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Resümee
Bis vor einigen Jahren war die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum kein rechter Begriff, abwesend war sie aber nie. Schon im 19. Jahrhundert spielte sie trotz der durchaus weit verbreiteten Abneigung gegenüber allem Niederländischen und der alles beherrschenden germanischen Perspektive eine nicht zu unterschätzende Rolle auf dem deutschen Literaturmarkt. Damals wurde durch den Erfolg der aus dem Niederländischen übersetzten historischen Romane und realistischen Erzählungen, insbesondere durch den Erfolg von Hendrik Conscience, der wie kein anderer niederländischsprachiger Autor von dem Bedarf an Unterhaltungsliteratur profitierte, die Basis für die Anerkennung gelegt, die die niederländische Literatur nach 1870 gefunden hat. Zu ihrer vielfach befürchteten Annexion ist es nicht gekommen. Gerade im 19. Jahrhundert wurden zwar alte Images auf die moderne Literatur übertragen und wichtige Weichen für die spätere mythisch-sensualistische und ‘nordische’ Vereinnahmung der niederländischen Literatur gestellt, aber zugleich wuchs, nachdem das Interesse für die niederländische Literatur von Grimm, Uhland und Hoffmann von Fallersleben einmal geweckt worden war und die moderne Literatur sich auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt schnell etablierte, rasch die Distanz. Unmißverständliche Beiträge, in denen wie in den Grenzboten der Anschluß der niederländischen Literatur an die deutsche gefordert wurde, blieben erfolglos. Stattdessen wandten sich Leute wie Kuranda schon bald enttäuscht von der niederländischen Literatur ab, während von Düringsfeld - wie Jonckbloet in seiner Geschichte der niederländischen Litteratur - ihre Eigenart herauszustellen versuchte.
1880 war dann auch die Basis geschaffen für den Durchbruch von De Mont, Multatuli, Van Eeden, Couperus und Heijermans und für die (vorübergehende) Aufmerksamkeit, die den niederländischen Achtzigern in gewissen Kreisen zuteil wurde. Bezeichnend für diese Periode war erstens die kontinuierlich weiter wachsende respektvolle Distanz trotz manifester alldeutscher Vorstöße, die u.a. in dem mit Ausnahme von den Beiträgen zu De Mont und Gezelle auffallend geringen Interesse für die niederländischsprachige Literatur aus Flandern zum Ausdruck kam; zweitens die wachsende Anerkennung für die niederländische Literatur als (eine) Literatur, obwohl das Interesse für Multatuli und Van Eeden nicht an erster Stelle auf literarische Kriterien gründete und der niederländische Naturalismus sich im deutschen Sprachraum nicht hat durchsetzen können. Drittens war damals von Bedeutung, daß die Rolle der niederländischen Literatur als Unterhaltungsliteratur im deutschsprachigen Literaturbetrieb ungebrochen erhalten blieb; und schließlich sei erinnert an den Einsatz von Publizisten wie Bischoff, De Mont, Grapperhaus,
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Hauser und Raché sowie an die Publikation von wichtigen Werken zur Geschichte der niederländischen Literatur. Letztere festigten die Aufmerksamkeit, die durch Zeitschriften wie Die schöne Literatur und Das literarische Echo grundsätzlich auf breiter Basis geweckt worden war.
Mit dem Ersten Weltkrieg, der Besetzung Belgiens und der Flamenpolitik, in die alle Flandern-Interessierten, also sowohl die Alldeutschen als auch die Niederdeutschen und die Katholiken involviert waren, geriet die Literatur aus Flandern wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Ihre Renaissance gründete aber wiederum nicht nur auf politischen Interessen. Auch literarische Motive, die Tatsache, daß die niederländischsprachige Literatur aus Flandern traditionsgemäß religiös orientiert war, daß dies im deutschen Sprachraum bekannt war und daß Flandern auch in literarischer Hinsicht mit einer Art Urheimat Germaniens assoziiert wurde, prägten die neue Aufmerksamkeit für die Literatur aus Flandern während und nach dem Ersten Weltkrieg. Zusammen mit dem nicht abreißenden Erfolg niederländischer Unterhaltungsschriftstellerinnen war damit die Ausgangslage für den einzigartigen Erfolg von Felix Timmermans im deutschen Sprachraum geschaffen und für die besondere Rolle, die die niederländische Literatur aufgrund ihres idyllischen und religiösen Charakters während des Nationalsozialismus spielen würde. Trotz ‘nordischer Renaissance’ und der Tatsache, daß die niederländische Literatur unter dem Hitler-Regime an der Kulturfront eingesetzt wurde, bildeten die meisten Übersetzungen aus dem Niederländischen in dieser Periode ein gutes Gegengewicht zu der von den Nationalsozialisten propagierten Blut-und-Boden-Literatur.
Dennoch war die niederländische Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg schwer vorbelastet. Um so bedauerlicher war es dann auch, daß nicht kritisch beleuchtet wurde, daß ihr Erfolg den Weltkrieg überdauerte. Vor allem hier wirkte sich die rücksichtsvolle Distanz, die von deutscher Seite die deutsch-niederlßndischen bzw. die deutsch-flämischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte, nachteilig auf die Rezeption der niederländischen Literatur aus. Schließlich konnten auf diese Weise alte Bilder, Traditionen und Vorlieben einfach über den Weltkrieg hinweggerettet werden und wurde verhindert, daß ein Anschluß an die aktuellen Entwicklungen in der niederländischen Literatur hergestellt wurde.
Als Ende der sechziger Jahre der umstrittene Übersetzer Hermanowski sein Engagement für die Literatur aus Flandern einstellte, mußte Hillner, trotz der Erfolge von Carmiggelt, Bomans, Timmermans, Ten Boom, Frank und der von Hermanowski präsentierten Autoren, wieder bei Null anfangen. Dies in einer Zeit, als sich die deutschsprachigen Verlage gerade von der ausländischen Literatur distanzierten und eher nationale Interessen verfolgten.
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In mühsamer Kleinarbeit gelang es dennoch, auf Dauer ein neues und ausdrücklich literarisches Interesse für die Literatur aus den Niederlanden und Flandern zu wecken. Der Durchbruch kam Mitte der achtziger Jahre, als Verlage wie Klett-Cotta, Hanser und Suhrkamp es mit Claus, Mulisch und Nooteboom versuchten. Daß die Operation der drei großen deutschen Verleger gelang, war nicht nur darauf zurückzuführen, daß sie sich auf ein in den letzten Dezennien zumindest bei einem gewissen Publikum gewachsenes Interesse für die niederländische Literatur stützen konnten und daß die Publikation ihrer Übersetzungen von den Veranstaltungen im Rahmen der ‘Begegnungen mit den Niederlanden’ begleitet wurde, die in dieser Zeit von der Königlich Niederländischen Botschaft organisiert wurden. Ebenso entscheidend für die Wende Mitte der achtziger Jahre war erstens, daß Suhrkamp, Hanser und Klett-Cotta beschlossen, nicht mehr wie in der Vergangenheit auf kurzfristige Erfolge zu setzen, sondern langfristig zu planen und Nooteboom, Mulisch und Claus fest in ihr Programm aufzunehmen, daß sie zweitens nicht länger auf Initiativen der niederländischen und flämischen Förderinstanzen warteten oder auf die seit Jahren bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft angekündigte Geschichte der niederländischen Literatur, sondern selbst über die Entwicklungen in der modernen niederländischen Literatur informierten und daß sie schließlich ihr Programm auf lange Sicht auch mit Werken anderer niederländischsprachiger Schriftsteller ergänzten. Die Zeit, daß sich das Interesse für die Literatur aus den Niederlanden und Flandern an erster Stelle auf bestimmte Themen konzentrierte, war damit vorbei, und man interessierte sich zunehmend für die gesamte literarische
Szene. Dies geht deutlich aus den Namen der Autoren hervor, die seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre übersetzt wurden oder demnächst (wieder) in den Buchhandlungen im deutschen Sprachgebiet erscheinen werden: Armando (o1929), Anna Blaman, Louis Paul Boon, Ferdinand Bordewijk, Jeroen Brouwers (o1940), Andreas Burnier, Jacques Bernlef (o1937), Maarten Biesheuvel, Boudewijn Büch (o1948), Louis Couperus, Adriaan van Dis (o1946), Renate Dorrestein (o1954), Inez van Dullemen, Willem Elsschot, Kester Freriks, Jef Geeraerts, Irina van Goeree (o1924), Hermine de Graaf, Hella S. Haasse, Maarten 't Hart, Albert Helman, A.F.Th. van der Heijden, Hellema (o1921), Kristien Hemmerechts (o1955), Willem Frederik Hermans, Etty Hillesum, Yvonne Keuls (o1931), Eric de Kuyper (o1942), Tom Lanoye (o1958), Gerda Meijerink, Anja Meulenbelt, Doeschka Meijsing, Margriet de Moor (o1941), Multatuli, Hélène Nolthenius (o1920), Willem Jan Otten (o1951), Monika van Paemel (o1945), Jacques Presser, Gerard Reve, Willem Roggeman (o1934), Thomas Rosenboom, Renate Rubinstein, Jan Jacob Slauerhoff, F. Springer, Stijn Streuvels, Felix Timmermans, Simon Vestdijk, Theun de
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Vries, Paul de Wispelaere, Leon de Winter (o1954) und Jan Wolkers, um zunächst diese Autoren kreativer Prosa neben Nooteboom, Mulisch und Claus zu nennen.
Dieses neue Interesse für die niederländische Literatur liegt dem neuen Programm vom Juni Verlag mit u.a. Paul de Wispelaere (1992, Ein Tag auf dem Land, ndl. Een dag op het land, 1976) und Jef Geeraerts (1992, Sanpaku, ndl., 1989) zugrunde und erklärt, warum ein kleiner Verleger wie Twenne in Berlin es Anfang der neunziger Jahre wagt, mit Werken von René Appel (o1945), Marion Bloem (o1952), Mensje van Keulen, Wanda Reisel (o1955), Vonne van der Meer (o1955), Huub Beurskens (o1950) und Helga Ruebsamen (o1934) ein Progamm zusammenzustellen, daß ausschließlich aus niederländischer Literatur besteht. Letzteres, ohne diese Autoren, wie bis dahin üblich, in einer niederländischen Reihe unterzubringen. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ferner die auffallend große Aufmerksamkeit, die der doch kommerziell weniger interessanten Poesie aus den Niederlanden und Flandern in den letzten Jahren im deutschen Sprachraum entgegengebracht wird. Seit Mitte der achtziger Jahre erschien u.a. Poesie von Judith Herzberg, die 1984 den Joost van den Vondel-Preis erhielt, von Gerrit Achterberg (1986, Dornröschen, ndl. Doornroosje, 1947), Stefan van den Bremt (o1941) (1986, Tuchbedeckter Augenblick), Herman de Coninck (o1944) (1991, Die Mehrzahl von Glück), Wiel Kusters (o1947) (1988, Carbone notata), Gedichte von Martinus Nijhoff und Werk von Paul van Ostaijen (1991, Besetzte Stadt, ndl. Bezette stad, 1921). An dieser Stelle müssen natürlich auch die ausgezeichnete Poesie-Sammlung der Achtziger bei Aldus-Presse und die
übersetzten Werke von Hans Favery (1933-1990), Lucebert und Cees Nooteboom, die bei Kleinheinrich in Münster, dem Verleger von Lyrik seit 1960 - Poëzie sinds 1960 (1989), erschienen sind, erwähnt werden.
Vielleicht beruht der momentane Erfolg der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum auch auf der Übergangssituation in der deutschen Literatur, die Volker Hage in seiner Sammlung Schriftproben aus dem Jahr 1990 meinte ausmachen zu können. Aber unabhängig davon und von der Frage, wie lange diese Situation noch anhalten wird, die Tatsache, daß die große Aufmerksamkeit für die niederländische Literatur von einem grundsätzlichen literarischen Interesse bestimmt wird, garantiert auf Dauer eine Perspektive im deutschen Sprachraum.
Die Große der momentanen Leserschaft für die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum ist nur schwer zu bestimmen. Aber sicher ist, daß sie gewachsen ist, seit im Herbst 1991 Marcel Reich-Ranicki Cees Nootebooms Erzählung Die folgende Geschichte auf die Bestsellerbahn katapultierte. Es kommt jetzt darauf an, die Anerkennung
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der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum zu nutzen. Hugo Claus hat 1992 den Nobelpreis zwar nicht erhalten, obwohl er, wie man sagt, in die engere Wahl gekommen ist, aber dennoch, der Themenschwerpunkt Flandern und die Niederlande der Frankfurter Buchmesse 1993 bietet der niederländischen Literatur, jetzt wo die ‘Klassiker’ bekannt sind, eine einzigartige Gelegenheit, definitiv aus ihrem Schattendasein zu treten. Darüber hinaus hat die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum nach Conscience und Multatuli im 19. Jahrhundert und Timmermans in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit Nooteboom wieder eine Gallionsfigur, und steht ein wirklicher Durchbruch von Harry Mulisch unmittelbar bevor. Nun ist es also an der Zeit, eine neue Geschichte der niederländischen Literatur für den deutschen Sprachraum auf den Markt zu bringen und gilt es, durch weitere Förderung, durch einen kontinuierlichen Austausch und bleibende Stimulierung der Kontakte über 1993 hinaus den Anschluß an die rezenten Entwicklungen in der niederländischen Literatur nicht zu verlieren und das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum weiter zu differenzieren und zu aktualisieren. Eine beachtliche Anzahl interessierter Verleger sowie begeisterter und guter Übersetzer steht dafür jedenfalls zur Verfügung.
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