Was hat uns dieser Gast wohl zu erzählen? oder Die Jagd nach dem Nobelpreis
(1997)–Ingrid Wikén Bonde– Auteursrechtelijk beschermdZur Rezeption niederländischer Literatur in Schweden
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2. Forschungsstätten und Informationsquellen2.1. Niederländisch an den Universitäten2.1.1. Praktische und wissenschaftliche Motive.Für ein Studium des Niederländischen im Ausland gibt es von alters her zwei unterschiedliche Motive. Das eine ist das vom praktischen Leben bedingte Interesse an den vier Sprachfertigkeiten (Lesen, Verstehen, Sprechen, Schreiben), das andere ein wissenschaftliches Interesse an der Literatur und an der Sprache selbst. Die praktischen Bedürfnisse sind weit älter als die Germanistischen Institute, in deren Schoß sich das Niederländische in den meisten Fällen zum ersten Mal als Universitätsfach entfalten konnte, zunächst mit dem Status eines Nebenfaches, dann - im besten Falle - als selbständiges Fach.Ga naar voetnoot25 Sprachführer des Niederländischen sind schon aus dem Mittelalter bekanntGa naar voetnoot26. Hat es sie auch für Schweden gegeben? Und wie haben die vielen schwedischen Studenten, die im 17. Jahrhundert an die niederländischen Unversitäten zogen, die Sprache erlernt?Ga naar voetnoot27 Wrangel schreibt nichts darüber, wie Königin Christina Niederländisch lernte, nur dass es ihr geläufig war [1897, 202]. In der von mir untersuchten Zeitspanne ist als ältestes niederländisches Wörterbuch in Skandinavien das norwegisch/dänische von Jaeger (1826-1831)Ga naar voetnoot28 bekannt. Es wurde für den Handel zusammengestellt. Auch das erste schwedisch-niederländische Wörterbuch (1907) zielte auf einen wichtigen praktischen Bedarf. Es ist das Werk des ehemaligen Ersten Leutnants der Niederländischen Ostindischen Armee, später in Breda als Lehrer an der Militärkademie tätigen Schweden G. Ström. Er | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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ergänzte es im Jahre 1916 mit einem niederländisch-schwedischen Teil. Ström verwendet im Titel auf schwedisch den Ausdruck holländska für nl. Nederlandsch. Auf Niederländisch verwendet er neben Nederlandsch auch Hollandsch. In den Vorreden zu den Bänden motivierte er die Herausgabe seines Wörterbuches erstens mit der nahen Verwandtschaft der beiden Sprachen, zweitens mit dem reichen Schatz der schwedischen Wissenschaft und Literatur, drittens mit dem zunehmenden Handel zwischen den beiden Ländern und viertens damit, dass eine große Anzahl von Niederländern nach Schweden zog, um Gymnastik, Massage und slöjd (volkstümliches Kunsthandwerk) zu studieren. Es ist also u.a. das Erbe der schwedischen Pioniere in Gymnastik und slöjd, Ling und AbrahamssonGa naar voetnoot29, dem dieses niederländische Interesse für die schwedische Sprache zu verdanken ist. Im Jahre 1917 gab Ström ein schwedisches Sprachlehrbuch für den Selbstunterricht heraus.Ga naar voetnoot30 Beide Hilfsmittel, sowohl Wörterbuch wie Lehrbuch, entstanden somit aus dem Interesse von niederländischer Seite für den schwedischen Kulturkreis. Die Rollen waren seit dem 17. Jahrhundert umgekehrt (siehe S. 198f.). Ein kleines Taschenwörterbüchlein des Jahres 1928 zeigt, dass inzwischen auch der Fremdenverkehr seine Anforderungen stellte.Ga naar voetnoot31 Als allerdings im Jahre 1932 in Lund die Germanistikstudentin Kerstin Berggren von Professor Rooth die Erlaubnis bekommen hatte, statt einer Prüfung in Mittelhochdeutsch eine in modernem Niederländisch abzulegen, verwendete sie als Hilfsmittel bei ihrer Vorbereitung u.a. ein | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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deutsches Wörterbuch.Ga naar voetnoot32 Das könnte darauf schließen lassen, dass Ströms Wörterbuch nicht mehr erhältlich war. Auch das nächste größere Wörterbuch entstand in den Niederlanden. Im Jahre 1946 gab die Ordinaria für Skandinavistik an der Universität Amsterdam, P.M. Boer-den HoedGa naar voetnoot33, ein schwedisch-niederländisches Wörterbuch heraus, 1953 folgte der niederländisch-schwedische Teil. Es zeigte sich dabei, dass das von PotgieterGa naar voetnoot34 herrührende Schwedenbild, mit der Assoziationsreihe Tegnér - Bremer - Natur, immer noch bestand. In der Vorrede des ersten Teils begründete Boer-den Hoed nämlich die Aufnahme von veralteten schwedischen Wörtern in ihr Wörterbuch damit, dass Niederländer, die sich dem Studium des Schwedischen widmeten - vor allem wenn es ihnen um ein Examen ging -, Tegnér lesen würden. Dass in ihrem Wörterbuch, verglichen mit der Anzahl von Fachwörtern aus anderen Disziplinen, so zahlreiche botanische Namen und Vogelnamen stehen, begründete sie mit deren häufigem Vorkommen in der schwedischen Poesie [Boer-den Hoed 1946]. Sie hatte schon in ihrer Antrittsvorlesung als Lektorin [den Hoed 1929, 3] hervorgehoben, dass das Interesse der damaligen Germanistik für ältere Sprachschichten ihre Ausüber genötigt hatte, skandinavische Sprachen zu erlernen, um die darin verfasste Fachliteratur und die Lexika des Altnordischen lesen zu können. Daraus erwuchs dann allmählich das Interesse für die modernen skandinavischen Sprachen. Während einiger Jahrzehnte wurde an der Universität Groningen mit Unterstützung der niederländischen, flämischenGa naar voetnoot35 und schwedischen Regierungen an einem modernen Wörterbuch gearbeitet.Ga naar voetnoot36 | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Zur Zeit des Studiums der oben genannten Studentin Kerstin Berggren, waren schwedische Germanisten in den älteren Entwicklungsstadien der niederländischen Sprache gut bewandert. Professor Rooth interessierte sich aber ebenfalls für das moderne Niederländisch. Sein Schüler Gustav Korlén erzählt heute noch mit Freuden von dem Trichtergrammofon, mit dessen Hilfe Rooth Beispiele für moderne niederländische Sprache zu hören gab. An den Universitäten wurde dieser praktische Unterricht sonst oft von native speakers ohne niederlandistische Ausbildung erteilt, so z.B. dem Skandinavisten Stalling 1910 in Uppsala (vgl. Fußnote 9), der Sanskritistin Muusses 1930 in Stockholm oder den Vertretern der katholischen Kirche in Finnland. Ab 1947 gab es zu diesem Zweck an den schwedischen Sprachabteilungen der Universitäten sogenannte ausländische Lektoren. Der praktische Bedarf an Sprachkenntnissen spielte dann allmählich im akademischen Sprachunterricht in ganz Skandinavien eine immer größere Rolle. Nicht zuletzt der Beitritt zu den europäischen Institutionen hat dazu beigetragen. Als Dänemark in den siebziger Jahren Mitglied der EEG wurde, bedeutete dies die Rettung für die bedrohte Niederlandistik an der Universität von Kopenhagen. Dänemark brauchte Leute, die Niederländisch konnten [de Rooij 1993, 163]. Dass Finnland 1995, in Zeiten der Sparmaßnahmen, trotzdem ein festes Lektorat für Niederländisch erhielt, wird vom neuernannten Lektor Peter Starmans ebenfalls durch den Beitritt Finnlands zur EU erklärt. Ein praktischer Sprachunterricht in modernem Niederländisch wird heute an sämtlichen nordischen Abteilungen für Niederlandistik gegeben. Überall wird aber auch betont, dass der niederländische Unterricht nicht zu einem einfachen Sprachkurs entarten darf, sondern gleichzeitig auch ein theoretisches sprach- und literaturwissenschaftliches Studium bleiben soll. In Schweden hört man oft die Auffassung, Niederländer, Flamen und Schweden könnten sich doch auf englisch miteinander unterhalten. Es zeigt sich aber immer wieder, dass ein richtig freundschaftlicher Kontakt | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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erst dann entsteht, wenn man versucht, die Sprache des Andern zu erlernen.Ga naar voetnoot37 | |||||||||||||||||||||||||||||||||
2.1.2. Die Universitäten.Im Jahre 1883 wurde in Schweden in Uppsala zum ersten Mal eine Frau zum Doktor promoviert. Ihr Name war Ellen Fries (1855-1900), und der Titel ihrer Abhandlung lautete Bidrag till kännedomen om Sveriges och Nederländernas diplomatiska förbindelser under Karl X Gustafs regering. Sie hat als erste auf die Bedeutung der niederländisch-schwedischen Kontakte in älterer Zeit hingewiesen und sie war es, die Ewert Wrangel zu seiner oben genannten Arbeit anregte. Dass Wrangel, seit 1899 in Lund Inhaber von Schwedens erster Professur für Ästhetik, Literaturund Kunstgeschichte, in seiner Forschungsarbeit ein so großes Interesse für die schwedischen Beziehungen mit den Niederlanden zeigte, weist darauf hin, dass die Einflüsse größer waren, als man im allgemeinen in schwedischen Lehrbüchern für Geschichte, Kunst und Literatur erfährt.Ga naar voetnoot38 Er schildert zuerst die militärischen Kontakte zwischen den beiden Ländern Schweden und der Republik, dann den niederländischen Einfluss auf den Handel, die Industrie und die bildenden Künste in Schweden. Es folgen Kapitel über die Studien schwedischer Studenten an niederländischen Universitäten, über die niederländischen Gelehrten am Hofe Königin Christinas und den Einfluss niederländischer Gelehrter auf die schwedischen Wissenschaften. Ganz zuletzt kommt ein Kapitel über die Einwirkung der niederländischen Literatur auf die schwedische. Diese Reihenfolge ist bezeichnend. Für schwedische Historiker und Kunsthistoriker sind die Niederlande keine terra incognita. Die großen Künstler sind außerdem allgemeines Bildungsgut. Die Juristen kennen ihren Grotius, die Naturwissenschaftler ihren Huygens. Erasmus kommt | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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in Schulbüchern vor. Die letztgenannten drei schrieben alle auf LateinGa naar voetnoot39. Das war ihr Glück. Sonst hätte im Ausland wohl niemand je von ihnen gehört. Wrangel verwendet als Bezeichnung für die Niederlande auf schwedisch Nederland und de förenade Nederlanden - nach seiner Auffassung die ‘ursprüngliche’ Benennung - meistens aber Holland - die ‘gewöhnliche’ Benennung [1897, 1]. Ferner spricht er von nederländare, holländare und - wo es sich um Flamen handelt - flamländare [z.B. 190]. Die Sprache heißt bei Wrangel nederländska und holländska. Für die Malerei verwendet Wrangel die Adjektive flandrisk [21], flamländsk und holländsk, für Literatur und Dichter des gesamten Kulturbereichs nederländsk und holländsk. Der Flame Conscience gerät somit in Wrangels Übersicht in eine Aufzählung holländischer Schriftsteller. Letzteres ist aus intramuraler Sicht eine komische Abweichung. Conscience symbolisiert immerhin wie kein anderer die Wiederbelebung des flämischen Selbstbewusstseins zur Zeit der Romantik und der flämischen Bewegung.Ga naar voetnoot40 Wir werden im Folgenden immer wieder auf diese Diskrepanz zwischen dem intramural Möglichen und der in Schweden eingebürgerten Verwendung des Ausdrucks holländsk für das gesamte Kulturgebiet stoßen. Ein weiteres terminologisches Problem bietet die alte Auffassung vom Niederländischen als Tochtersprache oder Dialekt des Deutschen.Ga naar voetnoot41 Der Leipziger Altmeister der deutschen Niederlandistik, Theodor Frings, schuf zwar das Bild der drei gleichwertigen Schwestern Hochdeutsch, Niederdeutsch und Niederländisch [Frings 1944, 10]. Trotzdem lebt, auch unter Germanisten in Schweden, sporadisch ein Wortgebrauch weiter, der | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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unter deutsch/tyska auch das Niederländische einordnetGa naar voetnoot42, was intra muros nicht mehr akzeptiert wird.Ga naar voetnoot43 Während sich die niederländischen Sprachwissenschaftler Skandinavien zuwandten, um in den skandinavischen Quellen die Wurzeln ihrer eigenen Sprache zu suchen (vergl. S. 17f.), suchten die Skandinavier - und zwar nicht nur die Deutsch-Germanisten, sondern auch die Anglisten, Skandinavisten und Linguisten - in ihrem Studium des Friesischen, Altsächsischen, Mittelniederdeutschen und Mittelniederländischen den Hintergrund für dynamische Entlehnungsperioden der eigenen Sprachen (siehe z.B. [Korlén 1946 und 1976]). Durch die frühen Handelsbeziehungen des Nordens mit Friesland und später mit der Hanse und durch den regen Kontakt im 17. Jahrhundert waren die skandinavischen Sprachen nicht nur vom Niederdeutschen, sondern auch - wenn auch in bedeutend kleinerem Ausmaß - vom Friesischen und Niederländischen beeinflusst worden. Die Entwicklung war im ganzen Norden ähnlich. In Dänemark gehörten Sarauw, Jørgensen und Hyldgaard-Jensen zu den Forschern im älteren niederdeutschen und friesischen Bereich. In den 20-er Jahren beginnt der Umschwung zum modernen Niederländisch. Der Sarauw-Schüler Louis L. Hammerich, 1922-1958 Professor für Deutsch in Kopenhagen, konnte gut Niederländisch. Er führte das Studium des modernen Niederländisch an der Universität von Kopenhagen ein (1926).Ga naar voetnoot44 Aus dem Cercle linguistique de Copenhague stammt die bekannte Studie über das Adverbialpronomen er von G. Bech (1952), eine Untersuchung des modernen Niederländisch. Das erste ‘ausländische’ Lektorat (eine zeitlich begrenzte Anstellung) für Niederländisch kam 1950 zustande. Eine feste Stelle für Niederländisch, die einer amanuensis (Aufgabe: Unterricht), gab es seit 1965. Sie wurde | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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1972 in ein Lektorat (Aufgabe: Unterricht und Forschung) umgewandelt [de Rooij 1993, 175]. In Norwegen gehörten Brattegard, Dal, Selmer, Schöndorf und Westergaard zu einer Generation von Wissenschaftlern mit weitgefächertem Interesse für ältere Sprachschichten. Im Jahre 1959 erreichte Ingerid Dal, dass Niederländisch in Oslo ein selbständiges Studienfach wurde. Die philologische Tradition wurde dort unterbrochen, als der erste skandinavische Professor für Niederländisch (1972-1989, de facto bis 1991), K. Langvik Johannessen, aus der literaturwissenschaftlichen Disziplin kam.Ga naar voetnoot45 In Finnland widmeten sich Öhmann, Katara und Tilvis u.a. dem Studium der mittelniederländischen Vermittlerrolle bei der Vermittlung der französischen höfischen Kultur ins deutsche Sprachgebiet. Das Interesse der schwedischen Germanisten für die niederdeutsche Variante des Deutschen, hatte zur Folge, dass man gelegentlich auch über mittelniederländische Themen publizierte [Wikén Bonde 1975].Ga naar voetnoot46 Es wurde von den Professoren auch Unterricht in Niederländisch erteilt. Der Schwerpunkt lag dabei bis in die sechziger Jahre auf den linguistischen Aspekten des Mittelniederländischen. Man las Van den vos Reinaerde. Der Literaturunterricht wurde den ausländischen Lektoren überlassen [Muusses 1967, 114]. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
GöteborgIn Göteborg war 1900-1928 der Skandinavist-Anglist-Frisist E. Wadstein Professor für neuere europäische Sprachen (1913, als der englische Lehrstuhl zustande kam, de facto für deutsch). Wadsteins Interesse galt vor allem den Handelsbeziehungen der Friesen mit dem Norden und den friesischen Lehnwörtern in den nordischen Sprachen.Ga naar voetnoot47 Wadsteins | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Nachfolger 1930 war John HolmbergGa naar voetnoot48, der 1934 nach Uppsala übersiedelte, wo er bis 1951 den deutschen Lehrstuhl besetzte. Nachfolger Holmbergs in Göteborg 1935-1949 war Axel Lindqvist. Ihm gelang es, finanzielle Mittel dafür zu erhalten, dass Martha A. Muusses (siehe oben, Fußnote 44 und S. 29ff.) 1944-1946 alle vierzehn Tage nach Göteborg fahren konnte, um dort Niederländisch zu unterrichten.Ga naar voetnoot49 1947 kam ein ausländisches Lektorat für Niederländisch zustande. Die Lektorin, Louise van Wijk, hatte sowohl in Lund wie in Göteborg Unterrichtsverpflichtungen. Im Jahre 1951 wurde Lindqvist von Torsten DahlbergGa naar voetnoot50 abgelöst, während dessen Professorenzeit (1951-1973) Niederländisch 1961 zu einem selbständigen Studienfach wurde. Nach der Lektorin Louise E. van Wijk, die 1954 pensioniert wurde, unterrichteten in kurzen Zeitspannen abwechselnd flämische und niederländische Lektoren: Victor Claes, Alex Wethlij, Wilfried Verhaert und Gerrit Otterloo, der 1978 der erste universitetslektor (i.e. Wissenschaftlicher Rat) wurde. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
UppsalaIn Uppsala wurde der Deutsche Lehrstuhl 1906 von Hjalmar Psilander besetzt, der ebenfalls aus dem niederdeutschen Forschungsbereich kam.Ga naar voetnoot51 Bei Psilander promovierte u.a. Hans ReutercronaGa naar voetnoot52, der als Berater des Nobelkomitees und als Übersetzer für die niederländische Literatur in Schweden eine Rolle spielen sollte (siehe S. 102. und S. 189). Ein anderer | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Schüler Psilanders, der spätere Bibliotheksoberrat der Universitätsbibliothek in Uppsala Elof CollianderGa naar voetnoot53, machte 1921 auf ein Unikum der niederländischen Reformationszeit, den sog. Deventer Endechrist, aufmerksamGa naar voetnoot54 und publizierte 1927 einen Artikel über die niederländischen Postinkunabeln der Bibliothek. Nach Psilander hatten John Holmberg 1934-1951, der Altmeister der schwedischen Frisistik Ernst LöfstedtGa naar voetnoot55 1951-1960, Lars HermodssonGa naar voetnoot56 1960-1983 und John Evert Härd 1983-1997 die Professur in Germanistik inne, die alle Arbeiten auch aus dem mittelniederdeutschen, mittelniederländischen oder frisistischen Bereich vorgelegt haben. In Uppsala wirkte als Universitätsdozent ferner Birger Sundqvist, der über deutsche und niederländische Personennamen in Schweden bis 1420 promoviert hatte [Sundqvist 1957]. Mitte Januar des Jahres 1910 kam der Amsterdamer Deutschlehrer N.C. Stalling nach Stockholm, um Sprachstudien zu betreiben. Von Psilander erhielt er den Auftrag, an der Universität von Uppsala einen Kurs in Niederländisch zu geben. Im Juni lag ein Lehrbuch [Stalling 1910] vor, das eine Lautlehre, eine Grammatik, einen Textteil mit Originaltexten und deren Übersetzung ins Schwedische sowie eine Übersicht der niederländischen Literatur umfasste.Ga naar voetnoot57 Stalling spricht im Buchtitel von holländsk språklära, im Untertitel aber von nederländska. Er verwendet im Vorwort beide Wörter (en kurs i nederländska språket, stort intresse för holländskan), später nur holländska. Auch in dem Abschnitt über die Literatur spricht Stalling von holländsk, auch wenn es die Flamen betrifft, was für einen Niederländer sehr erstaunlich ist. Er dankt in seinem Vorwort dem Lehrer J. Nordlander für die Korrektur des schwedischen Textes. Verdanken wir das holländska dieser schwedischer Korrektur? Man bekommt den | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Eindruck, Stalling wehre sich anfangs vorsichtig, gebe aber schließlich im Laufe des Textes den Versuch auf, die Benennung nederländsk zu verwenden. Von den Schriftstellern, deren Texte mit Übersetzungen abgedruckt wurden, sind Jonathan (Johannes Hasebroek, 1812-1896) und die einst so erfolgreichen Bühnenautoren Nomsz (1738-1803) und Juliana de Lannoy (1738-1782) heute völlig vergessen. Smit Kleine, Boele van Hensbroek, Heije und die Dichterin Hélène Swart gehören ebenfalls nicht länger zu den Autoren, die man heute erwähnen würde, während sich Multatuli, Oltmans, Van Eeden, Hooft und Vondel als Klassiker bewährt haben. Unter den Flamen nennt Stalling in seiner Literaturübersicht nur Autoren und Werke des Mittelalters (Maerlant, Anna Bijns, Van den Vos Reinaerde und die Abele Spelen). Seine Darstellungsweise stimmt in dieser Hinsicht überein mit dem in intramuralen nordniederländischen Literaturgeschichten heute noch üblichen Verschweigen der modernen und der Annektierung der mittelalterlichen flämischen Literatur (siehe Abschnitt 2.2., S. 35). Anhand der handschriftlichen Notizen in Exemplaren des Stallingschen Lehrbuches, die der niederländischen Abteilung geschenkt wurden, kann man konstatieren, dass beim Examen großen Wert auf den linguistischen Kommentar gelegt wurde.Ga naar voetnoot58 Weiter zeigt die Herkunft der Exemplare aus dem Besitz zweier Lunder Germanisten. dass das Buch nicht nur in Uppsala verwendet wurde. Wie der niederländische Unterricht in Uppsala nach der Heimreise von Stalling fortgeführt wurde, geht aus dem Bericht von Martha Muusses (siehe S. 24, Fußnote 48) hervor. John Holmberg weist wiederholt in Rezensionen niederländischer Arbeiten auf die Bedeutung des Niederländischen hin.Ga naar voetnoot59 Er erreichte, dass Martha A. Muusses seit dem Jahre 1941 in Uppsala in Literatur und modernem Niederländisch unterrichten konnte. Als 1947 das ausländische Lektorat zustande kam, | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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hatte sie in Uppsala und Stockholm Unterricht zu erteilen, wie auch ihre Nachfolger J. de Rooy, Annie Stålbrand Delfosse, Christiane Beke und Ingrid Wikén Bonde. Im Jahre 1973 wurde das ausländische Lektorat nach Stockholm verlegt, wo Niederländisch 1966 ein eigenständiges Studienfach geworden war. Damit hörte die Uppsalienser Tradition auf. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
LundMit dem Ordinariat Erik Rooths in Lund (1932-1954) beginnt eine Blütezeit der niederdeutschen und niederländischen Sprachforschung in Schweden. RoothGa naar voetnoot60 hatte in Uppsala über Westfälische Psalmen promoviert. Im Jahre 1926 fand er in der Lunder Universitätsbibliothek 16 Minnelieder eines unbekannten limburgischen Minnedichters aus dem 13. Jahrhundert. Diesen Befund publizierte er 1928 in einer diplomatischen Ausgabe [Rooth 1928]. Diese Gedichte machen, zusammen mit Veldekes 25 lyrischen Gedichten und den 9 Texten des Jan I von Brabant, so gut wie die gesamte mittelniederländische Lyrik aus, die bekannt ist. Rooth ist der Vater der berühmten Lunder Schule, Zentrum der niederdeutschen Studien schwedischer Germanisten. Im Jahre 1944 entstand unter seiner Ägide Sällskapet för lågtysk forskning, eine Gesellschaft, die sich zum Ziel stellte, das Studium der niederdeutschen Sprache, Literatur und Kultur von den ältesten Zeiten bis zum heutigen Tag zu fördern, wobei der Begriff Niederdeutsch im weitesten Sinne aufzufassen war und somit auch die holländisch-flämischen und friesischen Kulturgebiete umfassen sollte [übersetzt nach Korlén 1946, 396]. Von den neunzehn von Rooth angeregten Lundenser Doktorarbeiten behandeln zwölf ein niederdeutsches Thema. Forum der Arbeitsgemeinschaft war die Zeitschrift Niederdeutsche Mitteilungen (1945-1974). Zahlreiche Rezensionen niederländischer wissenschaftlicher Arbeiten beweisen, dass es den schwedischen Germanisten nicht an niederländischer Lesefertigkeit gefehlt hat. Das Interesse war allerdings meist auf das Mittelniederländische gerichtet, z.B. [Rooth 1960 und | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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1963/65]. Unter den Schülern Rooths nimmt Nils Törnqvist aus niederlandistischer Sicht eine hervorragende Position ein. Er untersuchte u.a. das niederländische Lehngut im Schwedischen.Ga naar voetnoot61 Ein anderer Germanist, Nils Otto HeinertzGa naar voetnoot62, beschäftigte sich mit u.a. niederländischer Sprach- und Textgeschichte.Ga naar voetnoot63 Bei Rooth konnten Studenten als Teil ihres Studiums Mittelhochdeutsch oder modernes Niederländisch machen. Wer Deutsch als Muttersprache hatte, war gezwungen, außer Mittelhochdeutsch auch Niederländisch zu studieren.Ga naar voetnoot64 Die spätere Radiomitarbeiterin Kerstin Axberger (geb. Berggren, siehe Abschnitt 2.6.) legte im Jahre 1932 bei Rooth eine solche Prüfung ab. Zur Vorbereitung hatte sie 1931 bei einem Aufenthalt in den Niederlanden bei dem bekannten Dichter Roel Houwink Privatunterricht über niederländische Literatur genommen - soweit sie sich erinnern konnte auf DeutschGa naar voetnoot65 - und im Sommer darauf (1932) kam sie mit der Lektorin für skandinavische Sprachen in Leiden, Sophie Krijns, die in Falsterbo ihre Ferien verbrachte, überein, sich gegenseitig in ihren Sprachen zu unterrichten. Rooth war bei der Prüfung von ihrer Sprechfertigkeit und Aussprache beeindruckt und nicht zuletzt von ihrer Kenntnis der modernen niederländischen Literatur. Als Hilfsmittel hatte sie die oben (S. 22, Fußnote 44) erwähnte Grammatik für Dänen von Hammerich und Muusses, ein deutsches Wörterbuch und ein paar Anthologien verwendet.Ga naar voetnoot66 Ihr Examen bedeutet insoweit einen | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Meilenstein der Niederlandistik in Schweden, als sich hier die traditionelle, akademische Bemühung um das ältere Niederländisch und die praktische, auf die moderne Sprache und Literatur gerichtete, einander in voller Sympathie begegneten. Kerstin Axberger (Berggren) sollte in den 60er Jahren im Rundfunk über niederländische Nachkriegsliteratur berichten (siehe S. 96ff.). | |||||||||||||||||||||||||||||||||
StockholmAm 25. Mai 1930 berichtete Erik WellanderGa naar voetnoot67, der erste Ordinarius (1931-1951) für Deutsch an der damaligen Stockholms högskola an die Universitätsleitung, es sei im Frühlingssemester von Martha Muusses ein Kurs in Niederländisch gegeben worden, an dem etwa dreißig Zuhörer teilgenommen hätten. Der Kurs war durch eine Schenkung des Industriellen A.N. Versteegh finanziert worden, dessen Familie um 1870 aus den Niederlanden eingewandert war. Dies geschah ein Jahr, nachdem eine deutsche Schenkung den Unterricht in der deutschen Sprache ermöglicht hatte. Zusammen mit Deutsch, Englisch, Französisch, Norwegisch und Dänisch gehört das Niederländische somit zu den ersten Sprachen, die an der Universität Stockholm, damals Stockholms Högskola, unterrichtet wurden. Wellander schlug vor, Muusses als Lektor anzustellen. Im Jahre 1937 gab Martha Muusses eine ‘holländische’ Grammatik heraus [Muusses 1937]. Ihre Verwendung des Ausdrucks holländsk ist wohl ihrer Freundin Carin Pihl zu verdanken, die ihr ‘mit einer besseren Formulierung’ geholfen hat. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Im Jahre 1947 wurde Martha A. MuussesGa naar voetnoot68 von UKÄ (Universitetskanslersämbetet, der höchsten schwedischen Universitätsbehörde) zum ausländischen Lektor an der Universität Uppsala ernannt, mit der Verpflichtung, auch in Stockholm Unterricht zu erteilen. Drei Jahre nach Amtsantritt gab sie in Folkuniversitetets Förlag eine Textanthologie mit Kommentar und Vokabeln heraus [Muusses 1950]. Die Autorenauswahl stimmt mit dem heute in den Niederlanden geltenden Kanon im großen ganzen noch gut überein, allerdings fehlen die Flamen! Aufgenommen wurden Emants, Van Looy, Kloos, Van Eeden, Couperus, Van Deyssel, Augusta de Wit, Verwey, Margo van Scharten-Antink, Henriette Roland Holst, Huizinga, Van Schendel, Van der Leeuw, Van Suchtelen, Carry van Bruggen, Roland Holst, Slauerhoff, Marsman, Vestdijk, Du Perron, Ter Braak, Helman und Beb Vuyk. In den Jahresberichten an das Rektorat 1928-1949, die im Archiv der Stockholmer Universität zu finden sindGa naar voetnoot69, erfährt man, sie habe mit den Studenten Folgendes studiert: Ina Boudier Bakker (Het spiegeltje), Anna Louisa Geertruida Bosboom Toussaint (Majoor Frans), Multatuli, den heute unbekannten Willem Fredrik Schürmann (De violiers, ein sich im jüdischen Mittelstand abspielendes Bühnenstück), Jo van Ammers-Küller (De opstandigen), A.M. de Jong (Het verraad), Den Doolaard (De herberg met het hoefijzer), den aus nicht literarischen Gründen gewählten A. Luger (Amsterdam zwart op wit) und - im Jahre 1943-1944 - Van den Vos Reinaerde (das einzige flämische Werk!) und ‘moderne Autoren’, welche in den Berichten nicht näher bezeichnet werden. Es handelt sich vielleicht um die Autoren, die später in der oben genannten Anthologie publiziert wurden. Was an Kommentar und Vokabeln notwendig war, muss sie während des Unterrichts erarbeitet haben. Ich habe in diesem Abschnitt nur die Lehrmittel, die Muusses für ihren Unterricht an den Universitäten entworfen hat, genannt. Auf ihre übrigen | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Publikationen komme ich in den Abschnitten über Literaturgeschichten (2.3.) und Anthologien (2.5. und 3.3.) noch zurück. Nachfolger von Wellander auf dem deutschen Lehrstuhl wurde Gustav Korlén (1952-1980).Ga naar voetnoot70 Im Jahre 1962 trat Martha Muusses in den Ruhestand. Der Nimwegener Dialektologe Jaap de Rooy wurde ausländischer Lektor. Während der Jahre Korléns und De Rooys wurde nederländska 1966 ein selbständiges Studienfach an der Stockholmer Universität. De Rooy ergriff die Initiative für eine Grammatik, die bewusst den Titel Nederländsk grammatik [de Rooy & Wikén Bonde 1971] trägt. Für den Niederlandisten De Rooy war holländska als akademischer Terminus undenkbar. Er trat energisch den Kampf an gegen die traditionelle schwedische Terminologie. Seit 1968 stand ein festes universitetslektorat für Niederländisch alljährlich auf dem Wunschzettel des Germanistischen Instituts. Als De Rooy 1965 in Nimwegen promoviert hatte, erhielt er den schwedischen Titel docent. Dadurch konnte er als Examinator des Studienfaches fungieren. Er bekam auch eine der zeitbefristeten Anstellungen als unterrichtender und forschender docent. Als er 1970 Schweden verließ, da er eine sicherere Forscherstelle in Amsterdam erhalten hatte, war die weitere Existenz des Faches Niederländisch nicht selbstverständlich. Obwohl die ausländischen Lektorate zwecks Stärkung des Faches 1973 ganz nach Stockholm bzw. Göteborg verlegt wurden - so dass in Uppsala und Lund nichts übrigblieb -, bürgten die zeitbefristeten ausländischen Lektorate nicht für Kontinuität. In Zeiten der beginnenden Sparmaßnahmen war jede befristete Stelle gefährdet. Durch eine - von seiten der Universitäten nicht einmütig geschätzte - ministerielle Intervention kamen aber 1977 in Stockholm und Göteborg die ersten festen universitetslektorat und eine Forscherausbildung (seit 1976) für Niederländisch zustande.Ga naar voetnoot71 Die | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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ausländischen Lektorate wurden dabei allerdings abgeschafft, da den Universitäten keine zusätzlichen Mittel bewilligt wurden. In Göteborg wurde G. Otterloo zum universitetslektor ernannt, der 1982 bei Langvik-Johannessen in Oslo über das Metrum des Achterberg-Sonetts promovierte. In Stockholm hatte I. Wikén BondeGa naar voetnoot72 bei De Rooij den Prüfungsteil der neuen Forscherausbildung absolviert, und sie wurde - auch auf Grund ihres Lizentiatenexamens in Deutsch und ihrer Übersetzungen niederländischer Literatur - für befugt erklärt, das Stockholmer Lektorat zu besetzen. Mit den Universitätslektoraten war seit der Einführung dieser ‘pädagogischen’, akademischen Lehrerkategorie im Jahre 1958 kein Forschungsdeputat verbunden worden, sondern nur eine jährliche Unterrichtsverpflichtung von etwa 400 Stunden im Jahr. In den achtziger Jahren wurden endlich, wenn auch begrenzte Mittel für die Forschung der Universitätslektoren zur Verfügung gestellt. Erst dadurch wurde die Möglichkeit geschaffen, innerhalb des Landes einen niederlandistischen Nachwuchs auszubilden. Nachdem Niederländisch sich in dieser Weise als selbständiges Fach mit festen Lehrerstellen an den Universitäten in Göteborg und Stockholm etabliert hatte, beschlossen die Institutsleitungen, statt Tyska institutionen die neue Benennung Institutionen för tyska och nederländska einzuführen (Göteborg 1986, Stockholm 1995). Ein Vergleich mit anderen skandinavischen Ländern fällt zugunsten Norwegens aus. In Oslo gibt es schon seit 1973 einen Lehrstuhl für Niederlandistik. In Dänemark gibt es in Kopenhagen seit 1965 eine feste Stelle (1973 Lektorat) und in Finnland an der Universität von Helsinki seit 1995 ein festes Lektorat. Es gibt außerdem an mehreren skandinavischen Universitäten mehr oder weniger feste, manchmal zeitbefristete Stellen, deren Existenz hin und wieder in Frage gestellt wird, die dann aber plötzlich wieder besetzt werden (so seit 1954 in Aarhus), oder die immer noch als Teil des Deutschfaches gelten (so Bergen). Die 1970 gegründete Internationale Vereniging voor Neerlandistiek (IVN, vergl. S. 13) bietet eine Kontaktfläche für Niederlandisten aus aller | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Welt, und die Nederlandse TaalunieGa naar voetnoot73 fördert in naher Zusammenarbeit mit der IVN die Kontakte mit der intramuralen Niederlandistik; sie verteilt u.a. Geldmittel für Büchereinkauf, Gastvorträge, DozentenGa naar voetnoot74, Sommerkurse und Zusammenkünfte, wie das dreijährliche IVN-Colloquium und die zweijährlichen skandinavischen Treffen. Das internationale Kontaktnetz wurde neuerdings durch ERASMUS erweitert. Die zunehmende Internationalisierung, die Schwierigkeiten auf dem schwedischen Arbeitsmarkt und die Tatsache, dass es auf Grund des Numerus clausus für viele schwer ist, an den schwedischen Universitäten das Fach studieren zu können, das sie gerne studieren möchten, haben die Studentenzahlen des Faches Niederländisch in den letzten Jahren stark erhöht. Flämische und niederländische Universitäten sind eine Alternative. Bevor man seinen Weg ins Ausland sucht, möchte man die Sprache erlernen und etwas von Land und Kultur erfahren. Es zeigt sich, dass viele Studenten am Anfang ihres Studiums über die niederländische Sprache sehr vage Vorstellungen haben und dass sie, was die Literatur betrifft, höchstens das Tagebuch der Anne Frank kennenGa naar voetnoot75. Die meisten glauben, die Sprache heiße Holländisch und es gebe außerdem noch eine andere Sprache, nämlich Flämisch, die dem Holländischen ähnlich sei. Die Niederlande und Flandern sind im Bewusstsein vieler Schweden ‘ein weißer Fleck’. Die Bezeichnungen Holländisch und Flämisch führen merkwürdigerweise in den Medien ein zähes DaseinGa naar voetnoot76. Man könnte immerhin erwarten, | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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dass Journalisten die ersten wären, die einen neuen Sachverhalt zu verbreiten suchten. Das ist aber nicht der Fall. Ein Journalist von Dagens Nyheter (Jönsson) schrieb im Dezember 1987 in einem Brief, es gebe so wenig aus Belgien zu berichten, dass man nicht im Kopfe behalten könne, wie es sich nun mit den Sprachen verhalte. Wieder ein anderer (Montan) war (laut Brief vom Juni 1987) in Brüssel ins Fremdenverkehrsbüro gegangen und habe das Fräulein gefragt, wie die Sprachen Belgiens nun eigentlich hießen, und diese habe auf einer Karte den Norden Belgiens angekreist und geschrieben ‘Flämisch’. Der Journalist vertraute dem Mädchen anscheinend mehr als den Akademikern. Viele Leute behaupten, sie hätten nie das Wort Niederländisch gehört, sondern nur Holländisch und Flämisch. Das gilt auch für die meisten Lehrer, die man fragt. Wer Lehrbücher schreibt, schlägt, wenn es sich um Länder wie Belgien und die Niederlande handelt, wahrscheinlich u.a. in Enzyklopädien nach, mit denen ich mich im folgenden beschäftigen möchte. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
2.2. Sprache und Literatur in NachschlagewerkenHier wird behandelt, wer im Laufe des 20. Jahrhunderts die Artikel über niederländische Sprache und Literatur verfasst und welche Einteilung und Terminologie man verwendet hat bzw. ob man irgendwelche Bewertungen ausdrückt. Dabei wurden die Stichworte niederländische Literatur/Sprache, Niederlande, Belgien, holländische Literatur/Sprache und flämische Literatur/Sprache untersucht. Als ältere, repräsentative Nachschlagewerke wurden die vier Ausgaben von Nordisk familjebokGa naar voetnoot77 und die zwei Ausgaben von Svensk UppslagsbokGa naar voetnoot78 sowie die Ausgabe der sechziger Jahre von Bonniers lexikon [BL 1961-67] berücksichtigt. Außer diesem historischen Rückblick wurden noch sieben Nachschlagewerke, die im Februar 1994 in der Hauptbibliothek der | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Stockholmer öffentlichen Bibliotheken (Stockholms stadsbibliotek) im Lesesaal standen, untersucht. Schließlich orientiere ich über die Art und Weise, wie ich während meiner Mitarbeit an der neuen Nationalencyklopedin [NE 1989-96] die genannten Stichwörter behandelt habe. In der intramuralen Literaturgeschichtsschreibung gibt es drei Traditionen der FokussierungGa naar voetnoot79: 1. Belgische Literaturgeschichten, in denen die französischsprachige und die niederländischsprachige Literatur zusammen behandelt werden. 2. Niederländische Literaturgeschichten, wobei die holländische und die flämische Literatur als Einheit behandelt werden. Die flämischbrabantische Blüte im Mittelalter bekommt meistens recht viel Platz zugebilligt, aber die flämische Literatur nach 1830 wird in den meisten Übersichten nordniederländischer Provenienz in mehr oder weniger hohem Maße ignoriert. 3. Literaturgeschichten, in denen man sich bewusst auf einen Teil der niederländischen Literatur beschränkt. Nach dieser Auffassung gibt es zwei Kulturen, eine flämische und eine holländische, die sich aber beide in niederländischer Sprache ausdrücken. Allerdings wird die mittelalterliche, flämisch/brabantische Literatur in den holländischen Literaturgeschichten immer annektiert, was einem als extramuralen Betrachter völlig unverständlich vorkommt. Verfasser der Artikel über niederländische Sprache und Literatur in NF und SU waren Nordisten, Germanisten und Literaturwissenschaftler der Universitäten. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Nordisk familjebokIn NF 1876-94 schreibt Fr. L-rGa naar voetnoot80 unter dem Lemma flamländska (flamska eller [oder] flämiska) språket (1881), dass Flämisch zum niederdeutschen Sprachzweig gehört, dass die Altsprache für sowohl flämisch wie holländisch altniederfränkisch, später mittelniederländisch, ist und dass sich die flämische Schriftsprache auf dem heutigen lebendigen flandrischen Dialekt der niederländischen (holländischen) Sprache | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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gründet, dass es aber nach dem Sprachkongress von Gent 1841 [sic, soll sein: 1849] nur noch eine Sprache gibt, nämlich die niederländische. Die Einheit ist das Ergebnis der Bemühungen des großen flämischen Sprachforschers, Dichters und Historikers J.F. Willems. Der Artikel ist von Verständnis und Sympathie für die Emanzipationsbemühungen der flämischen Bewegung geprägt. Diese Terminologie stimmt außer in einem Punkt mit der damaligen intramuralen Sicht überein: Zwar sprach man von Nederduits, Hollandsch und Vlaamsch, aber das in Klammern als Synonym von niederländisch angegebene holländisch hat es intramural nie gegeben. Nederlands bezeichnete, damals wie heute, Vlaams und Hollands zusammen, Hollands nur die nördliche Variante. Hollands als Bezeichnung für die Sprache, die in Flandern verwendet wird, ist (und war) unmöglich. Noch heute gibt es viele Flamen, die ihre Sprache lieber Vlaams nennen als Nederlands. Es ist eine Gefühlssache. Es liegt in diesem Vlaams eine Konnotation des Protestes gegen die Holländer, die es sprachlich besser wissen wollen. Offiziell gilt seit 1973 aber ausschließlich Nederlands.Ga naar voetnoot81 1883 erschien der sprachgeschichtlich und bibliographisch gut unterbaute Artikel holländska språket eller [oder] nederländska språket. Interessant ist darin die Bemerkung, dass im Mittelalter die Bezeichnung flamländska eller [oder] flamska üblich gewesen sei, während man seit dem 17. Jh. meistens holländska eller [oder] nederländska verwende. Das gilt - und galt - aber nicht intramural! Der extramurale Sprachgebrauch erklärt sich daraus, dass im Mittelalter die flämischen und brabantischen Städte blühten, während im 17. Jahrhundert die Kontakte mit Holland intensiv waren. Leffler verwendet im Artikel überwiegend holländska. Das führt zu intramural unmöglichen Aussagen wie Besonders wichtige Denkmäler der mittelholländischen Sprache sind das berühmte Tierepos ‘Reinaert’ und die Gedichte Maerlants. Beide Kulturäußerungen entstammen dem südlichen Kulturbereich, also dem heutigen Flandern! Sprachgeografisch macht es ebenfalls einen merkwürdigen Eindruck, wenn von den holländisch-lateinischen | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Wörterbüchern Teuthonista (auf niederrheinischer Grundlage, Antwerpen 1484) und Kiliaan (auf brabantischer Grundlage, Antwerpen 1574) die Rede ist. Und der intramurale Leser stutzt auch, wenn das Woordenboek der Nederlandsche Taal als nyholländsk bezeichnet wird. Das Werk ist geradezu ein Monument der Zusammenarbeit nördlicher und südlicher Niederlandisten. Auch 1883 hätten sich flämische Niederlandisten gegen diesen Sprachgebrauch gewehrt. Hollands wird in der intramuralen wissenschaftlichen Terminologie nur für gewisse westliche Dialekte innerhalb der Gesamtsprache verwendet. Schlägt man den Begriff nederländska språket (1887) nach, wird man übrigens nur auf holländska språket, nicht aber auf flamländska språket verwiesen, und unter dem Stichwort nederländska litteraturen wird ebenfalls nur auf holländska litteraturen verwiesen. Ein Lemma flamländska litteraturen gibt es nicht. Unter dem Lemma Belgien von J.H. (J.H. Hellstenius) steht im Teilabschnitt Bevölkerung allerdings, dass sich die Sprache der Flamen als Kulturträger bewährt hat, und im Abschnitt Geisteskultur werden der Sprachwissenschaftler Willems und - als einziger belgischer Schriftsteller - Conscience genannt, während kein einziger französischsprachiger Autor erwähnt wird. Der Artikel holländska litteraturen (1883) ist nicht signiert und enthält keinerlei Literaturangaben. Eine inhaltliche Analyse lässt erkennen, dass [Verldslitteraturens historia 1874-76, siehe dazu Abschnitt 2.3.] dem anonymen Artikel nur zum Teil als Vorlage gedient haben kann. Es werden nicht genau die gleichen Autoren aufgezählt. Zwar wird bei Conscience in beiden Texten von ett europeiskt rykte gesprochen und die Irritation gegen den französischen Klassizismus und die Auffassung vom heilbringenden Einfluss der deutschen Romantik ist in beiden Texten zu spüren, aber der flämische Fuchs Reinaert und die brabantischen Schriftsteller Van Maerlant, Van Boendale, De Weert und RuusbroecGa naar voetnoot82 werden der Terminologie zufolge zu Holländern, was in [Verldslitteraturens historia 1874-76] nicht der Fall ist. Von der Stadt Löwen gibt uns der Artikelverfasser die deutsche und die französische Namensform, nicht aber die niederländische (Leuven), was in einem schwedischen Text unerklärlich ist. In [Verldslitteraturens | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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historia 1874-76] kommt Löwen überhaupt nicht vor, möglicherweise handelt es sich um eine Übersetzung aus dem Deutschen. Dafür spricht auch der Sachverhalt, dass der positive deutsche Einfluss auf die niederländische Romantik besonders hervorgehoben wird, z.B. Goethes Einfluss auf Wolff und Deken; intramural wird meistens der englische Einfluss stärker betont. Von den ‘holländischen’ Autoren, die um diese Zeit modern waren, werden Van Lennep, Oltmans, Bosboom-Toussaint, Schimmel, Bogaers, Douwes-Dekker, Beets, Hasebroek, Potgieter, Cremer (‘Hollands Auerbach’) und Ten Brink erwähnt, von den Flamen Ledeganck, Van Rijswijk und (‘der in ganz Europa berühmte’) Conscience, die also unter diesem Stichwort, wie ihre mittelalterlichen Vorfahren, zu Holländern transformiert werden. Man erhält den Eindruck, dass der Beitrag von einem extramuralen Verfasser mit Sympathie für Deutschland und etwas Widerwillen gegen Frankreich stammt. Vom Einfluss der niederländischen Literatur auf die deutsche ist im Artikel nicht die Rede, obwohl dieser Einfluss im 17. Jahrhundert erheblich war. Der Einfluss niederländischer Literatur auf die schwedische [Wrangel 1897] wird ebensowenig erwähnt. In NF 21904-26 erscheint Läfflers Artikel flamländska språket mit kleinen Änderungen (1908). Inzwischen erschienene Fachliteratur, wie Te Winkel, Geschichte der niederländischen Sprache (1898), und Verdam, Uit de geschiedenis der Nederlandsche taal (1903), ist hinzugefügt worden. Beim Lemma holländska språket wird man jetzt auf nederländska språket (1913) verwiesen. Der Artikel stimmt größtenteils mit dem früheren Artikel Läfflers überein. Als Gutachter des Artikels steht jetzt Hj. P-r. (Psilander, siehe Abschnitt 2.1.). Zu den Änderungen gehört eine Vertiefung der Wiedergabe des Lautsystems. Dass hier wieder von Reinaert und Van Maerlant die Rede ist, stört diesmal nicht, da das Stichwort nederländska språket lautet. Das Wort nyholländska wurde durch nynederländska ersetzt und medelholländska duch medelnederländska, sonst steht immer noch überwiegend holländska. Bemerkungen über kapholländska und negerholländska wurden hinzugefügt wie auch Hinweise auf Stalling [1910] und Ström [1907]. Intramural gesehen bedeutet NF 21904-26, was die Behandlung der Sprache betrifft, einen Fortschritt, was vielleicht das Verdienst des neuen | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Mitarbeiters Psilander war, der mit Jakob Verdam, dem Nachfolger von Matthias de Vries auf dem niederländischen Lehrstuhl in Leiden (dem ältesten in den Niederlanden), befreundet war. Laut einem Brief von Rooth an Gustav KorlénGa naar voetnoot83 hielt sich Psilander nach seiner Disputation im Jahre 1901 eine Zeit in Leiden auf, wo er Verdam kennenlernte. Über Verdam schrieb er in NF 21921 einen langen Artikel. Auch holländska litteraturen (1909) trägt diesmal in Klammern das Signum Hj. P-r. Das heißt, der anonyme Artikel wurde von ihm bearbeitet. Hinzugekommen ist unter den Autoren Heinrich von Veldeke - mit deutscher Namensform. Fehler wurden verbessert, einiges wurde vertieft und hinzugefügt, u.a. Van Eeden und Couperus, die ja erst nach dem Erscheinen des vorigen Artikels zu publizieren begannen. Als Quellen werden die Literaturgeschichten von Jonckbloet und Kalff aufgeführt. Es kommen aber 1909 immer noch dieselben Flamen vor wie im vorhergehenden Artikel. Guido Gezelle (1830-1899) fehlt in beiden Artikeln wie auch die Zeitschrift Van Nu en Straks (gegründet 1893). Psilander kannte sich anscheinend in der flämischen Literatur weniger gut aus als in der niederländischen. Das liegt an seinen niederländischen Quellen, die in der Tradition Nr. 3 (siehe oben) geschrieben sind. Den Lemmata der einzelnen Autorennamen bin ich nicht systematisch nachgegangen, aber Stichproben zeigen, dass z.B. die Signatur R-n B.Ga naar voetnoot84 über moderne Autoren, wie Couperus, Emants, Huygens und Bosboom-Toussaint schrieb, während Hj. P-r ausführlich über Vondel und über Sprachforscher wie z.B. Matthias de Vries und Johan Winkler, berichtete. In NF 31923-37 hat Psilander das Lemma nederländska språket (1931) übernommen und das Lemma holländska litteraturen (1928) behalten; seine beiden Artikel wurden durchgesehen von Rooth [E. Rth], und für den Literaturartikel steht als Mitverfasser R-n B. Das Stichwort flamländska språket heißt nun flamländska språket och litteraturen (1927) und ist von Rooth geschrieben. Die niederländische Literatur wird jetzt nicht nur als holländsk bezeichnet, sondern als holländsk eller [oder] nederländsk. Man spricht jetzt von Henric van Veldeke mit der niederländischen Namensform. Im Artikel des Jahres 1909 stand über Veldeke, er könne mit gleich großem, | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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oder größerem Recht zur deutschen Literatur gezählt werden, jetzt steht, dass er auch zur deutschen Literatur gerechnet werden könne. Interessant ist der hinzugefügte Satz: Von höfischer Lyrik des elften Jahrhunderts sind nur wenige Reste überliefert. Einige dieser Reste waren, wie wir bereits gesehen haben, 1926 von Rooth selbst in der Lunder Universitätsbibliothek gefunden worden.Ga naar voetnoot85 Wieder werden Van den vos Reinaerde und Van Maerlant unter holländska eller [oder] nederländska litteraturen behandelt. Melis Stoke jedoch bekommt das Epitheton nordnederländare. Zum ersten Mal wird jetzt Hadewych genannt. Der Ausdruck holländsk prosa wurde von nederländsk prosa (zu Jan van Ruysbroec) ersetzt. Der Abschnitt über die neue Literatur wurde bis zur Generation um die Zeitschrift Het Getij (1916-24) erweitert. Erwähnt wird die Existenz einer südafrikanischen und einer friesischen Literatur. Die Flamen nach 1830 werden nicht mehr behandelt. Eine ausführliche Literaturliste beschließt den Artikel. Das Lemma flamländska språket och litteraturen (1927) ist jetzt weniger historisch und mehr dialektologisch-soziologisch und vor allem literarisch orientiert. Die Einordnung des Flämischen unter das Niederdeutsche ist verschwunden. Ausdrücklich wird hier gesagt, dass der Schwerpunkt der niederländischen Literatur im Mittelalter im Süden gelegen hat und dass Van den Vos Reinaerde ein flämisches Produkt ist wie auch die Werke Van Maerlants und Ruysbroecs. Das Wort nederländska wird als die gemeinsame Bezeichnung von holländska und flamländska definiert. Eine gemeinsame Schriftsprache sei heute im großen und ganzen erreicht. Trotzdem verwendet Rooth konsequent im laufenden Text das Wort flamländska. Die Literaturübersicht drückt eine hohe Wertschätzung der flämischen Literatur aus, Rooth nennt Verriest, A. Rodenbach und De Mont und geht auf die Generation von Van Nu en Straks (1893-1901) ein. Streuvels nennt er den originellsten und meisterhaftesten Schilderer der flämischen Natur und des flämischen Volkes. Timmermans bekommt das Epithet ‘populär’, das Werk Van de Woestijnes wird als ‘psychologisch’ und ‘europäisch orientiert’ bezeichnet. In der Literaturangabe steht u.a. Coopman und Scharpés Geschiedenis der Vlaamse letterkunde van het jaar 1830 tot heden, ein | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Werk aus der Tradition Nr. 3, das, wie der Titel aussagt, die flämische Literatur zum Thema hat. Dieser Artikel ist intramural gesehen einwandfrei mit Ausnahme des Wortes flamländska für die Sprache, das 1927 von Niederlandisten in wissenschaftlichen Artikeln nicht mehr verwendet wird. Dagegen ist bei Literaturwissenschaftlern, wie wir sehen werden, auch heute oft von flämischer Literatur die Rede. Für die Behandlung der flämischen Literatur in schwedischen Nachschlagewerken bedeutet dieser Artikel Rooths einen Höhepunkt. Unter dem Stichwort nederländska språket (1931) haben Hj. P-r. und [E.Rth] die Einordnung des Niederländischen unter Niederdeutsch und Plattdeutsch eliminiert. Sie schreiben, dass man die Sprache in Holland gewöhnlich holländska, die in Belgien flamländska nennt. Sie stellen das Afrikaans mit dem Niederländischen gleich, obwohl es im Jahre 1925 unter der Benennung Afrikaans zur offiziellen Sprache Südafrikas proklamiert wurde und schon erheblich mehr vom Niederländischen entfernt war als das südliche Niederländisch vom nördlichen. Obwohl die Ausdrücke ‘nordniederländisches und südniederländisches Gebiet’ und ‘Niederländisch’ definiert werden, verwendet man im Artikel aber meistens holländska und flamländska. Im Lemma Belgien wird von einem anderen Redakteur als offizielle Sprache der flämischen Provinzen immer noch flamländska angegeben. Diese Betonung der beiden HyponymeGa naar voetnoot86 des Niederländischen hat später, in gekürzten Nachschlagewerken, zu großem terminologischem Elend geführt. Dass der Inhalt einer Enzyklopädie nicht statisch sein kann, zeigt ein neuhinzugefügter Artikel von Hans Reutercrona [H. R-a] zum Lemma Huizinga (1929), dessen Herfsttij der Middeleeuwen er 1927 übersetzt hatte. Gekürzt wurde von R-n B. (1928) der Artikel von E. A-ie (E. Apiarie 1909) über Heijermans. Von diesem war 1905 in Göteborg das vielübersetzte sozialistische Theaterstück Op hoop van zegen (schw. Hoppet) gespielt worden; dreiundzwanzig Jahre später hatte er anscheinend an Aktualität eingebüßt. In NF 41951-55 sind die Artikel nicht mehr signiert. In nederländska språket wird ein unnötiger Vergleich mit der deutschen Sprache | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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vorgenommen, wo z.B. fehlerhaft behauptet wird, das ie in nl. bieden sei ebenso lang wie das in dt. bieten. Hier liegt ja im Gegenteil eine Interferenzquelle für ausländische Studenten vor, da das niederländische ie kurz ist! Durch die Kürzung des Artikels wird jetzt der Nachdruck eher darauf gelegt, dass man meistens holländska und flamländska sagt, als auf die Einheit der Sprache. Auch in flamländska språket och litteraturen liegt der Nachdruck auf dem Hyponym flamländska (holl. vlaamsch). Die alte Schreibung der südlichen Variante des Niederländischen zeigt, dass der Verfasser schlecht orientiert ist. Die Rechtschreibereform schrieb seit 1947 die Schreibung Vlaams vor. Dass Flämisch auf ‘Holländisch’ Vlaamsch heißen würde, klingt intramural wie ein FlamenscherzGa naar voetnoot87. Die moderne flämische Literatur ist aus dem Artikel verschwunden. Statt dessen wird einiges über die Flämische Bewegung und über die Aktivisten mitgeteilt, die durch den Ausgang der beiden Kriege ihre separatistischen Wunschträume nicht verwirklichen konnten. Dagegen wird im Artikel holländska litteraturen ausführlich über die jüngste nordniederländische Literatur berichtet. Es werden übersetzte Autoren wie Ina Boudier-Bakker und die Autoren, die Muusses in ihrer Literaturgeschichte (siehe Abschnitt 2.3.) nennt, erwähnt; im Literaturverzeichnis wurden Muusses Lyrikübersetzungen Landvinning und ihre Literaturgeschichte aufgenommen. Im intramuralen Kanon kommen z.B. Jo van Ammers KüllerGa naar voetnoot88 und Doede Thieszes Jaarsma (1878-1959) nicht vor, und sie werden auch nicht von Muusses genannt. Jaarsma steht heute in keinem einzigen allgemeinen NachschlagewerkGa naar voetnoot89, wurde aber in [de Vooys & Stuiveling 1930] als der Autor einer 12-bändigen Serie mit dem Titel Thiss erwähnt. Nach dem Krieg verschwand sein Name aus den Stuivelingausgaben. Der anonyme Bearbeiter von NF baut also einerseits auf Muusses und beweist andererseits durch die Hinzufügung des außerordentlich periferen | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Namens Jaarsma, dass er nicht sehr gut über die niederländische Literatur informiert ist. Unter dem Lemma belgisk litteratur wird nur die französischsprachige Literatur behandelt. Nachdem also in der dritten Ausgabe die flämische Literatur zuerst aus dem Artikel über holländska litteraturen verschwunden war und statt dessen von Rooth ausführlich im Artikel über flamländska språket och litteraturen behandelt wurde, fehlt sie nach dem Krieg in Nordisk Familjebok so gut wie völlig. Im Artikel über Belgien wird zwar mitgeteilt, Französisch und Flämisch [sic] seien beide offizielle Sprachen, aber gleichzeitig wird behauptet, nebst den beiden Volkssprachen sei das Französische die Schriftsprache der Gebildeten. Diese Information ist - 1951-55 - falsch. Die Information über Sprache und Literatur Flanderns ist also in der vierten Ausgabe von Nordisk familjebok sehr schlecht geworden, wobei über die Gründe nichts mit Sicherheit ausgesagt werden kann. Vielleicht war die Stellungnahme gewisser Flamen für Deutschland im zweiten Weltkrieg daran Schuld, oder möglicherweise schlossen sich die schwedischen Verfasser der Artikel in allzu hohem Grad dem Bild der Nordniederländerin Muusses von der niederländischen Literatur an. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Svensk uppslagsbokFür SU 1929-37 und SU 21947-55 schreibt die Signatur LffGa naar voetnoot90 unter dem Lemma Belgien einen umfangreichen, in der zweiten Ausgabe so gut wie unveränderten, Abschnitt über die belgische Literatur (1930 bez. 1948), worin sie nachdrücklich als eine belgische Einheit behandelt wird, der Tradition Nr. 1 (siehe oben) gemäß. Ljungdorff bemerkt u.a., dass auch die französischsprachige Qualitätsliteratur Belgiens - seit etwa 1880 von Weltklasse - oft von Flamen geschrieben wurde. So werden Conscience und der französisch schreibende Flame De Coster im selben Atemzuge genannt. Die niederländischsprachige und die französischsprachige Literatur werden dabei gleich hoch eingeschätzt. Ljungdorff spricht einmal von Prosaepik in niederländischer Sprache, sonst verwendet er flamländska. Von den niederländischsprachigen zählt er die älteren kanonisierten und die großen, damals aktuellen flämischen Autoren in | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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einer vom intramuralen Standpunkt aus einwandfreier Weise auf.Ga naar voetnoot91 Timmermans bezeichnet er als den reinsten Exponenten des flämischen künstlerischen Geistes. Als charakteristischen Zug der belgischen Dichtung nennt Ljungdorff deren Wirklichkeitssinn, eigentümlich gepart mit dem Hang nach der Mystik und einem phänomenalen Beschreibungsvermögen. Rooths Artikel flamländska språket och litteraturen (1932) ist so gut wie ausschließlich der flämischen Emanzipation gewidmet. Von Literatur ist fast gar nicht die Rede. Es werden nur Van den vos Reynaerde, Willems, Snellaert und Conscience genannt, die alle für die Flämische Bewegung einen politischen Symbolwert hatten. Der Artikel der zweiten Ausgabe (1948) ist mit dem der ersten bis auf den Schluss identisch, wo einige Sätze ausgelassen, andere abgeändert wurden:
Rooth drückt sich in der Nachkriegsversion, wie wir sehen, ziemlich vorsichtig aus. Er meint, dass die Aktivisten die Selbständigkeit Flanderns erreicht hätten, wenn Deutschland den Krieg nicht verloren hätte. Die Aktivisten waren bekanntlich die Extremisten der Flämischen Bewegung. Man bekommt den Eindruck, dass die Wirren des Krieges dem begeisterten Forscher und Flandernfreund die reine Freude an der flämischen Kultur verleidet haben. Dass der groß-niederländische Gedanke heute durch die Niederländische Sprachunion im Europa der | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Gemeinschaften unter anderen Vorzeichen verwirklicht wird, hätte ihn womöglich gefreut, wenn man ihm versichert hätte, dass darin dem nordniederländischen Sprachimperialismus Flandern gegenüber Schranken gesetzt würden. Im Artikel holländska litteraturen (1932) bemerkt Rooth, dass die Literaturen Hollands und des nördlichen Teils Belgiens, trotz der nationalen Unterschiede, heute der Sprache wegen als Einheit zu betrachten seien (Tradition Nr. 2) - also im selben Nachschlagewerk eine ganz andere Auffassung als die von Ljungdorff. Aus der flämischen Literatur sind immer noch die flämischen Namen aus dem Mittelalter da, und es wird - ohne Beispiele - bemerkt, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die flämische Literatur der niederländischen überlegen sei. Veldeke fehlt (er wird in den Abschnitt über deutsche Literatur aufgenommen). Merkwürdig ist - wie in NF 1951-55 - wieder Rooths Erwähnung des in Literaturlexiken unbekannten Doede Thieszes Jaarsma. Rooths Artikel holländska litteraturen (1949) ist anfangs eine Wiederholung mit kleinen Änderungen. Hinzugefügt wurden, außer Erasmus und Thomas à Kempis, Zeilen über die interkulturellen Beziehungen zwischen den Niederlanden und Schweden, so z.B. der Einfluss Van Effens auf Dalin, das Interesse Starings für die Eddadichtung sowie Potgieters Reise nach Schweden und sein Interesse für Tegnér und Geijer. Der von Wrangel konstatierte Einfluss von Cats wird nicht erwähnt. Rooth baut auf Muusses 1947 auf, wo das ebensowenig der Fall ist (siehe 2.3). Die hohe Qualität der flämischen Literatur im 19. Jahrhundert wird konstatiert - die Flamen stehen also wieder unter dem Lemma der holländischen Literatur -, aber es wird nicht mehr gesagt, dass sie die Nord-Niederländer übertreffen. Am Schluss wurde der Artikel beträchtlich erweitert. Die Sozialisten Gorter und Henriette Roland Holst wurden aufgenommen sowie z.B. Ina Boudier Bakker und Carry van Bruggen, die übersetzt waren. Die moderne Literatur bis zum zweiten Weltkrieg wurde ausführlich exemplifiziert. Der Einfluss von Muusses Literaturgeschichte [Muusses 1947] und ihrer Poesieübersetzung [Muusses 21945] ist sehr deutlich zu spüren. Beide stehen im Literaturverzeichnis der zweiten Ausgabe. In nederländska språket (1939) erwähnt Rooth holländska språket als Synonym und teilt mit, dass ‘man’ Niederländisch im südlichen Teil des Sprachgebietes Flämisch nennt, eine Vereinfachung, die wohl zur | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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späteren terminologischen Verwirrung beigetragen hat. Er geht in diesem Artikel auf die niederländische Dialekteinteilung und auf das Lautsystem ein. Die Übersicht schließt mit einer ausführlichen Literaturangabe, die in der Version von 1951 noch erweitert wird. Merkwürdigerweise führte Rooth im der fast unveränderten zweiten Ausgabe plötzlich als Synonym für Altniederländisch den merkwürdigen Terminus Altholländisch ein, der intramural als wissenschaftlicher Terminus unmöglich ist. Vom intramuralen Standpunkt aus bedeuten SU 1929-37 und SU 21947-55 sprachlich gesehen also eine Verschlechterung, verglichen mit NF 31923-37, worin das weitaus beste Bild von der Sprache und Literatur in den Niederlanden und Flandern geboten wird. SU 21947-55 behandelt zwar ausführlich die nordniederländische Literatur, aber die flämische Literatur ist daraus verschwunden. Das Bild der flämischen Literatur hört demnach mit Timmermans auf. In den sechziger Jahren erschien [Bonniers lexikon 1961-67]. Die Artikel sind nicht signiert. Als Mitarbeiter für Sprachwissenschaft werden Bertil MalmbergGa naar voetnoot92 und für Literaturwissenschaft Johannes Edfelt, Hans Levander und Ingemar Wizelius angegeben. Unter dem Stichwort Belgien werden als offizielle Sprachen des Landes Französisch und Flämisch erwähnt. Belgisk litteratur behandelt, wie SU, die französische und die flämische gemeinsam. Man nennt unter den Flamen Conscience, Ledeganck, Gezelle, Streuvels und als letzten Schriftsteller Timmermans. Im Stichwort flamländska språket wird Flämisch definiert als Dialekt des Holländischen, was intramural ein Horribilum ist. Zwar wird erwähnt, dass dieser ‘Dialekt des Holländischen’ offiziell Niederländisch heißt, aber diese Formulierung wirkt außerordentlich verwirrend. Ist Niederländisch also ein Dialekt des Holländischen? Ein Teil kann in einer Definition nicht als Synonym für das Ganze verwendet werden. Je kürzer ein Stichwortartikel, je größer das Risiko, dass Fehlschlüsse gezogen werden. Wir finden weiter das Stw holländska språket eller [oder] nederländska språket. Auf Grund der verwendeten Terminologie entsteht so die intramural unmögliche Behauptung, es werde im Norden Belgiens Holländisch gesprochen. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Unter dem Stichwort Nederländerna erfahren wir, es werde in den Niederlanden Holländisch gesprochen, unter nederländska språket wird zwar auf holländska und flamländska [endlich!] verwiesen, behandelt wird die Sprache jedoch unter holländska språket. Unter nederländsk litteratur wird nur nach holländsk litteratur verwiesen. Die Verwirrung muss beim Benutzer dieses Nachschlagewerkes total sein! | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Nachschlagewerke in der Hauptstelle der Städtischen Bibliotheken in Stockholm.In der Hauptbibliothek in Stockholm standen im Frühling 1994 außer NF 21902-26, SU 21947-55 und BL 1961-67 noch weitere sieben Nachschlagewerke. Sie werden hier chronologisch präsentiert:
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Man kann, wie aus der Übersicht hervorgeht, zweifellos feststellen, dass in gewissen Nachschlagewerken eine totale Verwirrung herrscht (2 und 6), dass es Redakteure gibt, die konsekvent das Hyponym holländska verwenden, wenn sie die niederländische Sprache meinen (1 und 4) und dass nur wenige Artkel vorkommen, in denen der Sachverhalt richtig wiedergegeben wird (3 und 7). In einem Werk wird die Sprache richtig dargestellt, die literaturwissenschaftlichen Mitarbeiter haben diese Weisheit aber nicht mitbekommen (5). In [Nationalencyklopedin 1989-96] wird unter dem Stichwort nederländska språket eine verhältnismäßig ausführliche terminologische und historische Auseinandersetzung gegeben, da eine solche der Verfasserin des ArtikelsGa naar voetnoot93 vor dem Hintergrund der oben geschilderten Verwirrung notwendiger erschien als eine Behandlung der Dialekte und des Lautsystems. Die niederländischsprachige Literatur Belgiens wurde in NE, dem Wunsch der Hauptredaktion entsprechend, unter dem Lemma Belgien - jedoch getrennt von der französischsprachigen - behandelt und - wie auch die nordniederländische - auf den heutigen Stand gebracht. Die mittelniederländischen flämischen und brabantischen Autoren und Werke wurden jetzt nicht mehr unter Nederländerna, sondern unter Belgien aufgenommen, was intramural bei vielen Nordniederländern wohl einiges Staunen hervorrufen wird, aber was mir | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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als das einzig Richtige erschien und worüber sich flämische Literaturhistoriker sicherlich freuen müssten. Eine schwere Unterscheidung war die Einordnung des in Hasselt (Belgisch-Limburg) geborenen Hendrik van Veldekes, der unter Nederländerna zu finden ist. Ganz trivial ist diese Wahl damit zu verteidigen, dass sein mittellimburgisches Werk über den Heiligen Servatius eng verbunden war mit dem Bistum Maastricht und dass Maastricht heute zu den Niederlanden gehört. Pikanterweise kommt Veldeke in NE zweimal vor. Einmal als Deutscher (Heinrich von Veldeke), das zweite Mal als Mittelniederländer (van Veldeke, Hendrik). | |||||||||||||||||||||||||||||||||
2.3. LiteraturgeschichtenWir werden im folgenden sehen, wie sich Literaturgeschichten für ein schwedisches Publikum zu der im vorigen Abschnitt skizzierten Einteilungsproblematik verhalten (S. 35). Weiter werden wir darauf eingehen, auf welche niederländischen Kulturpersönlichkeiten und Werke in schwedischen Darstellungen Gewicht gelegt wird und ob von einer Beeinflussung der schwedischen Literatur durch die niederländische die Rede sein kann. Es werden in chronologischer Reihenfolge allgemeine Literaturgeschichten, Geschichten der schwedischen Literatur und Einzeldarstellungen niederländischer Literatur vorgestellt. 1876 erschien eine Geschichte der Weltliteratur [Verldslitteraturens historia 1874-76], zusammengestellt von dem Mitarbeiter der Kungliga biblioteket in Stockholm, Arvid Ahnfelt (1845-1890)Ga naar voetnoot94. Der niederländischen Literatur ist im zweiten Band ein eigener Abschnitt gewidmet. Dieser Abschnitt baut fast ausschließlich auf Johannes ScherrsGa naar voetnoot95 temperamentvoller Allgemeine Geschichte der Literatur (1851). Es wird darin mit großer Begeisterung gesprochen von der als urgermanisch erfahrenen Fuchsgeschichte, während die übrige nl. Literatur des Mittelalters einerseits als bearbeitende Übersetzungen keltischen und französischen Sagengutes, andererseits als spießbürgerlicher Realismus abgetan wird, ein Realismus, der weiterlebt und sich im 17. Jh. am reinsten in den unterrichtenden und | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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beschreibenden alltäglichen Schöpfungen eines Cats äußert. Vondel sei zwar besser als Cats, meint Scherr/Ahnfelt, sei aber trotzdem überbewertet. Die lateinischen Schriftsteller (Grotius, Spinoza) werden dagegen hoch eingeschätzt. Der französische Einfluss wird als Ursache des literarischen Niedergangs im 18. Jahrhundert angesehen, während die romantische Wiederbelebung der deutschen Literatur zugeschrieben wird. Die Behandlung des Themas entspricht der im vorigen Abschnitt unter Punkt 2 skizzierten gesamtniederländischen Tradition, wobei bemerkt werden soll, dass die flämische Literatur in diesem Werk keineswegs diskriminiert, und die jüngste Literatur miteinbezogen wird (Conscience, Snieders, Van Lennep und Ten Brink). Die Sterbejahre der Autoren, die auch für die Zeit nach dem Erscheinen von Scherrs Literaturgeschichte angegeben werden, zeigen, dass Ahnfelt sich darüber informiert hat, vielleicht in den in der Bibliographie angegebenen Publikationen Van der Aa (das bibliographische Nachschlagewerk) und Jonckbloet (Geschichte der niederländischen Literatur, deutsche Übers. 1870). Für die Sprache werden flamsk und holländsk als Hyponyme von nederländsk verwendet: Nederländernas språk delar sig ännu i dag i två huvudmunarter, den flamska i söder (Flandern och Brabant) och den holländska i norr [453]. Auf Scherr und Ahnfelt basierte ebenfalls das Lehrbuch des dänischen Rektors Sigurd Müller (geb. 1844), das 1883 von dem Pädagogen und Politiker Carl von Friesen (1846-1905), aus dem Dänischen übersetzt und bearbeitet, als Lehrbuch für die Mädchenschulen herausgegeben wurde [Müller 1883]. Interessant ist, dass die Schülerinnen jener Zeit auch etwas über niederländische Literatur erfuhren. Zwar ist der Abschnitt nur zwei Seiten lang, aber berichtet wird über Reinaerde de Vos [sic], Jakob van Maerlandt [sic], Redereikerskamers [sic], St. Aldegonde, Hooft, Vondel, Cats, Grotius, Spinoza, Langendijk, Bilderdijk, Van Lennep, Conscience und Ten Brink. Die letzten drei waren auf schwedisch erhältlich. Van Lennep und Conscience sind als spannende Lektüre für Schülerinnen durchaus denkbar. Eine Literaturgeschichte für die Schule, in der gute, aktuelle Literatur präsentiert wird, ist ein respektables Anliegen für jeden Pädagogen, aber im Falle der genannten Autoren könnte man sogar vermuten, dass von Friesen die Schülerinnen auf eine nicht nur gute, sondern auch unterhaltende Lektüre hinweisen wollte. Das eine sollte immerhin das andere nicht ausschließen. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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In den nächsten zwei Jahrzehnten erschienen kurz nacheinander die beiden Auflagen der ersten großen schwedischen Literaturgeschichte. Sie war das Werk der Professoren Karl Warburg (1852-1918, Göteborg 1890-1900, ab 1909 in Stockholm) und Henrik Schück (1855-1947, Lund 1890-98, Uppsala 1898-1920). In dieser [Illustrerad svensk litteraturhistoria 1896-97] wird Reyneke Fosz - das bedeutendste belletristische Werk der Periode [206] - als Übersetzung eines plattdeutschen Textes vorgestellt, ohne dass die mittelniederländische Vorlage dieser niederdeutschen Version erwähnt wird. Über das 17. Jh. wird bemerkt, dass Wittenberg als Reiseziel der Schweden durch die industriellen Länder Holland und England ersetzt wurde und dass der Adel außer Schwedisch auch Deutsch und Niederländisch sprach. Für die schwedische Kultur sei dieser ausländische Einfluss von größter Bedeutung gewesen, besonders der Einfluss des praktischen, industriellen Holland: Könnte die utilitäre, praktische Strömung, die in der Blütezeit des 16. Jhs. in Schweden vorhanden ist und in der freiheitlichen Zeit des 17. Jhs. in seiner ganzen Kraft hervorbricht - könnte sie nicht die Folge des Einflusses der holländischen Kolonisten auf den schwedischen Nationalgeist sein? Jedenfalls wird die ganze Strömung von Impulsen von seiten der fleißigen, industriellen, praktisch klugen niederländischen Republik genährt. [234, meine Ubersetzung]. Als eine mögliche Erklärung der Tatsache, dass die schwedische Litteratur der Zeit meist moralisch war, führen die Autoren den holländischen Einfluss an: Die nüchternen, bürgerlichen Niederländer sahen dagegen in der Antike bloß die Klarheit, aber diese Klarheit wurde für sie eine vernunftsmäßige Spießbürgerlichkeit, die ihren Höhepunkt erreicht mit Catz, dem am meisten bewunderten Autor der Zeit. [250-251]. Stiernhielms Bröllops-Besvärs Hugkommelse erinnert die Verfasser an die Genrebilder der Niederländer und an Bellmans Fähigkeit des Sehens. Sie meinen, dass diese Fähigkeit eine Eigenheit von Niederländern und Skandinaviern sei. Wie die Niederländer scheinen auch die Schweden in der Kunst ihre Freude an der Wiedergabe des eigenen Lebens in Alltag und Feier gehabt zu haben. Dass Hiärnes Rosimunda das lateinische Werk des holländischen [sic] Humanisten Zevecote zur Vorlage hatte, entnehmen die Autoren einem damals noch unpublizierten Werk Wrangels. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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In ISLH 21911-16 ist, wahrscheinlich nach Wrangel [1897], eine Erwähnung der niederländischen reisenden Theatergesellschaften des 17. Jahrhunderts hinzugefügt worden. Außerdem wird, ohne Zweifel nach Lamm [1908], auf Dalins Abhängigkeit von Van Effens Le misanthrope hingewiesen. ISLH 31926-49 bietet nichts Neues. Nachdem Schück die schwedische Literaturgeschichte geschildert hatte, war die allgemeine Literaturgeschichte an der Reihe [Schück 1919-26, 21946-54]. In den beiden, was die niederländische Literatur angeht, unveränderten Auflagen wird vermerkt, dass die Fuchsgeschichte von einem flandrischen Dichter ursprünglich auf Lateinisch geschrieben, später von Willem auf Niederländisch zu Van den vos Reinaerde umgedichtet und 1621 ins Schwedische übertragen wurde. Erasmus und Grotius werden genannt. Erasmus wird als deutscher Humanist behandelt mit der Motivierung, dass er für Deutschland so viel bedeutet hat. Urban Hjärnes Rosimunda wird auf Zevecote zurückgeführt, Hooft und Vondel werden erwähnt und Spinoza wird auf nicht weniger als 16 Seiten behandelt, worin u.a. sein portugiesisch-jüdischer Name kommentiert wird. Die Niederlande werden vorgestellt als das Land, wohin man flüchten konnte, wenn man wegen seiner religiösen Auffassungen verfolgt wurde. Über die niederländische Literatur nach dem 17. Jahrhundert wird geschwiegen. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von Schücks Werk gibt der Bonnierverlag eine allgemeine Literaturgeschichte heraus: [Bonniers illustrerade litteraturhistoria 1928-35]. Auch hier begegnen wir, wie bei Schück, dem Flamen Willem, der Van den vos Reinaerde schrieb, von dem das schwedische Volksbuch stammt. Neu ist das Elckerlijc-Thema: Von Elckerlijc/Everyman wird festgelegt, dass es englischen Ursprungs ist. Über Erasmus wird ausführlich berichtet (3 Seiten). Die niederländische und die deutsche Literatur werden zusammen behandelt. Typisch für die Niederlande sind die Rederijker, die Toleranz, Spinoza, die Gelehrten in Leiden (Heinsius), Hooft, Vondel und Cats, von dem gesagt wird, dass er am treuesten den holländischen Geist ausdrückt. Als Beispiel verweist man auf die Lucidor-Übersetzung En mös plikt (vergl. Abschnitt 1.1., Fußnote 5). Charakteristisch für Cats sei die nüchterne Moral, die platte Alltäglichkeit, eine gewisse Echtheit und Natürlichkeit, kurz eine Literatur, die abgestimmt ist auf eine vortreffliche, bürgerliche Gesellschaft. Von der holländischen Literatur wird weiter gesagt, sie | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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bleibe weit hinter der holländischen Kunst zurück. Über die Zeit nach dem 17. Jh. wird geschwiegen. So sehen wir, dass die älteren Literaturgeschichten (Scherr/Ahnfelt/Müller) eigentlich moderner ausgerichtet waren als die des 20. Jahrhunderts (Schück/Bonniers). In den neueren erfahren wir nichts über Multatuli, nichts über die niederländischen Tachtiger und ebensowenig über Gezelle oder über die flämische Generation von Van Nu en Straks, Höhepunkte der niederländischen Literatur. Als Artur Lundkvist 1946 seine Übersicht über die europäische Literatur zwischen den beiden Weltkriegen herausgab [Lundkvist 1946], beginnt die Darstellung mit der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, während die Jahre von etwa 1850 bis zum ersten Weltkrieg auch jetzt noch unbeschrieben bleiben. Außerdem behandelt der Abschnitt über belgische Literatur nur die französischsprachige Literatur Belgiens. Der Verfasser, Olivier Maurice, erklärt, dass es in Belgien einerseits Wallonen und Flamen gibt, die auf Französisch, und andererseits Flamen, die auf Flämisch schreiben, und dass die eine Gruppe nicht darauf achtet, was die andere tut. Die französisch-schreibenden Flamen sind den Wallonen literarisch überlegen - Sie drücken auf französisch eine flämische Sensibilität aus [Kursivierung von Maurice]. (Vergleiche hierzu Ljungdorff in SU, oben S. 43). Da Muusses, die das Kapitel Holländsk litteratur verfasst hat, fast ausschließlich die nordniederländische Literatur behandelt, bleiben die flämischen Autoren auch weiterhin unbekannt. Genannt werden zwar Van Ostaijen (1896-1928, wird mit Walt Whitman verglichen), Moens, Gijsen, Elsschot und Walschap, aber es wird kaum etwas über sie ausgesagt. Muusses spricht zunächst von den französischen und deutschen Strömungen, die nach Holland vermittelt wurden. Sie geht auf Slauerhoff (1899-1936) ein, und stellt ihn als poète maudit vor, und sie präsentiert die Generation um die Zeitschrift Forum (1932-1935), die sich gegen die Dichtervergötterung der Tachtiger wandte. Sie charakterisiert die Autoren Du Perron, Vestdijk, Bordewijk, Van Duinkerken, Helman, Coster, Nijhoff und Donker. Über Vestdijk schreibt sie, dass er mit komplexbetonter Einseitigkeit sexualpsychologische Krankheitsfälle behandelt [280] und über sein nach Muusses Auffassung bestes Buch Het vijfde zegel: | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Hätte sich Vestdijk konzentriert und das Buch um die Hälfte reduziert, dann hätte er nicht nur den besten historischen Roman in der holländischen Literatur geschrieben, sondern einen wirklich großen Roman, der einen Vergleich mit den besten ausländischen aushalten könnte. [S. 281, meine Übersetzung] Bordewijk fehlt, nach Muusses Auffassung, bei aller Intelligenz und Fantasie die menschliche Wärme [282]. An Helman (1904-1996) schätzt sie sein Einfühlungsvermögen in die tropische Natur in Zuid-zuid west, aber über das ins Schwedische übersetzte De rancho der X mysteries meint sie: das Buch sinkt bisweilen zum reinen Unterhaltungsniveau hinab. Man kann ihr nur beistimmen, es ist ein Rätsel, warum gerade dieses Buch von Helman übersetzt wurde. Bei Nijhoff beachtet sie seinen Protest gegen den freien Vers, den er mit dem Gedichtbündel Vormen illustrierte [285]. Zusammenfassend meint Muusses über die beschriebene Periode, dass nur ein kleiner Teil der modernen literarischen Produktion einen Vergleich mit dem Besten aus der älteren Dichtung aushalten könne. Ein Jahr später erscheint Muusses Hollands litteraturhistoria [1947], wie [Hartwijk 1936] in Finnland und später [Langvik-Johannessen 1980] in Norwegen, eine Monographie über niederländische Literatur für ein ausländisches Publikum. Muusses schreibt in der Tradition Nr. 3, das heißt eine Geschichte der Literatur Hollands mit bewusster Annektierung der flämischen mittelalterlichen Literatur. Dabei ist ihr in ihrem intramuralen Herz als Niederländerin nicht ganz geheuer, dass sie den Terminus holländska verwenden muss: Bis etwa 1600 umfasst die holländische (oder, wie wir selber sagen, die niederländische) Literatur ebenfalls die Literatur, die in Belgien (in Flandern und Brabant) in niederländischer Sprache geschrieben wurde [9, von mir hervorgehoben]. und: Die niederländische Sprache und ihre Literatur verkümmerten, bis die flämische Bewegung um 1830 die Flamen zur begeisterten und zähen Verteidigung der alten kernhaften Volkssprache aufrief. Die flämische Literatur, die nach 1830 entstanden ist, wird in diesem Buch nicht behandelt; sie verhält sich zur holländischen ungefähr wie die schwedischsprachige Literatur in Finnland zu der ‘reichsschwedischen’. [9, von mir hervorgehoben]. Muusses geht darauf ein, inwieweit die niederländische Literatur von anderen Literaturen beeinflusst wurde und wo sie andere Literaturen beeinflusst hat (z.B. Elckerlijc). Der Hinweis auf Van Effens Einfluss auf | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Dalin ist von ihrem schwedischen Standort aus zu erklären und kommt in intramuralen Werken nicht vor, was dagegen mit Potgieters schwedischer Reise fast immer der Fall ist. Über Cats' Einfluss erfährt man merkwürdigerweise nichts. Ihre Vergleiche entnimmt sie - offenbar aus pädagogischen Gründen - den skandinavischen Literaturen, z.B. wenn sie Betje Wolff mit Anna Maria Lenngren vergleicht [77]. Aus Kommentaren zur Literaturgeschichte und Auswahl der Autoren geht klar ihr persönliches Engagement hervor. Demokratische und sozialistische Autoren werden besonders erwähnt: Über Van Maerlant schreibt Muusses anlässlich des gesellschaftskritischen Gedichts Wapene Martijn, es sei der Protest eines aufrichtigen Demokraten gegen die Einteilung der Menschen in Stände und gegen die Verdorbenheit der höheren Stände. Die edle Gesinnung, nicht die Abstammung sei das Wichtige. Ihrer Auffassung nach verkündet Van Maerlant ein kommunistisches Ideal, das er von französischen Autoren übernommen hat. Ihn zeichne dabei aus, dass er nicht, wie seine französischen Kollegen, die Frauen vergessen hat. In Calis' Literaturgeschichte für die Schulen [Calis 1983] wird Maerlant als Populärwissenschaftler, Verfasser der Reimbibel, Kritiker der Kirche und Fürsprecher der Befreiung des heiligen Landes hervorgehoben, nicht aber wie hier als Kommunist und Feminist! Unter den Tachtiger behandelt sie ausführlich die beiden idealistischen Sozialisten und Sucher Van Eeden und Gorter. Dass Heijermans' Drama Op hoop van zegen die Gleichgültigkeit der Reeder gegenüber der Lage der Seeleute zum (sozialistischen) Thema hat, weiß jedes niederländische Schulkind. Dass der Autor aber Jude war und über die Situation der Juden in Russland und Europa geschrieben hat, erfährt man dagegen nur ausnahmsweise wie hier bei Muusses, was auf die Ereignisse der 40er Jahre zurückzuführen sein dürfte. Herman Robbers wird in intramuralen Übersichten kaum genannt, auch nicht in Calis [1983, Schulbuch] und Meijer [1971, Auslandsniederlandistik], wohl aber bei Muusses. War es wegen seiner Schilderung des Generationskonflikts, in dem sich ein liberaler Vater und ein sozialdemokratischer Sohn gegenüberstanden? Auch der Sozialist Adama van Scheltema bekommt eine volle Seite Text. Er wird weder in Calis [1983] noch in Meijer [1971] erwähnt. Autorinnen werden ebenfalls von Muusses hervorgehoben. So widmet sie der Mystikerin Hadewych 67, dem Mystiker Ruusbroec aber nur 42 | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Zeilen. In [Winkler Prins lexicon van de Nederlandse letterkunde 1986] hat Hadewych dagegen 60 Zeilen und Ruusbroec 73, in [De Nederlandse en Vlaamse auteurs 1985] hat Hadewych sogar nur 79 und Ruusbroec 153 Zeilen. Das Schulbuch [Calis 1983] widmet den beiden etwa gleichviel Text, nimmt aber eine Vision Hadewychs auf, was die Zeilenzahl steigen läßt. In der Vision wird die Vereinigung mit Christus in erotischen Bildern beschrieben, was in der Klassenzimmersituation natürlich zu einem erfreulichen, gesteigerten Interesse führen dürfte. Hinsichtlich der Antwerpener Lehrerin Anna Bijns hebt die ihrerseits ebenfalls unverheiratete Muusses ihre Lobpreisung des Unverheiratetseins hervor und zitiert Bijns, wenn diese darüber jubelt, wie herrlich es sei, nicht Windeln waschen zu müssen. Sie ist aber Frauen gegenüber nicht unkritisch. Obwohl Hélène Swart vom Tachtiger Kloos das singende Herz Hollands genannt wurde, ist Muusses ziemlich negativ. Dagegen wendet sie ihre Sympathie stark der Person der Dichterin Henriette Roland Holstvan der Schalk zu, die sie ja auch in BLM introduzierte (siehe S. 67, 71 und 149). In ihr findet sie die Kombination des Frau-Seins mit einem idealistischen Sozialismus. Ihr widmet sie gut sechs Seiten ihres Buches, was vom intramural Gebräuchlichen stark abweicht. Multatuli dagegen bekommt bei Muusses nur vier Seiten. Er wird von Muusses übrigens mit Strindberg verglichen, wobei aber sehr nachdrücklich betont wird, dass Multatuli ein Verständnis für die Situation der Frau hatte, das bei Strindberg fehlt. Sie behandelt die Dichterin Clara Eggink, die weder in [Meijer 1971] noch [Calis 1983] vorkommt, die Romanautorin Jeanne van Schaik-Willing - kommt in Meijer vor, aber nur weil sie mit Vestdijk einen Briefroman schrieb, dagegen nicht bei Calis -, Antoinette Nijhoff - weder in Meijer noch in Calis -, Henriette van Eyck - in Meijer, weil auch sie mit Vestdijk einen Briefroman schrieb, in Calis sehr kurz genannt - und Beb Vuyk - nicht in Meijer, aber in Calis erwähnt. Merkwürdigerweise fehlt bei Muusses Madelon Székely-Lulofs, die in Calis erwähnt wird und von der nicht weniger als sechs Werke ins Schwedische übersetzt wurden. Muusses war in Niederländisch-Indien Staatsbeamtin gewesen. So könnte man vermuten, dass sie sich durch die starke Kolonialkritik der Székely-Lulofs beleidigt gefühlt haben mag. Muusses hatte die Kolonien anscheinend nicht in ihr sozialistisches | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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WeltbildGa naar voetnoot96 einbezogen. Außerdem führte der Forum-Kritiker Menno ter Braak gegen Székely-Lulofs einen literarischen Feldzug (siehe S. 71 und 170), von dem Muusses wohl beeinflusst war. Mit dieser einen Ausnahme hatte Muusses Engagement für diese und andere Autorinnen zur Folge, dass ihr die Tendenz derjenigen Literaturgeschichten, die dem Publikum lesbare - nach der Meinung führender Kritiker jedoch nicht lesenswerte - Lektüre verheimlichen, fremd ist. Die beim romanlesenden, weiblichen, bürgerlichen Frauenpublikum populären Autorinnen Ina Boudier-Bakker und Top Naeff bekommen verhältnismäßig großen Raum. Muusses nennt auch Carel Scharten und seine Frau, Margo Scharten-Antink. Sie behandelt weiter ausführlich Carry van Bruggen - auf drei Seiten, Arthur van Schendel bekommt nur zweieinhalb Seiten! -, wobei sie der Roman Eva an den Roman Kris der Schwedin Karin Boye erinnert. Meijer [1971] nennt dagegen weder Ina Boudier-Bakker, Top Naeff, das Ehepaar Scharten noch Carry van Bruggen, wahrscheinlich weil sie nicht ‘literarisch’ genug sind. Er widmet dagegen Arthur van Schendel fünf Seiten, und Multatuli bekommt bei ihm zehn Seiten. Calis [1983] seinerseits erwähnt Ina Boudier-Bakker, Top Naeff und Carry van Bruggen, nicht aber die Schartens, vielleicht weil Boudier-Bakker und Naeff Autorinnen waren, die eine Generation von Jugendlichen gerne las. Auch die Unterhaltungsautoren Den Doolaard und Johan Fabricius werden bei Muusses kurz vorgestellt. Sie kommen ebenfalls kurz in [Calis 1983] vor, nicht aber in [Meijer 1971]. Calis schrieb für die Schule, Meijer für ausländische Akademiker. Calis hatte ein Interesse daran, die Schüler zum Lesen anzuregen und Meijer wollte bei ausländischen Kollegen Respekt für die niederländische Literatur erwecken. Daß es Muusses eher um die Frauen ging als um die Leserfreundlichkeit, zeigt die Tatsache, dass sie Jan de Hartog, der immerhin in Schweden seit 1940 mit u.a. Hollands Glorie großen Erfolg hatte, nicht behandelt. Holländsk litteraturhistoria ist lebendig geschrieben und mit so vielen Übersetzungen von Muusses selber ausgestattet, dass man es fast als eine Anthologie bezeichnen könnte. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Es ist erstaunlich, dass Muusses' beide Darstellungen der modernen (nord)holländischen Literatur, die ja, wie wir konstatiert haben (Abschnitt 2.2.), von den Verfassern der Nachschlagewerke beachtet wurden, in der folgenden großen schwedischen allgemeinen Literaturgeschichte keine Spuren hinterlassen haben. In Bonniers allmänna litteraturhistoria 1959-64 wird Hendrik van Veldeke als deutsch-niederländischer Dichter dem schwedischen Wissen hinzugefügt, über Van den vos Reinaerde erfährt man, dass das niederländische Werk seine französische Vorlage überglänzt, und über Elckerlijc, dass man nicht hat feststellen können, ob Elckerlijc oder Everyman das ursprüngliche Werk ist. Neu ist die Erwähnung der abele spelen. Erasmus bekommt seinen traditionellen Platz. Professor E.N. Tigerstedt (1907-79, Stockholm 1956-73) behandelt in BAL die niederländische Renässance- und Barockdichtung in einem eigenen Abschnitt, in dem Rederijkers, Geuzenliederen, Heinsius, Huygens, Hooft, Bredero, Vondel und Cats erwähnt werden. Er bemerkt, dass der Einfluss der niederländischen Literatur sich auf Deutschland und Skandinavien beschränkt und meint interessanterweise, dass die Sprache die niederländischen Autoren daran gehindert hat, eine wirklich europäische Rolle zu spielen; deshalb habe sie in seiner Darstellung weniger Aufmerksamkeit bekommen, als ihr eigentlich zukäme. Und so geht auch diese allgemeine Literaturgeschichte nicht auf die niederländische Literatur nach dem 17. Jahrhundert ein. In der kurzen Literaturgeschichte von Andreae [1961] wird mit einem Hinweis auf den niederländischen Historiker Huizinga der Begriff Herbst des Mittelalters zitiert und die Bedeutung der niederländischen Mystiker und Theologen Ruysbroeck, Groote und Thomas à Kempis hervorgehoben. Weiterhin werden Erasmus, Spinoza, Grotius, Vondel und Cats genannt, wobei über den letzten bemerkt wird, dass er in seiner Spießbürgerlichkeit für ein breites Publikum besser passt als die immer katholischer werdende Mystik Vondels. In Västerlandets litteraturhistoria. 1963-64, zusammengestellt von Professor Lennart Breitholtz (geb. 1909, Göteborg 1960-75), wird über den Roman de Renard gesagt, dass die französische Version die älteste, die flämische aber die wohlgeformteste sei. Erasmus und die Gelehrten Vossius und Heinsius werden erwähnt, dagegen ist Spinozas Einfluss auf Thorild neu hinzugekommenes Wissen. Erstaunlich sei, wie wenig die | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Niederlande im Vergleich zu den Errungenschaften auf politischem, militärischem, ökonomischem, künstlerischem und wissenschaftlichem Gebiet literarisch bedeutet haben. Man sollte aber daraus nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die niederländische Poesie unbedeutend sei. Niederländische Lyriker seien nämlich demselben Verdammnis ausgesetzt wie die schwedischen - sie sind in einem allzu kleinen Sprachgebiet eingekerkert. Wenn Vondel in einer der großen Sprachen geschrieben hätte, hätte er der Weltliteratur angehört. Außer Vondel nennt dieses Werk noch Cats und es folgt, mit einem Hinweis auf den Einfluss Van Effens auf Dalin, erneut eine interessante Bemerkung über das Handicap der Sprache: Van Effen wurde nur als französischsprachiger Schriftsteller beachtet, aber sobald er niederländisch zu schreiben begann, wurde er außerhalb der Landesgrenzen nicht länger gelesen. Dasselbe Schicksal traf die gesamte niederländische Literatur, so meint Breitholtz [122ff.]. Vielleicht haben Muusses Übersetzungen niederländischer Lyrik zu diesen Gedanken beigetragen. Über moderne Literatur schreibt Artur Lundkvist. Als einzigen modernen niederländischen Autor erwähnt er Vestdijk, in einem winzigen Abschnitt unter dem Titel Übrige Literatur. Darin wird außer der niederländischen die portugiesische und die belgisch-französische Literatur skizziert und als Quelle wird Muusses 1947 angegeben. In Ny illustrerad svensk litteraturhistoria 21967 spricht der Wissenschaftshistoriker Professor Sten Lindroth (1914-80, Uppsala 1957) über Reyncke Fosz als dem bisher [im 17. Jahrhundert] größten belletristischen Werk auf Schwedisch. Von Erasmus, Lipsius, Vossius und Heinsius ist die Rede und ebenfalls von den Studienreisen nach Leiden. Vondel und Cats werden genannt, wobei festgestellt wird, dass Stiernhielm in Herkules Bilder von Cats übernommen hat. Erstmalig wird darauf hingewiesen, dass Skogekär Bergbo in Thet swenska språketz klagemål (1658) einiges aus Twespraack van de Nederduitse Letterkunst (1584) entliehen haben könne. Professor Carl Fehrman (geb. 1915, Lund 1858-80) bezeichnet den niederländischen Einfluss als einen der wichtigsten für das schwedische Barockdrama (Brask und Hiärne). Er streift Vondel und betont den Einfluss von Cats auf die Poesie von Lucidor, Keder, Wexonius, Spegel (wobei er erwähnt, dass dieser niederländisch sprach), Frau Brenner und Runius. Die Theatergesellschaft von Fornenbergh wird ebenfalls genannt. Breitholtz betont die | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Entlehnungen Dalins aus Van Effens Le Misantrope und bemerkt, dass Van Effen, was die Erziehung der Frauen betrifft, moderner gewesen sei. Für Hiärnes Rosimunda wird als Vorlage auf das lateinische Drama von Zevecote hingewiesen, der übrigens der Terminologieverwirrung wegen (siehe Abschnitt 2.2.) in Schweden Holländer ist und bleibt. Der Reise Linnés nach Holland werden fünf Seiten gewidmet. Nach dieser gründlichen Darstellung der niederländischen Einflüsse auf Schweden im 17. Jahrhundert findet man nur noch einen Hinweis auf den Einfluss Dekkers (Multatuli) auf Elmer Diktonius. Ferner kommt eine Illustration aus der Zeitschrift De Stijl vor, und es wird erinnert an die Thomas à Kempis-Lektüre von Dan Andersson, Gullberg und Sven Lidman. Mehr kann man von einer Geschichte der schwedischen Literatur kaum fordern. Man kann sich allerdings fragen, wie viele Fälle der Einwirkung niederländischer Literatur auf die ältere schwedische man noch entdecken wird. In den allgemeinen Literaturgeschichten fehlt in den siebziger Jahren die moderne niederländische Literatur immer noch, wobei Litteraturens världshistoria 1971-74 keine Ausnahme bildet. Sie wurde von verschiedenen skandinavischen Mitarbeitern geschrieben. Vier Seiten aus Elckerlijc werden abgedruckt, und es wird angmerkt, dass man sich darüber streitet, ob das Werk englischen oder niederländischen Ursprungs sei. Erasmus wird traditionsgemäß ein deutscher Humanist genannt, weil die Niederlande damals zum deutschen Reich gehörten und er in Deutschland seine größte Wirkung hatte, da seine Bibelausgabe die Grundlage bildete für Luthers Übersetzung. Roemer Visscher, Spinoza, Vondel, Cats (‘der zweite große Dichter der Periode’), Hooft, Van der Noot, Bredero, Heinsius und Grotius werden erwähnt. Man mag sich die Frage stellen ob die schwedischen Übersetzer an der intramural komisch wirkenden Behauptung schuld sind, dass Vondel in Köln von holländischen Eltern geboren wurde, die aus Antwerpen geflohen waren? Obwohl die moderne nl. Literatur ihren Weg noch nicht in die größeren Übersichtswerke gefunden hatte, begann man sie in den sechziger Jahren in populären literarischen Nachschlagewerken zu beachten. So erwähnt z.B. das Nachschlagewerk Berömda böcker [1963] Anne de Vries' Kindheitsschilderung Bartje, Pressers De nacht der Girondijnen, Multatulis Max Havelaar und das Tagebuch der Anne Frank. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Schilderungen des Volkslebens, Kriegsschilderungen und Kolonialschilderungen gehören ja, wie wir sehen werden (Abschnitt 3.5.1.), zu den Gattungen, für die das schwedische Publikum wiederholt Interesse gezeigt hat. Auch Litteraturhandboken beachtet [1971 bzw. 1984] die moderne nl. Literatur. Zwar fehlt ein Übersichtsartikel, aber unter den Biographien erscheinen u.a. Boon, Ina Boudier Bakker, Anne Frank (mit Photo), Gijsen (mit Photo), Hella Haasse, 't Hart (mit Photo), De Hartog, Hermans (mit Photo), Multatuli, Presser und Wolkers (mit Photo). Erst in den achtziger Jahren wird mit Litteraturens historia [1985-94], redigiert von Hans Hertel, die alte Tradition des Nicht-Existierens der modernen niederländischen Literatur in den größeren Literaturgeschichten endlich durchbrochen, was möglicherweise den zahlreichen Übersetzungen niederländischer kanonisierter Literatur in den 60er, 70er und 80er Jahren zu verdanken ist (siehe 3.5.1., S.186f.). Nach den vertrauten Namen und Themen: Reineke Vos [niederdeutsche Namensform!] des flämischen Dichters Willem, Erasmus, religiöse Freiheit, lebenskräftiges Universitätswesen und Kulturleben, Vondel, Bredero, Hooft und Grotius tauchen plötzlich neue Autoren auf: Klassiker wie Betje Wolf und Aagje Deken, Conscience, Cremer, Multatuli neben der flämischen Zeitschrift der Erneuerung Van Nu en Straks (1893-1903] und den Flamen von der Jahrhundertwende bis zum 2. Weltkrieg Timmermans, Van de Woestijne, Buysse, Teirlink, Streuvels, Van Ostaijen, Elsschot und Walschap, die nordniederländischen Zeitschriften seit 1880 (De Nieuwe Gids, De Beweging, Het Getij, Forum), die Tachtiger Kloos und Van Deyssel, der Negentiger Couperus, die Sozialisten Heijermans, Gorter, Henriette Roland Holst-van der Schalk, der Neoromantiker Roland Holst, die Autoren des Interbellum Marsman, A.M. de Jong, Ina Boudier Bakker, De Hartog, Slauerhoff und Vestdijk, und schließlich die als Antikriegs-Symbol angesehene Anne Frank. Sogar die Trivialautoren Willy Corsari und Hans Martin werden ebenso erwähnt wie der Kulturhistoriker Huizinga. Boon und Walschap kommen als Gesellschaftskritiker vor. Unter der Überschrift Ny roman och absurdism finden wir nochmals Boon und außerdem Claus, Reve, Wolkers und Mulisch, unter Ockupationstrauman i Holland och Belgien erscheinen Vestdijk, Hermans, Mulisch und wiederum Claus. Die Lücke ist geschlossen! | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Im zuletzt erschienenen, populär gehaltenen Übersichtswerk schwedischer Literatur Den svenska litteraturen [1987-1990] werden zwar die Bildungsreisen der Schweden nach ‘Holland’ erwähnt, ihre niederländischen Sprachkenntnisse im 17. Jh., Reyncke Fosz (ohne dass von dem niederländische Original die Rede ist), Fornenberghs Theatergruppe, das ‘holländische’ Lateindrama Rosimunda, Dalins Nachahmung von Le misanthrope und die niederländischen Jahre Linnés, aber kein einziger niederländischer Autorenname wird aufgeführt. Im Handbuch über schwedische Literatur für den Anfangsunterrricht in der Literaturwissenschaft an der Universität [Olsson & Algulin 21993] werden die Bildungsreisen der Schweden nach Leiden, Hiärnes Rosimunda und als Beispiel für die Emblematikgattung der Kupferstich vom gemästeten Ochsen von Cats erwähnt. Das Handbuch der Weltliteratur [Olsson & Algulin 1993], ebenfalls für den Anfangsunterricht der Universität geschrieben, nennt außer dem flämischen Reineke Vos [mit der nicht-niederländischen Namensform, die in Schweden eingebürgert ist] ebenfalls Erasmus, das 17. Jahrhundert als Hollands goldenes Zeitalter und Vondel als Vorgänger von Gryphius. 25 Zeilen werden Vondel gewidmet und 18 Zeilen der Barocklyrik in den Niederlanden, wobei die Namen Huygens, Hooft, Bredero, Heinsius und Cats auftauchen. Die Bedeutung dieses Barocks in Holland für Deutschland und die skandinavischen Länder wird hervorgehoben. Vor allem Cats wird als Autor bürgerlich-didaktischer Emblematik erwähnt und sein Einfluss auf Stiernhielm, Lucidor und Spegel betont. Der modernen nl. Literatur wird in diesem Abriss jedoch nicht eine so große Rolle zugebilligt, dass Namen erwähnt werden. Aber für eine neue Generation der Reisenden wie Journalisten, Touristen und Geschäftsleute und auf dem kulturellen Sektor Studenten, Bibliothekare, Lehrer und Kulturjournalisten verfasste der Autor und Kritiker Johan Werkmäster eine Übersicht der nl. Nachkriegsliteratur [1989]. Er konstatiert, dass man nicht mehr behaupten kann, die niederländische Literatur sei in Schweden unbekannt. Seine Übersicht beschränkt sich jedoch auf die übersetzten Bücher. Was die sprachliche Terminologie betrifft hat Werkmäster sich der intramuralen Sicht angeglichen, die ihm von den beiden Lektoren der Universitäten in Göteborg und Stockholm, Otterloo und Ingrid Wikén Bonde, und den Übersetzern Sonja Berg Pleijel und Holmer vermittelt wurde. Er | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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behandelt erst die holländische und danach die flämische Literatur. Die holländische gliedert er zunächst in drei Themenkreise, die unter den Begriffen Krieg (Anne Frank, Etty Hillesum, Presser, Minco, Oberski, Reve, Hermans, Mulisch), Kolonien (Dermoût, Brouwers, Wolkers) und Kalvinismus (Wolkers, 't Hart) zusammengefasst werden können. Die Autoren Vestdijk, Polet, Nooteboom, Bernlef, Oek de Jong und die Feministin Meulenbelt werden individuell behandelt wie im Kapitel über die flämische Prosa die Autoren Boon, Gijsen, Daisne und Lampo. Danach folgen Abschnitte über Kongo (Van Aken, Geeraerts), Zivilisationskritik (Vandeloo, Ruyslinck) und Nationalismus (Claus). Das Ganze wird abgeschlossen mit einer kommentierten Autoren- und Bücherliste.
Seit 1985 kann man sich in Literaturgeschichten auf schwedisch also über die gesamte niederländische Literatur von Reinaert bis Van Paemel und Bernlef orientieren. Allerdings fällt die Darstellung gewisser Perioden etwas dünn aus. Von der flämischen Literatur von Conscience bis Van Aken erfährt man abgesehen von ein paar Namen so gut wie nichts. Von Seiten einiger neuerer Literaturhistoriker wird das geringe Interesse für die niederländische Literatur und ihre mäßige Wirkung der Sprachbarriere zugeschrieben. Um die niederländischen Einflüsse auf die schwedische Literatur bemüht sich die Forschung immer noch aktiv, wobei ständig neue Einflussnahmen nachgewiesen werden können. Das gilt vor allen Dingen für die Literatur des 17. Jahrhunderts. Die persönlich gehaltene Monographie von Muusses klammerte die Flamen der Periode nach der Scheidung der nördlichen und südlichen Provinzen aus. Ihre Übersicht ist jetzt fünfzig Jahre alt. Werkmästers Büchlein fängt dort an, wo Muusses aufhört, bezieht die Flamen mit ein, aber beschränkt sich auf die übersetzte Literatur. Dass Übersetzungen für die Kenntnis und Bewertung der niederländischen Literatur in Schweden von größter Bedeutung gewesen sind, tritt immer klarer hervor. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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2.4. Zeitungen und Zeitschriften.MaterialHinweise auf Artikel in Zeitungen und Zeitschriften ergaben sich einerseits im Laufe der Arbeit, andererseits wurden sie Svenskt tidskriftsindex und Svenska tidskriftsartiklar, Svenskt tidningsindex und Svenska tidningsartikler sowie bis Anfang 1996 der Computerbasis btj von Bibliotekstjänst entnommen. Von wichtigen Zeitschriften wurden sämtliche Jahrgänge durchgesehen (siehe PRIMÄRLITERATUR 6.1., S. 349). Im Falle der Tagespresse war eine solche Durchsicht für die gesamte Periode unmöglich. Das bedeutet, dass Zeitungsartikel, die vor 1952 publiziert wurden, nur dann beachtet werden konnten, wenn sie mir zufällig in die Hände gerieten. Sicherlich liegt in älteren Zeitungen noch sehr viel Material verborgen, das erst durch systematisches Exzerpieren der Tagespresse ausfindig gemacht werden könnte, wobei das Ergebnis die Mühe schwerlich lohnen würde. Man kann nur die fromme Hoffnung hegen, dass Svenskt Pressregister weiter ergänzt wird. Ferner wurden die Jahrgänge 1975-80 der syndikalistischen Wochenzeitung Arbetaren (demokratisch, freiheitlich, sozialistisch), die in den oben genannten Registern nicht vorkommt, durchgesehen, weil ich voraussetzte, man könne aus ihnen Wesentliches für die Rezeption des Anarchisten Louis Paul Boon zu Tage fördern. Während der intensiven Kernkraftdebatte in Arbetaren 1979-80 wurde darin auch Vandeloos Roman Faran (über die Gefahr des radioaktiven Abfalls, vom Autor zugleich als Symbol für die Einsamkeit des modernen Menschen verwendet) besprochen. Im literarischen Nachlass von Martha A. Muusses, der im Letterkundig museum en documentatiecentrum in Den Haag aufbewahrt wird, fand ich Hinweise auf ihre Artikel in Dagens Nyheter. Artikel über Kunst - Artikel über Rembrandt und Van Gogh kamen verhältnismäßig häufig vor -, über französischsprachige Flamen wie Maeterlinck und Verhaeren, über Südafrika und Niederländisch Indien werden hier nicht behandelt. Rezensionen wurden nur zu einem gewissen Teil beachtet. Für die Entwicklung nach 1980 siehe auch Kapitel 4. Die Artikel und Rezensionen, auf die ich mich in diesem Abschnitt stütze, werden im Quellenverzeichnis unter PRIMÄRLITERATUR 6.2. und 6.3. aufgeführt. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Von der Jahrhundertwende bis Anfang der 30er Jahre.Aus dieser Periode stammen in der ältesten der untersuchten Kulturzeitschriften, Ord och Bild, nur vereinzelte Beiträge über die Niederlande und Flandern. So schreibt der einflussreiche Kritiker LevertinGa naar voetnoot97 1895 über Brügge und Ellen Fries (siehe S. 20) 1900 über den niederländischen Volkscharakter und die niederländische Kunst. Brügge war damals aktuell auf Grund von Georges Rodenbachs dramatischem französischsprachigem Bestsellerroman Bruges-la-morte (1892), nach dessen Titel der bekannte Ausdruck geprägt wurde.Ga naar voetnoot98 Schilderungen des Volkscharakters waren ebenfalls populär. So schrieb C.G. Laurin über die Niederlande in Stamfränder [Laurin 31928] und Folklynnen [Laurin 91926], und die Schlüsselworte waren, im Bezug auf die Niederlande bürgerlich, ruhig, fett, sauber, gesund, Kultur und Tulpen. 1902 erschien in Svenska Dagbladet ein enthusiastisches und psychologisch einsichtsvolles Essay von Levertin über Multatuli, dessen Max Havelaar gerade in schwedischer Übersetzung erschienen war. Im Jahre darauf stellte Holger RosmanGa naar voetnoot99 in Ord och Bild fest, dass die schwedische Literatur in weit größerem Ausmaß auf Niederländisch erhältlich war als die niederländische auf Schwedisch. Er konstatierte, dass in Schweden von den damals aktuellen Autoren eigentlich nur Multatuli und Couperus übersetzt worden waren, und er zählte eine Reihe von Schriftstellern auf, die der Mühe des Kennenlernens wert seien: der ältere Klassiker Beets, die populäre Wallis, deren Vorstengunst von Erik XIV handelteGa naar voetnoot100, die Tachtiger Helene Swarth, Kloos und Gorter, der heute vergessene Van Nouhuijs, der engagierte Van Eeden, die heute vergessenen Autoren Borel und Anna de Savornin Lohman und die Flamen Hegenscheidt, Gezelle, Streuvels und Buysse, von denen die letzten drei im ganzen | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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niederländischen Kulturgebiet immer noch zum Kanon gehören, während der von Skandinavien faszinierte Hegenscheidt auch intramural die flämische Grenze nie überschritten hat. Nach Rosmans Artikel dauerte es acht Jahre, bis in Ord och Bild 1911 wieder von niederländischer Literatur die Rede war, ein biographischer Artikel, geschrieben von dem Pionier der Psychoanalyse in Schweden, Poul Bjerre, über seinen Kollegen Van Eeden, der ja ebenfalls Psychiater war. Van Eeden wurde als Wissenschaftler, Arzt, Sozial-Utopist und Schriftsteller vorgestellt; als das bekannteste Buch wurde De kleine Johannes, als das beste Van de koele meren des doods präsentiert. Bjerre zitiert die deutschen Titel der Werke, hatte sie also wahrscheinlich auf Deutsch gelesen.Ga naar voetnoot101 Nach 1911 sucht man bis 1937 in Ord och Bild - abgesehen von einem vom Gulden sporenslagGa naar voetnoot102 inspirierten Gedicht des Autors des populären Vikingerromans Röde orm, F.G. Bengtsson (1931), - vergeblich nach Beiträgen über niederländische Literatur; in diesem Jahre introduzierte Martha A. Muusses Henriette Roland Holst-van der Schalk (siehe S. 57, 71 und 149). 1922 publizierte Studiekamraten, die 1919 gegründete Zeitschrift für freie und freiwillige Volksbildung innerhalb von Arbetarnas BildningsförbundGa naar voetnoot103, die Besprechung eines Werkes von Herman Gorter, aber nicht, wie man heute erwarten würde, einer seiner Dichtungen, sondern seiner Einführung in den Sozialismus Socialismens A.B.C. In erster Linie wurde also die gesellschaftszugewandte Seite der beiden Tachtiger Van Eeden und Gorter rezipiert und nicht die des l'Art pour l'Art (zum Ausdruck gebracht im Anfang von Van Eedens De kleine Johannes und in Gorters Mei), die heute in niederländischen Schulbüchern als Kennzeichen der Tachtiger hervorgehoben wird. Die schwedische Generation der Åttitalister war stark am gesellschaftspolitischen Geschehen beteiligt. Es kann sein, dass man nur die Seite interessant fand, in der man sich spiegeln konnte, und nicht die andere. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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1927 publizierte Erik Rooth in der Tageszeitung SDS den ersten und meines Wissens bis 1975 einzigen Artikel in Schweden über flämische Literatur. Er ging dabei ein auf die Stellung des Niederländischen - Rooth spricht vom Flämischen - in Flandern, und meinte, dass die aufblühende Literatur wesentlich zur Stärkung der Position dieser Sprache beigetragen hatte. Er nannte Conscience, Gezelle, Buysse, Teirlinck, Streuvels, Vermeylen und Timmermans und erwähnte die Zeitschrift Van Nu en Straks. Kennzeichen der flämischen Literatur seien die saftige Menschenschilderung und das Naturerlebnis, meint Rooth; er bezieht sich dabei auf Rubens, Jordaens, Van Eyck und Breughel. Der Geograph, Dante-Übersetzer, Van Eeden-Bewunderer und Idealist Arnold NorlindGa naar voetnoot104 rezensierte 1928 in Studiekamraten Huizingas Medeltidens höst (vergl. Abschnitt 2.7.). | |||||||||||||||||||||||||||||||||
30:er und 40:er Jahre.Zwar stand in den Zeitschriften der dreißiger Jahre, in denen die literarische Diskussion der Jüngeren geführt wurdeGa naar voetnoot105, so gut wie nichts über niederländische Literatur, aber in der 1932 gegründeten Zeitschrift Bonniers Litterära Magasin (BLM) und in Studiekamraten erschien von 1933 bis zum Kriegsschluss plötzlich ein Strom von Rezensionen niederländischer Romane. Die am häufigsten rezensierte Autorin war Madelon Székely-Lulofs, der meistbesprochene Autor Johan Fabricius, ja | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Lulofs' Rubber wurde sogar in der Avantgarde-Zeitschrift Fönstret (1930-1935), in deren Redaktion u.a. Artur Lundkvist saß, besprochen. Es standen in den sieben Jahrgängen dieser Publikation ansonsten nur zwei Beiträge, die auf die Niederlande Beziehung hatten, ein empörter Ausruf über die niederländische Kolonialpolitik von Bonus vir und die oben erwähnte Besprechung (1933) des Kolonialromans der Székely-Lulofs.Ga naar voetnoot106 Außer den Werken dieser beiden erfolgreichen Autoren wurden, sowohl in BLM wie in Studiekamraten, weitere gute bis sehr gute niederländische Unterhaltungsliteratur besprochen.Ga naar voetnoot107 Möglicherweise geriet Van Schendels Roman Het fregatschip Johanna Maria aus Versehen ebenfalls in das Fach der unterhaltenden Gattung Seeroman. Anhand von Hollands glorie und Het fregatschip Johanna Maria kann man geradezu eine Studie darüber durchführen, wie das Thema armer Junge wird Seemann durch den Unterhaltungsautor De Hartog spannend dargestellt wird, während es beim kanonisierten, neoromantischen Autor Van Schendel als symbolischer Hintergrund für Fragen der Lebensanschauung dient. In BLM stehen mehr Rezensionen als in Studiekamraten, wo man den Eindruck erhält, dass die Literatur in erster Linie zur sozialistischen Identitätsbildung und moralischen Erziehung beitragen soll. Wurden Székely-Lulofs Romane in BLM sicherlich in erster Linie ihres Unterhaltungswerts wegen rezensiert, in Studiekamraten wurden sie außerdem wohl auf Grund der politisch-moralischen Lehren, die aus ihren Kolonialschilderungen gezogen werden konnten beachtet. Über Koelie schrieb Martin Ivarsson in Studiekamraten: [das Werk] kann warm empfohlen werden, sowohl aus literarischen Gründen wie auch als lehrreiche Introduktion in ein fremdes Milieu und Karl L. de Vylder sagt zusammenfassend über Székely-Lulofs: [sie hat] uns einen erschreckenden Einblick darin gegeben, wie die europäischen Kolonialstaaten die farbigen Völker ausgebeutet haben. In seiner Rezension von Bartje verwendet C. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Hilmer Johanson Ausdrücke wie die Kinderjahre eines Landarbeiterjungen, die Seele eines Proletarierkindes und zieht zum Vergleich Andersen Nexö heran. Es ging aber nicht um die ideologische Schulung allein. In einer Rundfunkvorlesung des Jahres 1938, die in Studiekamraten abgedruckt wurde, stellte sich Professor Gunnar Axberger die Frage wozu die Belletristik eigentlich diente? Die Antwort lautete, zusammengefasst: Das Lesen schenkt uns eine erweiterte Lebenserfahrung, die wir in unserem praktischen Leben nie erreichen können [] führt uns ein in fremde Menschenseelen, Menschenschicksale, unbekannte Umgebungen und Verhältnisse, Denkweisen und Gesichtspunkte, Konflikte und Probleme [] lässt uns das alles von innen heraus mitmachen, als lebendiges Leben, nicht als trockne, theoretische Fakten [] hilft uns zurecht in unserer eigenen, verworrenen Lebensproblematik, mit einem erlösenden Wort, neuen Perspektiven, neuen Auswegen [] intensiviert das Gefühlsleben, kultiviert den Geschmack [Axberger 1939, 169-173, meine Übersetzung]. Man bekommt den Eindruck, dass genau dies die Kriterien waren, nach denen in BLM und Studiekamraten rezensiert wurde. Axberger warnt im nächsten Augenblick vor der falschen, billigen, verdummenden Trivialliteratur. Solche Literatur wurde ja auch keineswegs rezensiert. Dass Literatur eine Tür zu einer unbekannten Umgebung öffnen kann, schwebte auch dem Rezensenten von Nora Basenau-Goemans vor: [] farbreiche Bilder holländischen Lebens und holländischer Kultur [] öffnen uns die Tür zum pittoresken, fröhlichen und wohlhabenden Holland, das war - und das in einer nicht allzu fernen Zukunft vielleicht wieder auferstehen wird [Molde, 45, meine Übersetzung]. Die 'Tradition' der spärlichen kulturellen Einzelartikel wurde in den Zeitschriften parallel mit den vielen Rezensionen weitergeführt, so z.B. 1933 ein Artikel des Volkshochschulrektors Alf Ahlberg über Spinoza (In: ABF). In der Zeitung Svenska Dagbladet berichtete der Stockholmer Ordinarius für Deutsch, Erik Wellander, 1936 über die Jubelfeier zum 300. Jahrestag der Utrechter Universität. Was ihn als Gast besonders beeindruckt hatte, war die Kombination von vornehmer alter Kultur und neuem pulsierenden Leben, die er vorgefunden hatte. Im September sprach er, ebenfalls in SvD, die Ansicht aus, dass die kleinen Nationen Schweden und Holland in Zeiten der politischen Unruhe zueinanderhalten und zusammen für den Frieden kämpfen sollten. Kennzeichnend für die Niederlande sei, meinte er, der Respekt für das historisch Gegebene, für die Freiheit des Individuums und das Recht des Einzelnen. Er verglich | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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damit die schwedische Neigung zur politischen Gleichmacherei, die er zu verspüren meinte. Er bemerkte, ähnlich wie Rosman, dass jede niederländische Buchhandlung schwedische Bücher verkaufte und dass überhaupt ein großes Interesse für Schweden existiere. Holland verdiene ein ähnliches Interesse von Seiten Schwedens, beschloss er seinen Artikel. Ganz aus dem Rahmen der gehobenen Unterhaltungsliteratur fielen 1937 Martha Muusses' Präsentation von Henriette Roland Holst-van der Schalk in Ord och Bild und ihr Plädoyer für Vondel in Dagens Nyheter (17.11.37). Zwei Jahre später schrieb der einflussreiche Kritiker der damals führenden niederländischen Zeitschrift Forum (1932-35), Menno ter Braak (1902-1940), in BLM, eine freundliche Seele habe ihm eine Liste schwedischer Übersetzungen niederländischer Literatur eingehändigt.Ga naar voetnoot108 Ter Braak ist entsetzt über die Liste. Sie vermittelt nach seiner Auffassung keineswegs ein wahres Bild des Niveaus der niederländischen Literatur. Jo van Ammers-Küller und Willy Corsari würden in den Niederlanden nur als Autorinnen von Unterhaltungslektüre gewertet, die Popularität der Autorinnen Székely-Lulofs und Ina Boudier-Bakker sei weitaus größer als ihr Talent, schreibt Ter Braak. Den Doolaard habe zwar als vielversprechender Dichter begonnen, aber schreibe nun im leichten romantischen Genre, und Fabricius sei ein angenehmer Erzähler ohne jegliche Ansprüche, passend für ein sehr breites und undefiniertes Publikum. Statt der übersetzten Autoren stellt Ter Braak nun eine Reihe von Dichtern und Autoren vorGa naar voetnoot109, u.a. Vestdijk, alle unter Angabe ihrer weltanschaulichen Zugehörigkeit, die man mit VerzuilingGa naar voetnoot110 zu bezeichnen pflegt. Aus meiner Bibliographie | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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der übersetzten Einzeltitel geht hervor, dass einige aus dieser ListeGa naar voetnoot111 kurz zuvor übersetzt worden waren und dass zwei von ihnen kurz nach dem Erscheinen von Ter Braaks Artikel auch wirklich übersetzt wurden.Ga naar voetnoot112 Es sollte aber bis 1954 dauern, ehe man sich an Vestdijk wagte. Und da wurde dann allerdings ein Titel gewählt, der in den damaligen Trend der historischen Romane passte (siehe Abschnitt 3.5.1., S. 156). In Martha Muusses Landvinning sind viele der von Ter Braak aufgezählten Dichter aufgenommen wordenGa naar voetnoot113 Was die Rezensionen in BLM während der Kriegsjahre betrifft, führte Ter Braaks Kritik nicht zu irgendwelcher Veränderung. Es wurden in BLM weiterhin Romane rezensiert, deren Qualitätsniveau zwischen Kanon und Trivialliteratur schwebte (siehe zur Qualitätseinteilung S. 129f.).Ga naar voetnoot114 In Muusses literarischem Nachlass im Letterkundig Museum en documentatiecentrum in Den Haag finden sich schließlich Zeitungsausschnitte, aus denen hervorgeht, dass Muusses seit ihrer Ankunft in Schweden anfangs der dreißiger Jahre in verschiedenen Zeitungen Gedichtübersetzungen und Artikel über niederländische Literatur publizierte. Besonders genannt sei die Serie Modern holländsk prosalitteratur, die Dagens Nyheter 1941 von ihr bestellt hatte. Im ersten von drei Abschnitten behandelte sie ‘die traditionelle Gruppe’Ga naar voetnoot115 im zweiten ‘die neoromantische Gruppe’Ga naar voetnoot116 und im dritten ‘die Gruppe der neuen Sachlichkeit’Ga naar voetnoot117 und man konstatiert, dass Muusses eine verhältnismäßig ‘leserfreundliche’ Auswahl trifft. Desto auffälliger ist, wie in ihrer Literaturgeschichte, das Schweigen über Madelon Székely-Lulofs, obwohl sie mutmaßlich wusste, dass sie in Schweden fleißig übersetzt und immer wieder gedruckt wurde. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Es wurde in diesen Jahrzehnten in Schweden ein Kampf gegen die Schundliteratur geführt. Man kann sich fragen, ob man nicht damals das Kind mit dem Badewasser ausgeschüttet hat, das heißt, ob die gehobene Unterhaltungsliteratur dabei nicht ebenfalls aus Versehen dem Eifer literarischer Fundamentalisten zum Opfer gefallen ist.Ga naar voetnoot118 | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Die Nachkriegszeit.Nach dem Krieg sind die Rezensionen der guten niederländischen Unterhaltungsliteratur plötzlich aus BLM verschwunden. Das mag daran liegen, dass der Kunsthistoriker und Fabricius-Bewunderer Thure Nyman BLM verlassen und 1946 die Zeitschrift Bokvännen gegründet hatte. Aber auch in Bokvännen stand lange kein Wort über niederländische Literatur. Hatte sich Nyman, der die Niederländer so enthusiastisch rezensiert hatte, durch Ter Braak beeinflussen lassen? BLM läutet das Jahr 1945 ein mit Rezensionen von Muusses' Gedichtanthologie Landvinning (siehe Abschnitt 2.5.) und Huizingas Den lekande människan (übersetzt von Gunnar Brandell, rezensiert von Artur Lundkvist). 1946 wurden Briefe niederländischer BLM-Leser kommentiert. Aus diesen ging hervor, dass BLM während des Krieges in Holland nicht verboten war und dass man sich bis 1944 mit der Hilfe von BLM über die literarische Entwicklung in der Welt informieren konnte. Die Göteborger Lektorin für Niederländisch, Louise van Wijk (siehe S. 24), schrieb über die ‘holländische’ Literatur während der Ockupation, und man publizierte einen Artikel über die französischsprachige Literatur Belgiens. Über die flämische Literatur schrieb niemand, wobei man über die Gründe nur spekulieren kann; möglicherweise war dies eine Folge der deutschfreundlichen Haltung, der u.a. auch Timmermans bezichtigt wurde?Ga naar voetnoot119 | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Die fünfziger Jahre begannen in BLM mit einer Theaterrezension von Maurits Dekkers Stück De wereld heeft geen wachtkamer, das nicht besonders hoch bewertet wurde. In einem Artikel in Ord och Bild stellte Piet van VeenGa naar voetnoot120 1950 zu Recht fest, was Rosman bereits 1903, also nahezu ein halbes Jahrhundert vorher, konstatiert hatte, dass nämlich immer noch mehr aus dem Schwedischen ins Niederländische übersetzt wurde als umgekehrt. Er wiederholte dies 1951 noch einmal in einer kurzen Notiz in BLM.Ga naar voetnoot121 1952 stand dann im unverbesserlichen BLM eine Theaterrezension über Jan de Hartogs populäres Stück Stolpsängen. Ord och Bild griff dagegen 1953 sicherheitshalber mit einem Artikel von Langvik-Johannessen über Vondels Gedichte für Gustav Adolf und Christina zurück auf die alte Tradition des 17. Jahrhunderts. In Studiekamraten, in dem seit der Rezension von Fabricius' Charlotte' groote reis (1944) überhaupt nichts mehr über niederländische Literatur gestanden hatte, erschienen nun zehn Jahre später Besprechungen von Huizingas Erasmus (1954), von Anne Franks Het achterhuis und von der Vorstellung des darauf basierenden Theaterstücks von Goodrich und Hackett im Stadttheater von Göteborg (1955). Auch die ABF-Zeitschrift Fönstret rezensierte Anne Frank, und dort erschien außerdem 1960, gleichsam als Präludium für die linksradikalen und politisch engagierten sechziger Jahre, eine Rezension des im selben Jahre übersetzten Kolonialromans De nikkers des kanonisierten flämischen sozialistischen Autors Piet van Aken. In Nordisk Tidskrift setzte Göte Klingberg mit einem Artikel über Erasmus (1961) die alte kulturelle Tradition fort. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Der Kulturhistoriker Huizinga blieb, auch in Schweden, ein Klassiker. So brachte Fönstret (ABF) 1964 eine Notiz über die neue Ausgabe von Medeltidens höst. In den Zeitungen rezensierte man dagegen fast alle Übersetzungen, sowohl die ‘gute’ wie die eher triviale Literatur, De Hartog, H.J. van Nijnatten-Doffegnies, Martin und Aalberse standen neben Anne Frank, Presser, Clare Lennart, Jacoba van Velde, Vestdijk und Huizinga. Über De nikkers von Van Aken erschienen sogar 23 Rezensionen, mutmaßlich außergewöhnlich viel. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Die 60er JahreIn den sechziger Jahren wurden von verschiedenen Seiten Versuche unternommen, mit Hilfe der Zeitschriften die kanonisierte niederländische Nachkriegsliteratur nach Schweden zu exportieren. Aber zuerst publizierte im Jahre 1962, ein halbes Jahr bevor der Norstedtverlag Hermans' Paranoia herausgab, der Kritiker Folke Isaksson in Dagens Nyheter vier ziemlich negative Artikel über niederländische Mentalität, Literatur und Film. Ein Artikel war Willem Frederik Hermans gewidmet, den er interviewt hatte und den er kalt und unzugänglich fand. Die Niederlande wurden als konservativ-bürgerliches Land charakterisiert.Ga naar voetnoot122 Im Jahre 1964 gelang es aber dem ziemlich unbedeutenden Dichter De Zanger, der eigentlich Lehrer war und auch als Übersetzer auftrat, auf Dänisch ein Selbstporträt in der Zeitschrift HorisontGa naar voetnoot123 zu publizieren, und in Ord och Bild und Perspektiv standen Artikel über den experimentellen Dichter und Romanautor Sybren Polet, der durch Schweden gereist war und zusammen mit Amy van Marken aus dem Schwedischen übersetzte.Ga naar voetnoot124 In Perspektiv wurde Polet als Dichter und Streikleiter vorgestellt, in Ord och Bild von Anderz Harning dann auch als Übersetzer aus dem Schwedischen. De Zanger und Polet waren nun | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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keineswegs Zentralgestalten der niederländischen Literatur; Polet konnte damals jedoch als Prototyp am niederländischen Erwartungshorizont gelten, da er ausgesprochen experimentell schrieb, und qualitätsmäßig bedeutete er auf dem niederländischen literarischen Feld weit mehr als De Zanger. Dass gerade Polet ‘exportiert’ wurde, hängt wohl vor allen Dingen damit zusammen, dass er als Übersetzer aus dem Schwedischen auftrat. So wurde durch persönliche Kontakte ein Weg gebahnt. 1965 wurde in verschiedenen Zeitschriften ein Versuch unternommen, die modernen niederländischen kanonisierten Prosaisten zu introduzieren. Sonja Berg PleijelGa naar voetnoot125 präsentierte 1965 Harry Mulisch in BLM und Vestdijk in Studiekamraten. Diese Zeitschrift (siehe oben) war 1960 von BibliotekstjänstGa naar voetnoot126, wo sie arbeitete, übernommen worden. Die bereits bekannte Klage von Rosman und Van Veen (vergl. S. 74) wurde in BLM wiederholt, diesmal durch den Literaturwissenschaftler Egil Törnqvist aus Uppsala, der 1969 zum Professor für Skandinavistik an der Universiteit van Amsterdam ernannt werden sollte.Ga naar voetnoot127 Er zählte als Beispiele für intramural kanonisierte, aber in Schweden unbekannte ‘holländische’ Autoren nicht nur die Holländer Blaman, Bordewijk, Haasse und Mulisch auf, sondern auch die Flamen Claus, Elsschot und Gijsen. Als Kontrast führte Törnqvist das verhältnismäßig große Interesse der Niederlande für Schweden an: In Amsterdam gab es eine Professur für Schwedisch und es wurde viel aus dem Schwedischen übersetzt. Er meinte, dass man in Schweden glaubte, die niederländische Literatur sei so ruhig wie ein stiller Kanal in Amsterdam. Aber, so schrieb Törnqvist, seit kurzem hätte man in der Nordsee unter dem holländischen Blumengärtchen riesige Gasvorräte gefunden. ‘Für uns gilt es jetzt, auch die chtonischen Elemente im literarischen Bereich zu entdecken.’ Die in den sechziger Jahren in linke Fahrwasser gesteuerte Zeitschrift Ord och Bild wandte sich tatsächlich der gärenden Revolution der sechziger Jahre in den Niederlanden zu und widmete 1967 eine Nummer | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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den Amsterdamer Provos. Der mit Amy van Marken befreundete Autor Anders Harning (1938-1992) schilderte die Philosophie der Provobewegung, Harry Mulisch schrieb über die legendarische Statue Het lieverdje, um die sich die intellektuellen Provos abends versammelten, bevor sie von Elementen der kriminellen Jugend unter den Augen nichteingreifender Polizisten zusammengeschlagen wurdenGa naar voetnoot128, und der Provo Duco van Weerlee führte ein Interview mit sich selber. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Die 70er JahreIn den Zeitschriften wurde weiterhin versucht, durch Übersichten über die nl. Literatur und durch Präsentationen einzelner Schriftsteller dem schwedischen Publikum einen Zugang zu dem unbekannten niederländischen Kulturgebiet zu eröffnen. Sonja Berg PleijelGa naar voetnoot129 griff zwar am liebsten hollindische Themen auf (den Terminus hollindisch hat sie selber erfunden), aber 1970 versuchte sie auch in Biblioteksbladet die Begriffe holländisch und flämisch zu klären und die Mentalitätsunterschiede der nord- und der südniederländischen Literatur darzustellen. Leider verwendete sie als Bezeichnung für die offizielle Sprache in Belgien und den Niederlanden flamländska und holländska, ein Wortgebrauch, der um diese Zeit intramural schon veraltet war (siehe S. 31). Außerdem definierte sie flamländska als einen Dialekt von holländska, ein Dialekt, der ‘von verschiedenen regionalen Dialekten beeinflusst worden ist’. Ein Rätsel ist ferner, wie sie zu der Behauptung kam, die Flamen seien Lutheraner. Ihre Auffassung über die Sprachverhältnisse lebt bei vielen älteren, niederländischen Emigranten, die schon lange im Ausland sind, heute noch weiter. Ihr Versuch, die Unterschiede in Kultur und Mentalität zwischen Flamen und Holländern zu umreißen, gibt ein hübsches Bild davon, wie Holländer die Flamen sahen, was nicht unbedingt ein wahres Bild der Flamen war. Es kamen in | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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ihrem Artikel fast keine Autorennamen vor, sieht man von Gezelle (1813-1899), Streuvels (1871-1969) und Timmermans (1886-1947) ab, die dazu dienten, Flandern zu charakterisieren. Im selben Jahr (1970) erschien in BLM, zehn Jahre nach der Rezension von Niggrerna von Van Aken, ein kurzer Kommentar zu zwei übersetzten Texten eines anderen Flamen: Marguérite Törnqvist introduzierte Boon. In einem kurzen Nachwort zu ihren Übersetzungen verwies sie auf Vestdijk, der die flämische Nachkriegsliteratur interessanter und progressiver fand als die niederländische. In wenigen Zeilen gelang es ihr, Boon - wie es überigens bereits Kerstin Axberger im Rundfunk getan hatte (1969, siehe S. 97 und 247) - in allem Wesentlichen sehr elegant zu charakterisieren und ihn innerhalb der niederländischen Literatur nach den Maßstäben der niederländischen Literaturkritik einzuordnen. Als Werbetext war die Introduktion im damaligen schwedischen Kulturklima in rhetorischer Hinsicht glänzend: Marguérite Törnqvist geht vom bekannten ‘Nobelpreiskandidaten’ Vestdijk aus (siehe Abschnitt 2.7.) und von ihm zum niederländischen Volk über, das - laut einer Umfrage - Vestdijks Meinung über die moderne flämische Literatur teilt. Zentral in dieser interessanten Literatur steht Boon. Es wird an Breughel erinnert, mit Stichworten wie Schöpferkraft und Humor. Weitere Lobpreisungen sind: Impressionistisch spielerisch - expressionistisches Pathos - blutvoller Erzähler - Experimentator und Erneuerer - politisch links, schlägt aber gleich hart nach links wie nach rechts - Bibel des modernen Anarchisten - ins Deutsche übersetzt. Weit weniger imposant war die Übersicht moderner ‘holländischer’ Literatur, mit der ein schwedischer Kritiker und Literaturwissenschaftler namens Ola Persson 1973 in Studiekamraten eine Gegenleistung vollbringen wollte zu einer niederländischen Präsentation der Literatur des Samen-Volkes, die zuerst in einer niederländischen ZeitschriftGa naar voetnoot130 und jetzt auch in Studiekamraten publiziert wurde. Persson hatte sich zu diesem Zweck in zwei Standardwerke vertieft, die beide wohl aus dem Grunde, dass sie in deutscher und englischer Übersetzung vorlagen, in schwedische Universitätsbibliotheken aufgenommen worden waren, | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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nämlich [Lissens 1970] und [Meijer 1971]. Lissens ist in der Tradition 3 geschrieben, also eine flämische Literaturgeschichte, Meijer in der Tradition 2 (siehe S. 35). Persson beginnt mit der falschen Mitteilung, dass eine holländische Literaturgeschichte auch die Literatur des nördlichen Belgiens umfassen müsse. In glücklicher Unwissenheit über Traditionen und Problematik der intramuralen, niederländischen Literaturgeschichtschreibung setzt er sich entschieden ab gegen Lissens [falschgeschrieben Lissen]. Obwohl dessen Buch den Titel Flämische Literaturgeschichte trägt, geht Persson davon aus, Lissens habe eine holländische [Persson meint niederländische] Literaturgeschichte schreiben wollen. Im Schulmeisterton informiert der Schwede Lissens darüber, dass man die niederländische Literatur als Einheit behandeln solle und erkennt in Lissens Darstellungsweise nicht die literaturgeschichtliche Tradition, sondern sieht ein wissenschaftliches Versagen. [Lissens] Buch Flämische Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts [] umfaßt nur die Literatur, die in Belgien in holländischer [sic!] Sprache geschrieben wurde. [140, meine Übersetzung] Meijer gelingt es laut Persson besser. Deshalb werde er versuchen, [Meijer 1971] zusammenzufassen. Die Missverständnisse sind dabei beträchtlich, und der verniedlichende Ton steht in starkem Kontrast zu dem, dem Thema gegenüber respektvollen, niederländischen Artikel, für den ‘gedankt’ wird. Persson tappt blind in der unbekannten Umgebung herum und stützt sich dabei auf seine eigenen Vorurteile über die niederländische Literatur. Dass es für einen schwedischen Literaturwissenschaftler nicht einfach war, sich auf dem unbekannten Gebiet der niederländischen Literatur zurecht zu finden, ist verständlich, der überlegene Ton des Referats aber ist ärgerlich. Persson beschränkt sich dabei auf Meijers Abschnitt The Modern Period und erwähnt bei jedem Autor, woher die Einflüsse kommen (Frankreich, Deutschland, England). Vielleicht hatte er zusätzlich Muusses' Kapitel über die ‘holländische’ Literatur in [Lundkvist 1946] gelesen (siehe S. 54).. So werden die Tachtiger von Persson als französisch-symbolistisch charakterisiert, während Meijer von einer Verbindung zu den | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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französischen Symbolisten, Shelley und Keats, Flaubert und Zola spricht. Persson führt sogar den Namen Baudelaire ein, ohne dass dieser bei Meijer genannt wird, und meint, die Schönheitsansprüche Baudelaires hätten bei der nächsten Generation ihre Autorität verloren. Über den Tachtiger Verwey, der von Persson als Vermittler der deutschen Literatur nach Holland vorgestellt wird - sein Ideal sei vor allem der vergötterte Stefan George gewesen - erfährt man bei Meijer, dass der Einfluss ein gegenseitiger war.Ga naar voetnoot131 Verweys Bild verzerrt sich somit in dem schwedischen Artikel vom Freund zum unterlegenen Nachäffer. Meijer erklärt zwar, Gorter, Verwey und Leopold seien Spinozaanhänger gewesen, aber nirgendwo verwendet er den Ausdruck Nationalheiliger, wenn von Spinoza die Rede ist. Dieser scherzhaft gemeinte Ausdruck Perssons passt nicht in einen seriösen Zusammenhang hinein. Eine Hypothese Meijers lautet, dass die allegorischen Personen und homerischen Vergleiche bei Kloos, Leopold, Gorter und Boutens eine Folge ihrer klassischen Bildung sind und nicht, wie Persson behauptet, auf den Einfluß der französischen Symbolisten zurückgehen. Die niederländische Moderne sei noch im französischen Symbolismus verwurzelt, behauptet Persson zudem, und fügt hinzu, weder Bloem noch Gossaert noch van Nijlen hättern den neuen Weg gekannt, den T.S. Eliot den Holländern schließlich gezeigt habe: Erst nachdem T.S. Eliot mit The Waste Land seinen Eintritt in die europäische Lyrik gemacht hatte, fanden die Holländer einen Kurs, den sie halten konnten. [141, meine Übersetzung] Bei Meijer steht hingegen: ‘In Awater Nijhoff appears as a poet of the type to which also T.S. Eliot belonged’ und ‘there is little evidence of any direct influence’[302]. Perssons Referat ist also auch hier irreführend. Im Falle des Expressionisten Herman van den Bergh [es steht: van den Bergen] meint Persson, es sei interessant zu konstatieren, dass der Zeitgeist an verschiedenen Orten zu ähnlicher Dichtkunst führt, ohne dass direkte Kontakte existiert hätten. Komparatisten könnten da leicht in die Falle gehen. Die Forumredakteure Ter Braak und Du Perron stehen | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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dagegen laut Persson natürlich unter starkem Einfluß Paul Valérys, während Meijer nur von Freundschaft spricht. Laut Persson ist W.F. Hermans in Kafkas halluzinatorische Welt eingedrungen. Meijer zieht Kafka auf seinen dreieinhalb Seiten über Hermans nur ein Mal zum Vergleich heran, verwirft aber dann den Gedanken einer Beeinflussung mit dem Hinweis auf Hermans eigene Auffassung: Reality and hallucination are interwoven in this novel in a way that recalls Kafka. Hermans himself made light of the connection with Kafka and instead pointed out a resemblance between Osewoudt and Kleist's Michael Koolhaas [345]. Über die experimentellen Vijftiger formuliert Persson, ihr grosses Ideal seien Pound, Arp, Eluard, Char und viele andere lyrische Revolutionäre. Nun, es stimmt, dass sich die Vijftiger auf diese Vorgänger berufen, aber von großen Idealen spricht man, wenn es um Kinder und Teenager geht. Lucebert schreibe manchmal à la Dylan Thomas, formuliert Persson. Bei Meijer steht His torrents of words sometimes recall Dylan Thomas, but he has also written poems that are as economical as a Japanese haiku. Die Wortwahl à la macht aus Lucebert einen unbedeutenden Pfuscher. Perssons Darstellungsweise kann folgendermaßen analysiert werden: 1. Anlaß: Dank für das erwiesene Interesse und der Wille, eine Gegenleistung zu liefern, sich auch für den anderen zu interessieren. 2. Einleitende Erklärung darüber, dass es auch in Belgien eine holländische [sic!] Literatur gebe, anschließend daran hochmütige und inkompetente Kritik an der Arbeitsweise eines intramuralen Spezialisten. 3. Verwendung des Terminus holländisch statt niederländisch, was zum obigen Missverständnis beiträgt. In der Textsorte literaturhistorischer Übersichtsartikel ist niederländisch die angemessene Wortwahl, wenn beide Literaturen gemeint sind. 4. Ungenauigkeit a) in den Namenformen (Lissen, van den Bergen, Minno ter Braak) b) in den Details (die erste Ausgabe von Lissens erschien 1953, nicht 1967) c) im Inhaltsreferat (siehe oben). 5. Banalisierende Sprache: Nationalheiliger, großes Ideal, vergöttert, à la. 6. Eine nicht auf Meijer zurückzuführende Überbetonung des ausländischen Einflusses auf die niederländische Literatur. Vielleicht war es nicht die Absicht des Verfassers, die niederländische Literatur als Epigonenliteratur abzustempeln. Vielleicht wollte er dem | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Publikum durch seine Hinweise auf ‘Einflüsse’ nur die Möglichkeit geben, sich einigermaßen vorzustellen, wie die unbekannte Literatur aussah. Wir werden sehen, dass dies in den Buchbesprechungen mehrmals der Zweck von Vergleichen mit bekannten Autoren ist. Aber so, wie er es in dieser Präsentation tut, würde er als Schwede wohl kaum eine Einführung in die schwedische Literatur für Ausländer schreiben, obwohl auch die schwedische Literatur auf ausländischen Beispielen fußt: Man stelle sich vor, dass man in einer solchen Darstellung den Vater der schwedischen Literatur, Stiernhielm, ausschließlich als Cats-Epigonen introduzieren würde! Es ist auffällig, dass in Nancy de Graafs Artikel über die samische Literatur jegliche Verniedlichung fehlt, anders ausgedrückt: De Graaf zeigt größeren Respekt für die samische Kultur als Persson für die niederländische. Glücklicherweise wurde die Aufgabe der Information über niederländische Literatur Mitte der 70er Jahre von kompetenteren Kräften als Persson übernommen. Nachdem Martha Muusses 1961 in den Ruhestand getreten war und Egil Törnqvist 1969 in Amsterdam die Professur für Skandinavistik angetreten hatte, womit die Übersetzerin Marguérite Törnqvist aus Uppsala verschwand, gab es an den schwedischen Universitäten niemanden mehr, der seine Freizeit für den literarischen Brückenbau hergeben konnte oder wollte. Muusses Nachfolger in Uppsala/Stockholm war ausschließlich Sprachwissenschaftler, der sich nicht als Sachverständiger für Literatur aufspielen wollte. Ihm fehlte auch das Übersetzertalent der Martha Muusses. De Rooy widmete sich statt dessen, wie wir gesehen haben (S. 31), dem Aufbau des selbständigen Faches Niederländisch an der Universität Stockholm und versah das neue Fach mit einer ausführlichen Grammatik. Aber die literarische Information kam in dieser problematischen Situation von intramuraler niederländischer und flämischer Seite. Die Skandinavistik war zudem in den Niederlanden und Flandern sicherer verankert als die Niederlandistik in Schweden, für die nur wenige Mittel zur Verfügung standen. Drei Ordinariate für Skandinavistik, in Gent, Amsterdam und Groningen, boten den Inhabern die Gelegenheit, sich der Förderung der interkulturellen Kommunikation zu widmen, während der praktische Sprachunterricht für die Studenten zum Teil von anderen Mitarbeitern betreut wurde. Außerdem | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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beherrschten die Professoren Schwedisch und kannten sich auf dem schwedischen literarischen Feld aus. Daher konnte man im Jahre 1975 gemeinsam zur Aktion übergehen: Alex Bolckmans (seit 1961 Professor für Skandinavistik in Gent) verfasste für BLM einen Artikel über die seit Rooth versäumte jüngere flämische Prosa und Amy van Marken (zunächst Lektor und seit 1976 Professor in Groningen) in der ersten Nummer der neuen Zeitschrift ArtesGa naar voetnoot132 über niederländische Literatur und Louis Paul Boon. Bolckmans war der Ansicht, es sei durchaus erlaubt, sich in erster Linie der Prosa zu widmen, da Literatur heute für die meisten gleichlautend mit Prosa, vor allem Romanen, sei. Er leitete mit einer Auseinandersetzung über niederländische Sprache und Literatur ein, in welcher er die nach dem zweiten Weltkrieg allmählich heranwachsende sprachliche und kulturelle Integration Flanderns mit den Niederlanden konstatierte. Er erklärte, dass man anstatt holländska lieber nederländska sagen sollte. Als Grund des lange Nicht-Verschmelzens von Flandern und Holland führte er das katholische Misstrauen der Flamen gegenüber dem protestantischen Holland an. Er erklärte aber, dass alle bedeutenden flämischen Autoren in Holland publizierten, weil sie dann 17 Millionen Leser statt 6 Millionen erreichten. Als gemeinsamen Nenner für die holländische und die flämische Literatur verwende man den Ausdruck niederländische Literatur. Nach einem kurzen Rückblick auf die flämische Literatur seit der Jahrhunderwende ging er dann auf die Nachkriegsprosa einGa naar voetnoot133, wobei er besonders ausführlich Sprache, Romanbau und Themenkreis Louis Paul Boons behandelte und ihn als den hervorragendsten niederländischen Autor seiner Generation | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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präsentierteGa naar voetnoot134. Er setzte seine Übersicht fort mit Daisne, Lampo, Michiels und Claus, den er vor allem als Dramatiker hervorhub, was Claus damals ja auch in erster Linie war. Der Artikel schloss ab mit Raes, Ruyslinck, De Wispelaere, Roggemans und Geeraerts. Nach dem impressionistischen Artikel von Pleijel und dem diskriminierenden von Persson wurde hier die Auffassung des intramuralen wissenschaftlichen Establishments präsentiert. In seiner Besprechung der neuen Zeitschrift Artes meinte der DN-Kritiker Lars-Olof Franzén, der Artikel Amy van Markens über Boon, und vor allem die Texte Boons, gehörten zu dem Spannendsten der Nummer. Ähnliches sagte Per Schwanbom in Arbetaren.Ga naar voetnoot135 Die vorgestellten Texte waren De droevige merel aus Blauwbaardje in wonderland und Brussel een jungle aus Reservaat I, beide in Übersetzung von Sonja Berg Pleijel. Der Titel von Amy van Markens Artikel, Louis Paul Boon, flamländaren i den nederländska litteraturen, liest sich wie eine Auseinandersetzung mit den niederländischen Sprach- und Literaturverhältnissen; bei ihr wurde die Einheit von Sprache und Literatur in Nord und Süd etwas nachdrücklicher dargestellt als bei Bolckmans. Auf den Außenstehenden mag es subtil wirken, aber es war typisch für die intramurale Situation, dass zwar beide von einer niederländischen Sprache redeten, die Holländerin aber von einer niederländischen Literatur, während der Flame von einer holländischen und einer flämischen Literatur unter dem Oberbegriff einer niederländischen Literatur sprach. Danach geht Amy van Marken auf Boon ein. Die Skandinavistin Van Marken hebt dabei die Seite von Boon hervor, die mit den schwedischen proletärförfattare übereinstimmt. Als Schwedenkennerin weiß sie genau, worauf sie hinzielen soll, um dem damaligen schwedischen Erwartungshorizont zu entsprechen: Stichworte für den politisch Engagierten sind rauer Protest gegen menschliches Elend - gegen die | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Verderbtheit der Gesellschaft. Auch für den unpolitischen Leser hat sie Verlockendes: Vielfalt der Menschenschicksale - Hass und Liebe, Angst und Einsamkeit, Ungerechtigkeit, Feigheit und Kleinlichkeit - man spürts im ganzen Körper. Den Anti-Bürgerlichen bietet sie das Saufen und das Hungern, die Zärtlichkeit und die Brunst und nicht zuletzt das Lachen. Revolutionäre weist sie darauf hin, dass seine Bücher verboten wurden. Literaturkritikern und Professoren sollten Stichworte gefallen wie Großer Name in den Zeitschriften ‘Tijd en Mens’ (Flandern) und ‘Podium’ (Holland) - Simultan- und Collage-Technik. Es folgt danach eine Inhaltswiedergabe des Romans De Kapellekensbaan, dessen aufrührerische Hauptperson, das Proletariermädchen Ondine ebenso hervorgehoben wird wie seine Komposition und seine Sprache: Man fasst sich an den Kopf und bemitleidet den Armen, der diese berauschende, unmögliche Sprache übersetzen soll. Weitere Publikationen Boons und sein weiterer Lebenslauf werden umrissen. Über den Lolitaroman Menuet kommt van Marken auf De paradijsvogel zu sprechen, das Phallossymbol, von dem unsere Gesellschaft geprägt sei und sie geht ferner auf Boons historische Sozialreportage Pieter Daens ein. Schließlich wird Multatuli angeführt, der Autor, der als der größte niederländische Wortkünstler nach Vondel gilt, und - wie Boon - ein sozial engagierter Utopist war. Und zum allerletzten Schluss ist von der Allgemeingültigkeit des Werkes die Rede: Boons Aalst gibt es überall in der Welt. Wir werden sehen, dass Van Markens glänzende Introduktion von vielen gelesen und zitiert wurde (Abschnitt 4.3.4.). Zwei Jahre nach dieser gemeinsamen flämisch-holländischen Aktion zugunsten der Prosa berichtete der junge flämische Dichter und Literaturwissenschaftler Armand van Assche (1940-1990), der 1976 am literaturwissenschaftlichen Institut der Universität Göteborg studierte, in Horisont über aktuelle niederländische Poesie. Er nahm Paul Rodenko als Ausgangspunkt, der mit der Anthologie Nieuwe griffels schone leien und seiner ausführlichen Einleitung die Vijftiger im niederländischen Sprachbereich einem größeren Publikum zugänglich und verständlich gemacht hatte; er schilderte die vorherrschenden Tendenzen der Poesie der siebziger Jahre anhand von übersetzten Beispielen.Ga naar voetnoot136 Seine Übersicht | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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dürfte auch für die intramurale Literaturwissenschaft anregende Gesichtspunkte enthalten haben. Er definiert in seinem Artikel niederländische Literatur als einen gemeinsamen Terminus für holländische und flämische Literatur. Allerdings ist der Bildtext unter seinem Photo in der Zeitschrift wahrscheinlich von einem Schweden verfasst worden, der den Artikel nicht verstanden hat, denn da steht: ‘Wir beabsichtigen mit den Gedichten, die hier präsentiert werden, eine Einführung in die aktuelle flämischsprachige [sic!] Literatur in Holland und Belgien zu geben.’ Die Kombination flämischsprachig und Holland wirkt intramural außerordentlich befremdend. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
Die 80er JahreInnerhalb der neuen, vom literarischen Establishment bisher verpönten Gattungen wurden in den achtziger Jahren die niederländischen Erzeugnisse ebenfalls beachtet. Die Alvglans-Ausgaben des hervorragenden Comic-Künstlers Marten Toonder waren 1980 Anlass einer Besprechung von Nina Burton in Studiekamraten, wobei seine sprachlich spielerische Satire gerühmt wurde und worin die Verfasserin - unter Hinweisen auf Astrid Lindgren, Tove Janson und Evert Taube - für eine Verlagerung der Gattungsgrenzen propagierte. In der Comic-Zeitschrift Bild och Bubbla wurde man über die Geschichte der Comic Strips in den Niederlanden informiert. Die Verfasserin, Cecilia HanssonGa naar voetnoot137, hatte in einer Seminararbeit einen Vergleich angestellt zwischen nordniederländischen und flämischen Comics und bekam nun die Gelegenheit, ihr Wissen zu publizieren. In ihrem Artikel sprach sie jedoch nur über die Niederlande: Maarten Toonders Tom Poes wurde außerhalb der Niederlande zuerst in Schweden publiziert. Von Hansson erfuhr man außerdem, dass man in den Niederlanden ein bisschen früher als in Schweden mit wissenschaftlichem Ernst über Comics zu schreiben begonnen hatte. Auch der Kriminalroman wurde beachtet. In Jury, der seriösen Zeitschrift für die Freunde des Krimis (seit 1972), wurden die Kriminalromane von Janwillem van de Wetering und Jef Geeraerts besprochen. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Ein Besuch Maarten 't Harts in Stockholm 1984 führte zu einem Artikel ‘unter dem Strich’ in Svenska Dagbladet über die (nord)niederländische Prosa der siebziger Jahre. 't Hart stellte darin fest, dass nach Hermans, Reve, Mulisch, Nooteboom und Wolkers in der niederländischen Literatur eine Flaute herrschte. In den siebziger Jahren kristallisierten sich, dem Autor zufolge, zwei Richtungen heraus, eine realistische und eine ästhetisierende. Letztere dominiere die literarische Szene, und es bestünde, meinte 't Hart, die Gefahr einer Kluft zwischen Akademikern und gewöhnlichen Lesern. In den achtziger Jahren war das Interesse bedeutender Kritiker an der niederländischen Literatur und das Verständnis für die Niederlande inzwischen weit größer geworden als zur Zeit der Artikel von Isaksson in Dagens Nyheter in den frühen sechziger Jahren. So berichtete der Kulturredakteur von Svenska Dagbladet. Ingmar Björkstén im Sommer 1984 in vier Artikeln über das Theater in den Niederlanden und über Wolkers, Oek de Jong, 't Hart und Nooteboom, die er alle interviewt hatte. Man bekommt in den Zeitungen und Zeitschriften den Eindruck, dass sich das Interesse seit den siebziger Jahren gleichmäßig auf die holländischen und die flämischen Autoren verteilt. Die Flamen haben endgültig einen Platz in der schwedischen Sonne erobert. In Zeitungen und sogar in den Zeitschriften werden heute fast alle Übersetzungen aus dem Niederländischen rezensiert. Das hängt wohl damit zusammen, dass die heutigen Übersetzungen fast alle das von den Kritikern geforderte literarische Qualitätsniveau einhalten. Nach Abschluss meiner Arbeit wird im Herbst 1997 die niederländische Literatur eines der Themen der Göteborger Buchmesse sein. Die Auswirkung der Bemühungen des Literair Productiefonds in den Niederlanden und der Administratie Kunst des Ministerie van de Vlaamse Gemeenschap in Flandern, die für die Präsentation der Literatur verantwortlich sind, ist ein geeignetes Objekt für weitere Untersuchungen. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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2.5. Vorworte zu AnthologienAnthologien sind oft als Introduktion und Musterkatalog gemeint. Es werden jedoch nicht immer Einführungen geschrieben - so fehlt z.B. jegliche Einführung zu Vondel in Ane Randels Anthologie (1938, S. 140). Trotzdem wurden die meisten Anthologien niederländischer Literatur mit dem Zweck, über Unbekanntes zu informieren, zusammengestellt. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
1944: Die Anthologie ‘Landvinning’Martha A. Muusses schrieb für ihre Anthologie der nordniederländischen Poesie von den Tachtiger bis zum 2. Weltkrieg keine systematische Einführung, sondern begnügte sich mit kurzen Kommentaren zu den übersetzten Autoren, bot aber dem Publikum nachträglich in [Lundkvist 1946] und [Muusses 1947] (siehe Abschnitt 2.3.) eine desto gründlichere Einführung in die (nord)niederländische Literatur. Landvinning wurde gut aufgenommen. Es gab Stimmen, die das Schwedisch der Übersetzerin bemängelten, aber Olof Lagercrantz nannte Muusses Anthologie eine der besten Gedichtsammlungen dieses Winters [BLM 1945: IV, 340]. Ihre Übersetzungen in Landvinning und in ihrer Literaturgeschichte dürften dazu beigetragen haben, die Literaturwissenschaftler Tigerstedt in [Bonniers allmänna litteraturhistoria 1959-64, 463] und Breitholtz in [Västerlandets litteraturhistoria 1963-64, 122-123]) davon zu überzeugen, dass die niederländische Poesie nur der Sprache wegen unbekannt und ungerühmt geblieben sei (Abschnitt 2.3., S. 59f.). | |||||||||||||||||||||||||||||||||
1968: Med andra ögonNach dem Krieg hatten die Vijftiger das niederländische literarische Feld erobert. 1968 erschien Med andra ögon. Modern holländsk lyrik, herausgegeben und übersetzt von Jan F. de Zanger und Sebastian Lybeck. In dieser Anthologie kommen, trotz holländsk im Untertitel, zwei Flamen (Claus und Snoek) vor. Da mit holländsk deshalb sicherlich niederländisch gemeint ist, bedeutet die hier gebotene Auswahl eine schwere Diskriminierung der flämischen Lyrik. Jan F. de Zanger (siehe oben) schickte den Übersetzungen eine Übersicht der modernen niederländischen Poesie seit dem 1. Weltkrieg voraus. Darin skizzierte er ein Bild der poetischen Entwicklung, das sich damals in populären | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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literaturgeschichtlichen Darstellungen herauszukristallisieren begann [z.B. in Bernlef 1970], für die Generation von Muusses aber noch nicht feste Konturen angenommen hatte, und folglich von ihr auch nicht vermittelt worden war. Das Bild - das sich inzwischen weiterentwickelt hat -, sieht, im Telegramstil zusammengefasst, etwa wie folgt aus:
De Zanger identifiziert sich in seinem Vorwort mit der Stufe 3 oben: Nach einem Versuch, sich zu erneuern - in der Periode nach dem ersten Weltkrieg - glitt die Poesie zurück in die alten Muster: eine Poesie mit Reim und Metrum, Dichter, die oft Sonette schrieben. [Med andra ögon, 7, meine Übersetzung] De Zangers durch den Paradigmenwechsel bedingte Darstellung der älteren Poesie, die ein Uneingeweihter als Abwertung (qualitätsbedingt) anstatt als Abweisung (zeitbedingt) auffassen konnte, kann schuld daran sein, dass der schwedische Rezensent der Gedichtsammlung, der Dichter Petter Bergman (1939-86), zu der Überzeugung kam, dass die niederländische Poesie vor der Generation der Vijftiger keine größere Bedeutung gehabt hatte. Was intramural eine Frage des Generationswechsels war, wurde bei Bergman zu einer von Moden unabhängigen Frage der Qualität. Bergman reagierte zwar mit der Feststellung, dass das Fehlen des Reimes nicht ein Qualitätskennzeichen zu sein braucht. Trotzdem machte er dann aber einen eigentümlichen, logischen Fehler. Aus de Zangers dem Paradigma der Vijftiger treuer Einleitung zog er den Schluss, dass die niederländische Poesie lange von bürgerlicher Konventionalität geprägt gewesen sei. Sein Kommentar dazu ist es wert, zitiert zu werden: | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Das ist nicht besonders erstaunlich: die holländische Bürgerklasse ist weder künstlerisch noch kulturaristokratisch ein Beispiel für das übrige Europa. Hier kann man konstatieren, wie sich die alte Vorstellung (seit der frühen Cats-Rezeption) über die Spießbürgerlichkeit der Holländer zum festgewurzelten Vorurteil entwickelt hat. Womöglich war Bergman von Isakssons Artikeln in Dagens Nyheter beeinflusst worden (S. 75f.). Petter Bergman gehörte der radikalen Generation der sechziger Jahre an. Er schrieb ein berühmtes Vietnam-Gedicht. Seine Abscheu gegen die ‘Bürgerlichkeit’ demonstriert er hier an der vermeintlichen Bürgerlichkeit der älteren niederländischen Dichtung. Die Volkscharakteristik der Jahrhundertwende (Fries, Laurin, S. 66), in der die Sauberkeit und Bürgerlichkeit Hollands immer wieder hervorgehoben wurden, hat in diesem Bild ebenfalls Spuren hinterlassen. Dass die Dichter, die von Muusses übersetzt worden waren wie z.B. Muusses Favoritin, die utopistische Sozialistin Henriette Roland Holst-van der Schalk, wohl kaum ihre Gehsteige gescheuert haben oder besonders ‘bürgerlich’ waren, geht über seinen (Erwartungs-)Horizont hinaus. Für diesen paradigmentreuen Dichter ist Muusses Übersetzungsarbeit unsichtbar geblieben. Zum Abschluss konstatiert Bergman, es sei schön, die Möglichkeit gehabt zu haben, dieses unbekannte Sprachgebiet kennenzulernen, er meint aber, diese Poesie sei nicht fullödig (von Metallen gesagt: von vollem Gehalt, also bildlich etwa vollwertig). Er glaubt nicht, das liege an den Übersetzungen [wie konnte er das wissen?]. Auch der Dichter Benkt-Erik Hedin sprach von mittelmäßigen (slätstrukna) Holländern. Er kritisierte die allzu große Anzahl der aufgenommenen Dichter, wodurch das Ganze schwer zu überschauen sei. Eine Konzentration auf die wirklich Großen wäre erwünscht gewesen, schreibt Hedin. Seine Meinung kann aus intramuraler Sicht bestätigt werden: In niederländischen Anthologien hätte man z.B. Hazeu und de Zanger weggelassen. Hedin kritisiert auch das Fehlen jeglicher biographischen und bibliographischen Information über die Dichter. Unter den Vijftigers machen Lucebert, Polet, Andreus und Vinkenoog auf ihn den tiefsten Eindruck. Die Übrigen sind ‘in ästhetischen Übungen | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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gefangen’. Auch die Jüngsten sind interessant, ‘sie lassen eine Art Pop-Poesie ahnen’. Hedin kennt Van Ostaijen - den de Zanger nicht nennt, von dem es aber in Lundagård (1966) und Horisont (1968) Übersetzungen gab -, spricht aber irrtümlicherweise von ihm als dem ‘einzigen Beitrag Hollands zur Geschichte des europäischen Modernismus’! Das ist ein weiterer Beweis dafür, wie wenig adäquat die Benennung holländisch im Titel der Anthologie für das ganze Sprach- und Kulturgebiet ist. Amy van Marken war davon überzeugt, dass die nicht sehr gelungenen Übersetzungen von Lybeck/de Zanger dazu beigetragen hatten, dass die Poesie der Generation nach 1950 von Bergman und anderen als wenig interessant empfunden wurde [1969, 69]. Sie war sehr enttäuscht über dieses misslungene Resultat einer Präsentation niederländischer Lyriker in Schweden und forderte mich auf, etwas über die Übersetzungen zu schreiben. Es gab, auch nach meiner Auffassung [Rez. MS 1969], in den Übersetzungen tatsächlich viele direkte Fehler, und darüber hinaus Niederlandismen und sonstige Unbeholfenheiten im Schwedischen. Da Gedichte eine stark formbezogene Textsorte sind, darf man annehmen, dass die Übersetzungen an dem Urteil der schwedischen Rezensenten über die modernen niederländischen Dichter mitschuldig sein müssen. Auch die Auswahl trägt Schuld. Man sollte, wenn es um ein ausländisches Publikum geht, sorgfältiger sein und mit sicheren Karten spielen. Ganz im Gegensatz zur Aufnahme der Anthologie von Muusses hinterließen diese Übersetzungen also keinen positiven Eindruck und vermochten, insgesamt gesehen, kaum ein schwedisches Publikum für die niederländische Lyrik einzunehmen. Wir haben bereits gesehen, dass nach dem negativen Empfang dieser Anthologie die Skandinavisten Bolckmans und Van Marken eine gemeinsame Aktion zur Ehrenrettung der niederländischen Literatur unternahmen (vergl. S. 83). Weit besser aber gelangen die zeitgenössischen Versuche, Proben der Prosa zu exportieren. 1967 rief der Kritiker Anders Lidén in seiner Rezension von Polets beiden Romanen Breekwater und Verboden tijd aus, es gebe 11 Übersetzungen der Trivialautorin Nijnatten Doffegnies, jetzt warte man auf Claus, Mulisch, Van het Reve und Wolkers. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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1969: Die Vorworte von Sven DelblancIm Vorwort der im Jahre 1969 erschienenen Novellenanthologie Moderna holländska berättare (herausgegeben von Sven Delblanc und Marguérite Törnqvist, übersetzt von Marguérite Törnqvist) zeichnet Sven Delblanc ein Bild, sein Bild der holländischen Literatur der Nachkriegszeit.Ga naar voetnoot138 Das Thema Niederlande ruft bei ihm zunächst die folgende Assoziationsreihe hervor: niederländische und flämische Malerei, namentlich Gilden, Stilleben → Reichtum und Macht des Bürgertums, der Herren Europas nach dem Feodalzeitalter → irdische Genüsse, die ein gnädiger Gott seinem auserwählten Volk geschenkt: Austern, Heringe, Käse, Kammerjungfern, Milchmägde. Von Spießbürgerlichkeit ist in diesem Bild Delblancs nicht die Rede, hier tritt ein aristokratisches Bürgertum hervor, das der historischen Wahrheit entspricht. Er stellt fest, dass die holländische Gesellschaft auch in unserer Zeit (1969) einem Schweden fast exotisch anmutet durch ihre bürgerliche Dominanz und ihren religiösen Konservatismus und dass diese Verhältnisse in der niederländischen Nachkriegsliteratur eine Revolution der Söhne gegen die Väter entfesselt hätten. Seine Gedanken führen ihn zu Rembrandt, zu seiner Darstellung des Opfers Abrahams und der Parabel des verlorenen Sohnes: Vaterfurcht, tiefste Demütigung. Über diese Wege gelangt Delblanc zu Wolkers und zu dem in der niederländischen Nachkriegsliteratur so wichtigen Motiv der Generationskluft. Es folgt eine Präsentation der Autoren, die für die Anthologie ausgewählt wurden. Es sind Vestdijk (als offizieller Nobelpreiskandidat der Niederlande unvermeidlich), Hermans (der in der Wirklichkeit Umhertappende), Wolkers (der Traumatisierte), van het Reve (der homosexuelle Exhibitionist), Mulisch (der politisch Engagierte), und schließlich Hamelink, der beim Schweden Delblanc Staunen erweckt durch seine Angst vor der Natur. Delblancs Bild der niederländischen Literatur ist für den intramuralen Leser durchaus nachvollziehbar. Es stimmt ebenfalls überein mit dem Bild, das von Huizinga geschildert wurde in Nederland's beschaving in de | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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zeventiende eeuw (1941), das man in Zahns weit späteren Das unbekannte Holland (1984) wiederfindet und das in Schamas The Embarrassment of Riches (1987) bestätigt wird. Dass Delblanc unter den Werken Vestdijks besonders den Roman hervorhebt, in dem Vestdijk die Suche Voltaires nach der Wahrheit über den Tod Karls XII. schildert, ist von seinem schwedischen Standort her zu erklären. Die Spiegelfunktion der LiteraturGa naar voetnoot139 erstreckt sich hier weiter als bis zur eigenen Person (wie sehen mich die anderen?) und umfasst den ganzen Kulturkreis des Lesers Delblanc und derjenigen, die er als Introdukteur zum Lesen anregen möchte (wie sehen uns die anderen?).Ga naar voetnoot140 Der Akzent, den Delblanc auf das Thema des furchterregenden Vaters legt, mag einerseits aus seiner persönlichen Problematik zu erklären sein - Spiegelfunktion im Bezug auf die eigene Person -, andererseits passt diese Fokussierung Delblancs ausgezeichnet in das internationale Zeitklima der sechziger Jahre hinein, Jahre des Aufruhrs gegen das Establishment, dessen Anfang von Mulisch in Bericht aan de rattenkoning (1966) thematisiert wurde, einer Berichterstattung über das Schicksal der Provos in Amsterdam.Ga naar voetnoot141 Im selben Jahr erschien die Anthologie Den ryslige snögubben mit Novellen von Wolkers (Übersetzung Marguérite Törnqvist), für die Delblanc ebenfalls ein Vorwort schrieb.Ga naar voetnoot142 Wieder verwendet Delblanc das Epithet exotisch. Weitere charakteristische Adjektive sind grausam, streng religiös, kleinbürgerlich, autoritär, bibelschwarz, mahagonnybraun, patriarchalisch, intensiv, als Substantive erscheinen Familie, Kind, Unterdrückung, Haut, Nerven, Geiz, Grausamkeit, Egoismus, Reaktion, Religion, Opfer, Henker, Tod, Flucht, Krankheit, Demütigung, und als Verben: leiden, verstümmeln, töten, fliehen, ausstoßen, erniedrigen. Hier steht zwar auch, wie bei Petter Bergman, ein | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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verurteilendes bürgerlich, in kleinbürgerlich gesteigert. Aber eine bibelschwarze Kleinbürgerlichkeit ist etwas anderes als eine gehsteigscheuernde. In ihr lebt ein Geist. Delblanc kannte damals schon Wolkers' Een roos van vlees (erst sechs Jahre später übersetzt) und charakterisiert diesen Roman als seinen internationalen Durchbruch; möglicherweise hatte er ihn in einer anderen Sprache gelesen. Er nennt die Novelle das natürliche Element für Wolkers, deren knappes Format ihm erlaube, eine lauernde Angst zu bewältigen (schwed. disziplinera), konstatiert, dass Kindheitserinnerungen die primäre Inspirationsquelle des Autors seien, und hebt die Bedeutung des Krieges und der Familie für Wolkers düsteres Weltbild hervor. Erneut bekommt man den Eindruck, Delblanc begrüße in Wolkers einen Geistesgenossen, ein Spiegelbild. Ob mit Recht oder nicht, tut nichts zur Sache. Wolkers hat in der Tat öffentlich erklärt, sein Verhältnis zum Vater und zur Familie sei gar nicht besonders schlecht gewesen, während aus der autobiographischen Schilderung Livets ax [Delblanc 1991] hervorgeht, dass Delblancs Vater Sohn und Familie gegenüber grausam war. Delblancs Gefühl der Affinität mit den ‘Leiden des jungen Wolkers’ hat diesem jedenfalls den Weg zum schwedischen Büchermarkt geöffnet, und wir werden im folgenden sehen, dass Wolkers diesen Weg erfolgreich beschritten hat. Es kann kaum bestritten werden, dass diese Introduktion niederländischer Prosa auf dem schwedischen literarischen Feld, die vom Giganten Delblanc vorgenommen wurde, von einer anderen Dignität war als der Introduktionsversuch der Poesie durch De Zanger. Es ist allem Anschein nach besser, von einem Repräsentanten der literarischen Qualitätsgruppe A des empfangenden Kulturkreises introduziert zu werden als von einem marginellen Mitspieler auf dem entsendenden, literarischen Feld. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
1985: Die ‘Vijftiger’ in Lasse Söderbergs Zeitschrift Tärningskastet.Im Jahre 1978 war von Svenska Institutet und der Stichting ter Bevordering van de Vertaling van Nederlandstalig Literair Werk für schwedische Autoren und Übersetzer eine Reise nach den Niederlanden und Flandern organisiert worden. Die Organisatoren wollten Kontakte zu | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Stande bringen zwischen schwedischen Autoren/ÜbersetzernGa naar voetnoot143 und dem niederländischen Sprachbereich. Sieben Jahre später erschien, als ein direktes Resultat der Reise, eine Vijftiger-Nummer der Literaturzeitschrift Tärningskastet. Die Übersetzungen stammten von Sonja Pleijel und Lasse SöderbergGa naar voetnoot144 und waren von weitaus besserer Qualität als in Med andra ögon. Söderberg erklärte im Vorwort, er habe sich diesmal auf die holländische Poesie beschränkt, möchte sich aber gerne ein andermal der flämischen zuwenden, die in verschiedenen Hinsichten beunruhigender und intensiver als die holländische sei. Die Zeitschriftennummer wurde von dem niederländischen Cobra-Künstler Corneille illustriert.Ga naar voetnoot145 Der Leser erfährt, dass es in Schweden eine schöne Sammlung von Farblithographien von Corneille gibt, zu welchen Arthur Lundkvist Prosagedichte geschrieben habe. Was die beiden vereinte, war das Thema Frauen und Vögel [Tärningskastet 12, 77, vergl. das Umschlagbild dieser Abhandlung]. Die Einführung von Söderberg ist nicht eine sein Publikum belehrende Einführung eines Schulmeisters, sondern ein Kunstwerk, der Bericht eines Dichterkollegen, dem die Augen für die niederländische Poesie aufgegangen sind und der sie nun seinen Mitspielern auf dem schwedischen literarischen Feld präsentiert. Sie bezieht sich auf das persönliche Erlebnis der holländischen Reise des Dichters/Übersetzers, und die Tärningskastet-Nummer bekommt so als Ganzes die Wirkung eines Reisegedichts mit eingefügten Gedichten, die zum Erlebnis gehören. Söderberg verfährt somit in ähnlicher Weise wie Delblanc mit dem fremden Material, nur sind die Gefühlsäußerungen schwächer. In den späteren Anthologien wurde, wie in [Landvinning 1944], meist nur über die Autoren informiert. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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2.6. Radio und FernsehenSämtliche Radio- und Fernsehaussendungen seit Juli 1978 werden im Arkiv för ljud och bild (ALB) in Stockholm aufbewahrt. Seit 1979 schreibt das Gesetz die Pflichtabgabe für Ton- und bewegliches Bildmaterial vor. Angaben über Aufnahmen, die vor 1978 gemacht wurden, müssen im Archivregister von Sveriges Radio ausfindig gemacht werden. Wenn man dort gefunden hat, was man sucht, kann eine Bestellung beim ALB aufgegeben werden, das Archiv besorgt eine Kopie des bestellten Materials und diese kann in den Lokalen von ALB abgehört werden. Das Archivmaterial ist für Forschungszwecke reserviert Eine Liste der hier behandelten Programme ist im Quellenverzeichnis zu finden (ungedruckte Quellen 3, S. 343). Im Abschnitt über die Universitäten wurde der Name Kerstin Axberger (geb. Berggren, 1911-1990, S. 28) erwähnt. Seit 1939 war Kerstin Axberger als Rundfunkredakteurin bei Sveriges Radio angestellt, wo sie als Frau, trotz ihrer akademischen Ausbildung, für Hausfrauenprogramme zuständig war. Deshalb musste sie bis zu einer längeren Unterbrechung 1942 Programme über Kinder, Essen, Weben, Weihnachtsvorbereitungen, Stricken, Wolle, Spinnen, Schafe und dergleichen mehr zusammenstellen. Als sie 1960 zurückkehrte, hatten sich die Zeiten geändert: Jetzt durfte sie Literaturprogramme machen.Ga naar voetnoot146 Am 11. Oktober 1965 leitete sie eine Serie von sechs Programmen mit dem Titel Moderna holländska berättare ein. Die Programme begannen mit einer Einleitung von Kerstin Axberger und gelegentlich auch einem Interview oder einem Dialog mit Amy van Marken. Die Groninger Skandinavistin sprach ausgezeichnet schwedisch, also bedurfte es keiner Übersetzung. Danach lasen ein Schauspieler oder eine Schauspielerin einen längeren Text bzw. auch mehrere Texte des behandelten Autors oder der Autorin vor. Wenn von den Texten noch keine Übersetzung vorlag, wurde eine solche - meistens von Sonja Berg Pleijel, einmal von Martha Muusses - eigens für die Gelegenheit hergestellt. So behandelte Kerstin Axberger Hermans, Anna Blaman, Mulisch, die beiden Humoristen Carmiggelt und Bomans, Presser und Hella Haasse. Die Bedeutung des Krieges für die niederländische Nachkriegsliteratur wurde | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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betont wie auch die Enttäuschungen der nachfolgenden Zeit. Der niederländische Kolonialismus wurde an Hand von Hella Haasses Oeroeg dargestellt und die Überschwemmungskatastrophe des Jahres 1953 ebenfalls besprochen. Die Präsentationen zeugen von einem guten Verständnis für das Wesentliche jedes Autors. Bei Hermans hebt Kerstin Axberger das Beunruhigende einer chaotischen Welt hervor, bei Blaman, wie sie das Thema der lesbischen Liebe ohne modernen Exhibitionismus behandelt, und sie zieht hier ferner eine Parallele zu Karin Boye. In Haasses Oeroeg fällt ihr die suggestive Wiedergabe der Landschaft und des Klimas auf. Unabhängig von den Programmen von Kerstin Axberger trat Ende Mai 1969 als Resultat einer Zusammenarbeit von Sveriges Radio und der avantgardistischen, experimentellen Gesellschaft Fylkingen der Dichter Gust Gils mit Text- und Lautkompositionen in Moderna museet auf.Ga naar voetnoot147 Die Redakteurin von SR, Ingrid Hiort af Ornäs führte ein Gespräch mit ihm und kommentierte: ‘Er sieht aus, als ob er einem Gemälde von Frans Hals entstiegen ist’, erneut ein Beispiel dafür, dass ein Griff in die Kunstgeschichte immer dann naheliegt, wenn in schwedischen Rezensionen von niederländischer Literatur die Rede ist. Von Gils wurde das Werk Vocal exploration Nr. 2 zu Gehör gebracht, eine Schöpfung, die viel von einer phonetischen Übung hatte. Drei Jahre nach der ersten niederländischen Serie verantwortete Kerstin Axberger erneut sechs Programme (1969-70), diesmal unter dem Titel Moderna flamländska berättare. Die Übersetzungen stammten von Marguérite Törnqvist. Behandelt wurden Boon, Michiels, Ruyslinck, Raes, Vandeloo und Geeraerts. Einleitend wurden die Sprachverhältnisse in Belgien erläutert und Flandern mit einem Hinweis auf Pieter Brueghel und das flämische Volksleben ‘in seiner ganzen derben Kraft’ (I all sin mustighet) charakterisiert. Es folgten Texte, die sich auf Krieg und Kolonialismus bezogen, oft aus der Perspektive des Kindes. Bei Ruyslinck wurde die Seite des Zukunftvisionärs hervorgehoben, bei Raes sein Hang zum Phantastischen, Makabren und science fiction-Betonten wie auch seine sprachliche Experimentierfreude, bei Vandeloo fiel Axberger auf, wie er die Einsamkeit des Individuums in der modernen Welt ebenso | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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darstellte wie den Aufruhr gegen die bürgerliche Gesellschaft. Der belgische Kolonialismus wurde mit einem Abschnitt aus Geeraerts' Ik ben maar een neger illustriert. Als Marnix Gijsen 1972 zum ersten Mal einen Besuch in Schweden machte - wo er einen Vortrag über Erasmus hielt -, interviewte ihn der Radioredakteur Ulf Örnklou, wobei Gijsen auf niederländisch aus seinem Werk vorlas. ‘Das klingt wie ein Lied’, kommentierte Örnklou. Die Radiomitarbeiterin Sonja Carlberg übernahm nach der Pensionierung von Kerstin Axberger deren Interesse für den niederländischen Literaturbetrieb. Sie erzählte in einem ihrer Programme, dass ihre Neugier auf einen Autor erst dann richtig geweckt wurde, wenn ein Verlag mehrere Werke desselben Autors herausgab. Was aber ihr Interesse ganz besonders auf das niederländische Sprachgebiet gelenkt hatte, war der Artikel von Amy van Marken in Artes (siehe Abschnitt 2.4.), der Grund dafür, dass sie 1976 Holland und Belgien besuchte. Dort sprach sie persönlich mit Amy van Marken. Sie lernte von ihr, dass man, literarisch gesehen, die fünfziger Jahre in den Niederlanden mit den vierziger Jahren in Schweden vergleichen müsse und dass die niederländischen Autoren der sechziger Jahre weniger politisch und ideologisch verankert waren als die schwedischen. Der niederländische (=holländische) Pluralismus sei dem schwedischen Hang zur Gleichrichtung diametral entgegengesetzt und dies sei kennzeichnend für den fundamentalen Unterschied zwischen Schweden und den Niederlanden, meinte Amy van Marken (vergleiche dazu Wellander, auf S. 70f.). Am 14. März 1976 füllte Sonja Carlberg die Programme Bokfönstret und Läsnytt mit Boon, Wolkers und Gijsen. Sie hatte die Autoren interviewt und ließ Amy van Marken zu jedem den Hintergrund skizzieren. Auch die Übersetzerin Ingrid Wikén Bonde wurde befragt. Im Juli besuchte Sonja Carlberg das Poesiefestival in Rotterdam. Im September 1976 machte sie drei Programme mit dem Titel Nederländerna: Kulturrapport 1, 2 und 3, in denen schwedischsprechende Kulturpersönlichkeiten wie die Brückenbauerin Amy van Marken, der Autor J. BernlefGa naar voetnoot148 und die Übersetzerin Cora Polet über sich selber und über den literarischen Betrieb in den Niederlanden sprachen. Der Direktor der Stichting ter bevordering van de vertaling van | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Nederlandtalig literair werk, Joost de Wit, berichtete ferner über die ihm obliegende Aufgabe, die niederländische Literatur in der Welt zu verkaufen.Ga naar voetnoot149 Im November besuchten Amy van Marken, Sybren Polet. J. Bernlef, Paul de Wispelaere und Joost de Wit als Gäste des Pen-Clubs Stockholm. Sonja Carlberg ließ am 19. November 1976 in Kulturfönstret Ingrid Wikén Bonde über den Dichter Polet sprechen, der kein Interview geben wollte. Wikén Bonde hatte als Illustration einige Gedichte Polets übersetzt, die in Bokfönstret vorgelesen wurden. Die neuen Übersetzungen von Wolkers (Horrible Tango), Gijsen (Klaaglied om Agnes, Telemachus in het dorp) und Boon (Mijn kleine oorlog, Menuet) wurden von Sonja Carlberg den Rundfunkhörern vorgestellt. Sie interviewte erneut Amy van Marken und ließ schwedische Autoren und Kritiker wie Jacques Werup und Carl Magnus von Seth sich über die übersetzten Autoren äußern. Im April 1977 sprach sie unter dem Programmtitel Kanske en nobelpristagare über Boon. Als Sonja Carlberg 1978 ebenfalls pensioniert wurde, verschwanden die intensiven Programme über niederländische Literatur für einige Zeit. Aber das Interesse für Wolkers blieb bestehen. Im März 1985 wurde mit Jan Wolkers ein Gespräch über Een roos van vlees geführt. Der finnländische Regisseur Jon Lindström, den Wolkers fasziniert hatte, hatte den Roman für das schwedische Fernsehen verfilmt (Kanal 2, 1985). Das Publikum wurde durch die Szenen des darin dargestellten Kinderunfalls geschockt. Wolkers wurde im Fernsehen über das Buch interviewt. Später verfilmte Jon Lindström auch 't Harts De kroongetuige (Kinofilm, vergl. Kapitel 4.). Ulf Örnklou, der sich schon einmal für Gijsen interessiert hatte (siehe oben), stellte sich als Bewunderer der beiden übersetzten Kriminalromane von Maarten 't Hart heraus. Sowohl De kroongetuige als Het woeden der gehele wereld wurden gleich nach ihrem Erscheinen in Übersetzung (1985 bez. 1995) zum Thema von Deadline, ett mordiskt månadsmagasin om allsköns deckare [Deadline, ein mörderisches Monatsmagazin über allerlei Krimis], Örnklous Programm über gute | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Kriminalromane. De kroongetuige wurde 1987 als erster niederländischer Roman in Fortsetzungen im Radio gelesen. Der Fernsehkanal TV 4 zeigte 1990 und 1991 Jon Lindströms Verfilmung des Romans. Auch 't Harts Het woeden der gehele wereld wurde den Radiohörern als Ganzes angeboten. Man begnügte sich aber nicht mit 't Harts Kriminalromanen, sondern Lena Ekstrand präsentierte den Hörern in Kulturnytt ebenfalls die Kurzgeschichtensammlung Mammut på en söndag. Als Oberskis Kindheitserinnerungen aus dem Konzentrationslager in der Übersetzung von Kerstin Axberger erschienen (Kinderjaren), wurde dies in Kulturnytt beachtet. Die Übersetzung von Wolkers Gifsla und das Auftreten des Autors auf der Buchmesse in Göteborg führte zu einem letzten Interview (am 19. August 1988) in Bokfönstret, bevor das schwedischen Interesse für diesen Autor erlosch. Im November 1988 berichtete der Claus-Übersetzer Per Holmer in einem durch Musik und Lieder aufgelockerten Programm über die Stadt Antwerpen und ihre Autoren (Van Ostaijen, De Bom, Zielens, Monica van Paemel). In den neunziger Jahren dominieren die Bücher von Hugo Claus die Radioprogramme. Sein Besuch auf der Bokmässa in Göteborg im September 1992 brachte ihn sogar auf den Fernsehschirm. Im Dezember 1994 wurde die Verfilmung von Het verdriet van België im Fernsehen gesendet. Sveriges Radio sendet auch öfters ein niederländisches Gedicht aus den Gedichtsammlungen Med andra ögon und Landvinning als ‘Gedicht des Tages’ um 12 Uhr mittags. Während sich Kerstin Axberger darum bemühte, den Hörern ein allgemeines Bild der niederländischen Literatur zu bieten (mit Übersetzungen, die für jede Gelegenheit erst bestellt werden mussten, da sie meistens nicht vorhanden waren), konzentrierte sich Sonja Carlberg auf die Autoren, die in den siebziger Jahren übersetzt wurden. Das ist so geblieben. Die Autoren, von denen in den letzten Jahren Übersetzungen erschienen, wurden fast alle im Rundfunk präsentiert. Außer den bereits Genannten waren es u.a. Monica van Paemel, Nooteboom und Krabbé. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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2.7. Das Nobelarchiv.Dem niederländischen Sprachgebiet ist bis 1996 noch kein literarischer Nobelpreis zuteil geworden.Ga naar voetnoot150 Im Nobelarchiv werden die Dokumente, die auf die Auswahlprozedur der schwedischen Akademie Beziehung haben, aufbewahrt. 50 Jahre nach dem Tode eines Kandidaten werden sie für die Forschung freigegeben. Eine Liste sämtlicher vorgeschlagener Autoren eines bestimmten Sprachgebietes, über die man auf Grund ihres Hinscheidens vor mehr als fünfzig Jahren also Information bekommen kann, ist jedoch leider nicht erhältlich. Dagegen kann man sich nach eventuellen Nominierungen von einzelnen Autoren erkundigen. Man erfährt dann, von wem Vorschläge eingesandt wurden und wer das Gutachten für das Nobelkommitee, einem intimen Arbeitsausschuss der Akademie, zusammengestellt hat; danach kann man dieses Dokument sowie die Vorschlagsliste des Nobelkomitees im betreffenden Jahr aus dem Archiv requirieren. Aus der Vorschlagsliste des Komitees geht hervor, nach welchen Überlegungen es zu seinem Vorschlag gekommen ist und wie innerhalb des Komitees abgestimmt wurde. Die Mitglieder der Akademie brauchen sich bei ihrer entgültigen Entscheidung nicht an den Vorschlag des Nobelkomitees zu halten. Ich reichte 1994 beim Archiv eine Liste mit Namen denkbarer Kandidaten ein, die alle vor 1944 gestorben waren. Über Timmermans wusste ich aus einer gründlichen Studie [Claes 1993] bereits Bescheid. Über Streuvels (1866-1969) gibt es eine Untersuchung [Van Dijk & Vaartjes 1993], in der sich die Verfasser auf den Briefwechsel von Streuvels berufen, da das Archivmaterial noch nicht freigegeben ist. Sie teilen mit, dass Streuvels von der Koninklijke Vlaamse Academie zum ersten Mal im Jahre 1903, zusammen mit den französischsprachigen Autoren Maeterlinck (1862-1949) und Iwan Gilkin (1858-1924), als Kandidat für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war. 1936 nahm ein hingebungsvoller Bewunderer von Streuvels, der Autor Herman de Man, während eines Aufenthalts in Schweden den Kontakt mit Thure Nyman (siehe Abschnitt 2.4., S. 73) und dem Mitglied der Akademie, Sigfrid | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Siwertz auf, die ihm Ratschläge erteilten, wie er für Streuvels arbeiten könnte. 1937 wurde Streuvels, auf Betreiben De Mans, erneut von der Flämischen Akademie vorgeschlagen. Streuvels' deutscher Herausgeber erreichte, dass 17 deutsche Professoren 1936 eine Petition an das Nobelkomitee richteten, in welcher man die Nominierung von Streuvels befürwortete. Der Kampfwille von De Man wurde durch den zweiten Weltkrieg gebrochen. Die Familie war jüdisch, seine Frau und fünf seiner sieben Kinder kamen um. Vor seinem Tode 1946 versuchte er noch, Streuvels von dem Verdacht der Deutschfreundlichkeit zu reinigen. 1952 wurde Streuvels von der Flämischen Akademie dann letztmalig vorgeschlagen. In den Stichproben aus den Komiteegutachten, über die im Folgenden berichtet werden wird, taucht der Name Streuvels immer wieder als eine durchaus ernst zu nehmende Alternative auf. Man kann sich aber fragen, ob sich die Initiative des deutschen Herausgebers unter den damaligen politischen Umständen nicht eher nachteilig für Streuvels ausgewirkt hat. In [Claes 1993] erfährt man, dass Timmermans 1927 von Professor Arthur Boon (1883-1938, Löwen) vorgeschlagen wurde, dass Arnold Norlind (siehe Fußnoten 104 und 154) 1928 das Sachverständigen-Gutachten für das Nobelkommitee schrieb, dass Timmermans 1940 erneut vorgeschlagen wurde, diesmal von Professor Paul Sobry (1895-1954, Löwen) - da Norlind gestorben war, schrieb diesmal Hans ReutercronaGa naar voetnoot151 das Gutachten - und dass er schließlich 1941 vom Mitglied des Nobelkomitees, Hjalmar Hammarskjöld, vorgeschlagen wurde, wobei wiederum Reutercrona als Sachverständiger fungierte. Er stand Timmermans positiver gegenüber als Norlind [Claes 1993, 186, 188]. Auf meiner Liste standen ferner die Autoren Buysse, Couperus, Van Eeden, Huizinga, Marsman, Van Ostaijen, Van Schendel, Slauerhoff, Vermeylen und Van de Woestijne. Das Nobelarchiv teilte mit, dass von diesen 1. Frederik van Eeden 1928 von Gerard Brom, Professor für Kunstgeschichte und Ästhetik der Universität Nijmegen, vorgeschlagen | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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worden war und dass Norlind das Gutachten für das Komitee geschrieben hatte, 2. Arthur van Schendel 1938 von C. de Vooys, Professor für niederländische Sprache und Literatur in Utrecht, und von zwei weiteren Professoren aus Amsterdam und Leiden vorgeschlagen worden war. Sachverständiger war Reutercrona. 3. Johan Huizinga 1939, 1940, 1941, 1942 und 1944 von verschiedenen Mitgliedern der Koninklijke Nederlandse Academie van Wetenschappen, vor allem J. van Eysinga, und 1940 und 1941 ebenfalls von Hjalmar Hammarskjöld vorgeschlagen worden war. 1939 wurden die Unterlagen für das Komitee von Reutercrona und LarssonGa naar voetnoot152 zusammengestellt, 1940 von NordströmGa naar voetnoot153 und 1942 von Reutercrona. 1944 stützte man sich auf die Unterlagen der vorhergehenden Jahre. Aus dem Gutachten des Nobelkomitees vom Jahre 1928 geht hervor, dass in diesem Jahr außer Timmermans (Nr. 20) und Van Eeden (Nr. 31) sich auch Kloos (Nr. 2) unter den 26 Vorgeschlagenen des Jahres befand, und dass er bereits 1926 vorgeschlagen worden war. Das Komitee fand damals, dass er ‘nicht von hinreichend großem allgemeinen Interesse’ für den Preis war. Timmermans Pallieter wird als zu übertrieben empfunden: die Freude an einem roten Fleck von Mohnblumen auf dem Feld kann mit weniger Intensität vorlieb nehmen, als dass man sich in die Blumen wirft und sich in ihnen herumwälzt. Das katholische Element wird als etwas zuckersüß bezeichnet. Der Dichtung fehle es bei aller künstlerischen Bravour an menschlicher Tiefe und Macht des Ergreifens, meint das Komitee. Das Werk Van Eedens entspreche dagegen zwar in jeder Hinsicht dem idealistischen Geist, den Nobel in der Literatur fördern wollte, aber ihm fehle die ästhetische Vollendung, die einen Preis motivieren würde, meint das Komitee, oder: der Prediger stört bisweilen den Poeten, [und:] Bei aller Innigkeit des Gefühls und des denkerischen Ernstes macht das Ganze einen unruhigen und überspannten Eindruck. Norlind hatte ein sehr ausführliches Gutachten von 30 Seiten geschrieben, in welchem er den Autor seines LieblingsbuchesGa naar voetnoot154 - De kleine Johannes | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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- nach gründlichem Studium aller seiner Werke ehrlich beurteilte und, bei allem Respekt für die Person van Eedens, ein negatives Urteil über Werke, die er weniger gut fand, nicht scheute. Aus dem langen Gutachten von Reutercrona über Van Schendel (1938) geht hervor, dass der Sachverständige nicht immer versteht, worauf der Autor in seiner Dunkelheit eigentlich aus ist: Van Schendel schreibt seinen Gestalten öfters dunkle Motive und Gedankengänge zu, die man während des Lesens nicht so ohne weiteres verstehen kann. Deshalb ist die Auflösung oft unverständlich, [oder:] Man ist sich nicht richtig im Klaren darüber, worauf der Autor eigentlich hinzielt. Avonturiers sei eines der wenigen Werke Van Schendels, in dem man das Leben pulsieren fühlen könne. Er ist beeindruckt von der sehr schönen Sprache des Autors [ett utsökt vackert språk], weiß die Inhalte jedoch nicht zu schätzen, denn der Autor steht weit entfernt von seiner Zeit und ihrer aktuellen Problematik, [und:] in keinem seiner Werke findet man eine Gestalt, die optimistisch und vertrauensvoll [ljus och blåögd] mit einem Sonnenblitz im Auge durchs Leben geht. Es fällt Reutercrona auf, dass Van Schendel anscheinend überhaupt kein Gefühl hat für die Natur, denn niederländische Autoren hätten sonst oft eine malerische Darstellungsart. Die Einseitigkeit, das Fehlen der Aktualität und vor allem des lebendigen Lebens lassen Reutercrona von einer Nominierung Van Schendels abraten. Das Komitee schließt sich in seinem Gutachten dieser Empfehlung an. Im selben Jahr (1938) wurde Teirlinck der Liste hinzugefügt (Nr. 26). Man wollte sich noch einen Autor vom selben Sprachgebiet ansehen. Ein durchaus bedeutendes und reifes Werk wurde aber von Teirlinck, nach Ansicht der Akademie, nicht geschaffen. Die Nominierung von Streuvels wurde in diesem Jahr von BöökGa naar voetnoot155 erneuert. | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Das Komitee war immer noch in der Majorität für diesen Vorschlag. Torsten FogelqvistGa naar voetnoot156 wies ihn trotzdem ab, da seines Erachtens die bedeutendsten Werke von Streuvels zeitlich zu weit zurücklagen. Fogelqvist befürwortet statt dessen Pearl Buck. Möglicherweise handelt es sich hier um eine Stellungnahme, für die politische Gründe ausschlaggebend waren, aber das muss Spekulation bleiben. Trotz des etwas vorsichtigen Gutachtens über Huizinga (Nr. 18) von Larsson empfehlen die beiden Komiteemitglieder Hammarskjöld und HallströmGa naar voetnoot157 der Akademie ihn 1939 als Preisträger, vor allem wegen der literarisch hervorragenden Biographie über Erasmus und wegen seiner Opposition gegen die Vergötterung des Staates, die in verschiedenen Lagern droht. Auch Streuvels (Nr. 33) figuriert 1939 noch als Kandidat auf der Liste, und der Sachverständige hat nun Levensbloesem gelesen. Man erfährt, dass die Kandidatur von Streuvels zweimal die Majorität des Komitees erhalten hat, aber dass die Mitglieder der Akademie sich dadurch nicht überzeugen ließen. In diesem Jahr stimmt nur noch Böök für Streuvels. Man kann sich wiederum - wie in Sachen der Petition der deutschen Professorn (siehe oben) fragen, ob Bööks Unterstützung sich nicht eher nachteilig für Streuvels auswirkte. Fogelqvists Motivierung der Abweisung von Streuvels (siehe oben) ist ja keine stichhaltige. In diesem Jahr steht Henriette Roland Holst-van der Schalk als Nr. 30 im Gutachten des Komitees. Man erfährt, dass der Sachverständige den Vorschlag wegen der unregelmäßigen Qualität der Dichtung nicht unterstützt hat. Im Jahre darauf (1940) ist Larsson, nachdem er Homo ludens gelesen hat, vollends überzeugt von der Berechtigung einer Nominierung Huizingas. Das Gutachten von Johan Nordström sagt allerdings nicht viel darüber aus. Die Majorität des Komitees war ebenso wenig davon überzeugt wie auch noch 1941, und das galt auch für die übrigen | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Mitglieder der Akademie. Als einziger Vorkämpfer Huizingas tritt jetzt Hammarskjöld hervor. Timmermans figuriert 1941 immer noch auf der Liste. Reutercrona, der 1940 das zweite Gutachten über Timmermans schrieb, befürwortete nach der Lektüre neu erschienener Werke die Nominierung, der Vorschlag erhielt aber nicht die Majorität des Komitees. Das Jahr 1942 bringt zwar neue Werke von Huizinga, aber das enthusiastische Gutachten des Sachverständigen vermag ebenso wenig wie 1944 die Mitglieder des Komitees zu überzeugen. 1946 ist im Augenblick das letzte Jahr, über das man vom Nobelarchiv Auskunft erhalten kann. Man kann nur mutmaßen, was sich in den fünfzig vergangenen Jahren zugetragen hat. In [Achter de schermen 1982, 44] erfährt man, dass Amy van Marken für das Nobelkomitee ein Gutachten über Vestdijk schrieb und dass sie 1973 ebenfalls den Auftrag bekam, über niederländische und flämische Literatur zu schreiben [46]. 1975 unternahm sie, wie wir gesehen haben (S. 83ff.), in Artes einen Vorstoß für Boon. Die Nobelbibliothek besitzt eine imposante Sammlung niederländischer Literatur seit dem Anfang des Jahrhunderts. Ein Blick in den Katalog zeigt, dass den Akademiemitgliedern sämtliche Werke von Streuvels auf niederländisch zugänglich waren und außerdem zwei englische, drei französische und neunzehn deutsche Übersetzungen. Von Timmermans besitzt die Bibliothek 21 niederländische Titel, eine Ausgabe auf dänisch, eine auf englisch, zwei auf schwedisch und siebzehn auf deutsch, von Van Eeden 33 niederländische Titel, zwei englische und acht deutsche, von Van Schendel 25 niederländische, zwei englische, einen französischen, einen italienischen, einen schwedischen und zwei deutsche. Ob eine große Anzahl von Titeln eines Autors in der Nobelbibliothek auf seine Nominierung hindeutet, ist unsicher. Auch von der Familienromanautorin Jo van Ammers-Küller besitzt die Bibliothek nämlich nicht weniger als 14 Titel. Wenn man untersucht, wie viele Titel der übrigen, im Laufe der Jahre jeweils als ‘Nobelpreiskandidaten’ abgestempelten, Autoren vorhanden sind, so finden wir von Vestdijk 22 niederländische, einen dänischen, zwei englische, zwei französische, drei schwedische und sechs deutsche Titel, von Boon 48 Titel und eine Anzahl von Übersetzungen ins Schwedische, Deutsche und Englische, von Claus 24 niederländische, vier englische, acht französische, vier schwedische und drei deutsche, von | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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Gijsen sechs niederländische, eine englische, eine französische und vier schwedische Titel. Von Hermans sind elf niederländische Werke und eine schwedische Übersetzung vorhanden, aber keine Übersetzungen in andere Sprachen, was bedeutet, dass die Akademiemitglieder sich mit der einen schwedischen Übersetzung begnügen mussten. Das lässt nicht auf ein großes Interesse von Seiten der Akademie schließen. Von Mulisch sind außer neun niederländischen Titeln eine englische, eine schwedische und drei deutsche Übersetzungen vorhanden, von Wolkers zwölf niederländische Titel und die elf schwedischen Übersetzungen, von Nooteboom vier niederländische, zwei englische, sechs französische, zwei schwedische und zwei deutsche Titel. Von dem von der flämischen Akademie aus rätselhaften Gründen immer wieder vorgeschlagenen LampoGa naar voetnoot158 sind, außer 26 niederländischen Titeln, je eine englische, eine deutsche, eine französische und eine schwedische Übersetzung vorhanden. Weitere Autoren, von denen außer den niederländischen und schwedischen Titeln Übersetzungen ins Deutsche, Französische und Englische angeschafft wurden, sind Multatuli, Emants, Couperus, Teirlinck, Slauerhoff, WalschapGa naar voetnoot159, Bernlef und Ruyslinck. Das kann - muss aber nicht - daraufhin deuten, dass auch sie vorgeschlagen worden sind. Couperus stand ebenfalls auf meiner Liste. Obwohl die Bibliothek von ihm neunzehn niederländische, einen englischen, einen französischen und drei deutsche Titel besitzt, waren im Archiv über ihn anscheinend keine Unterlagen aufzufinden. Es dürfte klar sein, dass die Arbeit des Nobelkomitees außerordentlich gründlich betrieben wird. Es kann keineswegs behauptet werden, die schwedische Akademie hätte in irgendeiner Periode über die großen Gestalten der niederländischen Literatur in Unkenntnis geschwebt. Immer wieder fanden sich kompetente Beurteiler: sowohl der hingebungsvolle Freund des niederländischen Kulturkreises Arnold Norlind wie der germanistisch geschulte Hans Reutercrona lasen die Werke der niederländischen und flämischen Autoren in der Originalsprache. Beide übersetzten aus dem Niederländischen. Aus ihren Gutachten spricht | |||||||||||||||||||||||||||||||||
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mehrmals große Bewunderung für die sprachliche Schönheit der beurteilten Werke. Die von Claes konstatierten schlechten Übersetzungen von Timmermans spielten darum wahrscheinlich keine Rolle für die Nicht-Verleihung des Nobelpreises. Dass die Nominierungen abgewiesen wurden, beruhte meistens darauf, dass die Sachverständigen inhaltsbezogene Schwächen konstatierten. In dem imponierenden Bestand der Nobelbibliothek konnten die Mitglieder der Akademie die aktuellen Kandidaten in Übersetzungen kennenlernen. Man kann vermuten, dass zum Teil die Zeitumstände der Grund dafür waren, dass Streuvels oder Timmermans den Nobelpreis nicht bekamen. Ihre Popularität in deutschfreundlichen Kreisen schreckte sehr wahrscheinlich ab. In den sechziger Jahren schrieben die Medien über den ‘Nobelpreiskandidaten Vestdijk’, in den siebziger Jahren über den ‘Nobelpreiskandidaten Boon’ und jetzt schreibt man über die ‘Nobelpreiskandidaten Claus und Nooteboom’. Wo die Rezensenten ihr ‘Wissen’ über die Nominierungen bezogen haben, ist mir ein Rätsel, es sei denn, man geht von den Vorschlägen der Akademien in den Niederlanden und Flandern aus, die in den Handlungen dieser Institutionen publiziert werden. Bisweilen geht es wohl um die Auffassung des jeweiligen Journalisten selber, der einen Autor zum ‘Nobelpreiskandidaten’ macht. So schrieb Sven-Christer Swahn in seiner Rezension von Het woeden der gehele wereld, dass 't Hart mit diesem Buch wohl seine Chance auf den Nobelpreis verspielt habe. Man bekommt manchmal den Eindruck, dass die Kritiker und die Herausgeber deshalb stets so besonders eifrig nach einem möglichen niederländischen Nobelpreisträger Ausschau halten, weil diesem Sprachgebiet noch kein Preis verliehen wurde. |
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