seine ästhetischen und kritischen Ansschauungen irgendwie schliessen liesse. Das Ergebnis dieser langwierigen aber äusserst fesselnden Untersuchung lege ich hiemit dem geneigten Leser kurz vor, ohne jedoch behaupten zu wollen, dass es eben den von Knight gehegten Erwartungen entspreche. Der ahnungslose englische Professor mag also einen Teil der Verantwortlichkeit für die vollbrachte Arbeit auf seine unschuldigen Schultern nehmen.
Es darf nicht übersehen werden, dass die von mir gesammelten Anspielungen auf literarische Probleme, welche Shakespeare entweder in seinem eigenen Namen ausspricht, oder den Personen in seinen Dramen in den Mund legt, nur den geringeren Teil des Materials ausmachen, aus welchen sich seine Ansichten erschliessen lassen. Das ganze von ihm errichtete poetische Gebäude können wir ja als ein Zeugnis für die Einsicht und die Grundsätze des Baumeisters ansehen. Hier aber betrachten wir ihn nicht als thätigen Schöpfer, sondern nur als kritischen Beurteiler der Literatur.
Ich hatte ursprünglich im Sinne, eine gründliche, mit vollständigem philologischen Apparat ausgestattete Abhandlung zu liefern, welche sich an meine Geschichte der englischen Kritik im 17. und 18. Jahrhundert als Ergänzung ange- | |
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schlossen hätte. Da ich aber die erhoffte kostbare wissenschaftliche Ernte nicht einheimsen konnte, schrumfpte der Plan zu einem bescheidenen Artikel zusammen, mit dem ich ersuche, vorlieb nehmen zu wollen. Ich habe mich bestrebt, sowohl die Nachklänge fremder kritischer Erorterungen als meine persönlichen Einfälle soviel als möglich zurückzudrängen, um den herangezogenen Shakespeare'schen Zitaten ihre volle Geltung zu lassen.
Solange wir uns nicht zu weit aus dem labenden und erquickenden Schatten entfernen, den der Alles belebende Dichter um sich verbreitet, solange sein heiliger Odem aus seinen eigenen Schöpfungen und Worten uns entgegenweht, werden wir uns nicht in die öde Wildnis der philologischen Erörterungen verbannt fühlen. Wir müssen aber sorgfältig zwischen Shakespeares geliebten Werken und seiner nicht weniger geliebten, aber jeder näheren Bekanntschaft scheu entschlüpfenden Persönlichkeit unterscheiden. Ueber letztere haben wir nur wenige zuverlässige Aufschlüsse, und sie blitzt nur dann und wann, wie das flüchtige Reh im Walddickicht, ihren Bewunderer an, ohne sich je festhalten zu lassen. Die Werke dagegen bieten dem Forscher einen reichen, festen Stoff, aber sind auf ihre Weise nicht weniger schwer zu enträtseln, als die Gestalt des Dichters selbst. Die üppige Fülle van Gedanken und Empfindungen, der endlose Wechsel der gebotenen Formen und Stimmungen, verwirren den Geist ähnlich wie, beim Anblick einer bewegten See, der unaufhörliche Wellenschlag, das Steigen und Fallen, Leuchten und Dunkeln des Meeresspiegels das Auge verwirren. Wald und Meer bewirken durch entgegengesetzte Erscheinungen verwandte Arten des Taumels. So haben wir das gleiche befremdende Gefühl bei Shakespeares halbverschleierter Persönlichkeit und seinen reichhaltigen poetischen Werken.
Was dachte Shakespeare über Poesie? - Was er dachte, war gewiss zu verschiedenartig und zu tiefsinnig, als dass wir es leicht zusammenfassen könnten. Wir brauchen uns
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also nicht zu schämen, wenn eine bestimmte, befriedigende Lösung der Frage ausbleiben sollte. Wir achten uns belohnt genug, wenn wir die Frage aufgeworfen, das einschlägige Material gesammelt und die Richtung angegeben haben, in welcher die Antwort zu vermuten ist. Dieses Verfahren dürfte den Leser an das bekannte englische Sprichwort erinnern: Ein Thor stellt mehr Fragen, als ein weiser Mann beantworten kann. Ob ich in diesem Falle als der Weise oder als der andere auzusehen sei, möge der Leser selbst entscheiden.
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II.
Jeder Andeutung über Literatur und Kunst bar sind nur sehr wenige von Shakespeare's Schriften, nämlich acht von den sechs und dreissig Dramen und eines der zwei kleinen Epen. Die neun Werke, worin die Literatur gar nicht erwähnt wird, stammen weder aus einer und derselben Periode der dichterischen Thätigkeit, noch gehören sie einer der vier Arten an, in welche man die Werke des grossen Dramatikers gewöhnlich einteilt. Es sind: zwei Komödien (Mass für Mass und die Komödie der Irrungen); drei Historien (der zweite und dritte Teil Heinrichs IV. und Richard der Dritte); drei Tragödien (Coriolanus, Antonius und Cleopatra und Othello), und ein Epos (Venus und Adonis.) Diese Werke entstanden zu den verschiedensten Zeitpunkten, und zwar gehört eines zu seinen allerersten, ein anderes zu seinen allerletzten Schriften.
Betrachten wir umgekehrt diejenigen Werke, welche uns die grösste Fülle von kritischen Bemerkungen bieten, so finden wir sechs Dramen, welche sich über das ganze Leben des Dichters ziemlich gleichmässig verteilen. Er sind zunächst zwei Komödien: Erstens ‘Verlorene Liebesmüh’, eines seiner Erstlingswerke, welches ganz mit einer Schilderung poetischen Strebens erfüllt ist, sodass nicht weniger als sieben Dichter darin auftreten. Zweitens ‘der Sommernachtstraum’, in welchem ein Schauspiel ‘Pyramus und Thisbe’ zur Belustigung der Personen im Drama von einigen Handwerksburschen aufgeführt
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wird. Dieses kleinere Theaterstück, das in das grössere eingeschaltet erscheint, gibt zu einer Reihe von meist spöttischen Bemerkungen über Schauspielkunst und Bühnenwesen Veranlassung.
In dem dritten der sechs Stücke, die uns hier besonders beschäftigen, in der Historie Heinrich V, begegnen wir den Anspielungen auf die Literatur nicht im Verlaufe der Handlung, sondern in den fünf Prologen vor den einzelnen Aufzügen und im Epilog, am Schlusse des ganzen Dramas. Die Tragödie Hamlet enthält, wie der Sommernachtstraum, ein eingefügtes kleineres Trauerspiel, welches die berühmten Aeusserungen des Helden über die Schauspielkunst veranlasst. In einer zweiten Tragödie, im Timon von Athen, tritt unter den Hauptpersonen ein Dichter auf, und verbreitet sich in längeren Betrachtungen über die Poesie. Das sechste und letzte unserer Stücke endlich ist das romantische Schauspiel Wintermärchen, welches im Prologe sowohl wie im Texte einige Kernsprüche über die Literatur enthält. Das Wintermärchen gehört zu den allerletzten Werken unseres Dichters, während, wie gesagt, Verlorene Liebesmüh eines der allerersten ist.
Demnach bemerken wir in Shakespeares Laufbahn keinen Zeitraum, wo der Dichter mehr als gewöhnlich zu literarischer Kritik autgelegt gewesen wäre. In der Jugend wie im Alter, in Zeiten der bittersten Verstimmung wie in der ausgelassensten Fröhlichkeit, im philosophischen Sinnen der Entstehungszeit des Hamlet wie im phantastischen Spiele des Sommernachtstraumes, war also Shakespeare gleichmäsig mit literarischen Problemen beschäftigt. Wie die Poesie die Begleiterin seiner verschiedensten Gefühlswandlungen war, so war sie der beständige Gegenstand seines Denkens. Bei der durchdringenden Geistesschärfe, welche den tiefsinnigen Dichter nie verlässt, war es ja unvermeidlich, dass er die Kunst, die ihm zum Berufe und zur Lebensaufgabe geworden, oft in den Kreis seiner Erwägungen zog.
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Ausser den sechs erwähnten Stücken, welche Shakespeare's zutreffendsten Aussprüche über die Dichtung enthalten, sind aber in den übrigen Werken noch eine ganze Menge von Andeutungen und Anspielungen zerstreut, die sich unmittelbar auf das literarische Leben beziehen. Bald wird mit einem flüchtigen Worte die Stellung angedeutet, welche Balladen und Balladendichter im Volke, Sonette und Sonettendichter beim Adel, einnahmen; bald wird ein Dichter oder reimender Prophet auf die Bühne gebracht, bald über Nutzen und Wert der Künste im täglichen Treiben der Welt gestritten. Alle diese Stellen habe ich gesammelt und zusammengestellt, sodass auch eine nachlässig hingeworfene Bemerkung im Rahmen dieser Arbeit zu der Geltung gelangt, welche ihr durch Vergleichung mit verwandten oder entgegengesetzten Aeusserungen zukommt. Dabei habe ich mich sorgfältig gehütet, Sinn und Wert der einzelnen Behauptungen zu übertreiben, oder die Bedeutung zu verdrehen, welche sie im Munde der betreffenden Personen im Drama haben. Wenn Shakespeare einen Dummkopf eine Dummheit sagen lässt, dürfen wir uns nicht bemühen, die Dummheit durch spitzfindige Erklärungen in einen inhaltsschweren Kernspruch zu verwandeln; und wenn eine Stelle keinerlei Schlussfolgerung zulassen sollte, werde ich sie nicht anführen.
Manchmal erwähnt Shakespeare die Poesie in seinem eigenen Namen, wenn er, wie in den Sonetten, von sich selbst, oder, wie in den Prologen und Epilogen, von seinen eigenen Schöpfungen spricht. In diesen Fällen dürfen wir von seinen Worten auf seine persönlichen Ueberzeugungen schliessen, insofern jene nicht durch Rücksichten auf äusserliche Verhältnisse, auf die Erwartungen des Publikums oder einzelner Gönner bedingt sind. Ganz anders dagegen verhält es sich mit den kritischen Aussprüchen, welche wir bloss aus dem Munde bestimmter Personen im Drama vernehmen. Spricht Hamlet von der Einwirkung eines Schauspiels aut ein böses Gewissen, so meint er nur das Gewissen seines
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Stiefvaters, und wir dürfen seine Ansichten nur sehr vorsichtig auf andere Fälle anwenden. Schwärmen in Verlorener Liebesmüh verliebte Edelleute mit einer verschrobenen Verskünstelei, so dürfen wir ihre Meinungen nicht verallgemeinern. Tritt dagegen in Timon von Athen ein geistreicher, kluger Dichter auf, der nicht unmittelbar in die Handlung eingreift, den Shakespeare sogar nicht mit einem Eigennamen bezeichnet, sondern kurzweg den Dichter nennt, so werden wir schon eher einen Vertreter der Poesie in ihm vermuten.
Der Poet im Timon steht aber unter Shakespeares literarischen Gestalten vereinzelt da. Gewöhnlich werden die Dichter in unsern Dramen nach Stand, Alter, Bildungsstufe und Neigungen schart charakterisirt und nehmen thätig an der Handlung teil, sodass sie nach allen Seiten hin durch äusserliche Verhältnisse eingeschränkt und bestimmt erscheinen. Ihre Kunst wird also immer nur im Zusammenhang mit den Begebenheiten auf der Bühne erwähnt, und nie wird sie in ihrem Wesen, als selbständige geistige Erscheinung aufgefasst. Dies erschwert das Verständnis der auf Literatur bezüglichen Stellen ungemein. Nie weiss der Leser, wieviele von den betreffenden Aeusserungen Shakespeare auf eigene Rechnung annehmen würde, wieviele als blosse Einfälle der Personen im Drama anzusehen sind. Wir werden uns bemühen, die Ideen unseres Dichters zu erschliessen, indem wir ähnliche und entgegengesetzte Stellen gegeneinander abwägen und das gesammte Material mit sich selbst in Einklang zu bringen versuchen.
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III.
Wie die deutschen Minnesänger die Poesie in Gottesdienst, Herrendienst und Frauendienst einteilten, so unterschieden die Engländer der Renaissance streng zwischen geistlicher, höfischer und Hirten- oder Volksdichtung. In der Literatur war eben, wie in der Gesellschaft selbst, das Standesbewusstsein ein herrschendes Element. Mit allen Schriftstellern seiner
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Zeit trennt Shakespeare die Dichtung des Hofes und der Gebildeten streng von der des Volkes. Die Volkspoesie, welche seit Percy's und Herders Zeit jedem Germanen besonders ehrwürdig und lieb ist. kommt dabei schlecht weg. Die Ballade wird nur mit Verachtung erwähnt. Wenn im Sommernachtstraum Zettel, der Weber, seine Eselsohren los wird und erwacht, fasst er gleich den edeln Entschluss, seine tolle Liebschaft mit Titania in einer Ballade besingen zu lassen. Die Begebenheit scheint deshalb dazu geeignet, weil sie so phantastisch ist, denn bei den rohen Verehrern der Ballade findet das Unglaublichste die willigste Aufnahme.
Der Volksdichter tritt im Wintermärchen unter dem Namen Autolycus selbst auf der Bühne auf. Seine Ankunft wird von einem Hirten angekündigt, der ganz ausser sich vor Freude darüber ist. Er ruft seinem Meister zu:
Knecht. ‘O Herr, wenn ihr den Hausirer vor der Thür hören könntet, so würdet ihr nie wieder nach Trommel und Pfeife tanzen, nein, selbst der Dudelsack brächte euch nicht auf die Beine; er singt so mancherlei Melodien, schneller als ihr Geld zählt; sie kommen ihm aus den Munde, als hätte er Balladen gegessen, und aller Ohren hangen an seinen Worten.
Der junge Schäfer. Er konnte niemals gelegener kommen, er soll eintreten. Eine Ballade liebe ich über alles, wenn es eine traurige Geschichte ist, zu einer lustigen Melodie, oder ein recht spasshaftes Ding, und kläglich abgesungen.
Knecht. Er hat Lieder für Mann und Weib, lang und kurz: kein Putzhändler kann seine Kunden so mit Handschuh bedienen; er hat die artigsten Liebeslieder für Mädchen, so ohne Anstössigkeiten, und das ist was seltenes, und so feine Schlussreime mit Dideldum und Trallala, und pufft sie und knufft sie; und wo so ein breitmauliger Flegel gleichsam was Böses sagen möchte, und mit der Thür ins Haus fallen, da lässt er das Mädchen antworten: Heisa, thu mir nichts, mein Schatz; sie fertigt ihn ab und lässt ihn laufen mit: Heisa, thu mir nichts, mein Schatz.
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Polyxenes. Das ist ein allerliebster Kerl.
Nun bietet der Hausirer den Schäfern und Schäferinnen seine Waren an:
Der junge Schäfer. Was hast du da, Balladen?
Mopsa (eine Schäferin.) Ei bitte, kauf ein paar; eine Ballade gedruckt hab ich für mein Leben gern: denn da weiss man doch gewiss, dass sie wahr sind.
Autolycus. Hier ist eine auf eine gar klägliche Weise: Wie eines Wucherers Frau in Wochen kam mit zwanzig Geldsäcken, und wie sie ein Gelüst hatte nach Schlangenköpfen und fricassirten Kröten.
Mopsa. Glaubt ihr, dass das war ist?
Autolycus. Gewiss wahr, und vor einem Monat geschehen.
Dorcas (eine Schäferin). Gott bewahre mich davor, einen Wucherer zu heiraten.
Autolycus. Hier ist der Name der Hebamme, einer gewissen Frau Schwatzmann, und von noch fünf oder sechs ehrlichen Frauen, die dabei waren; warum sollte ich wohl Lügen herumtragen?
Mopsa. Bitte, kauf das.
Der junge Schäfer. Schon gut, legt es beiseit, und zeigt uns erst noch mehr Balladen...
Autolycus. Hier ist eine andere Ballade, von einem Fisch, der sich an der Küste sehen liess, Mittwoch den achtzigsten April, vierzigtausend Klafter über dem Wasser, der sang diese Ballade gegen die harten Herzen der Mädchen; man glaubt, er sei ein Weib gewesen, die in einen kalten Fisch verwandelt ward, weil sie einen, der sie liebte, nicht glücklich machen wollte. Die Ballade ist sehr kläglich und ebenso wahr.
Dorcas. Glaubt ihr, dass das auch wahr ist?
Autolycus. Fünf Beamte haben es unterschrieben, und Zeugen mehr, als mein Packet fassen kann.
Der junge Schäfer. Legt es auch beiseit; noch eine.
Autolycus. Dies ist eine lustige Ballade, aber eine sehr hübsche.
Mopsa. Einige lustige müssen wir auch haben.
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Autolycus. Nun, dies ist eine sehr lustige, und sie geht auf die Melodie: Zwei Mädchen freiten um einen Mann, es ist kaum ein Mädchen da nach dem Westen zu, das sie nicht singt; sie wird sehr gesucht, das kann ich euch sagen.
Mopsa. Wir beide können sie singen: willst du eine Stimme singen, so kannst du sie hören; sie ist dreistimmig.
Dorcas. Wir haben die Weise schon seit einem Monat.
Autolycus. Ich kann meine Stimme singen; ihr müsst wissen, das ist eigentlich meine Beschäftigung. Nun fangt an.
(Sie singen.).
(IV, 3.)
Um das Volkslied so stiefmütterlich behandeln zu dürfen, mussten die Hof- und Theaterdichter des XVI. Jahrhunderts bei ihren Zuhörern ein sehr beschränktes Mass von Verständnis für den Zauber der altenglischen Balladendichtung voraussetzen. Shakespeare selbst kann den Wert derselben unmöglich ganz verkannt haben, aber er mochte sich von manchen rohen Seiten des Volkswesens abgestossen fühlen, denn selbst in seinen Anspielungen auf Literatur verrät er eine ausschliesslich aristokratische Gesinnung. Der Taugenichts Autolycus und seine harmlosen Zuhörer werden gutmütig verspottet. Zu tragischer Wirkung dient dagegen die Volksdichtung in Lear nnd Hamlet. Die wahnsinnige Ophelia, der Narr des Königs Lear und der bettelnde Fürstensohn Edgar singen in Situationen des grössten Jammers und der höchsten Erbitterung Strophen und Verschen aus kindischen oder mutwilligen Liedern, welche das Ergreifende ihres Zustandes bis ins Grässliche steigern. Hier wirken die Lieder nicht durch sich selbst, sondern im Kontrast zu den Handlungen auf der Bühne. Die Thatsache aber, dass sie in zwei Meisterstücken in den packendsten Auftritten gesungen werden, zeugt von der ihnen innewohnenden Gewalt, und von der Liebe, welche Shakespeare den Gassenhauern, für welche seine adeligen Gönner nur Verachtung hatten, nicht ganz verweigerte. Im grossen Ganzen freilich müssen wir annehmen, dass er die Poesie als eine Frucht der Bildung und als das Eigentum der Gebildeten, nicht als eine schlichte Blüte des Volkslebens, ansah.
(Fortsetzung folgt.)
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