Geschichte meines Lebens
(1962)–Henry Van de Velde– Auteursrechtelijk beschermd
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Erstes kapitel
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er eingeschlafen war. So hatte mein Vater, schon ehe er zwanzig Jahre alt war, sämtliche Tragödien Voltaires kennengelernt. Lange bevor es mir eigentlich bewußt wurde, habe ich meinem Vater herzliche Hochachtung, meiner Mutter aber unendliche Liebe entgegengebracht. Das Gefühl der Verehrung meinem Vater gegenüber war zu tief, als daß sich diejenige Intimität hätte bilden können, die ich mit fortschreitenden Jahren anstrebte. Erst der Charme des Mädchens, das ich ihm als meine Braut vorstellte, ließ die Hindernisse verschwinden. Während der letzten Lebensjahre meines Vaters war ich über sein Vertrauen und seine Zuneigung zu mir überaus glücklich. Unbewußt und ohne Rücksicht auf meine Geschwister wünschte ich nichts sehnlicher, als der Erwählte des Herzens meiner Mutter zu sein. Ihre Liebkosungen, wenn sie sich für kurze Augenblicke am Kamin ausruhte oder am Fenster des Nähzimmers saß, sind mir als die zartesten Liebesbezeigungen mein ganzes Leben lang in Erinnerung geblieben. Ich nahm jede Gelegenheit wahr, mich bei ihr hinzukauern und meinen Kopf in ihren Schoß zu legen. In solchen Augenblicken schaute mein Vater kaum von seiner Arbeit am Schreibtisch auf. Er verbrachte den ganzen Tag in seinem Arbeitssessel, außer wenn er in seinem Laboratorium mit dem Mikroskop oder mit Analysen zu tun hatte, die er für industrielle Unternehmen und auch für das Gericht ausführte. Durch eine Glastür beobachtete er den Lehrling, der die Kundschaft bediente. Der junge Mann wandte sich nur dann an meinen Vater, wenn er Schwierigkeiten hatte, ein Rezept zu entziffern, oder wenn der Kunde ein Kapitän war, dessen Sprache er nicht verstand. Neben Französisch und Flämisch sprach mein Vater Englisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch und eine der skandinavischen Sprachen. Der Magnet, der alle Mitglieder der zwei Familien van de Velde und de Paepe anzog, war meine Großmutter Virginie de Paepe. Seit meiner frühesten Jugend war sie die beherrschende Gestalt, der alle gehorchten, die alle zu Rate zogen und verehrten. Sie war zweiundsiebzig Jahre alt, als ich zwölf Jahre alt war. Klein von Gestalt, immer in einem einfachen, schwarzen Kleid von strengem Schnitt, auf dem Kopf ein Spitzenhäubchen mit langen Bändern, die unter dem Kinn zusammengebunden waren, der Typus der wohlhabenden Bürgersfrau. Seit vierzig Jahren Witwe mit fünf | |
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Kindern - so mußte sie den Beruf ihres Mannes weiterführen. Er war Importeur von Drogen und Medikamenten gewesen, mit denen er eine zahlreiche Kundschaft von Apothekern und Landärzten in allen Provinzen Belgiens belieferte. Zu jener Zeit gab es nur wenige Eisenbahnlinien. Mit dem Pferdefuhrwerk reiste meine Großmutter landauf und landab, um ihre Drogen und Medikamente abzusetzen. Ihre drei Söhne und zwei Töchter hatten Namen nach romantischem Geschmack, die, wie ich annehme, aus Büchern der George Sand stammten: der älteste hieß Polydore, der zweite Heliodore; meine Mutter hieß Jeanne Aimée Aurore und ihre jüngere Schwester Eléonore. Ihren zweitgeborenen Sohn ließ sie Apotheker werden, damit sich der älteste so rasch wie möglich juristischen Studien widmen konnte. Dieser Sohn, Polydore, wurde zuerst Advokat, dann Magistrat, berühmter Rechtsgelehrter und Mitglied des Kassationsgerichtes. Er lebte als Junggeselle an der Seite seiner Mutter, die im Alter von mehr als siebzig Jahren ihre Geburtsstadt Gent verließ, ihre Verbindungen und Gewohnheiten aufgab, um mit Onkel Polydore in Brüssel zu leben, wo sich der Hohe Gerichtshof befand. Meine Großmutter war keine romantische Natur. Ihr Vater war in geistiger Umnachtung gestorben. Er war davon besessen gewesen, auf dem Wasser gehen zu können, und ertrank in einem Teich beim Landhaus meiner Großmutter in der Umgebung von Gent. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, nach dem Ursprung meiner Ahnen zu forschen. Ein paar Brocken aus Gesprächen über meinen Großvater mütterlicherseits genügten meiner Neugier. Er war ein ‘Orangiste’, ein glühender Monarchist und leidenschaftlicher Verteidiger seiner Muttersprache, des Flämisch-Niederländischen. Befriedigung gemischt mit Ironie bereitete mir die Feststellung Charles de Costers, des Dichters der ‘Legende von Thyl Uilenspiegel’, daß der bevorzugte Hofnarr Philipps II. von Spanien ein de Paepe gewesen ist. Ich habe die beiden, wenn man so sagen darf, als Vorfahren adoptiert: den Hofnarren und den ‘Orangisten’. Einen Hinweis auf die Vorfahren meines Vaters fand vielleicht eine seiner Schwestern, die in Turnhout, einem Grenzort im Norden der Provinz Antwerpen, verheiratet war. Bei einer Versteigerung kaufte sie eine holländische | |
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Wanduhr, auf deren Zifferblatt in reicher Kalligraphie zu lesen war: Guillaume van de Velde, Uhrmacher, Turnhout. Seit Jahrhunderten existierten in Holland Familien mit dem Namen van de Velde, unter anderen die berühmte Malerfamilie. Es könnte sein, daß eine von ihnen nach den südlichen Provinzen ausgewandert und daß der Uhrmacher einer meiner Ahnen ist. Meine Großmutter war autoritär, ohne despotisch zu sein. Sie hätte niemandem Widerstand entgegengesetzt, der versucht hätte, sich ihrer Autorität zu entziehen. Polydore unterwarf sich sein Leben lang dem Willen seiner Mutter. Oft dinierte er abends in der Stadt. Aber er mußte um zehn Uhr zu Hause sein. Die Zimmer meiner Großmutter waren im ersten Stock, sein Schlaf- und sein Arbeitszimmer im zweiten. Sie ließ die Tür ihres Zimmers halb offen. Polydore mußte dort vorbeigehen. In diesem Augenblick stellte sie die stereotype Frage: ‘Wieviel Uhr ist es, Polydore?’ Wenn es auch längst zehn Uhr gewesen war, antwortete er ebenso mechanisch: ‘Viertel vor zehn Uhr, Mama.’ Polydore wußte, daß sie leichtgläubig war. Meine Großmutter war religiös, aber sie weigerte sich, die Regeln des katholischen Kultus anzuerkennen. Sie war ‘liberal’, was in Belgien fast der Ablehnung des christlichen Glaubens gleichkam. Oft habe ich sie sagen hören: ‘In unser Haus kommt weder ein Pfarrer noch ein Offizier!’ Zwei der drei Söhne meiner Großmutter, patentierte Überseekapitäne, waren als Kommandanten von Segelschiffen in die Handelsmarine eingetreten und fuhren von Antwerpen nach Chile, Bolivien und Peru. Meine Einbildungskraft war erfüllt von den Gefahren, denen meine beiden Onkel zu trotzen und die sie zu besiegen hatten. Zwei Schiffsuntergänge und der Tod meines Onkels Frédéric nach einem Sturz in einem peruanischen Hafen erhitzten meine Phantasie. Die glückliche Rückkehr der Kapitäne, die Pelze, die exotischen Vögel, die vielen Dinge, die sie mitbrachten, unser Besuch an Bord, das Hinabsteigen in die Kabinen, wo all diese überwältigenden Dinge aufgestellt waren - all dies sehe ich vor mir und fühle mich acht oder zehn Jahre alt!
Von meinem fünften Lebensjahr an besuchte ich eine private Schule in der Nähe des ‘Kissdorp’, eines Marktplatzes an der Peripherie des malerischen internationalen Hafenquartiers, in dessen Zentrum die Plaine Falcon liegt. In ewigem Gedränge verkehrten die von schweren belgischen | |
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Pferden gezogenen Lastwagen, die die Waren von den Häfen zu den beiden Bahnhöfen Antwerpens brachten. Meine Eltern waren wegen dieses Tohuwabohu ängstlich. Sie ließen mich deshalb von einem alten kleinen Mann zur Schule bringen. Ein mitleidiger Kapitän hatte ihn in einem kalifornischen Hafen aufgelesen. Jetzt war er unser Bedienter. Er hieß ‘Rik'ske’; das Diminutiv bezog sich auf seinen kleinen Körperbau. Zunächst wußte ich nichts über den ‘Gnom’, dem ich anvertraut wurde. Er ist eng mit der ersten Demütigung verbunden, deren Erinnerung mir heute - nach mehr als achtzig Jahren - noch nachgeht. Auf dem Schulweg kamen wir an einem Markt vorbei; die Gemüsekörbe standen das Trottoir entlang. Ich war ebenso lausbübisch wie die anderen Fünfjährigen und brannte darauf, wie sie einen dieser Körbe umzuwerfen und wegzurennen. Eines Tages konnte ich nicht widerstehen. Ein großer Korb mit Karotten zog mich an. Ich nahm einen Anlauf, warf ihn um, aber im Augenblick, in dem ich durchbrennen wollte, fühlte ich mich von einem dicken, fürchterlichen Marktweib ergriffen, das zugleich Rik'ske bedrohte. Das Weib zwang mich, die Karotten wieder einzusammeln. Rik'ske blieb starr vor Schrecken und ließ alles unter dem höhnischen Lachen der umstehenden Burschen, Hausfrauen und Marktweiber geschehen. Mit einem unerschöpflichen Repertoire von Schimpfworten beleidigte das Weib den kleinen Mann und mich, bis die letzte Karotte wieder im Korb war. Kurz nach dieser ersten Demütigung sollte ich lernen, was Enttäuschung bedeutet. Die zwei Apothekergehilfen, die ich während meiner Jugend kannte, lebten mit uns zusammen. Beide haben viel zur Entwicklung meiner Phantasie beigetragen. Sie waren sehr verschieden; der eine ein Flame, der andere Wallone, beide unerschöpfliche Erzähler. Zu dritt hörten wir zu: meine ältere Schwester, mein jüngerer Bruder und ich. Ich lauschte ‘mit gespitzten Ohren’ und ‘trank’ die Worte des Erzählers, deren Wahrheit für mich außerhalb jedes Zweifels stand, in mich hinein. Er hielt nicht inne bis zum Augenblick, wenn meine Mutter das Zeichen gab, schlafen zu gehen. Ich kehrte ‘von weit her’ zurück, enttäuscht, die Feen, Gnomen, Ritter, Prinzessinnen, Zauberinnen, die Drachen, die Paläste der orientalischen Sultane verlassen zu müssen, um jetzt mit dem brennenden Kerzenleuchter in der Hand nach oben zu gehen, wo ich und mein Bruder schliefen. | |
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Ich hätte mir nicht vorstellen können, daß dieser Lehrling erfand, was er erzählte, bis er eines Abends einen Kampf schilderte, den er in Afrika bestanden hatte, mit Löwen, einer ganzen Löwenfamilie, der er schutzlos ausgeliefert war; wir sahen förmlich, wie er den Revolver auf die Löwen richtete - plötzlich sahen wir ihn aufspringen, seinen Stuhl zurückstoßen, mit verstörten Blicken und nervösen Händen etwas abwehren - es war eine Spinne, die sich von der Decke auf den Tisch herunterließ! Nach dieser Blamage verließ der brave Bursche meinen Vater, unser Haus und den Tisch, an dem er uns Kinder in Atem gehalten hatte. Keines meiner Geschwister hatte sich unserem Bedienten angeschlossen. Ich war der einzige, dem er sich anvertraute, und nach kurzer Zeit war ich über sein Leben als Goldgräber in Kalifornien unterrichtet. Jeden Donnerstagnachmittag war er in einem Nebenraum des großen Laboratoriums zu finden, wo er für die Köchin den Kaffee zu rösten hatte. Dort erzählte er mir die Geschichte der Jahre, die er als Goldgräber in Kalifornien verbracht hatte. Er hatte Frau und Kinder verlassen und sich den Hafenarbeitern angeschlossen, die nach den ersten Nachrichten vom ‘Goldrausch’ wie so viele europäische Abenteurer nach Amerika gezogen waren. Vom ersten Donnerstag an, an dem ich mich bei Rik'ske eingefunden hatte, war in mir ein brennendes Interesse an seinem Schicksal erwacht: an seinen Abenteuern, dem Zank in den Bars und Tanzsälen, in die die Räuber eindrangen, um leichter zu Gold zu kommen als diejenigen, die in harter Arbeit nach ihm gruben; an den Revolverschüssen, der Flucht der Weiber und der Räuber, an den brennenden Häusern, in denen nur Leichen zurückgeblieben waren. Lange vor der Erfindung des Kinematographen gab ich mich als Knabe von sieben bis acht Jahren diesen dramatischen Szenen hin, die zwar weniger anstößig waren als die heutigen Filme, aber doch genügten, die Phantasie eines Kindes zu erschüttern. Mit lobenswerter Diskretion vermied es Rik'ske, in seinen Worten und Darstellungen Dinge zu berühren, die sich für einen Zuhörer meines Alters nicht schickten. Meine Geschwister und ich sind in einer denkbar reinen moralischen Atmosphäre aufgewachsen. Zwischen meiner Mutter und meinem Vater herrschte schönstes Einvernehmen. Sie hatten den gleichen Geschmack, die gleichen Meinungen, und die gleichen Empfindungen bestimmten ihr Tun und ihr Denken. | |
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Mit fortschreitendem Alter kam mir mehr und mehr die Häßlichkeit des äußeren Rahmens, in dem wir lebten, zum Bewußtsein. Ich litt unter den anspruchsvollen und erdrückenden Formen der Möbel und der anderen Einrichtungsgegenstände. Ich beschließe die Erinnerungen an meine Kindheit mit dem Dank für die Liebe und Sorge, die mir meine Eltern entgegengebracht haben, für die Zuneigung meiner Geschwister und meiner Großmutter als dem wohlwollenden und gerecht denkenden Haupt der Familie. Sie war immer bereit, zu bedenken, ‘daß die Zeiten und Sitten sich geändert haben’. Im vollen Besitz ihrer Geisteskräfte erreichte sie ein Alter von einhundertunddrei Jahren!
Was hatte mich wohl auf den Gedanken gebracht, ich könnte eines Tages Komponist werden, ein Orchester leiten und vor einem Dirigentenpult gestikulieren? Vielleicht die Gestalt Peter Benoîts, wie er im Frack bei einem Konzert der ‘Société de Musique’ fieberhaft die Seiten der großen Partitur von rechts nach links umblätterte? In Antwerpen, das auf den Titel ‘Metropole der Künste’ stolz war, unterstützte die Elite der Einwohner die Künste großzügiger als in irgendeiner anderen belgischen Stadt. Damals waren die angesehensten und reichsten Mitglieder der deutschen Kolonie, deren Einfluß auf den Antwerpener Hafen sich rasch entwickelte, den großen einheimischen Familien völlig gleichgestellt. Sie unterstützten die zahlreichen künstlerischen Veranstaltungen, unter denen die von der ‘Société de Musique’ organisierten Festkonzerte unter der Leitung des flämischen Komponisten Peter Benoît zu den bedeutendsten zählten. Die den Werken Gounods, Liszts, Berlioz' und Wagners gewidmeten ‘Festivals’ rivalisierten mit ähnlichen Veranstaltungen im benachbarten deutschen Rheinland. Dank der Stellung meines Vaters als Präsident dieser ‘Festivals’ war es mir erlaubt worden, an den Chor- und Orchesterproben teilzunehmen. Nichts konnte meine Phantasie mehr entflammen als die Herrschergebärde des Zauberers, der mit seinem Willen die instrumentalen und vokalen Massen ebenso zu leidenschaftlicher Hingabe entflammte wie die Zuhörer im Saal, die gebannt den Bewegungen dieses einen Mannes folgten. Peter Benoît war ein häufiger Gast in unserem Hause. Er brachte mei- | |
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nen musikalischen Studien wohlwollendes Interesse entgegen. Ich hatte allerdings bisher nur wenige Klavier- und Gesangstunden gehabt. Das Interesse, das Peter Benoît mir gegenüber zeigte, versetzte mich in einen derartigen Begeisterungsrausch, daß ich meinen jüngeren Bruder und meine ältere Schwester dazu brachte, für mich Notenlinien auf riesige Papierbogen zu ziehen, die fast die Größe der Partituren Benoîts übertrafen. Als Material benützte ich den Inhalt des großen Schrankes, in dem das Einwickelpapier für Flaschen, Töpfe und Schachteln der Apotheke aufbewahrt wurde. Dabei rechnete ich auf die Verschwiegenheit Rik'skes und hoffte, daß mein kleiner Diebstahl meinem Vater verborgen bleiben würde. Der Vorrat an diesem Papier war ebenso unerschöpflich wie meine Produktivität. Doch an einem Winterabend wurde ich, in einem Augenblick höchster Begeisterung, von meinem Vater bei der Arbeit überrascht. Er nahm mein Werk und warf es zornig in den brennenden Kamin, wo es von den Flammen verzehrt wurde. Meine musikalische Berufung - wenn es sich um eine solche gehandelt hat - brach unter diesem Schock zusammen. Aber ich habe mir durch mein ganzes Leben eine tiefe Neigung zur Musik bewahrt.
Ich wuchs heran, blieb aber schmächtig. Nach meinem Eintritt in die sechste Lateinklasse des Antwerpener ‘Athenée’ gaben mir meine neuen Kameraden den Spitznamen ‘Stok'ske’. Während meiner ganzen Primarschuljahre fühlte ich mich ‘verschieden’ von meinen Mitschülern und konnte deshalb keinen Freund finden. Wahrscheinlich wäre es auch auf dem humanistischen Gymnasium so geblieben, wenn nicht bei Beginn des Schuljahres 1878/79 im Oktober in der vierten Lateinklasse sich ein ‘Neuer’ neben mich gesetzt hätte. Schüchtern und linkisch zögerte der ‘Neue’ lange, sich einem von uns anzuschließen. Wir erfuhren, daß er noch nie eine Schule besucht hatte, daß er als Junge von dreizehn Jahren zum ersten Male ‘nicht mehr an den Rockschößen seiner Mutter hing’. Von nun an war er dem Spott derer ausgeliefert, die schon eine respektable Anzahl Hosen auf der Schulbank abgewetzt hatten. Aber durch seine Bescheidenheit gewann er bald einiges Wohlwollen. Das geheime Spiel der Anziehung zwischen Menschen braucht keine Rechtfertigung durch das Bewußtsein. Das galt auch für den ‘Neuen’ und für mich. Wenige Worte über unseren Geschmack, unsere Wünsche und Interessen hatten genügt, uns zu zeigen, | |
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daß wir ‘anders’ waren als unsere Mitschüler. Wir hatten wenig Lust, uns an ihren Pausengesprächen zu beteiligen oder an ihren Späßen und Disputen teilzunehmen, die immer auf Raufereien hinausliefen. So entstand zwischen uns - dem späteren Dichter Max Elskamp und mir - eine Freundschaft, die mehr als fünfzig Jahre, das heißt bis zum Tode meines Freundes, dauern sollte. Der Aufschwung der Herzen, der zwei Menschen ein Leben lang verbindet, wird immer durch das gleiche Motiv ausgelöst: der eine ist der jugendlichen Grausamkeit seiner Kameraden ausgesetzt, der andere empfindet Mitleid und wird zum Verteidiger. 1933 habe ich in einem Vortrag an der ‘Libre Académie Picard’ über diese Freundschaft und über die seelischen und körperlichen Qualen berichtet, denen der Dichter von ‘Dominical’, von ‘Maya’, von ‘La rue Saint Paul’ und anderen bedeutenden Werken ausgesetzt war. Die Broschüre ‘Henry van de Velde parle de Max Elskamp’ wurde nicht in den Handel gebracht. Eine große Zahl Briefe, die wir Jahre hindurch gewechselt haben, befindet sich im Archiv der Antwerpener Bibliothek. Max hatte noch nie den Schutz seines Elternhauses verlassen. Den Grund erfuhr ich bald, nachdem ich mit seiner Familie in Kontakt gekommen war. Sein Vater hatte sich von den Geschäften zurückgezogen und den Seinen ein großes Haus am Boulevard Léopold eingerichtet. Es fällt mir heute schwer, meine Gefühle beim ersten Besuch im Haus meines Freundes zu beschreiben. Ich weiß nur noch, wie sehr ich von der Verschiedenheit der Atmosphäre zwischen dem Hause Elskamp und meinem eigenen Zuhause betroffen war. Diesem Heim fehlte etwas! Dieses Etwas, das den Rhythmus in meinem Elternhaus bestimmte: die unermüdliche Aktivität meines Vaters, der durch seine Arbeit für das materielle Wohl einer zahlreichen Familie sorgte, das Dasein meiner Mutter, deren Kräfte und Gedanken der Erziehung und dem Wohlergehen ihrer Kinder gewidmet waren. In Max Elskamps Familie, in der ich mit so viel Wohlwollen aufgenommen wurde, war die Tätigkeit des Vaters auf ein Minimum beschränkt; die Mutter, die wegen einer seltsamen Krankheit ihr Zimmer nicht mehr verließ, konnte so gut wie nichts tun. Die beiden Kinder, der vierzehnjährige Max und seine zwölfjährige Schwester Marie, entbehrten - so schien es mir - all das, was unser Vergnügen und unsere Freude ausmachte. Als mir Maxens Mutter zum ersten Male die Hand reichte - eine ausgetrocknete | |
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Mumienhand - empfand ich einen plötzlichen Schrecken, der mir heute noch gegenwärtig ist. Und doch schien mir Max Elskamp bei seinem Eintritt ins ‘Athenée’ nicht schwächlicher als unsere Mitschüler der vierten Lateinklasse. Das Außergewöhnliche seines späten Schuleintrittes wurde bald vergessen. Und was sein Interesse am Unterricht betraf, so war ihm die Schule ebenso gleichgültig wie mir selbst. Die Schelde und der Hafen übten eine starke Anziehungskraft auf uns aus, besonders derjenige Teil, wo das Exotische unsere Sehnsucht erregte und wo wir den Schiffen nachsahen, bis sie unseren Blicken hinter dem dunstigen Horizont entschwunden waren. Wir waren beide im Hafenviertel - dem Schippers Kwartier - geboren, das wir durchqueren mußten, wenn wir nach der Schleuse von Kattendijk gingen. Regelmäßig machten wir am ‘Luienhoek’ halt, wo die Hafenarbeiter herumlungerten, rasch in der Kneipe verschwanden, ein Glas leerten und ebenso rasch wieder erschienen in der Hoffnung, angeheuert zu werden. Während der vier Jahre, die wir zusammen das ‘Athenée’ besuchten, gingen wir jeden Donnerstagnachmittag dorthin. Zur Zeit der Flut drängten sich die Zollbeamten, die kleinen Angestellten, Neugierige und extravagant gekleidete Frauen. Jedesmal erwarteten uns seltene Schauspiele oder sensationelle Ereignisse: die Einfahrt eines gigantischen Seglers, dessen Besatzung, geschwinde Neger oder langsame Inder, die Landung kaum abwarten konnte, um Papageien, Affen, Vogelfedern in tollen Farben, Felle unbekannter Tiere, Knochen von Albatrossen zum Verkauf anzubieten; oder die Abfahrt bedauernswerter polnischer oder russischer Auswanderer, die rücksichtslos mit Kindern und Koffern in den Bauch der Schiffe hinabgestoßen wurden. Schauspiele, die unsere Phantasie aufpeitschten und weit, weit wegtrugen... unendlich weit weg von der einschläfernden Monotonie der in der Schule verbrachten Stunden. Bei Ebbe gingen wir die Schelde entlang bis zum ‘Steen’ oder bis zu den äußeren Hafenbecken, wo wir entdeckten, was unseren Durst nach Ferne stillen sollte: seltene Handelsware, die geheimnisvollen Schiffsnamen, geschnitzte Bugfiguren, die Flaggen, die die Nationalität des Schiffes und seine Abfahrtszeit anzeigten. Vier Jahre lang haben diese Besuche des Hafens, die Schauspiele an der | |
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Kattendijk-Schleuse unsere Phantasie erregt; vierzig Jahre bewahrte Max Elskamp sie in seinem Innern, bis er sie in seinem Meisterwerk ‘La Chanson de la Rue St. Paul’ hat wiedererstehen lassen. |
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