Moderne Niederländische Literatur im Deutschen Sprachraum 1830-1990
(1993)–Herbert van Uffelen– Auteursrechtelijk beschermd
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4. Der Zeitraum 1945-19904.1 Wiederaufnahme der deutsch-niederländischen bzw. der deutsch-belgischen Beziehungen nach dem Zweiten WeltkriegNach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mußten die deutsch-niederländischen bzw. die deutsch-belgischen Beziehungen wiederaufgebaut werden. Tief saßen der Schrecken und die Abscheu über die Grausamkeiten und die Unmenschlichkeit des von den Deutschen initiierten Krieges. Dennoch wurde der außenpolitische Kurs der Niederlande und Belgiens gegenüber Deutschland nicht von Revanchismus bestimmt. Gewiß, die allgemeine Tendenz war zunächst unfreundlich, und stereotype negative Stimmen über die Deutschen und ihre Mentalität prägten im ersten Nachkriegsjahrzehnt die amtlichen und politischen Äußerungen, aber gleichzeitig meinten laut einer Umfrage des Niederländischen Instituts für Meinungsforschung (NIPO) bereits 1947 77% der befragten Niederländer, daß ‘unser Land ebenso wie vor dem Krieg wieder viel Handel mit Deutschland treiben muß’Ga naar voetnoot1. Genau von dieser ‘nüchterne[n] Kaufrnannsmentalität’Ga naar voetnoot2 war die Politik gekennzeichnet, die Den Haag nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber dem ehemaligen Aggressor geführt hat. Neben der Sicherheit des eigenen Landes stand die Wahrung der wirtschaftlichen Kapazität des deutschen Staates im Vordergrund.Ga naar voetnoot3 Dabei sollten nicht nur die hohen niederländischen Investitionen aus den zwanziger und dreißiger Jahren gesichert werden, sondern vor allem das Absatzgebiet, auf das die Niederlande als Exportland angewiesen waren. Dies war die einzige Chance für einen raschen Wiederaufbau der niederländischen Wirtschaft. Der neue deutsche Staat sollte nicht durch die Demontage der Industrieanlagen, durch die im Morgenthau-Plan vorgesehene Umwandlung Deutschlands in ein Agrarland verarmen, sondern im Gegenteil, die Kapazität der | |
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deutschen Wirtschaft sollte, natürlich mit Ausnahme der Rüstungsindustrie, gewahrt bleiben. Wirtschaftliche Zielsetzungen bestimmten auch die deutsch-belgischen Beziehungen in den ersten Nachkriegsjahren. Mit aller Macht versuchte Belgien, den Vorsprung zu nutzen, der ihm durch die frühe Befreiung, den weitgehenden Erhalt der Industrieanlagen und die Tatsache, daß der Großteil des Antwerpener Hafens unversehrt geblieben war, gegeben war.Ga naar voetnoot4 Schon Ende 1947 zeichnete sich das belgische Wirtschaftswunder ab. 1948 wurde der Wirtschaftsvertrag für die Belgisch-Luxemburgische Wirtschaftsunion und die britische sowie amerikanische Zone geschlossen, in Antwerpen eine Belgisch-Luxemburgische Handelskammer und eine Deutsche Handelskammer für Belgien und Luxemburg in Köln gegründet, und bis 1955 war Deutschland das drittwichtigste belgisch-luxemburgische Exportland und das wichtigste Impordand.Ga naar voetnoot5 Der erfolgreicbe Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Belgien und den Niederlanden auf der einen und der Bundesrepublik auf der anderen Seite war natürlich nur deshalb möglich, weil sich diese Entwicklung im Einvernehmen mit den Alliierten vollzog, die nach Verwerfung des Morgenthau-Plans spätestens mit dem Marshallplan voll auf einen schnellen Aufbau des deutschen Wirtschaftspotentials setzten. Sicherheitsaspekte wurden dabei selbstverständlich nicht vernachlässigt. Im Gegenteil, mit dem Marshallplan wurde eine ‘Versöhnung von Sicherheit und wirtschaftlicher [sic] Notwendigkeiten’Ga naar voetnoot6 erreicht, indem die Westzonen einbezogen wurden und auf europäischen Wiederaufbau und Zusammenarbeit gesetzt wurde, ‘ohne für Deutschland den Kontrollaspekt außer acht zu lassen’Ga naar voetnoot7. Die positiven Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg beruhten also nicht auf dem bloßen Bestreben dreier Länder nach guter Zusammenarbeit und Einvernehmen. Auch dies spielte natürlich eine Rolle, aber zugrunde lag vor allem die Tatsache, daß man seit Versailles gelernt hatte, | |
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daß ‘nationalstaatliche Präponderanz bei Friedensregelungen einer gemeinschaftlichen Lösung zu weichen hatte’Ga naar voetnoot8. Gleichzeitig machte es der sich schnell zuspitzende Ost-West-Konflikt erforderlich, den künftigen deutschen Staat, insbesondere die spätere Bundesrepublik, so schnell wie möglich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sicherheitspolitisch in einem europäisch-atlantischen Rahmen einzubinden, und dies im Bewußtsein, daß sich nur in einem größeren europäischen Rahmen der alte deutsch-französische Gegensatz, der seit jeher die Existenz Belgiens bedrohte, aufheben ließ. Wesentlich war darüber hinaus die Überzeugung, daß sich erstens nur in einem europäischen Rahmen das Problem der deutschen Teilung lösen lasse und daß zweitens der deutsche Wunsch nach Gleichberechtigung sowie der Wunsch kleinerer Staaten nach mehr Mitsprache bei Entscheidungen auf internationaler Ebene und die Einbindung Englands als Gegengewicht gegen eine Hegemonie der Deutschen in einem vereinigten Europa sich ebenfalls nur in einem solchen Rahmen realisieren lasse.Ga naar voetnoot9 Erst in diesem Kontext ist es verständlich, daß nach dem Zweiten Weltkrieg das ‘Ziel der grenzüberschreitenden Kooperation’Ga naar voetnoot10 von keiner Seite aus dem Auge verloren wurde. Auf der einen Seite zeigte Belgien bereits im Frühjahr 1949 ‘Verständigungsbereitschaft und nüchterne[n] Verstand’Ga naar voetnoot11 und teilte mit, daß es sich, was die Gebietsforderungen betraf, auf kleine Grenzkorrekruren beschränken und weitgehend auf eine Grenzsatisfaktion verzichten wolle; auf der anderen Seite verzichteten die Niederlande nach einiger Zeit ebenso auf die meisten ihrer ursprünglichen Annexionsforderungen bzw. Grenzkorrekturen, und schließlich hat sich die deutsche Bundesregierung in den Nachkriegsjahren jeglicher ‘Avancen auf eine Hegemonialstellung’Ga naar voetnoot12 innerhalb der europäischen Partnerschaft enthalten und bewußt Zurückhaltung geübt.Ga naar voetnoot13 Letzteres zeigte sich u.a. bei der sogenannten ‘Koningskwestie’, die in Belgien durch die Weigerung Künig Leopolds III., während des Krieges zusammen mit der Regierung ins Exil zu gehen, ausgelöst worden war, und im Falle der Strafmilderung | |
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für Richard de Bodt, den Henker des Konzentrationslagers Breendonk bei Mechelen. In beiden Fällen hat sich die deutsche Bundesregierung nicht eingemischt. Die gleiche Zurückhaltung der Bundesregierung lag auch der Ablehnung der Forderung ehemaliger flämischer Kollaborateure nach einem deutschen Ehrensold zugrunde, und am grünen Tisch wurde schließlich auch die Affäre um den 1949 in Köln als deutsches Gegenstück zur Brusseler Vereinigung ‘Maison Belge a.s.b.l.’ gegründeten Verein ‘Belgisches Haus in Köln e.V.’ gelöst. Dieser Verein hatte sich nämlich zum Ziel gesetzt, einen Beitrag ‘zu den Expansionsbemühungen’Ga naar voetnoot14 Belgiens ‘in sein natürliches Hinterland’Ga naar voetnoot15 zu leisten, indem er die Verbreitung der belgischen Kultur, der Kunst und die wirtschaftlichen Möglichkeiten förderte. Zu diesem Zweck wurde 1950 in Köln am Neumarkt für ca. 2 Millionen DM das Belgische Haus errichtet, das, wie sich später herausstellte, zu einem nicht unwesentlichen Teil durch den gesetzwidrigen Verkauf von Zigaretten, Roh- und Röstkaffee aus der Militärkantine finanziert wurde. Obwohl die deutschen Behörden 3.792.672 DM an Zöllen und Steuern einklagten, gelang es, die Angelegenheit fast ‘geräuschlos’Ga naar voetnoot16 beizulegen. Belgien und die Bundesrepublik kauften sich einfach ‘zur weitestgehenden Förderung des Kultur- und Wirtschaftsaustausches zwischen Deutschland und Belgien’Ga naar voetnoot17 in die Gesellschaft ein und bezahlten die Steuerschulden. Der neue europäische Charakter der deutsch-niederländischen bzw. der deutsch-belgischen Beziehungen zwang Belgien und insbesondere die Niederlande, die sich, was ihr Verhältnis zu Deutschland betraf, schon seit dem 19. Jahrhundert vom Prinzip ‘“Gutes Verhältnis zu jedem, enge Beziehung zu keinem”’Ga naar voetnoot18 hatten leiten lassen, dazu, das alte Diktum der Neutralität aufzugeben. In diesem Sinne engagierten sich beide Länder für die von den alliierten Großmächten initiierten ‘re-education’-Maßnahmen. Die Haltung von Belgien und den Niederlanden innerhalb dieses Programms unterschied sich aber wesentlich. Während man in Belgien der Meinung war, daß man vor allem Not lindern müsse - ‘Zwar besitze Belgien keine Mittel, um die materielle Not zu lindern; die geistige Not könne aber gelindert werden; denn den Universitäten, den kulturellen | |
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Gruppierungen und religiösen Organisationen müßte die Gelegenheit geboten werden, sich ihrer Verantwortung Deutschland gegenüber bewußt zu werden. Folglich sei es nicht vereinbar, daß ein kulturell so reiches Land wie Belgien nicht in dieses geistig so verarmte Deutschland hineinstrahle’Ga naar voetnoot19 -, war die niederländische Haltung viel moralisierender. Dies lag nicht nur in der Tradition der alten niederländischen Neutralitätspolitik, die ebenfalls bereits stark moralisierende Züge trug, sondern zeigte auch, daß die schnelle Wiederaufnahme der wirtschaftlichen und darüber hinaus der kulturellen Beziehungen zu Deutschland aus niederländischer Sicht mehr als aus belgischer, wo die Beziehungen zu Deutschland tiefer verwachsen waren, eine ‘Vernunftlösung’Ga naar voetnoot20 gewesen war, die im Grunde genommen den niederländischen Wunsch nach Entschädigung und Bestrafung der Schuldigen unberücksichtigt gelassen hatte.Ga naar voetnoot21 Während sich belgische Behörden also damit begnügten festzuhalten, daß eine belgische Kulturpolitik in Deutschland der Zustimmung der Alliierten bedürfe, daß sie in ihrer Arbeit besonders die deutsche Jugend ansprechen, die öffentliche Meinung in Belgien stets beachten, den vom Richter Van Leckwijk im oben zitierten ansatzweise umschriebenen Aufgabenbereich nicht überschreiten und eher Hilfestellung leisten als belehren sollte, arbeiteten die Niederländer vorrangig an Deutschlands ‘Heilung’.Ga naar voetnoot22 Friso Wielenga muß in diesem Zusammenhang voll zugestimmt werden, wenn er in seiner | |
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Dissertation zu den deutsch-niederländischen Beziehungen im Zeitraum 1945-1955 darlegt, daß eine der Ursachen des Unverständnisses, das auch heute noch in vielfacher Hinsicht die niederländisch-deutschen Beziehungen bestimmt, darin begründet ist, daß die Niederländer trotz ihres mehr oder weniger erzwungenen Verzichts auf Reparationszahlungen und Annexionsforderungen nicht einer schuldbewußten und bußfertigen Bundesrepublik gegenüberstanden, sondern einem Land, das, unfähig oder unwillig zu trauern, die ihm gebotenen Möglichkeiten des Ost-West-Konfliktes selbstbewußt und sachlich ausnutzte.Ga naar voetnoot23 Dies hat zum unverkennbaren und unverwechselbaren Sendungsdrang geführt, mit dem die Niederländer versuchten, frische Luft ins deutsche Gewächshaus strömen zu lassen.Ga naar voetnoot24 Bezeichnend war in diesem Zusammenhang u.a. die Kritik des niederländischen Außenministeriums an der Arbeit der 1948 gegründeten ‘Coördinatie-Commissie voor Culturele Betrekkingen met Duitsland’, des Dachverbandes für Organisationen und Einrichtungen, die den bilateralen Verkehr zwischen den Niederlanden und Deutschland stimulieren wollten.Ga naar voetnoot25 Das Außenministerium war nämlich der Meinung, daß die Kommission, insbesondere mit ihrer Zeitschrift duitse kroniek, ihre Zielsetzung verfehlt habe, indem sie sich zu einem wesentlichen Teil damit beschäfti- | |
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ge, den Kenntnisstand über Deutschland in den Niederlanden zu erhöhen, anstatt den Informationsmangel über und das fehlende Verständnis für die Niederlande in Deutschland zu verbessern. Unmißverständlich stellte J.M. De Booy, der erste Botschafter der Niederlande in der Bundesrepublik, diesbezüglich fest: ‘Het is voor Nederland van vitaal belang, dat dit gebrek aan inzicht door intensieve voorlichting verholpen wordt, niet slechts om de betrekkingen met onbevangen en goedwillend tegenover Nederland staande Duitse kringen een positieve basis te verschaffen, maar ook en vooral om het voor kwaadwillende, rancuneuze en/of in nationalistische eigenwaan bevangen en tegenover Europa in het algemeen met hegemonistische, tegenover Nederland in het bijzonder met annexionistische aspiraties staande Duitse elementen moeilijker te maken, om - zoals in het verleden - van de algemene onkunde bij hun pogingen tot verwezenlijking hunner aspiraties onbeperkt profijt te trekken.’Ga naar voetnoot26 Einen neuen Zug im Sinne der UNESCO-Idee, durch Zusammenarbeit der Partner im Bereich der Erziehung, der Wissenschaft und der Kultur die Gegensätze zwischen den einzelnen Mitgliedern überwinden zu helfen, erhielten die deutsch-niederländischen Beziehungen erst, als sich Anfang der fünfziger Jahre parallel zur raschen Integration der Bundesrepublik ins westliche Bündnis die Beziehungen normalisierten und auch auf privater Ebene in Deutschland verschiedene Initiativen zur Verbesserung der gegenseitigen Beziehungen zwischen dem niederländischen und dem deutschen Sprachraum ergriffen wurden. Erwähnt werden müssen hier neben der in Düsseldorf gegründeten ‘Deutsch-Niederländischen Arbeitsgemeinschaft’ unter Vorsitz des Ministerialdirektors O. Bleibtreu, die sich um die Verbreitung der niederländischen Literatur und Wissenschaft in Deutschland bemühte, vor allem die ‘Bundesarbeitsgemeinschaft Deutsch-Niederländischer Vereinigungen’ unter Leitung der ehemaligen Mitarbeiterin des Deutsch-Niederländischen Instituts in Köln Martha Baerlecken.Ga naar voetnoot27 Dieser Arbeitsgemeinschaft, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Beziehungen zu den Niederlanden im Bereich des öffentlichen Lebens, insbesondere der Kultur zu fördern, waren die ‘Deutsch-Niederländischen Arbeitsgemeinschaften’ in Aachen, Düsseldorf, | |
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Kölnund Mönster, der ‘Deutsch-Niederländische Ausschuß’ in Hannover, das ‘Deutsch-Niederländische Kuratorium’ in Aurich und die ‘Deutsch-Niederländische Gesellschaft’ in Münster sowie die ‘Niederländische Abteilung der Brücke’ in Recklinghausen angeschlossen.Ga naar voetnoot28 Von großer Bedeutung im Zusammenhang mit der neuen Phase in den deutsch-niederländischen Beziehungen Anfang der fünfziger Jahre war auch die Gründung der ‘Genootschap Nederland-Duitsland’, die 1953 in Amsterdam entstand. Gerade diese Gesellschaft hatte sich nämlich im Sinne der neuen europäischen Kulturpolitik ‘het bevorderen van de kennis in Nederland over de Duitse cultuur’Ga naar voetnoot29 zum Ziel gesetzt, in der Überzeugung, daß ‘[...] es an der Zeit sei, die kulturellen Beziehungen zwischen den Niederlanden und Deutschland zu fördern und danach zu streben, diese Beziehungen im Geiste europäischer Verantwortung in die richtigen Bahnen zu lenken’Ga naar voetnoot30. Die Umsetzung der deutsch-belgischen kulturellen Beziehungen wurde zunächst ebenfalls weitgehend Privatinitiativen überlassen. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind die Initiativen Georg Hermanowskis, der Treffen zwischen heimatvertriebenen Dichtern aus dem Osten und flämischen Dichtern organisierte. Später hatte vor allem das Belgische Haus eine wichtige Funktion.Ga naar voetnoot31 Unter der Leitung des Direktors Adelain de Buck entstand im Belgischen Haus in Köln eine einmalige Bibliothek und nahm das Haus, das über einen großen Vortragssaal und Ausstellungsfläche verfügt, innerhalb des Belgisch-Deutschen Kulturaustausches eine Schlüsselposition ein. Als Folge dieser Entwicklungen änderte sich Kulturpropaganda aus der Anfangsperiode relativ bald in Richtung einer mehr auf den neuen europäischen Gedanken ausgerichteten Kulturpolitik, die auf gegenseitige Selbstdarstellung unter Wahrung der eigenen Identität einerseits und | |
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Toleranz und Akzeptanz anderer Identitäten andererseits ausgerichtet war.Ga naar voetnoot32 Damit war der Grundstein für die Kulturabkommen zwischen einmal Belgien und der Bundesrepublik (1957) und zum anderen den Niederlanden und der Bundesrepublik (1961) gelegt.Ga naar voetnoot33 Sozusagen im Vorgriff auf das deutsch-niederländische Kulturabkommen und, da nicht nur auf den deutschen Sprachraum, sondern auf die ganze Welt ausgerichtet, frei von jeglichen Belehrungsgedanken, wurde in den Niederlanden 1954 das neue europäische Prinzip der kulturellen Selbstdarstellung ohne Politisierung in einer Stiftung zur Förderung der niederländischen Literatur im Ausland mit dem Namen ‘Stichting tot bevordering van de vertaling van Nederlands letterkundig werk’ realisiert. Mit der Gründung dieser Stiftung durchbrachen die Niederländer, was die Förderung ihrer Literatur im Ausland betraf, zum ersten Mal wirklich das für sie typische Nach-innen-Gekehrt-SeinGa naar voetnoot34. Die ‘Stiftung’, die sich sowohl die Herstellung von Kontakten zwischen niederländischen und ausländischen Autoren und Verlegern als auch die Anfertigung von Probeübersetzungen und die Verbreitung der niederländischen Literatur im Ausland mit allen erdenklichen Mitteln zum Ziel gesetzt hatte, startete mit äußerst bescheidenen Mitteln.Ga naar voetnoot35 In der Anfangsphase wurde die Organisation ausschließlich vom Niederländischen | |
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Ministerium für Unterricht und Wissenschaften finanziert.Ga naar voetnoot36 Erster Direktor der ‘Stiftung’ wurde 1955 J.J. Oversteegen. Er setzte sich zum Ziel, die qualitativ hochstehende Literatur aus den Niederlanden zu fördern, denn schon bald war offensichtlich, daß zwar die niederländische Literatur im Ausland, insbesondere im deutschen Sprachraum, vertreten war, aber daß in der Praxis gleichzeitig ‘het beste werk, op schaarse uitzonderingen na, de minste kansen kreeg’Ga naar voetnoot37. Eine Erweiterung ihrer Aufgabe und eine neue Vorreiterrolle bekam die ‘Stiftung’ 1960 zuerteilt, als sie nicht mehr nur ausschließlich die Literatur aus den Niederlanden im Ausland fördern sollte, sondern nunmehr auch die Förderung der niederländischsprachigen Literatur aus Belgien übernahm. In Belgien hatte es ab Mitte der fünfziger Jahre mit dem ‘Dienst verspreiding van de Nederlandse literatuur in het buitenland’ unter Leitung von Karel Jonckheere (o1906) und später Bert Decorte (o1915) zwar ebenfalls mehr oder weniger organisierte Aktivitäten zur Förderung der Literatur gegeben, aber große Erfolge waren, insbesondere im deutschen Sprachraum, ausgeblieben.Ga naar voetnoot38 Nicht zuletzt deshalb wurden die Aktivitäten der oben genannten belgischen Behörde ab 1960 teilweise der ‘Stiftung’ übertragen. Ab Dezember 1960 hieß das von der ‘Stiftung’ in zwei Sprachen herausgegebene Bulletin, in dem zunächst Buchbesprechungen, später auch übersetzte Fragmente und Novellen abgedruckt wurden, dann auch nicht mehr Literary Holland / Le Courrier Littéraire des Pays-Bas, sondern Writing in Holland and Flanders / Le Courrier Littéraire des Pays-Bas et de la Flandre.Ga naar voetnoot39 Die Arbeit der ‘Stiftung’ war, obwohl sie zunächst vor allem die Klassiker gefärdert hat (Bücher ‘voor iedereen die meer zoekt dan het succes van één seizoen’Ga naar voetnoot40) und weniger dazu beigetragen hat, daß auch rezente Literatur schnell übersetzt wurde, für die Verbreitung der nieder- | |
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ländischen Literatur im deutschen Sprachraum von großer Bedeutung.Ga naar voetnoot41 Die Organisation größerer Kulturveranstaltungen oder Lesereihen, die rezente niederländische Literatur direkt hätten vermitteln können, war der ‘Stiftung’ mit den ihr zur Verfügung stehenden beschränkten Mitteln (1985 Fl. 600.000 für die gesamte Organisation) jedoch nicht möglich. Damit blieb ein großer Teil der Verantwortung für die Förderung der niederländischen Literatur im Ausland auch nach 1960 den Initiativen von Einzelpersonen, engagierten Verlagen und nicht zuletzt den Kulturabteilungen der jeweiligen Botschaften überlassen. Nicht die ‘Stiftung’, sondern die Kulturabteilung der niederländischen Botschaft war es dann auch, die vor einigen Jahren die in der Einleitung zu der vorliegenden Studie bereits erwähnte ‘Begegnung mit den Niederlanden’ organisiert hat, in deren Rahmen die Wanderausstellung ‘Niederländische Literatur in deutscher Übersetzung’ und die Bibliographie von Murk Salverda zu diesem Thema entstand. Vielmehr unvermeidlich als beabsichtigt lag bei dieser Ausstellung der Akzent auf dem Königreich der Niederlande und ihrer Literatur. Obwohl ausdrücklich die niederländische Literatur, also die Literatur aus den Niederlanden und Flandern, und ihre Rezeption im deutschen Sprachraum vorgestellt werden sollte, geschah dies, weil es eine nationale Manifestation war, unter der niederländischen Fahne. Große Veranstaltungen zur Förderung der niederländischen Literatur im Ausland konnten also nicht von der ‘Stiftung’ realisiert werden, aber auch nicht von der niederländischen bzw. belgischen Botschaft, denn unabhängig davon, daß die jeweiligen Botschaften (nicht nur) in Deutschland, was die personelle und finanzielle Ausstattung der Kulturabteilungen betrifft, kaum miteinander vergleichbar sind, sind Kulturräte an nationale Weisungen gebunden und können schon deshalb nicht viel mehr, als die Kunst aus nationaler Perspektive präsentieren. Sie müssen, wie Carlo Lejeune am 5. Oktober 1989 in seinem Vortrag zur Geschichte des Belgischen Hauses in Köln herausgestellt hat, als Mitarbeiter einer Botschaft ‘auswärtige Kunstpolitik’ betreiben und haben nicht genügend Freiraum für eine ‘produktive Kulturpolitik’, so wie es insbesondere im Fall der Verbreitung der niederländischen Literatur im Ausland erforderlich wäre, denn gerade bei dieser Forderung steht nicht nur der Austausch | |
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zwischen dem niederländischen und dem deutschen Sprachraum, sondern auch der zwischen den Niederlanden und Flandern zur Diskussion.Ga naar voetnoot42 Erforderlich war also eine finanzielle und personelle Stärkung der ‘Stiftung’Ga naar voetnoot43. Aber das ließ sich nicht realisieren. Stattdessen zeigte sich Mitte der achtziger Jahre, daß die Zusammenarbeit zwischen auf der einen Seite dem ehemals belgischen, nun flämischen, und auf der anderen Seite niederländischen Ministerium für Kultur und der ‘Stichting tot Bevordering van de Vertaling van Nederlands Letterkundig Werk’ zunehmend in Frage gestellt wurde. In seiner Rede vor der Konferenz der Niederländisch-Dozenten in Bergisch Gladbach sprach der damalige Direktor der ‘Stiftung’ Joost de Wit 1985 nur noch von einer theoretischen Arbeitsgemeinschaft, ‘omdat de Vlamingen, vrees ik, zich niet meer houden aan reeds zeer lang geleden gemaakte afspraken tussen Nederlandse en Belgische regeringen en deels omdat revaluaties en devaluaties van onze respectievelijke munten roet in het eten gooiden en blijven gooien.’Ga naar voetnoot44 Deshalb neigte er dazu, zunehmend weniger Flamen im deutschen Sprachraum vorzustellen und mit der Unterstützung der Niederländischen Botschaft die Verbreitung der Niederländer im deutschen Sprachraum auszubauen.Ga naar voetnoot45 Die Mißstimmung beruhte auf Gegenseitigkeit. Auch von seiten der flämischen Regierung wurde die Arbeit der ‘Stiftung’ ab Mitte der achtziger Jahre zunehmend boykottiert. Immer deutlicher zeichnete sich ab, daß die jeweiligen Regierungen trotz Sprachgemeinschaft die Arbeit | |
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der ‘Stiftung’ wieder an sich ziehen wollten.Ga naar voetnoot46 1990 kündigten die Flamen die Zusammenarbeit mit der ‘Stiftung’ offiziell auf, und im gleichen Jahr beschloß die niederländische Regierung ebenfalls, der ‘Stiftung’ keine weiteren Gelder mehr zur Verfügung zu stellen. Heutzutage wird die niederländische Literatur im Ausland wieder wie zu alten Zeiten von zwei nationalen Instanzen vertreten. Auf niederländischer Seite von der niederländischen literarischen Produktions- und Übersetzungsstiftung, auf flämischer Seite von der Behörde zur Förderung von Kunst, Musik, Literatur und Bühnenkünste des flämischen Ministeriums für ‘Welzijn, Volksgezondheid en Cultuur’.Ga naar voetnoot47 Zwei Instanzen, die zwar bereit sind, auch die Literatur aus dem jeweiligen anderen an der Sprachgemeinschaft beteiligten Land zu fördern, die aber, weil sie nun einmal nationale Instanzen sind, zum Teil doch ziemlich einseitig operieren und so die alte Arbeit der ‘Stiftung’ nur beschränkt weiterführen. Die Probleme und Verzögerungen, die um die Beteiligung und Kostenverteilung im Rahmen der Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse 1993, die als Themenschwerpunkt die Niederlande hat, entstanden sind, sprechen da für sich.Ga naar voetnoot48 Die letzten Jahrzehnte haben zwar gezeigt, daß die Niederlande und Belgien im Vergleich zur Periode vor dem Zweiten Weltkrieg ihre Isolation durchbrochen haben, daß ihre kulturelle Außenpolitik nicht mehr | |
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vom alten ‘Denken der ungestörten Existenz’Ga naar voetnoot49 bestimmt wird, aber das Problem der Förderung der niederländischen Literatur im Ausland ist damit nicht gelöst. Daß sich Flandern und die Niederlande auf der einen Seite 1980 zur Sprachgemeinschaft entschlossen haben, auf der anderen Seite aber doch wieder eher getrennt als gemeinsam die niederländische - oder nun doch die ‘flämische’ und die ‘niederländische’? - Literatur im Ausland vertreten, wirkt nach wie vor eher ungünstig auf die Förderung der niederländischen Literatur im Ausland. Hinzu kommt noch, daß das deutsche Wissen über die niederländische Kultur, insbesondere über die niederländische Literatur, trotz quantitativer Erfolge in den letzten vierzig Jahren noch immer nicht sonderlich groß ist. Vorurteile bezüglich der Niederländer und Flamen, ihrer Sprache und ihrer Kultur beherrschen noch immer die Meinung von weiten Teilen der deutschsprachigen Bevölkerung. Nach wie vor glauben insbesondere Bürger der Bundesrepublik, daß das Niederländische ein Dialekt des Deutschen sei.Ga naar voetnoot50 In den deutschsprachigen Beiträgen zu Belgien und den Niederlanden steht darüber hinaus selten Kultur im Vordergrund. Stattdessen bestimmen touristische Aspekte die Aufsätze. Belgien wird als klassisches Bierland, die Niederlande - nicht zuletzt weil die Niederländer selbst immer wieder diese Holland-Klischees aufgreifen - als das Land von Käse und Tulpen präsentiert.Ga naar voetnoot51 Kein Wunder, daß niederländische Schriftsteller trotz der Erfolge der niederländischen Literatur in den vergangenen Jahren im deutschen Sprachraum bis vor kurzem so gut wie unbekannt waren und daß bislang kaum jemand von der Sprachgemeinschaft zwischen den Niederlanden und Belgien gehört hat. Prägend für diese Entwicklung war natürlich die Zurückhaltung, die die Bundesrepublik Deutschland nach 1945 gegenüber den Niederlanden und Belgien geübt hat. Dies nicht nur aus Rücksicht auf die | |
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Vergangenheit, sondern vor allem, weil sie sich von Anfang an auf die größeren Partner konzentriert hat. Das Verhältnis zu ihren kleineren Partnern im Westen wurde so schnell selbstverständlich. Hinzu kam, daß insbesondere das deutsch-niederländische Verhältnis durch eine scheinbar unüberwindbare Skepsis von niederländischer Seite gegenüber den Deutschen belastet blieb, denen es an Schuldfähigkeit und historischem Bewußtsein zu fehlen schien. Aus diesen Gründen sind die deutsch-niederländischen Beziehungen immer ‘empfindlich’Ga naar voetnoot52 geblieben. Von einer wirklichen Belastung kann allerdings nicht mehr die Rede sein.Ga naar voetnoot53 Im Gegenteil, das niederländische Deutschlandbild weist jetzt ‘ein hohes Maß an Erwachsenheit’Ga naar voetnoot54 auf. In Wirklichkeit wird die Bundesrepublik jetzt auch in den Niederlanden zusammen mit Belgien, Schweden, der Schweiz, Österreich und den Vereinigten Staaten positiv eingeschätzt. Es gibt zwar immer wieder Momente, vorzugsweise bei Fußballspielen, bei denen die alten Ressentiments über erlittenes Leid und entgangene Wiedergutmachung wieder hochkommen und man (endlich) die alte Rechnung mit Deutschland scheint begleichen zu wollen, zu müssen und zu können. Aber überbewerten sollte man solche Gefühlsausbrüche nicht. Wenn z.B. der niederländische Nationalspieler Ronald Koeman nach dem Sieg seiner Elf über die deutsche Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft 1988 gesagt hat ‘Oma, we hebben je fiets terug’Ga naar voetnoot55, dann werden mit einer solchen Anspielung auf die Beschlagnahme der niederländischen Fahrräder durch die deutsche Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkrieges nur alte Frustrationen abreagiert.Ga naar voetnoot56 Ebensowenig sollte man dramatisieren, daß gerade niederländische Jugendliche ein, wie | |
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Richard Dill es nannte, ‘neo-gekühltes Deutschland-Klischee’Ga naar voetnoot57 gebrauchen, ‘das es ihnen als nationale Selbstverwirklichung erscheinen läßt, wenn sie auf Fußballreise in Mönchengladbach ein deutsches Caf [sic] in Brand stecken oder aus Touristen-Autos mit Ruhrgebiets-Kennzeichen die Autoradios reihenweise herausmontieren’Ga naar voetnoot58. Klischees bestimmen die Beziehungen zwischen allen Ländern, und in Wirklichkeit dienen sie bekanntlicherweise weniger dazu, den anderen in seiner Eigenheit zu erkennen als auf eine einfache Weise ein konsistentes Selbstbild zu gewinnen.Ga naar voetnoot59 Gerade diesem Phänomen sollte also besonders bei Jugendlichen, die voll mit ihrer eigenen Selbstfindung beschäftigt sind, nicht zuviel Bedeutung beigemessen werden. Wirklich belastend für die deutsch-niederländischen Beziehungen ist lediglich, daß es wohl kaum ein Land gibt, in dem die Menschen ‘so viel mit den Deutschen zusammen machen, handeln und betreiben und das zugleich beschämt und mit abgewandtem Blick tun, das heißt, ohne sich dabei ins Gesicht zu schauen’Ga naar voetnoot60. Oder wie es das wissenschaftliche Büro der niederländischen Sozialdemokraten (PvdA) 1978 selbstkritisch für die Niederländer formulierte: ‘Fünf Tage im Mai 1940 reichten der deutschen Wehrmacht, um unser Heer zu überrennen. Fünf Jahre lang seufzten wir unter dem deutschen Joch. Seitdem sind die Deutschen bei uns nur mäßig beliebt. Am liebsten möchten wir ihnen ausweichen, aber wir begegnen ihnen immer wieder: an den jetzt friedlich besetzten Stränden und häufiger noch in Handel und Industrie. Die Niederlande haben viel mit Deutschland zu tun, es aber unterlassen, sich intensiv mit diesem Land zu beschäftigen. Es scheint so, als ob wir uns erst über Deutschland aufregen, wenn sich dort Entwicklungen zeigen, die die Richtigkeit unserer Abneigung gegen Deutsche bestätigen.’Ga naar voetnoot61 Die niederländische und deutsche Kultur sind traditionsgemäß unterschiedlich: absolutistisch, zentralistisch auf deutscher Seite und individualistisch, dezentralistisch und freiheitsliebend auf niederländischer Seite.Ga naar voetnoot62 Aber dies ist kein Grund, um das Trauma der deutschen Besat- | |
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zung weiterhin am Leben zu erhalten. Die Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande sind seit dem Beitritt der Bundesrepublik 1954 Partner innerhalb der NATO und arbeiten seit der Gründung der EWG 1958 mit den anderen EG-Mitgliedstaaten auf eine wirtschaftliche und politische Europäische Union hin. Inzwischen wurde die im niederländischen Sprachraum ‘befürchtete’ deutsche Wiedervereinigung zumindest theoretisch vollzogen und der Kalte Krieg beendet. Nicht zuletzt deshalb kann man heutzutage mehr denn je von einem Konsens ‘im Hinblick auf die grundlegenden politischen, ideologischen und gesellschaftlichen Ziele und Werte’Ga naar voetnoot63 sprechen. Einen wirklichen Grund, die gegenseitige Existenz, sei es aus Angst oder aus unverarbeitetem Schuldgefühl, zu verdrängen, gibt es also nicht mehr.Ga naar voetnoot64 Die Selbstverständlichkeit, mit der heute die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen gepflegt werden, räumt alte Überreste historisch gewachsener Vorurteile und die Ressentiments aus dem Zweiten Weltkrieg allerdings nicht aus dem Weg.Ga naar voetnoot65 Eine endgültige Änderung der früheren Situation erfordert eine neue Kulturpolitik. Zur Verbesserung der deutsch-niederländischen kulturellen Beziehungen reicht die bloße Selbstdarstellung unter (ängstlicher) Wahrung der gegenseitigen Eigenart und Identität nicht mehr. Mehr als zwischen anderen Ländern ist zwischen Deutschland auf der einen und den Niederlanden und Flandern auf der anderen Seite ein aktiver Kulturaustausch, d.h. produktive gemeinsame Kulturarbeit, erforderlich, damit das auch in künstlerischer Hinsicht höchst ‘interessante’ deutsch-niederländische Trauma endlich fruchtbar werden kann und das Wissen über die Wurzeln der beiden Gesellschaften und Kulturen | |
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bald der tatsächlichen Bedeutung der heutigen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen entspricht.Ga naar voetnoot66 Was letzteres angeht, hat die Bundesrepublik, hier kann man ihr mit Sicherheit nicht vorwerfen, passiv gewesen zu sein, seit der Entscheidung der gemischten Kommission des deutsch-niederländischen Kulturvertrages, die Situation des Niederländischunterrichtes in der Bundesrepublik zu verbessern, wichtige Grundvoraussetzungen geschaffen.Ga naar voetnoot67 Mußte noch Anfang der sechziger Jahre eine desolate Lage des Niederländischen in Deutschland beklagt werden, und waren damals lediglich an den deutschen Universitäten das Niederländische und die niederländische Kultur durch einige Lektorate verhältnismäßig gut vertreten, sieht die Situation heute bedeutend besser aus.Ga naar voetnoot68 Durch die Gründung der Lehrstühle für Niederländische Philologie in Köln (Pierre Vermeeren) und in Münster (Jan Goossens) Mitte der sechziger Jahre wurde das Niederländische in Deutschland bereits unmittelbar nach der Entscheidung der Kommission des niederländisch-deutschen Kulturvertrages Studienrichtung an deutschen Universitäten. 1971 wurde Gerhard Arendt an das Niederländische Institut in Berlin berufen, wo er 1988 von Frans de Rover, der die moderne Literatur vertritt, Verstärkung erhielt. 1981 wurde ein Institut für Niederländische Philologie in Niedersachen an der Universität Oldenburg unter Leitung von Francis Bulhof gegrändet. Dieses Institut, das zunächst mit einem Erweiterungsstudiengang für Gymnasiallehrer gestartet war und seit 1984 auch einen Magisterstudiengang ausbaut, schien bei gut hundert Studenten mit zwei Lektoren, einer wissenschaftlichen Nachwuchsstelle und einer zweiten Professur für Niederländische Sprachwissenschaft lange Zeit, wie der Institutsdirektor selbst gerne hervorhob, ‘tenminste quantitatief de meestbelovende neerlandistiek extra muros’Ga naar voetnoot69. 1988 stimmte das Ministerium für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen der Errichtung des Zentrums für Niederlande-Studien an der | |
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Westfälischen Wilhelms-Universität zu, und 1991 wurde auch am Institut für Niederländische Philologie der Universität Köln zusätzlich zum heutigen Direktor Herman Vekeman ein Hochschuldozent für niederländische Sprachwissenschaft (Amand Berteloot) berufen. Seit 1969 ist Niederländisch in Nordrhein-Westfalen auch Unterrichtsfach an der Schule.Ga naar voetnoot70 Inzwischen hat es in der Sekundarstufe den gleichen Status wie Italienisch, Spanisch und Russisch.Ga naar voetnoot71 Ferner wird es seit einigen Jahren auch an niedersächsischen Schulen angeboten (momentan an ca. 30 Schulen). Im Gegensatz zu Nordrhein-Westfalen wird Niederländisch dort aber noch vorwiegend an Realschulen, und dort in der Hauptsache im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft, als Wahlfach oder als besonderer Grundkurs im Wahlbereich angeboten.Ga naar voetnoot72 Wie schnell die Bedeutung des Niederländischen besonders in Nordrhein-Westfalen zugenommen hat, läßt sich auch durch weitere Zahlen belegen. Seit 1970 hat sich die Anzahl der Niederländisch als Unterrichtsfach anbietenden Schulen in Nordrhein-Westfalen (Realschulen und Gymnasien) von 11 auf über 100 fast verzehnfacht.Ga naar voetnoot73 Gleichzeitig ist die Anzahl der Kursteilnehmer ebenfalls auf fast das Zehnfache gestiegen (von 237 Teilnehmern 1970/71 auf 2470 1986/87).Ga naar voetnoot74 Zu Recht sagte die Kultusministerkonferenz 1987 einen weiteren Anstieg der Teilnehmer- | |
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zahlen sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch in Niedersachen voraus.Ga naar voetnoot75 Diese Zahlen werden auch durch die steigenden Studentenzahlen für das Fach Niederländische Philologie an den deutschen Universitätsinstituten sowie für die niederländische Sprache an den deutschen Volkshochschulen bestätigt.Ga naar voetnoot76 Das Interesse für das Niederländische und die niederländische Kultur in Deutschland nimmt also deutlich zu. Damit ist eine gute Basis für eine neue Phase in den deutsch-niederländischen bzw. den deutsch-flämischen Beziehungen gelegt. Es wird zwar wohl noch eine Weile dauern, bis die erwünschte Breitenwirkung erreicht wird, aber der Weg dahin dürfte mit Sicherheit nicht so lang sein wie die Strecke, die bis 1980 überwunden werden mußte. | |
4.2 Niederländische Literatur in deutscher Übersetzung nach 1945Wie sehr sie nach dem Zweiten Weltkrieg von so manchem auch herbeigesehnt worden war, eine ‘Stunde Null’ hat es in der deutschen Nachkriegsliteratur nicht gegeben. Angesichts der Zerstörung durch den Krieg, der bedingungslosen Kapitulation, der Besatzung und der drohenden Umwandlung des ehemaligen Deutschland in ein Agrargebiet, so wie es im Morgenthau-Plan vorgesehen war, herrschte in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland eher eine ‘Endzeitals eine Aufbruchsstimmung’Ga naar voetnoot77. In literarischer Hinsicht sah man sich erstens konfrontiert mit der politischen und kulturellen Isolation, in die Deutschland durch die Nationalsozialisten getrieben worden war. Zweitens war in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Emigrantenliteratur nur schwer zugänglich. Es war nämlich verboten, Geschäfte mit Firmen in Deutschland zu machen, weil es noch keine Copyright-Lizenzen für im Ausland erschienene Werke deutscher Autoren gab und weil solche Lizenzen in US-Dollar bezahlt werden mußten. Schließlich behinderte das Bewußtsein, daß mit den ‘“Stilmittel[n] von gestern”’Ga naar voetnoot78 der existentiellen Ratlosigkeit des Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr | |
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entsprochen werden konnte, die Produktion neuer Werke. Obwohl man versuchte, wieder Anschluß an das ‘geistige Erbe der Menschheit’Ga naar voetnoot79 zu finden, setzte sich in der jungen Bundesrepublik statt Neuorientierung zunächst Tradition und Kontinuität durch. Ein wesentlicher Faktor bei diesem Phänomen war auch, daß die breite Leserschaft im deutschen Sprachraum nach dem Zweiten Weltkrieg nichts anderes als gute Unterhaltungsliteratur verlangte. Gefragt war ‘[...] ein möglichst dickes und festgebundenes Buch mit unterhaltendem Inhalt, kein [...] Schund, sondern am liebsten eine gemischte Linie von Ganghofer bis Carossa’Ga naar voetnoot80. Vor allem ietzteres erklärt, warum deutsche Verleger nach 1945 oft ausländische Literatur übersetzen ließen und dabei wie selbstverständlich wieder zur niederländischen Literatur griffen.Ga naar voetnoot81 Dabei verlegte man, als ob nichts geschehen wäre, zwischen 1945 und 1950 im deutschen Sprachraum in Reihenfolge ihrer Beliebtheit erneut Autoren wie Timmermans, Streuvels, Van Ammers-Küller, Claes, Coolen, Corsari, Walschap, Lulofs, Thijssen, Roothaert und De Jong. Es erschienen damals zwar auch bedeutende Übertragungen von Werken von Van de Woestijne und Gezelle, erneuert wurde das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum nach 1945 aber nicht. Im Gegenteil, man setzte einfach wieder beim Heimatroman, flämischen Realismus und (historisierenden) Volksroman aus den dreißiger Jahren an. Übersetzt wurden neben den eben genannten Autoren Emiel van Hemeldonck (1897- 1981), André Demedts und Valère Depauw (o1912) und nicht etwa die Autoren des Magischen Realismus Johan Daisne (1912-1978) und Hubert Lampo (o1920), die bereits während des Zweiten Weltkrieges Hans Werner Richters Forderung nach realistischer Literatur, die sich ins Magische erheben sollte, umsetzten. Ebenso unbekannt blieben in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auch flämische und niederländische ‘vijftigers’ (‘Fünfziger’) wie Jan Hanlo (1912-1969), Lucebert (o1924), Gerrit Kouwenaar (o1923) und Hugo Claus; Autoren, die den Bruch mit der Tradition mit einer neuen herrschaftsfreien, körperlichen Dichtung durch Nihilismus, Primitivismus, Barbarismus, Programm- und Formlosigkeit versuchten.Ga naar voetnoot82 | |
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Wie im 19. Jahrhundert wurde der Erfolg der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg also wesentlich vom Bedarf nach Unterhaltungsliteratur auf dem deutschsprachigen Buchmarkt bestimmt. Diesmal konnte er nicht mit (neuer) deutscher Literatur, der nur schwer zugänglichen Exilliteratur und der von den Alliierten verbreiteten aufbauenden Literatur befriedigt werden. Kritisch reflektiert wurde diese Entwicklung nicht. Obwohl das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum nach 1945 unzweifelhaft schwer durch die nationalsozialistische Blut-und-Boden-Propaganda belastet war, fand ihr scheinbar ungebrochener Erfolg im deutschen Sprachraum in der Kritik, die ihr in den zwanziger und dreißiger Jahren so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte, nach 1945 kaum noch Beachtung.Ga naar voetnoot83 Die deutschsprachigen literarischen Zeitschriften waren damals an erster Stelle mit der Diskussion um den eigenen literarischen Neubeginn beschäftigt. Der Bedarf des Marktes und die unreflektierte Haltung der literarischen Kritik gegenüber der niederländischen Literatur in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg führte dazu, daß man sich paradoxerweise einerseits Autoren zuwandte, die wie Nico Rost während des Nationalsozialismus im Konzentrationslager gesessen hatten, oder deren Werke wie die von Jef Last und dem später sehr erfolgreichen Theun de Vries wegen der anti-faschistischen Haltung ihrer Verfasser im deutschen Sprachraum nicht übersetzt bzw. verboten worden waren, ohne daß man sich andererseits von den von den Nationalsozialisten umworbenen | |
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Heimatautoren oder von Jo van Ammers-Küller trennte, die aus ihren nationalsozialistischen Sympathien kein Geheimnis gemacht hatte.Ga naar voetnoot84 Einen Hoffnungsschimmer bezüglich des literarischen Austausches zwischen den Niederlanden und Flandern auf der einen und dem deutschen Sprachraum auf der anderen Seite boten im ersten Dezennium nach dem Zweiten Weltkrieg nur die Kontakte der Gruppe 47 zum niederländischen Sprachraum. Aber es blieb bei einem Schimmer, denn die Kontakte führten nur zu einer bedingten Bereicherung des Bildes der niederländischen Literatur, weil sie sich im wesentlichen auf den niederländischen Kritiker, Redakteur und Dichter Adriaan Morriën (o1912) konzentrierten.Ga naar voetnoot85 Morriën erhielt 1954, und damit ist er der einzige nichtdeutschsprachige Preisträger, für eine humoristische Reisebeschreibung den medienwirksamen Preis der Gruppe 47. Dies trug wesentlich dazu bei, daß in den fünfziger Jahren niederländische Literatur zu einem wesentlichen Teil mit der Satire und den humoristischen Skizzen von Adriaan Morriën, Simon Carmiggelt (1913-1987) und Godfried Bomans (1913-1971) identifiziert wurde.Ga naar voetnoot86 Kontakte zu den Autoren, die nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich die Entwicklungen in der Literatur in den Niederlanden und Flandern bestimmten, entstanden über die Gruppe 47 aber nicht. Hinzu kam noch, daß Morriëns Ehrung auch auf Kritik und Unverständnis stieß. 1962 schrieb Der Spiegel von dem ‘unerfindliche[n] Grund’Ga naar voetnoot87 für die Preisverleihung. Dies, obwohl die Preisverleihung durch die Gruppe 47 durchaus begründet war, denn in Wirklichkeit wurde in der sehr heterogenen Gruppe 47 kaum eine Gemeinsamkeit so betont, wie die Anti-Haltung des Satirikers.Ga naar voetnoot88 Und dadurch zeichneten sich gerade | |
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die ‘boshaft-idyllische[n] Betrachtungen’Ga naar voetnoot89, die Morriën in Deutschland vortrug, aus.Ga naar voetnoot90 Bereichernd war in den ersten Jahren nach 1945 auch die Entdeckung der niederländischen Literatur über den Zweiten Weltkrieg, die auf Dauer mehr noch als das Werk von Morriën, Carmiggelt und Bomans das Bild der niederländischen Literatur prägen würde. Relativ früh erschienen die Kriegserinnerungen von Corrie ten Boom (1892-) Gefangene, und dennoch (1947, ndl. Gevangene en toch..., 1945). Der Grundstein für das spätere Interesse für Werke über das Schicksal niederländischer Juden wie für Die Nacht der Girondisten (1959, ndl. De nacht der Girondijnen, 1957) von Jacob Presser (1899-1970), Das bittere Kraut (1959, ndl. Het bittere kruid, 1957) von Marga Minco (o1920) sowie für die Beachtung, die 1980 die Novelle Kinderjahre (ndl. Kinderjaren, 1978) und 1985 die Tagebücher von Etty Hillesum (1914-1943) Das denkende Herz: Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943 (1983, ndl. Het verstoorde leven, 1981) erhielten, wurde aber durch die Übersetzung der Tagebücher der Anne Frank (1929-1945) gelegt.Ga naar voetnoot91 | |
4.2.1 Eine umstrittene Übersetzung: Das Tagebuch der Anne FrankAls Anne Frank 1945 in Bergen-Belsen starb, hinterließ sie die in Amsterdam zurückgebliebenen Tagebücher über die Periode vom 12. Juni 1942 bis zum 5. Dezember 1942, vom 22. Dezember 1943 bis zum 17. April 1944 und vom 17. April 1944 bis zum 1. August 1944, dem letzten Tag, an dem sie Einträge in ihrem Tagebuch vorgenommen hatte. Ferner fand man eine Sammlung Erzählungen und einen Stapel loser Blätter, auf denen sie ihre in den Tagebüchern festgehaltenen Erlebnisse bis zum 22. März 1944 überarbeitet hatte. Aus diesen Unterlagen, vor allem aus den losen Blättern, fertigte ihr Vater Otto Frank nach dem Krieg ein Typoskript an, in dem er einige Passagen gestrichen hat, hauptsächlich solche, von denen er glaubte, daß sie den Anstand verletzen oder daß Dritte an ihnen Anstoß nehmen könnten.Ga naar voetnoot92 Daraufhin legte er das Typoskript | |
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seinem Freund Albert Cauvern vor, der ebenfalls einige Änderungen, hauptsächlich grammatikalische, vornahm und ein Schlußwort hinzufügte. Das Resultat dieser Arbeit - die Herausgeber der wissenschaftlichen Ausgabe der Tagebücher betonen ausdrücklich, daß es durchaus ‘plausibel’Ga naar voetnoot93 sei, daß Cauvern keine Passagen gestrichen hat - wurde noch einmal abgetippt und schließlich einigen Verlagen vorgelegt. Weder in Deutschland noch in den Niederlanden konnte aber auf Anhieb ein Verlag gefunden werden.Ga naar voetnoot94 Auch der bekannte niederländische Exil-Verlag Querido hatte kein Interesse. Erst nachdem der Historiker Jan Romein 1946 in Het Parool einen Beitrag über die Tagebücher erscheinen ließ, fand sich in den Niederlanden ein interessierter Verleger. Obwohl von den großen Verlegern nicht erwartet, Anne Franks Het achterhuis: Dagboekbrieven van 12 juni 1942 - 1 augustus 1944 wurde von der niederländischen Kritik allgemein günstig empfangen. Dabei wurden nicht nur das menschliche Dokument, sondern auch die literarischen Qualitäten der Autorin Anne Frank hervorgehoben, die ‘“ongetwijfeld” een begaafd schrijfster [zou] zijn geworden’Ga naar voetnoot95. Die deutsche Ausgabe von Het achterhuis entstand aus einer Übersetzung, die von einer Bekannten Otto Franks, Anneliese Schütz, angefertigt wurde, um Annes Großmutter, die kein Niederländisch konnte, mit dem Tagebuch bekannt zu machen. Schon während der Arbeit an dieser Übersetzung - so vermuten die Herausgeber der wissenschaftlichen Ausgabe der Tagebücher der Anne Frank -Ga naar voetnoot96 wurde nach einem deutschen Verleger gesucht. Dennoch erschien die Übertragung von A. Schütz - nach Aussage von O. Frank war sie ‘im großen und ganzen [...] werkgetreu und sinngemäss’Ga naar voetnoot97, aber in Wirklichkeit war sie durch Übersetzungs- | |
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fehler, Weglassungen und Umschreibungen doch teilweise entstellt -Ga naar voetnoot98 erst 1950 beim Lambert Schneider Verlag in Heidelberg. Das Tagebuch der Anne Frank, so hieß das inzwischen im deutschen Sprachraum bekannte Buch in der ersten deutschen Ausgabe, war zu Anfang alles andere als erfolgreich. Dies änderte sich erst Mitte der fünfziger Jahre, als die Tagebücher als Taschenbuch bei Fischer in einer Edition erschienen, die zwei Erzählungen mehr enthielt als in der Ausgabe des Schneider-Verlags.Ga naar voetnoot99 Der Durchbruch dieser Taschenbuch-Edition von Anne Franks Diarium hing unmittelbar mit dem von Albert Hackett und Francis Goodrich-Hackett verfaßten Schauspiel zusammen, das am 1. Oktober 1956 in Deutschland uraufgeführt wurde. ‘Aber erst, als das Theaterstück an den Bühnen erschien und die Zeitungen darüber berichteten [...], brachen die Dämme.’Ga naar voetnoot100 Durch die Dramatisierung wurde das Tagebuch von Anne Frank sozusagen von einem Tag auf den anderen vom breiten Publikum als ‘Botschaft’Ga naar voetnoot101, als ‘Zeugnis der Entartung menschlicher Grundhal- | |
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tung’Ga naar voetnoot102 entdeckt. Vereinzelt wurden auch die literarischen Qualitäten des Werkes gelobt - ‘dieses absichtslos geschriebene Tagebuch mit seiner farbigen Berichterstattung über die äußeren und inneren Dinge, diese Zwiesprache mit “Kitty”, der angenommenen Freundin, ist hohe Literatur. Hier geschah der einmalige Fall, daß Beständiges geschaffen wurde aus der Ungeformtheit, nur mit dem intensiven Willen zur Formung der Person’Ga naar voetnoot103-, aber sie standen im deutschen Sprachraum nie im Mittelpunkt.Ga naar voetnoot104 Das Tagebuch von Anne Frank wurde als Anklageschrift rezipiert.Ga naar voetnoot105 Um so bedeutsamer war dann auch die Diskussion, die im deutschen Sprachraum über die Echtheit der Tagebücher geführt worden ist. Zur Vorgeschichte dieser Diskussion muß gesagt werden, daß es um die Dramatisierung der Tagebücher der Anne Frank in Amerika einen Rechtsstreit gegeben hat zwischen einerseits Meyer Levin, einem Amerikaner, der die Tagebücher fürs Theater bearbeitet hatte, und andererseits Otto Frank. Der Streit wurde schließlich mit einem Vergleich beendet. Otto Frank mußte 15.000 Dollar an Meyer Levin zahlen und erhielt dafür alle Rechte an Levins Stück.Ga naar voetnoot106 Später wurde jedoch immer wieder auf diesen | |
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Rechtsstreit verwiesen, wobei nicht nur die Geldsumme, zu der Otto verurteilt wurde, wiederholt falsch wiedergegeben wurde, sondern auch Theaterstück und Buch miteinander verwechselt wurden. Es begann schon zwei Jahre nach der Premiere des Theaterstücks in New York. Im schwedischen Blatt Fria Ord erschien am 9. und 11. November 1957 unter dem Titel Judisk Psyke - En studie kring Anne Frank och Meyer Levin ein Beitrag, in dem der Autor Nielsen ‘suggerierte’Ga naar voetnoot107, daß an der Authentizität des Tagebuches von Anne Frank gezweifelt werden müsse, u.a. weil es Meyer Levin gewesen wäre, der dem Tagebuch die definitive Form gegeben hätte. Ähnliche Behauptungen wurden 1958 im nordischen Blatt der ehemaligen SS-Division Viking Fog og Land, in der Wiener Europa Korrespondenz und in Reichsruf, Wochenzeitung für das nationale Deutschland aufgestellt. Otto Frank reagierte erst, als Oberstudienrat L. Stielau in der Zeitschrift der Vereinigung ehemaliger Schüler und der Freunde der Oberschule zum Dom e.V. Lübeck am 10. Oktober 1958 folgende Behauptung publizierte: ‘Die gefälschten Tagebücher der Eva Braun, der Königin von England und das nicht viel echtere der Anne Frank haben den Nutzniessern der deutschen Niederlage zwar einige Millionen eingebracht, uns dafür aber auch recht empfindlich werden lassen.’Ga naar voetnoot108 Daraufhin strengten Otto Frank und die beiden deutschen Verleger der Tagebücher einen Prozeß wegen übler Nachrede an, wobei sich schon bald zeigte, daß Stielaus Behauptungen nicht haltbar waren. In diesem Zusammenhang wurden auch verschiedene Gutachten angefertigt, um die Echtheit der publizierten Tagebücher zu beweisen. Der Prozeß endete dennoch wie der vorige in Amerika lediglich mit einem Vergleich.Ga naar voetnoot109 | |
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Das war wieder zu wenig, denn schon 1959 erschien in der Europa Korrespondenz erneut ein Artikel, in dem diesmal der Historiker und Direktor des Reichsinstituts für Kriegsdokumentation in Den Haag zum Autor der Tagebücher gemacht wurde. Und auch damit war das Ende nicht in Sicht. Bis weit in die siebziger Jahre hinein folgten Publikationen, in denen die Echtheit der Tagebücher immer wieder in Frage gestellt wurde.Ga naar voetnoot110 Sogar noch 1980 war das Resultat der Beschäftigung des Bundeskriminalamtes mit dem Tagebuch der Anne Frank und seiner Echtheit ein nicht ganz eindeutiger Bericht, der erneut zu Spekulationen führte. Kurz danach schrieb wiederum Der Spiegel in einem diesmal wirklich ‘suggestiven’Ga naar voetnoot111 Artikel: ‘Die Echtheit des Dokuments wurde [...] weiter in Zweifel gezogen’Ga naar voetnoot112. | |
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Eine wissenschaftliche Ausgabe der Tagebücher von Anne Frank, die jegliche Zweifel an der Echtheit der Tagebücher für immer beseitigte, wie sie 1986 vom Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie vorgelegt wurde, war also mehr als vonnöten.Ga naar voetnoot113 Rückwirkend betrachtet, kann man bedauern, daß die leidliche Diskussion um die Echtheit des Diariums von Anne Frank nicht eher beendet worden ist, obwohl es doch gerade die deutsche Übersetzung war, die, dies sei nur am Rande vermerkt, am ehesten dem Typoskript von Otto Frank entsprach.Ga naar voetnoot114 Aber demgegenüber steht, daß die immer wieder aufflackernde Diskussion um die Echtheit des Tagebuches dann auch nicht hätte zeigen können, wie groß der Schock, der durch die Publikation der Tagebücher der Anne Frank und die Aufführung des ‘naturalistische[n] Reißer[s]’Ga naar voetnoot115 von Hackett-Goodrich im deutschen Sprachraum ausgelöst wurde, tatsächlich war. Die Feststellung, daß die Diskussion um die Echtheit der Tagebücher die Folge von ‘Wichtigtuereien’Ga naar voetnoot116 einzelner Journalisten oder von der ‘Unbelehrbarkeit’Ga naar voetnoot117 einzelner (Neo-)National- sozialisten gewesen sei, beschreibt nur die Oberfläche. Dahinter steckte das verständliche Unvermögen vieler Deutscher, sich mit ihrer kollektiven Schuld aus dem Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen. Die Zweifel am eigenen Ich, die durch das Bekenntnis Anne Franks bei vielen Lesern sowie bei vielen Zuschauern der Dramatisierung ihrer Tagebücher - so mancher hat erst nach der Begegnung mit den Tagebüchern angefangen, an die Todeslager zu glauben -Ga naar voetnoot118 ausgelöst wurden, die deutsche Unfähigkeit zu trauern, zur Schuldverarbeitung oder, wie Bundeskanzler Helmut Kohl es später nannte, die Gnade der späten Geburt verführten geradezu, den immer wieder angemeldeten Zweifeln an der Echtheit der Tagebücher Glauben zu schenken, und erklärt ebenso das nachlässige Vorgehen des Bundeskriminalamtes bei der Untersuchung der Echtheit | |
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der Tagebücher in den achtziger Jahren wie Beiträge mit eher mißverständlichen Titeln wie Die wahre Geschichte der Anne Frank oder Das wahre Gesicht der Anne Frank, in denen die ‘Wahrheit’ der Tagebücher weitgehend auf Tatsachen verlagert und der Konfrontation mit der persönlichen Stellungnahme der Anne Frank, der Konfrontation von Mensch zu Mensch, aus dem Wege gegangen wurde.Ga naar voetnoot119 Es ist wohl auch kein Zufall, daß gerade in der Bundesrepublik (anders als in den Niederlanden, wo die Tagebücher von Anfang an auch zur Literatur gerechnet wurden) eine literarische Auseinandersetzung mit dem Werk von Anne Frank bis heute nicht stattgefunden hat. Einerseits ist dies, wie Harry Mulisch hervorgehoben hat, auch besser so, denn damit wurde vermieden, daß Das Tagebuch ins Reich der Phantasie verlagert und so den Verfechtern der ‘Hitler-Lüge’ weiter Vorschub geleistet würde. Andererseits wurden dadurch die personliche Identifikation und die Trauerarbeit verzögert. Darüber hinaus hat dieser Sachverhalt, und dies war für die Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum von großer Bedeutung, dazu beigetragen, daß der Ruf von Anne Frank beim deutschsprachigen Leser nicht zu einer näheren Bekanntschaft mit der niederländischen Literatur, sondern nur mit der über den Zweiten Weltkrieg geführt hat. | |
4.2.2 20 Jahre für Flandern: Georg HermanowskiIn den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum also bald von Unterhaltung und vom Kriegsthema bestimmt. Die tatsächlichen literarischen Entwicklungen in den Niederlanden und Flandern spielten in dieser Periode bei der Rezeption ihrer Literatur im deutschen Sprachraum kaum eine Rolle. Im Grunde genommen gab es kaum jemanden, der sich dagegen wehrte. Mit einer Ausnahme: der ostpreußische Übersetzer Georg Hermanowski. Georg Hermanowski war während des Krieges fünf Monate in Belgien gewesen, hatte dort seine spätere Frau kennengelernt und sich nach dem Krieg während seines Studiums der Germanistik in Bonn in die niederländischsprachige Literatur aus Flandern vertieft. Bereits während des Krieges hatte er lebendige Kontakte nach Flandern und zu flämischen Autoren geknüpft, u.a. zu A. Demedts, mit dem er seit 1943 korrespon- | |
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dierte und der ihn zu den ersten Übersetzungen von Werken von Timmermans und Gezelle in verschiedenen Zeitschriften stimulierte. Wie gut Hermanowskis Kontakte nach Flandern von Anfang an waren, belegt u.a. das Erscheinen von Hermanowskis erster Übersetzung in Buchform, M. Matthijs' Wer kann das begreifen ([1949], ndl. Wie kan dat begrijpen, 1949), einem Roman über ‘die Tragik der Unschuld im Gegensatz zu der gegenwärtig dekadenten, sittlich-verflachten Welt’Ga naar voetnoot120, die unmittelbar nach der Originalausgabe erschien. Ebenfalls kurz nach der niederländischen Originalausgabe kam der Roman Die Wieringer (1949, ndl. Het lied van de oude getrouwen, 1947-1949) von V. Depauw heraus. Hiermit war der Anfang einer langen Reihe von Übertragungen aus dem Niederländischen gemacht, an deren Ende über 150 selbständig erschienene Übersetzungen von G. Hermanowski standen.Ga naar voetnoot121 Der überzeugte Katholik Hermanowski hat sich wie kein anderer vor und nach ihm für die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum eingesetzt, allerdings nicht für die gesamte niederländische Literatur, sondern nur für die Literatur aus Flandern. Hermanowski war nämlich davon überzeugt, daß die niederländischsprachige Literatur aus Flandern, von ihm ‘flämische Literatur’ genannt, als eigenständige Literatur losgelöst von der Literatur aus den Niederlanden betrachtet werden müsse.Ga naar voetnoot122 Schließlich konnte seiner Meinung nach einerseits nicht von dem niederländischsprachigen Roman Belgiens gesprochen werden, weil es ‘kein belgisches Volk und somit auch keine belgische Kultur’Ga naar voetnoot123 gebe, und andererseits ebensowenig von einer ‘Großniederländischen Literatur’Ga naar voetnoot124, denn ‘die niederländische Sprachgemeinschaft’Ga naar voetnoot125 sei ‘keine Kulturge- | |
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meinschaft’Ga naar voetnoot126. Der Begriff einer einheitlichen niederländischen Literatur war nach Hermanowski fehl am Platze. Hermanowski führte die Existenz oder Nichtexistenz einer einheitlichen niederländischen Literatur also nicht auf die Sprache zurück, in der sie geschrieben war, sondern auf die Kultur, deren Bestandteil sie war, und gerade kulturell gesehen seien Flandern und die Niederlande Gegensätze. Dies zeige sich laut Hermanowski nicht zuletzt in der Literatur, wobei die Literatur aus Flandern, wie Hermanowski darlegte, anders als die aus den Niederlanden von der Synthese zwischen mystischer Frömmigkeit und sinnlicher Lebensfreude geprägt sei, von Kampfgeist, Verlangen nach Eigenständigkeit, Romantik und katholischem Glauben.Ga naar voetnoot127 ‘Diese ganz spezifischen Grundlagen allein schon strafen jede Behauptung Lügen, die von einer einheitlichen “Großniederländischen Literatur” spricht. Mag ein pseudo-liberales Auch-Europäertum eine solche Wunsch-These in noch so vielen Büchern und Broschüren propagieren und verteidigen: es gibt keine Literatur, die 17 Millionen niederländisch-sprechenden Europäern gehört, und es wird eine solche nie geben. Der Gegensatz zwischen dem holländischen und dem flämischen Roman - obwohl beide in der niederländischen Sprache geschrieben - ist weit größer als der Gegensatz zwischen dem flämischen Roman und dem deutschen. Gewiß lassen sich einzelne gemeinsame stoffliche Grundlagen anführen: man mag vom “rauschenden Wogenschlag des Meeres” sprechen, vom “Kampf gegen die Naturgewalten”, von der “Dramatik einer bewegten” - allerdings nur auf sehr kurzen Strecken! - “gemeinsamen Geschichte”. Doch das ist mehr oder weniger an den Haaren herbeigezogen. Die Grundfesten, die Synthese von Mystik und Lebensfreude, der Aufstand gegen äußere und innere Feinde, der Freiheitsdrang und der Ruf nach Selbstbestimmung, die Verwurzelung im Väterglauben sind dem Holländer fremd und in seiner Literatur vergebens zu suchen. Die vom Urgrund her bedingte dynamische, barocke, kraftvolle Gestaltung des flämischen Romans fehlt dem holländischen, sie ist ihm wesensfremd.’Ga naar voetnoot128 Hermanowski glaubte also - in Fortsetzung aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg - fest an die Existenz einer ‘urflämischen Substanz’Ga naar voetnoot129, in der er allerdings anders als die Nationalsozialisten vor ihm, nachdem er zu Anfang vor allem die Religiosität hervorgehoben hatte, später sowohl Bodenständigkeit, Urgrund, Natur, Heimat, Kampfgeist und Romantik als auch Religiosität und mythische Frömmigkeit vereinte. Diese Substanz machte er zur Basis seines Übersetzungsprogramms.Ga naar voetnoot130 | |
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Entgegen der tatsächlichen Entwicklung, die sich damals in der niederländischen Literatur vollzog, stellte Hermanowski immer wieder den Inhalt über die Form, das ‘Was’ über das ‘Wie’. Dies prägte sein Übersetzungsprogramm und kennzeichnete seine literaturgeschichtlichen Darstellungen, in denen er u.a. Guido Gezelle als Autor von ‘Natur- und Heimatdichtung’Ga naar voetnoot131 präsentierte und die literarische Bewegung, die der große Priester-Dichter in Westflandern eingeleitet hatte, radikal gegenüber der des flämischen Achtzigers Pol de Mont stellte, obwohl doch gerade letzterer nicht nur bloß das französische l'art pour l'art ‘importiert’Ga naar voetnoot132 hatte, sondern auch, indem er sich der Form zuwandte, die Ideale Guido Gezelles auf ein europäisches Niveau zu bringen versucht hatte. Typisch war auch Hermanowskis Urteil über Van Nu en Straks. Diese Bewegung wurde nicht mit ihrem Kopf August Vermeylen identifiziert, sondern erwartungsgemäß mit dem, der der Bewegung tatsächlich ‘am fernsten’Ga naar voetnoot133 stand: Stijn Streuvels. Im Gegensatz zu Streuvels habe Vermeylen laut Hermanowski zwar ‘den Weg in die Welt gewiesen’Ga naar voetnoot134, ansonsten sei er aber für einen flämischen Autor zu rational geblieben. Oder anders gesagt: Sein Werk atme zuviel ‘nordniederländischen’Ga naar voetnoot135 Geist und sei zu sehr nach Westen orientiert.Ga naar voetnoot136 Abgelehnt wurde auch Herman Teirlinck, eine weitere Größe der niederländischen Literatur. Er hatte in den Augen Hermanowskis das Erbe Vermeylens angetreten, ohne dessen ‘Niveau und Bedeutung’Ga naar voetnoot137 zu erreichen. Zu Unrecht trage er den Namen ‘“Proteus” der niederländischen Literatur’Ga naar voetnoot138, denn seine | |
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‘raffiniert[e]’Ga naar voetnoot139 Prosa sei ‘überladen und...unzureichend’Ga naar voetnoot140, und ihr fehle ‘die Einheit von Gefühl und Stil’Ga naar voetnoot141. Bei Gerard Walschap zögerte Hermanowski bezeichnenderweise. Dieser Autor, den er später wegen seiner Abwendung von der Kirche verwerfen würde, war schließlich der Autor der Heiligengeschichte Schwester Virgilia ([1951], ndl. Zuster Virgilia, 1951) und vom ‘Meisterwerk’Ga naar voetnoot142 Jan Houtekiet und nicht zuletzt auch der Mitbegründer des sogenannten flämischen Realismus, den Hermanowski mit dem Werk von André Demedts, Marcel Matthijs und Fred(erik) Germonprez (o1914) sehr erfolgreich im deutschen Sprachraum bekannt machen würde. Autoren wie Hubert Lampo oder revolutionäre flämische Fünfziger wie Hugo Claus und Louis Paul Boon (1912-1979), die die Wende in der Literatur in Flandern nach dem Weltkrieg einleiteten, fanden bei Hermanowski keine Gnade. Sie waren für ihn lediglich Zyniker, ‘Realisten der banalen Wirklichkeit’Ga naar voetnoot143, bewußte ‘Schwarzseher und Schwarzmaler’Ga naar voetnoot144 und Beobachter der ‘Verdorbenheit der Welt’Ga naar voetnoot145, die allzu bereit seien, in die ‘letzte Tiefe des Nichts hinabzusteigen’Ga naar voetnoot146. Wie besonders die letzten Zitate zeigen, blieb die moralische, christliche Komponente, Hermanowskis Forderung nach sittlicher, religiös orientierter Literatur, immer wesentlich für sein Programm. Und nicht nur dafür. Als einer der wichtigsten Mitarbeiter der katholischen Zeitschrift Begegnung von Wilhelm Peuler hat sich Hermanowski in gut 20 Jahren - semper idem - zu diesem Thema geäußert. Sogar nachdem der Vatikan den Index praktisch schon abgeschafft hatte, meinte er, die deutsche Literatur vor Schmutz und Hohlköpfigkeit bewahren zu müssen und zu können, obwohl es zu dem Zeitpunkt wohl kaum noch sinnvoll war, die Bibliotheken auszumisten.Ga naar voetnoot147 Hermanowski übersetzte also das Werk von Albe (1902-1973), F.R. Boschvogel(o1902), Walter Breedveld (o1901), Johan Daisne, André Demedts, Valére Depauw, Roger Fiew (1922-1960), Robert Franquinet (1915-1979), Frederik Germonprez, Frank Gysen(o1920), Emiel van Hemeldonck, Bernard Kemp (1926-1980), Paul Lebeau (1908-1982), Cor Ria Leeman (o1919), Raf van der Linde (o1924), Maria Rosseels (o1916), Ward Ruyslinck (o1929), Anton van | |
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de Velde (1895-1983), um nur die wichtigsten Autoren zu nennen, die er bis 1965 im deutschen Sprachraum bekannt gemacht hat, weil ihr Werk seinem Ideal von der Literatur als der ‘moralischen Anstalt’ (Schiller) entsprach. Auch wenn man berücksichtigt, daß Autoren wie Daisne, Ruyslinck und Rosseels und nicht zuletzt auch Kemp auf ihre Art tatsächlich modern waren, blieb das Übersetzungsprogramm von Hermanowski konservativ. Die wirklich progressiven, zumeist auch ideologisch andersdenkenden, modernen Autoren aus Flandern blieben einfach auf der Strecke. Dennoch hat Hermanowski wichtige Arbeit geleistet. Schließlich ist es ihm mit Hilfe religiös orientierter Verlage und Büchervereine wie der Bonner Buchgemeinde (später Bibliotheca Christiana) oder des Verlags Bachem in Köln gelungen, die niederländischsprachige Literatur aus Flandern im deutschen Sprachraum auf einmalig breiter Basis bekannt zu machen. Nachdem diese Basis gelegt war - dies war entsprechend seinem sogenannten 20-Jahresplan ca. 1964 geschehen -,Ga naar voetnoot148 erweiterte Hermanowski sein Programm mit Übersetzungen von Werk von Maurice Gilliams (1900-1982), Ivo Michiels (o1923) und Paul de Wispelaere (o1928). Eine richtige Wende war dies aber nicht. Hermanowski war im Falle der eben genannten Autoren zwar bereit, auf den detaillierten Nachweis der ‘Verwurzelung [...] in der flämischen Tradition’Ga naar voetnoot149 oder gar auf seine Forderung nach christlicher Lebenshaltung, dem Kern seiner flämischen Substanz, zu verzichten. Aber das Herz des deutschen Übersetzers schlug weiterhin für die Autoren, die er in seiner ersten Phase gefördert hatte. Obwohl Hermanowski in seiner Arbeit zur modernen Literatur in Flandern Die Säulen der modernen flämischen Prosa aus dem Jahr 1969 mehr denn je die reine Dichtung betonte und er in diesem Sinne z.B. bei Elias, oder das Gefecht mit den Nachtigallen (1964, ndl. Elias of Het gevecht met de nachtegalen, 1936) vom Individualisten Gilliams über das ‘literarisch stärkste Buch, das die Moderne Flämische Literatur bis heute überhaupt hervorgebracht hat’Ga naar voetnoot150, sprach und er bei Ivo Michiels dessen ‘ureigene [...] unnachahmbar[e]’Ga naar voetnoot151 Handschrift lobte, blieb es bei vereinzelten | |
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Übersetzungen von Werk von Gilliams, De Wispelaere und Michiels, während Autoren wie Hubert Lampo, Gerard Walschap, Louis Paul Boon und Hugo Claus weiter aus ideologischen Gründen abgelehnt wurden. Gleichzeitig versuchte Hermanowski, wo es nur ging, bei den sogenannten Säulen der modernen flämischen Prosa auf flämische Ursubstanz und vor allem christliche Orientierung hinzuweisen, auch wenn er dafür, wie im Falle von Marcel Matthijs, den Autoren die Worte sozusagen in den Mund legen mußte: ‘Ich muß zugeben, daß bisher kein einziger flämischer Rezensent Wer kann das begreifen so klar und erschöpfend beleuchtet hat, wie Sie [= Hermanowski, HVU] das in Ihrer Betrachtung taten, die Sie dem Brief an mich beilegten. Sie sind der erste, der bemerkt, daß dieser Roman aus einer integralen und unverhohlen christlichen Lebensanschauung heraus geschrieben wurde. [Hervorhebung von mir, HVU] Die These des Buches stellt wirklich die Tragik der Unschuld im Gegensatz zu der gegenwärtig dekadenten, sittlich-verflachten Welt dar. Es ist in der Tat die Göttliche Vorsehung, die die beiden reichbegabten Kinder zu sich nimmt, um sie dem Niedergang zu entreißen.’Ga naar voetnoot152 Auch Ende der sechziger Jahre war Hermanowski also nur sehr begrenzt bereit, seine Forderung nach ‘flämischer Substanz’ im vollen Sinne des Wortes auf eine mehr allgemeine Ablehnung ‘uncharakteristischer Zivilisations-Allerwelts-literatur’Ga naar voetnoot153 zu beschränken. Im Prinzip war dies nicht weiter schlimm, und jedem anderen Übersetzer hätte man dies, bei gleichem Einsatz für die Literatur aus Flandern, wohl verziehen, aber Hermanowski prätendierte zugleich immer wieder, die ganze Literatur aus Flandern zu präsentieren und vermittelte den Eindruck, daß er den Markt der niederländischsprachigen Literatur im deutschen Sprachraum beherrsche. Obwohl in Wirklichkeit, wie Abbildung 5 zeigt, das Monopol Hermanowskis durchaus begrenzt war - im Grunde genommen umfaßte sein flämisches Programm nur 12% der gesamten in der Periode 1945-1969 aus dem Niederländischen übersetzten und im deutschen Sprachraum | |
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Abb. 5 Niederländische Literatur im deutschen Sprachraum 1945-1990
verlegten kreativen Prosa und Poesie und nur 30% der aus dem Niederländischen übertragenen Prosa aus Flandern -Ga naar voetnoot154, entstand schon bald in Flandern, wo man schon seit den dreißiger Jahren auf eine Ablösung des traditionellen Bildes der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern im deutschen Sprachraum wartete, der Eindruck, daß nur durch einen radikalen Sturz Hermanowskis vermieden werden konnte, daß das alte Bild der flämischen Literatur im deutschen Sprachraum auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin bestimmend blieb. Hermanowski erhielt Anfang der sechziger Jahre den Belgischen Staatspreis für Übersetzung, aber zu dem Zeitpunkt war die Kritik an seiner Förderung der niederländischen Literatur in der Bundesrepublik bereits nicht mehr zu übersehen. Das Ganze entwickelte sich einer in der Geschichte der Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum ungekannten Polemik, die mehrere Aktenordner füllt und die kontinuierlich angeheizt wurde, nicht zuletzt weil Hermanowski nach dem Motto ‘jedem der Übersetzer, den er verdient’ sich teilweise aus Trotz gegenüber den beleidigenden Reaktionen aus Flandern konsequenter denn | |
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je weigerte, ideologisch andersdenkende, d.h. antiklerikal eingestellte Autoren zu übersetzen.Ga naar voetnoot155 Schon bald ging es bei der Diskussion, und dies war wirklich nicht nur in der Person Hermanowskis begründet, nicht mehr um Literatur, sondern um Politik und Ideologie. Die Spannung zwischen links und rechts, zwischen Katholiken und Freidenkenden, die die literarische Landschaft in Flandern in den fünfziger und sechziger Jahren kennzeichnete, schien sich voll an der Person Hermanowskis zu entladen.Ga naar voetnoot156 Bereits 1953 wies der spätere Leiter der Belgischen Behörde zur Förderung der Übersetzung niederländischer Literatur im Ausland, Karel Jonckheere, dessen Abteilung sich in Deutschland schon bald in einer (wegen des Erfolges von Hermanowski höchst unangenehmen) Konkurrenzsituation mit dem flämischen Lektorat von Hermanowski befand, als Reaktion auf Hermanowskis Feststellung, daß Conscience in Deutschland nunmehr vor allem von der Jugend gelesen wurde, darauf hin, daß dies wohl an erster Stelle auf die ‘vechtersmentaliteit van de over-Rijnse Jugend’Ga naar voetnoot157 zurückgehe; und im gleichen Jahr erschien von Hubert Lampo in De Volksgazet ein Beitrag mit dem Titel ‘Und damit basta, der Führer hat's gesagt’Ga naar voetnoot158. Damit meinte dieser von Hermanowski boykottierte Autor natürlich den Übersetzer. Eine solche Beschimpfung Hermanowskis konnte kaum noch von Nico Rost übertroffen werden, der seine tiefe ‘antipathie tegen de nazaten van Jozef Goebbels’Ga naar voetnoot159 zum Ausdruck brachte. Hermanowski hielt seinerseits mit Antworten nicht zurück. Er nannte Jonckheere den ‘rode literatuurpaus’Ga naar voetnoot160, verglich die kulturpolitischen Zustände in Belgien mit der Ehe zwischen Kultur- und Parteipolitik im Dritten Reich und meinte sogar, daß die Belgier es um 1960 noch | |
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schlimmer zu ‘verduren’Ga naar voetnoot161 hätten als die Deutschen vor dem Zweiten Weltkrieg. Ferner nutzte Hermanowski jede Gelegenheit, um die Auswahl seiner übersetzten Werke zu legitimieren. Wohl nicht zufällig publizierte 1962, nachdem Hermanowski den Belgischen Kronenorden erhalten hatte, die Zeitschrift Begegnung folgende Gratulation: ‘WIR GRATULIEREN! Auch Hermanowskis Gegner gaben keine Ruhe. Dem stets schwelenden Zeitungskrieg wurde immer wieder neue Nahrung verschafft, und schließlich war es doch Hermanowski, der zunehmend in Bedrängnis geriet. Das Ende zeichnete sich schon Anfang der sechziger Jahre bei einem offenen Konflikt zwischen Hermanowski und der Internationalen Literatur- und Theateragentur ILITA ab, die einen Teil der ‘anderen’, ‘freidenkenden’, ‘modernen’ Autoren vertrat. Die ILITA hatte nämlich am 15. Dezember 1961 allen flämischen Autoren ein Manifest zukommen lassen, in dem sie die Autoren bat, sich klar für eine Vertretung ihrer Werke durch die Agentur ILITA, durch die inzwischen errichtete niederländische Stiftung zur Förderung der Übersetzung niederländischer Literatur oder durch das sogenannte ‘Flämische Lektorat’ von Georg Hermanowski zu entscheiden. Damit hatte sie das erst seit 1959 bestehende Gentleman Agreement mit Georg Hermanowski gekündigt.Ga naar voetnoot163 Der Streit wurde offen in den Medien ausgetragen und erst 1965 durch einen Vergleich, zu dem die Kulturabteilung der Belgischen Botschaft in der Person von A. de Buck wesentlich beigetragen hat, | |
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beigelegt. Hermanowski hat eingelenkt - sein Übersetzungsprogramm belegt es -, aber zu spät. Kurze Zeit später kam es diesmal nicht wegen eines Kampfes um Marktanteile, sondern wegen Hermanowskis wiederholter Stellungnahmen zum belgischen ‘Namensstreit’Ga naar voetnoot164 - wie er es nannte - zum Schlußakkord. Von Anfang an hatte Hermanowski, wie gesagt, die Auffassung vertreten, daß es zwar eine niederländische Sprache gebe, aber damit noch nicht eine Kultur und eine Literatur. In diesem Sinne lehnte er alle Integrationsversuche ab, die, wie er selbst darlegte, von drei verschiedenen Gruppen betrieben wurden: von einer holländischen, die sich ‘an den weltweiten Erfolgen der flämischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg’Ga naar voetnoot165 beteiligen wolle; einer zweiten, die, wie erwartet, seiner Meinung nach von der sich ‘sehr stark fühlenden Clique linksgerichteter flämischer Autoren, die bisher im Ausland nirgends Fuß fassen konnten’Ga naar voetnoot166, bestimmt werde, und schließlich von einer Gruppe mit Flamen, die hofften, daß sich ‘die “Kultur 18 Millionen niederländisch-sprechender Menschen”’Ga naar voetnoot167 international leichter durchsetzen ließe als die von den zahlenmäßig geringeren Flamen. Was Hermanowski befürchtete, wenn eine dieser Gruppen siegen würde, war klar: den Verlust an Substanz.Ga naar voetnoot168 1966 versuchte Hermanowski deshalb, mit einem Artikel unter dem Titel Sprachverwirrung die Problematik endgültig in seinem Sinne zu klären. Er schrieb: ‘Nicht zu Unrecht wird sowohl im deutschen Sprachgebiet als auch im Ausland das Impressum deutschsprachiger Buchausgaben “Übersetzt aus dem Flämischen”, “Übersetzt aus dem Holländischen” immer wieder beanstandet. Die westlichen Staaten erwarten in diesem Impressum eine Sprachbezeichnung. Nun gibt es aber weder eine flämische noch eine holländische Sprache, flämisch wie holländisch sind Dialektbezeichnungen des Niederländischen. Man argumentiert: Wie ein amerikanischer Roman nicht aus dem Amerikanischen - sondern aus dem Englischen - übersetzt ist, ist ein holländischer Roman nicht aus dem Holländischen - sondern aus dem Niederländischen - übersetzt. | |
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flämisch-niederländisch; und dieses unterscheidet sich vom ABN genauso wie etwa das Afrikaaans, das ebenfalls eine Sprachform des Niederländischen ist. [...] Jeder Verleger und Buchhändler kennt die gewaltigen Unterschiede zwischen der flämischen und holländischen Literatur; jeder Buchhändler weiß, daä die Leserkreise dieser beiden Literaturen sich kaum überschneiden. [...] Dieser Beitrag Hermanowskis rief endgültig und zu Recht eine heftige Reaktion in Flandern und zum ersten Mal auch in den Niederlanden hervor. 25 Professoren der niederländischen Sprach- und Literaturwissenschaft publizierten in der Zeitschrift Leuvense Bijdragen (1896-) eine Klarstellung, in der sie die unhaltbare Behauptung Hermanowskis, daß das Niederländische in Flandern sich wie das Afrikaans von dem in den Niederlanden gesprochenen Niederländischen unterscheide, richtigstellten.Ga naar voetnoot170 Es wurde hervorgehoben, daß die niederländische Sprache eine selbständige germanische Sprache sei, und darauf hingewiesen, daß die Literatur in niederländischer Sprache niederländische Literatur heiße, wobei man allerdings in der Diskussion ‘über die Einheit oder Zweigliedrigkeit der niederländischen Literatur’Ga naar voetnoot171 ‘keine Partei’Ga naar voetnoot172 ergreifen wollte. Die Unterzeichner der Klarstellung wollten ihren Beitrag als ‘Aufklärung über die sprachliche Lage im niederländischen Sprachraum’Ga naar voetnoot173 verstanden wissen und den deutschen Instanzen oder Verlegern keinen Sprachgebrauch vorschreiben, wenn nur ‘der Begriff der sprachlichen | |
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Einheit’Ga naar voetnoot174 nicht verlorengehe und wenn der Begriff flämische oder holländische Literatur nicht zur ‘Bezeichnung der gesamten niederländischen Literatur verwendet’Ga naar voetnoot175 werde. Der ‘einzig-mögliche Oberbegriff’Ga naar voetnoot176 laute niederländische Literatur. Was Hermanowskis Sprachverständnis anbelangte, war die Klarstellung wirklich vonnöten, gefruchtet hat sie aber nicht. Hermanowski zeigte sich (erwartungsgemäß) unbelehrbar.Ga naar voetnoot177 Noch 1968 trieb er die Sache weiter auf die Spitze und sprach von einer großniederländischen Bewegung, ‘kaum verständlich für uns, die wir eine ‘großdeutsche Bewegung gerade erst hinter dem Rücken haben!’Ga naar voetnoot178 Unbefriedigend war das Resultat der ‘Klarstellung’ auch sonst. Obwohl den wichtigsten deutschen Verlegern das Manifest zugesandt worden war, blieb die Unsicherheit bezüglich der Bezeichnung der Literatur aus den Niederlanden und Flandern bestehen.Ga naar voetnoot179 Diesbezüglich war die ‘Klarstellung’ wieder doch nicht klar genug gewesen. Schließlich, darauf hat Hugo Dyserinck Ende der sechziger Jahre hingewiesen, wurde auf der einen Seite zwar klargestellt, daß die Bezeichnung der Literatur aus den Niederlanden und Flandern niederländische Literatur heißen mußte, auf der anderen Seite die Wahl der Bezeichnung für die Literatur aus den Niederlanden und Flandern weiterhin den deutschen Verlegern überlassen.Ga naar voetnoot180 Somit ließ man die deutschen Verleger und Kritiker mit dem Problem alleine, daß unabhängig von der Tatsache, daß im deutschen Sprachraum die Bezeichnungen ‘flämisch’ für die Kultur aus Flandern und ‘holländisch’ für die Kultur aus den Niederlanden gängig waren, der Begriff niederländisch im deutschen Sprachraum zumeist nur mit den Niederlanden assoziiert wurde. | |
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Eine deutlichere Aussage wäre also vonnöten gewesen, war aber wohl nicht möglich, weil man in den Niederlanden und Flandern 14 Jahre vor der Unterzeichnung des Vertrages der Sprachgemeinschaft noch nicht weit genug war, um über die Einheit der Literatur aus den Niederlanden und Flandern zu entscheiden. Sogar heute ist noch längst nicht alles klar und zögert man nach wie vor, einfach den Begriff ‘niederländische Literatur’ als Bezeichnung für die Literatur aus den Niederlanden und Flandern durchzusetzen. Obwohl inzwischen allgemein anerkannt ist, daß es trotz unterschiedlicher Kulturen nur eine niederländische Sprache gibt und daß es diese gemeinsame Sprache ist, die die Literatur aus den Niederlanden und Flandern miteinander verbindet, neigt man in den Niederlanden und Flandern noch immer dazu, in Analogie zu den Begriffen englischsprachiger und deutschsprachiger Literatur statt von niederländischer von niederländischsprachiger Literatur zu reden.Ga naar voetnoot181 Wenn man die ganze teilweise wirklich beschämende Polemik im Zusammenhang mit der ‘Klarstellung’ und den darauffolgenden Publikationen von Hugo Dyserinck noch einmal Revue passieren läßt, muß man zum Schluß kommen, daß mit der ‘Klarstellung’ mehr als nur die ‘Sprachverwirrung’ geklärt werden sollte. An erster Stelle sollte endgültig ein Strich unter die Periode Hermanowski gezogen werden. Und da setzte man sich durch. Hermanowski gab auf, und mit ihm verschwand auch (s)ein flämisches Programm vom deutschen Buchmarkt. | |
4.2.3 Auf der Suche nach neuen WegenQuantitativ gesehen, ging das Ende der Ära Hermanowski mit einem schweren Rückschlag für die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum, insbesondere für die Literatur aus Flandern, einher. Während in der Periode 1960-1969 noch 123 Titel flämischer Autoren in deutscher Übersetzung (Erst- oder Wiederauflagen) publiziert wurden, waren es in den siebziger Jahren nur noch 52 (für die Niederlande war das Verhältnis 232 zu 151). Die Anzahl der Titel verringerte sich in den siebziger Jahren also um fast die Hälfte. Mit dem Ausscheiden von Hermanowski hatte diese Entwicklung allerdings, dies wurde in früheren Untersuchungen nicht ausreichend herausgestellt, nur bedingt etwas zu tun. Der Erfolg der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum war, wie Abbildung 5 zeigt, schon seit Mitte der sechziger Jahre rückläufig. Schon damals gingen die Verkaufszahlen für das Werk von Timmermans, Claes, Streu- | |
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vels, De Vries und De Hartog zurück. Ursachen dafür waren die allgemein sinkende Konjunktur auf dem deutschsprachigen Buchmarkt durch die Konkurrenz von Fernsehen und Zeitschriften, der schwindende Einfluß von Buchgemeinschaften (die den Erfolg Hermanowskis wesentlich mit bestimmt hatten) und das rückläufige Interesse des breiten Lesepublikums für erzählende Unterhaltungsliteratur.Ga naar voetnoot182 Auch wenn Hermanowski es nicht gewollt hätte, die eingreifende Wandlung des Buchmarktes ab Mitte der sechziger Jahre und der ‘Tod der Literatur’ hätten ihn gegen Ende der sechziger Jahre wahrscheinlich ohnehin gezwungen, die christlich realistische Volksliteratur aus seinem Programm abzustoßen und auf andere Literatur umzusteigen. Dabei hätte er genau zu dem Zeitpunkt, als die ausländische Literatur aus den Programmen der großen Verlage verschwand, als man sich im deutschen Sprachraum aus ökonomischen (Übersetzungshonorare sprengten den Rahmen der knappen Kalkulation) sowie ideologischen Gründen (Ideologieverdacht der Linken gegen Belletristik) immer mehr, wie K.H. Bohrer 1973 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb, dem ‘Zustand eines literarischen Provinzialismus’ zu nähern schien, neue Verlage und neue Käuferschichten ansprechen müssen.Ga naar voetnoot183 Für einen neuen Förderer der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum waren also große Probleme zu lösen. Dennoch hat sich ein Nachfolger für Hermanowski gefunden. Es war Jürgen Hillner. Schon das Erscheinen von Hermanowskis Übertragung von Michiels' Buch Alpha (1965, ndl. Het boek Alfa, 1963) wurde von ihm kommentiert. Lobend erwähnte Hillner damals den (scheinbaren) ‘Sinneswandel’Ga naar voetnoot184 Hermanowskis, der zur Übertragung des ersten Romans von Michiels' Alpha-Zyklus geführt hatte. Darüber hinaus zeigte er in seinem Beitrag, daß die ‘literarisch wichtigste Arbeit’Ga naar voetnoot185 Hermanowskis in der Bundesrepublik guten Anklang gefunden hatte. Hermanowski habe mit Michiels offensichtlich ‘für die niederländische Literatur in Deutschland eine Tür aufgestoßen’Ga naar voetnoot186. Hillner hoffte dann | |
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auch, daß weitere Titel dieses ‘belgischen’Ga naar voetnoot187 Autors folgen würden. Ferner betonte er, daß die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum zu Unrecht ein regionales und provinziales Image habe. Dieses sollte durch eine massive Verbreitung der niederländischen Literatur, und dies hieß bei Hillner sowohl der Literatur aus den Niederlanden als auch der aus Flandern, verändert werden.Ga naar voetnoot188 Gleichzeitig sollten nicht nur kleine, sondern auch große deutsche Verlage für die niederländische Literatur gewonnen und so innerhalb einer möglichst kurzen Zeitspanne die Literatur aus den Niederlanden und Flandern ‘massaal’Ga naar voetnoot189 auf den deutschsprachigen literarischen Markt gebracht werden. Dafür war natürlich auch eine ‘stelselmatige publiciteit [...] van meer dan normale omvang’Ga naar voetnoot190 vonnöten, die Hillner u.a. dadurch zu erreichen hoffte, daß er die niederländische Literatur bei deutschen Taschenbuchverlagen unterbrachte, so wie er es mit seiner Anthologie Niederländer erzählen (1969) getan hat. Obwohl letzteres eher Wunsch als Wirklichkeit blieb - neben Niederländer erzählen konnte Hillner keine weiteren Taschenbuchausgaben auf dem deutschsprachigen literarischen Markt unterbringen, und gerade diese Anthologie verkaufte sich schlecht -Ga naar voetnoot191, war das Resultat des Programms von Hillner beachtlich.Ga naar voetnoot192 Allein von 1967 bis 1969 erschienen bereits 14 Übersetzungen von Jürgen Hillner im deutschen Sprachraum.Ga naar voetnoot193 Darunter bedeutende Titel wie der Erzählband von Jacques Hamelink (o1939) Horror vacui (1967, ndl. 1966), die Erzählungen von Andreas Burnier (o1931) Die Schrecken des Nordens (1968, ndl. De verschrikkingen van het noorden, 1967) und von Willem Frederik Hermans (o1921) der Roman Die Tränen der Akazien (1968, ndl. De tranen der acacia's, 1949). Weiter präsentierte Hillner 1968 Hugo Raes (o1929), 1969 Heere Heeresma (o1932), Jan Wolkers (o1925), Jef Geeraerts (o1930), 1970 Louis Paul Boon und Gerard Reve (o1923). 1977 folgte | |
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schließlich noch Mark Insingel (o1935) mit Spiegelungen (ndl. Spiegelingen), einem experimentellen Roman aus dem Jahre 1968. Parallel zu den Übersetzungen von Hillner erschienen damals auch Arbeiten des Nonsens-Dichters und Neu-Realisten Cees Buddingh' (1918-1985), des mit den Experimentellen verwandten, späteren Parlando-Dichters Paul Snoek (1933-1981), vom Vertreter des Magischen Realismus Hubert Lampo und von Gerrit Kouwenaar, Lucebert sowie Simon Vinkenoog (o1928). Ferner wurden typische Anthologien und Sammlungen wie In Flandern blinkt der Himmel blau (1966) von Ferdinand Wippermann, Gedichte aus Flandern (1970) und Zu Gottes stiller Flut (1972) von Georg Hermanowski, Flämische Erzählungen (1967) von Mira van Dinger-Hinterkausen und Flämische Lyrik (1970) von Paul Wimmer durch erneuernde Anthologien wie Junge niederländische Lyrik (1965) von Ludwig Kunz, Niederländische Erzähler der Gegenwart (1966) von Pieter Grashoff, Lied zwischen den Zähnen (1972) von Heinrich Schneeweiß und schließlich natürlich durch das bereits erwähnte Niederländer erzählen von Jürgen Hillner abgelöst. Aber die Kontinuität und die Homogenität, die das Programm von Hermanowski gekennzeichnet hatten, wurden nicht erreicht. Die Titel von Hillner machten nur 6,5% der gesamten ßbersetzungen aus dem Niederländischen von kreativer Prosa und Poesie zwischen 1967 und 1977 aus. Das Bild blieb, im ganzen genommen, also noch eher traditionell ausgerichtet. Darüber hinaus waren die neuen Titel, und dies galt nicht nur für die, die von Hillner auf den Markt gebracht wurden, nicht gerade erfolgreich. Von den meisten eben genannten Autoren wurde nur ein Werk übersetzt, und eine zweite Auflage gab es nur in den seltensten Fällen. Von W.F. Hermans' Tränen der Akazien wurden sogar nur knapp 500 Exemplare verkauft, und nicht viel besser erging es Jan Wolkers' Roman Eine Rose von Fleisch ([1969], ndl. Een roos van vlees, 1963), der nur 700mal über den Ladentisch ging. Dagegen war Eine Straße in Ter-Muren (1970, ndl. De Kapellekensbaan, 1953) vom damals nobelpreisverdächtigen Louis Paul Boon geradezu ein Bestseller, denn von diesem Roman konnten 1200 Exemplare abgesetzt werden.Ga naar voetnoot194 Der geringe Verkaufserfolg der neuen Übersetzungen und die Veränderungen auf dem deutschsprachigen literarischen Markt haben schließlich dazu geführt, daß viele bereits ‘kontraktueel’Ga naar voetnoot195 festgelegte Übersetzungen wie Gedichte von Lucebert, weitere Erzählungen von Hamelink | |
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und Hermans, Grotesken von Van Ostaijen und neue Romane von Wolkers und Reve nicht mehr oder erst viel später realisiert werden konnten.Ga naar voetnoot196 Der anfängliche Fehlschlag der von Hillner eingeleiteten Wende war allerdings nicht nur darauf zurückzuführen. Hillners Versuch, das traditionelle Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum zu erneuern und Felix Timmermans, Theun und Anne de Vries (1904-1964), Toon Kortooms (o1916), Jan de Hartog und Ernest Claes von der Spitze der meist verkauften Autoren im deutschen Sprachraum in den siebziger Jahren zu verdrängen, scheiterte auch an der relativen Einseitigkeit seines Programms. Schon bald wurde das Programm von Hillner, der mit einer Übersetzung von De prijsstier (1967, dt. Der Preisstier, 1967) von Esteban López (o1931) beim Melzer Verlag, der auch Jan Cremer (o1940) herausbrachte, debütierte, nämlich mit ‘der erotischen Literatur aus den Niederlanden und Flandern’ identifiziert. ‘Daß ausgerechnet der Melzer Verlag sich auf Niederländisches wirft [...], hat vermutlich [...] mit jenem oben zitierten besonderen Saft [= dem Sperma, HVU] zu tun, der in diesen Büchern reichlich fließt und dem Melzer zwischen der Geschichte der O und dem Tagebuch eines Päderasten (Asbestos Diary) seine besondere Aufmerksamkeit widmet. Spezialisierung tut not, auch auf dem Buchmarkt’Ga naar voetnoot197. Dieser Eindruck der Spezialisierung auf erotische Literatur hat die nachhaltige Rezeption der anderen von Hillner auf den deutschsprachigen Buchmarkt gebrachten Werke negativ beeinflußt. In den vielen Rezensionen zu den Übersetzungen von Hillner stand nicht das literarische Können des jeweiligen Autors, sondern zumeist der enttabuisierende Charakter (insbesondere im Bereich der Sexualität) des besprochenen Werkes im Vordergrund. So schrieb Der Spiegel 1968 bezüglich Hugo Raes: ‘Der Flame Hugo Raes, 39, der wie sein Held an einer Mittelschule unterrichtet, verlängert Melzers Galerie der jungen Niederländer (Cremer, Lopez, Tuynman) um ein forsches Fabulier-Talent und das Erotik-Repertoire der Porno-Provos um einige Tête-à-Tätlichkeiten neuen Stils’Ga naar voetnoot198. Es blieb unklar, warum das Werk von Raes, wie Hillner geschrieben hatte, die ‘wichtigste Publikation der modernen niederländischen Litera- | |
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tur’Ga naar voetnoot199 des Jahres 1966 gewesen war. Es war zwar unbestritten, daß, wie Helmut Rösner in Bücherei und Bildung feststellte, u.a. mit dem Roman von Raes die niederländische Literatur aus ihrem ‘Mauerblümchendasein’Ga naar voetnoot200 herausgetreten war, aber dieses Urteil gründete sich vor allem auf den provozierenden Charakter: ‘Es publizieren in diesem [= dem niederländischen, HVU] Sprachraum mittlerweile Autoren, die von den uneingeschränkten Möglichkeiten zur Extroversion [sic] einen radikaleren Gebrauch machen (Kornelius van het Reve zum Beispiel); auch solche, die auf eine stärker imaginative Literatur aus sind (wie etwa Jacques Hamelink). Raes ist Vertreter einer neuen Spontaneität, eines burschikos zur Schau getragenen moralischen non-commitment, das sich dem emotionalen Auf und Ab des bürgerlichen Krisenbewußtseins mit vorsätzlicher Komik, mit provokativer Anti-Ernsthaftigkeit entzieht.’Ga naar voetnoot201 So wie man sich bei Hugo Raes weitgehend auf eine Anerkennung der ‘Fülle’Ga naar voetnoot202 seines ‘drastischen, vergnüglichen, farbenfrohen Breughelismus’Ga naar voetnoot203 beschränkte, wurde bei Andreas Burniers Erzählungen Die Schrecken des Nordens unmißverständlich betont, daß das Werk nur ‘wegen seines Gegenstandes’Ga naar voetnoot204 von Bedeutung sei und daß der Band diese Bedeutung ‘in dem Augenblick [verlieren würde], da die Liebe zwischen Frauen als eine von vielen Formen der erotischen Beziehung gesellschaftlich akzeptiert würde’Ga naar voetnoot205. Ein vergleichbares Schicksal wurde auch Jef Geeraerts zuteil. Obwohl bei der Rezeption von Geeraerts' erstem Roman Scharlatan auf heißer Erde (1969, ndl. Ik ben maar een neger, 1962 und ndl. Het verhaal van Matsombo, 1966) und von Im Zeichen des Hengstes (1971, ndl. Gangreen I, 1968) durchaus das erzählerische Können herausgestellt wurde, drehte sich die Diskussion im deutschen Sprachraum weitgehend um das ‘Erotikon eines Kolonialisten’Ga naar voetnoot206. | |
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Etwas besser erging es Gerard Reve. Er behauptete sich mit Erfolg gegen den Ruf des Merlin-Verlages, vorwiegend ‘muntere Pornographie, zu der Moralhütern und Zensurwächtern meist mehr einfällt als Literatur-kritikern’Ga naar voetnoot207, zu publizieren. Reves vielschichtiger Roman Näher zu Dir (1970, ndl. Nader tot U, 1966) wurde vom Merlin Verlag als homosexueller Bekenntnisroman angepriesen, aber die deutschsprachige Kritik ließ bei diesem Roman, in dem Sexualität, Alkohol, Religiosität und Tod im Mittelpunkt stehen, keine Zweifel aufkommen. Das übersetzte Werk von Reve paßte offensichtlich nicht ins Programm des Merlin Verlages. Es handele sich vielmehr ‘unzweifelhaft um Dichtung’Ga naar voetnoot208. Auch Helmut Salzinger meinte: ‘der lesende Voyeur’Ga naar voetnoot209 würde ‘nicht auf seine Kosten kommen’Ga naar voetnoot210. Das Buch von Reve sei eben ‘keine literarische Tagesware’Ga naar voetnoot211, nicht das, was der Schutzumschlag suggeriere: ‘Ein Merlin-Buch’. ‘Weitgehend enttabuiert’Ga naar voetnoot212 entdeckte man im deutschen Sprachraum in Näher zu Dir nichts Skandalöses.Ga naar voetnoot213 Auch nicht in der körperlichen Vereinigung der Hauptperson mit Gott in der Gestalt eines Esels, die im Roman von Reve beschrieben wird und die in den Niederlanden einen Prozeß wegen Gotteslästerung nach sich gezogen hat. Der Spiegel sprach diesbezüglich von einem ‘Topos, dessen sich abendländische Künstler von der Antike bis zum Barock immer wieder bedient haben’Ga naar voetnoot214. Näher zu Dir wurde im deutschen Sprachraum also nicht als blasphemisch beurteilt, sondern im Gegenteil als tief religiöses Buch, das ‘aus einer hoffnungslos und wohl gar verzweifelt empfundenen Gottesferne’Ga naar voetnoot215 geschrieben sei. Die literarische Bedeutung von Gerard Reve wurde also durchaus erkannt und gewürdigt, aber der Erfolg blieb aus. Reve hatte einfach den verkehrten Verleger.Ga naar voetnoot216 | |
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Ein dritter Faktor, der dazu beigetragen hat, daß sich Hillners Programm in den siebziger Jahren nicht durchsetzen konnte, war die Tatsache, daß verschiedene seiner Übersetzungen recht spät kamen. Dies zeigt sich u.a. bei der Rezeption von Willem Frederik Hermans. Obwohl Peter W. Jansen einige Zweifel an den Übersetzungsqualitäten des ‘flinke[n], oft leider allzu flinke[n]’Ga naar voetnoot217 Jürgen Hillner anmeldete, beurteilte er Hermans' Roman Die Tränen der Akazien positiv. Er konnte dem Buch durchaus einen eigenen Wert abgewinnen, denn es rufe nicht nur Assoziationen an Kafka und Beckett wach, sondern nehme auch in ‘der Tradition der europäischen Literatur [...] einen eigenen Platz’Ga naar voetnoot218 ein. Ein Erfolg wurde das Werk, wie gesagt, dennoch nicht. Die Erklärung dafür lieferte 1969 Jürgen Manthey, der sich damals intensiv mit der Literatur aus den Niederlanden und Flandern beschäftigte. Nachdem auch er lobend von einem ‘holländischen Céline’Ga naar voetnoot219 gesprochen hatte, fügte er hinzu, daß das Buch als ein ‘Stück Kahlschlag-Nihilismus, das seine Stunde gehabt und seine Wirkung verpaßt’Ga naar voetnoot220 habe, zu spät übersetzt worden sei. Durchaus vergleichbar war auch die Kritik zu Jan Wolkers' Roman Eine Rose von Fleisch. Das Werk wurde wie das von Reve nicht als ‘handelsübliche[r] Sex-Roman’Ga naar voetnoot221 beurteilt: ‘Nicht die Rose der Lust - die Rose beginnender Verwesung’Ga naar voetnoot222, darin waren sich die Kritiker einig, war das Thema des Romans. Jochen Schmidt sprach sogar von einer ‘literarische[n] Entdeckung’Ga naar voetnoot223. Und Die Tat stellte fest: Wolkers sei kein ‘modischer Berufsrevolutionär.’Ga naar voetnoot224 Eine insgesamt positive Kritik also. Aber auch im Falle von Wolkers fand man, daß Eine Rose von Fleisch zu spät kam. Es war von einem ‘gediegenen’Ga naar voetnoot225, aber dennoch ‘etwas verspäteten Beitrag zur Gattung des psychologischen Romans in der Tradition der klassischen Moderne’Ga naar voetnoot226 die Rede. | |
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Endgültig zu spät kam der nicht von Hillner, sondern von Siegfried Mrotzek übersetzte Roman von Wolkers Türkische Früchte (1975, ndl. Turks fruit, 1969). Die ‘kaputte Love-Story’Ga naar voetnoot227, in der sich ‘kaum’Ga naar voetnoot228 Zitierfähiges finde, wurde zwar, wie zu seiner Zeit Im Zeichen des Hengstes von Jef Geeraerts, ein Verkaufserfolg, aber von der Kritik als typisches Produkt der Endsechziger in den Niederlanden, die ihren ‘(nach)pubertäre[n] Exhibitionismus [...] in neurotische[n] Selbstbespiegelung[en] und Pornographie’Ga naar voetnoot229 artikulierten, abgetan. Obwohl man auch darauf hinwies, daß hinter der ‘“Pornostalgie” aus Holland’Ga naar voetnoot230 mehr als ein Sexroman stecke, daß ‘der sexualprotzerische Tonfall lediglich [...] eine Maske’Ga naar voetnoot231 sei und daß sich hinter der Geschichte in Türkische Früchte auch ‘eine exakte, kalte Analyse von Spießertum und Kaputtheitsgrad unserer Gesellschaft, in der die Liebe eben nicht heil bleiben’Ga naar voetnoot232 könne, verberge, führte die Publikation der Türkischen Früchte nicht zu einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Werk von Wolkers, insbesondere mit seinen typischen Motiven Tod, Zerfall, Rache, Leiden und Einsamkeit.Ga naar voetnoot233 Im Gegenteil, gerade die Rezeption von Wolkers' Türkischen Früchten ist vielmehr ein sehr gutes Beispiel dafür, wie in den siebziger Jahren viele Werke aus der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum als ‘außerliterarische [...] Sensation’Ga naar voetnoot234 rezipiert wurden. Zusammen mit dem Interesse für die Themen - ‘Von Dauer sind eben doch nur die subtileren Reize’Ga naar voetnoot235 - verschwand deshalb gegen Ende der siebziger Jahre nicht nur das Interesse für die vorgestellten Autoren, | |
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sondern auf lange Zeit auch das Interesse für die niederländische Literatur als solche. Ein viertes nicht zu unterschätzendes Problem bei der Erneuerung des Bildes der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum in den siebziger Jahren war die Tatsache, daß man trotz der Beiträge von Hillner in überregionalen Zeitungen und der obligatorischen Einführungen und Nachworte in neuen Anthologien weitgehend den Kontakt zu den neuesten Entwicklungen in der niederländischen Literatur verloren hatte. Bei der Besprechung der Übersetzungen aus den späten sechziger und den siebziger Jahren fiel es vielen Rezensenten (und den Lesern wohl noch mehr) offensichtlich schwer, die publizierten Werke einzuordnen. Bezeichnend war in diesem Zusammenhang ebenso die Verwunderung von Kritikern wie Urs Jenny über die Tatsache, daß es die neue niederländische Literatur ‘gibt und daß sie beachtenswert ist’Ga naar voetnoot236, wie das Erstaunen über einen Satz im Klappentext zur Übersetzung von Willem Frederik Hermans, in dem der damals 47jährige Hermans als der ‘grand old man der modernen niederländischen Literatur’Ga naar voetnoot237 vorgestellt wurde. Mangels richtiger Hintergrundinformation schien es Jenny eher, daß Hermans ‘voreilig auf ein unbequem hohes Podest’Ga naar voetnoot238 gestellt würde. Einem Autor ist es interessanterweise gelungen, dieses Unwissen zu seinem Gunsten auszunutzen: Gerard Reve. Auf Anfrage ließ er seinem Verlag eine abenteuerliche, frei erfundene Vita zukommen, mit der er sich selbst zum ‘poète maudit’ machte. Diese Vita wurde vom Merlin Verlag als Klappentext abgedruckt und liegt u.a. folgendem Beitrag zugrunde: ‘Gesessen hat van het Reve auch, freilich nicht aus kriminellen Gründen wie Genet, sondern wegen militärischen Ungehorsams unter besonderen mit seinen Neigungen zusammenhängenden Umständen. Denn der junge Hauptmann, während der kriegerischen Auseinandersetzungen im damaligen Niederländisch-Indien in Herzenskonflikte wegen eines kriegsgefangenen javanischen Prinzen geraten, bekam zwölf Jahre Festung: er hatte den Geliebten entkommen lassen, und als dieser dann im eigenen Lager verdächtigt und zum Selbstmord gezwungen wurde, ihn heimlich bestattet. Zu diesem Zweck mußte er sich durch die feindlichen Linien schleichen. Gewissermaßen ein Antigone-Schicksal. Während der Gefangenschaft begann G.K. van het Reve zu schreiben. “Nihilistisch und sittenverderberisch”, hieß das literarische “Urteil” derer, die das Manuskript entdeckten. Doch der gewitzte Hinter-Gittern- Autor besaß eine Kopie, und mit dieser entkam er der Haft. In Belgien fand er Zuflucht in der Abtei “Fréres [sic] de la Peine”, wo ein ehemaliger Waffenbruder Abt geworden war.’Ga naar voetnoot239 | |
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Obwohl Reve gerade ein Jahr vor dem Erscheinen von Näher zu Dir in den Niederlanden den Staatspreis für Literatur erhalten hatte, wurde die romanreife, mythologisierende Vita von Reve von der deutschsprachigen Kritik nie entlarvt.Ga naar voetnoot240 Bezeichnend für die Situation im deutschen Sprachraum um 1970 war trotz der Ausführungen von Hermanowski und der ‘Klarstellung’- hier zeigt sich erneut, daß sowohl die Arbeit von Hermanowski als auch der Effekt der ‘Klarstellung’ nicht überschätzt werden darf - vor allem die fast totale Verwirrung bezüglich der Literatur aus Flandern. In den vielen Beiträgen zur ersten Ausgabe des Romans Eine Straße in Ter-Muren von Louis Paul Boon waren es nicht die von Hermanowski übersetzten Autoren, sondern weiterhin ‘Streuvels, Maeterlinck und Timmermans’Ga naar voetnoot241, die die Literatur aus Flandern repräsentierten. Mit ihren Namen verband man nach wie vor typisch flämische ‘erzählerische Behäbigkeit, heiteres Wohlergehen, Idylle, krause[n] und kräftige[n] Humor, Schaikweisheit, alles in allem eine gesicherte runde Kleinwelt’Ga naar voetnoot242. In manchen Fällen waren Autoren wie Van Ostaijen und Michiels zwar bekannt, aber dann stellte man, ohne zu zögern, auch Jacques Hamelink oder den ‘Holländer Hugo Raes aus Antwerpen’ daneben.Ga naar voetnoot243 Mit einem gewissen Erstaunen betonte man in den siebziger Jahren also, daß die ‘kleine’Ga naar voetnoot244, wie es in einer Formulierung 1977 hieß, ‘flämische Literatur der holländisch schreibenden belgischen Autoren’Ga naar voetnoot245 auch die ‘Bühne der Weltliteratur’Ga naar voetnoot246 betreten könne. Trotz Hermanowski und ‘Klarstellung’ hatte um 1970 das deutsche Bild der Literatur aus Flandern noch immer ‘weit mehr mit der Beliebtheit deutscher Weihnachtsfeiern als mit der Kenntnis flämischer Literatur zu tun’Ga naar voetnoot247 und wußte man nach wie vor noch kaum etwas über die Beziehungen zwischen der Literatur aus Flandern und der aus den Niederlanden. Sogar der Hanser Verlag publizierte den Roman von Louis | |
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Paul Boon mit dem Hinweis im Impressum, daß das Werk aus dem ‘Holländischen’ übertragen worden sei. Ein besonderes Phänomen aus den siebziger Jahren ist die Rezeption von Louis Paul Boon. Die fehlenden Kenntnisse und die fehlende Vertrauensbasis für die Literatur aus Flandern und den Niederlanden einschließlich der Negativwerbung durch Jürgen Hillner, der in den Augen der deutschsprachigen Kritik ‘manchmal tüchtig danebengegriffen’Ga naar voetnoot248 habe und Schriftsteller vorgestellt habe, die einem ‘nicht gerade den Mund wäßrig’Ga naar voetnoot249 gemacht hätten, standen in seinem Fall guten Rezensionen nicht im Wege. Obwohl seine Übersetzungen nie ein richtiger Kassenerfolg wurden, wurde er während der gesamten siebziger Jahre übersetzt, verlegt und positiv rezensiert. Herausgehoben wurde schon in den Kritiken zu Boons erster Übersetzung im deutschen Sprachraum, daß er sich in seinem ‘kunstvoll verfältelten Roman’Ga naar voetnoot250 nicht nur als ‘knorriger Humorist, Fabel-Erzähler und Satiriker’Ga naar voetnoot251 zeige, sondern zugleich auch die nötige Distanz besitze, um über das ‘Problembewußtsein des modernen Literaten [...] zu spotten’Ga naar voetnoot252. Neben formalen Qualitäten - insbesondere der ‘Parodie des sozialen Romans [...], der das Schreiben der Parodie des sozialen Romans parodiert’Ga naar voetnoot253, und dem Mosaikcharakter ‘des zeit- und gedankenverschränkten Ineinanders’Ga naar voetnoot254 - bewunderte man bei Boon besonders die Sprache, die als ‘Sprache unserer Tage: hart, herb, geradeheraus’Ga naar voetnoot255 erkannt wurde.Ga naar voetnoot256 In bezug auf Eine Straße in Ter-Muren wurde zwar die ‘Monotonie’Ga naar voetnoot257 bemängelt und wollte man nicht von einem ‘ganz große[n] Wurf’Ga naar voetnoot258 reden, aber dies waren wirklich Einzelfälle. Zumeist zeigte man sich in den siebziger Jahren eher vom Gegenteil überzeugt und hob man hervor, daß es sich bei den Werken von Boon um einen ‘geniale[n] Wurf’Ga naar voetnoot259 handle, daß | |
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die ‘anspruchsvolle literarische Konzeption’Ga naar voetnoot260 sehr wohl der literarischen Durchführung entspreche: ‘Widerspruchsvollstes wird hier vereint: Es ist, als hätte Marcel Proust aus dem Blickwinkel von James Joyce heraus geschrieben oder D.H. Lawrence mit der Feder von Zola. Aber auch Gogol und Doderer, Faulkner und Krieza, Vittorini und Lewis Caroll, Jean Paul und Henry Miller sind literarische Geschwister. Fazit: Kein Roman, sondern ein Ozean, ein Chaos, die besessene Schilderung der Zeit und des Zeitlosen, nackt und schonungslos, eine Berichterstattung, die keine Grenzen und keine Tabus anerkennt, die Durchleuchtung sozialer und politischer Strukturen, eine Reise vom Nihilismus zum Realismus - hin und zurück -, ein furchtbares und jauchzendes Buch voll tragischer Ironie, ein Zeugnis vom Menschen und seiner Erschütterung.’Ga naar voetnoot261 Bemerkenswert im Zusammenhang mit der Rezeption von Louis Paul Boon im deutschen Sprachraum war vor allem die Tatsache, daß trotz des sofortigen Rückzugs des Hanser Verlages nach dem ‘Mißerfolg’Ga naar voetnoot262 von 1970 das Werk von Boon immer auf dem deutschsprachigen literarischen Markt vertreten blieb. Eine wichtige Funktion hatten dabei die ehemaligen DDR-Verlage, die sich vor 1970 fast ausschließlich auf Theun de Vries konzentriert hatten und nun Boon als schonungslosen Darsteller der sich selbst zerstörenden kapitalistischen Gesellschaft entdeckt hatten: ‘Keine makabren Szenen können besser den verfaulenden, sterbenden Kapitalismus kennzeichnen’Ga naar voetnoot263, schrieb die Hauszeitschrift der Eichsfelder Bekleidungswerke bezüglich Menuett (1975, ndl. Menuet, 1955). Zwei Jahre danach, als der Nobelpreis für Louis Paul Boon wirklich greifbar schien, erschienen bei Volk und Welt Die Jesses-Mädchen (1977, ndl. De meisjes van Jesses, 1975), ein Roman, der ebenfalls als ‘Spiegelbild’Ga naar voetnoot264 der verdorbenen kapitalistischen Gesellschaft, in der sich bedrohliche Entwicklungen abzeichneten, betrachtet wurde. Im Anschluß an die Initiative von Volk und Welt versuchte sogar der Hanser Verlag es noch einmal mit Boon. Er brachte eine Ausgabe von Menuett in Lizenz vom Aufbau Verlag heraus; zum großen Ärgernis und Unverständnis vieler westdeutscher Kritiker samt dem ‘vulgärmarxistische[n]’Ga naar voetnoot265 Nachwort von Alfred Antkowiak.Ga naar voetnoot266 Ansonsten war die | |
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Kritik auf Menuett im Westen positiv. Lediglich in der Stuttgarter Zeitung meinte Armin Ayren, daß die Helden von Boon zu klug seien und die Symbolik des Romans zu sehr aufgetragen sei.Ga naar voetnoot267 Dennoch erhielt Louis Paul Boon mit seiner ‘Idylle im Eiskeller’, mit seinem ‘in der Konstruktion klare[n], in der Sprachführung unprätentiöse[n], in der Psychologie schlichte[n]’Ga naar voetnoot268 Roman, der sich ‘fast nahtlos’Ga naar voetnoot269 in die ‘weitgehend von Innenschau und Ich-Behauptung bestimmte [...] west-deutsche [...] Literatur’Ga naar voetnoot270 einpasse, wieder nicht die breite Anerkennung, die er ‘verdient’Ga naar voetnoot271 hatte. In den siebziger Jahren blieb der Multatuli der Nachkriegszeit, der flämische Erneuerer der niederländischen Literatur, eine ‘überfällige Entdeckung’Ga naar voetnoot272, ‘einer jener Geheimtips, die an der literarischen Börse unter Kennern hoch gehandelt, von der Öffentlichkeit [...] jedoch kaum zur Notiz genommen werden’Ga naar voetnoot273. Kurz vor dem Tod von Louis Paul Boon versuchte es der Heyne Verlag trotz der Warnungen aus dem Jahr 1977, daß das ‘soziale Konflikspektrum [sic]’Ga naar voetnoot274 in Flandern ganz anders als in Deutschland aussähe, zwar noch einmal mit einer Taschenbuchausgabe von einer Straße in Ter-Muren. Aber auch dieser Versuch, ‘der fortschreitenden Provinzialisierung der deutschen Literaturszene’Ga naar voetnoot275 mit Boon entgegenzuarbeiten, blieb erfolglos. Damit war es eine ganze Weile ruhig um Louis Paul Boon. Erst 1986, als man sich ganz allgemein mehr für die niederländische Literatur interessierte, erschien erneut eine Übersetzung von Louis Paul Boon im deutschen Sprachraum. Ein weiteres Mal war es der Verlag Volk und | |
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Welt, der es mit einem Werk von Boon versuchte; diesmal mit der vollständigen Ausgabe von De Kapellekensbaan - Zomer te Ter-Muren (1953-1956), die der Verlag unter dem Titel Ein Mädchen aus Ter-Muren bzw. Sommer in Ter-Muren herausbrachte. Auch dieser ‘Roman-Gigant in zwei Teilen’Ga naar voetnoot276 wurde gut aufgenommen. Er wurde nicht nur wie in den siebziger Jahren als ‘realistisch zupackendes [...] Bild der belgischen Gesellschaft zwischen den beiden imperialistischen Feuerbränden’Ga naar voetnoot277 charakterisiert, das eine vage, noch unbestimmte Hoffnung auf eine neue Welt mit dem Namen Sozialismus zum Ausdruck bringe.Ga naar voetnoot278 Würdigung fanden nun auch im Osten die ‘meisterhafte [...] Umsetzung der Themen’Ga naar voetnoot279, Boons ‘Kunst des unterhaltsamen, den Leser einbeziehenden Erzählens’Ga naar voetnoot280, das ‘vergnügliche [...] Denkangebot’Ga naar voetnoot281 und die ‘vielfarbig schillernde Welt’Ga naar voetnoot282, die es in Boons Romangebäude mit ‘Geduld und Beharrlichkeit’Ga naar voetnoot283 zu entschlüsseln lohne. Die Ausgabe von Volk und Welt führte schließlich dazu, daß man sich im Westen beim jungen und engagierten Verlag Peter Selinka zur überfälligen Gesamtausgabe der Werke von Boon entschloß. Leider mußte dieses Projekt nach dem Erscheinen vom Räuberepos Jan de Lichte und seine Bande (1987, ndl. De bende van Jan de Lichte, 1957), von Boons Roman über Schuld, Verantwortung, Gewalt und Kollaboration im Zweiten Weltkrieg Mein Kleiner Krieg (1988, ndl. Mijn kleine oorlog, 1947) und dem vom Verlag als Van-Gogh-Roman angekündigten Abel Gholaerts (1990, ndl. Abel Gholaerts, 1944) nach Schließung des Verlages ad acta gelegt werden. Mit Abel Gholaerts ist dennoch mit Sicherheit nicht der letzte Titel von Boon auf dem deutschsprachigen literarischen Markt erschienen, denn inzwischen ist die ‘singulare Modernität’Ga naar voetnoot284 Louis Paul Boons, dem Dichter und Dichtung genauso suspekt waren wie im 19. Jahrhundert Multatuli, nicht mehr aus dem Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum wegzudenken.Ga naar voetnoot285 Louis Paul Boon | |
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hat als einer der bedeutendsten Nachkriegsautoren Flanderns Anerkennung gefunden und wird immer wieder als Vorbild zitiert. Die Rezeption von Louis Paul Boons Werk hat einen wichtigen Grundstein für den Durchbruch der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum Mitte der achtziger Jahre gelegt. Aber bevor die niederländische Literatur allgemein die Anerkennung fand, die Boon erhalten hatte, mußte noch viel mühsame Kleinarbeit geleistet werden. Noch 1982 stellte der heutige ‘Motor’ der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum, Carel ter Haar aus München, bedauernd fest: ‘Niederländische Literatur in deutscher Übersetzung nimmt nur einen nicht einmal bescheidenen Platz auf dem deutschen Buchmarkt ein. Mit den Vorarbeiten von Hermanowski und Hillner, dem Erfolg der niederländischsprachigen Satire und der Literatur über den Zweiten Weltkrieg, der kontinuierlichen Anwesenheit von Boon und der Publikation erster Übersetzungen von Autoren wie u.a. Harry Mulisch, Cees Nooteboom, Hella S. Haasse (o1918) waren jedoch die Weichen gestellt. In den siebziger Jahren wurde darüber hinaus mit dem Werk von Martine Carton (o1944) und Jan Willem van de Wetering (o1931) - inzwischen einer der ausländischen Bestseller-Autoren bei Rowohlt - der niederländische Kriminalroman für den deutschen Sprachraum entdeckt. Ferner wurde mit dem Erfolg der Romane Die Scham ist vorbei (1978, ndl. De schaamte voorbij, 1976), Die Gewöhnung ans alltägliche Glück (1985, ndl. Alba, 1984) sowie mit Ich wollte nur dein Bestes (1986, Een kleine moeite, 1985) von der feministischen Schriftstellerin Anja Meulenbelt (o1945) der Weg für die Übersetzung und Anerkennung der Werke einer Reihe niederländischsprachiger Schriftstellerinnen gebahnt. In deutscher Übersetzung wurden bekannt: Inez van Dullemen (o1925), Doeschka Meijsing (o1947), von der neben der Novelle Robinson (1988, ndl. 1976) auch die Romane Die Katze hinterher (1984, ndl. De kat achterna, 1977), Tiger aus Glas (1986, Tijger, tijger, 1980) und Utopia (1989, ndl. Utopia of de geschiedenissen van Thomas, 1982) in deutscher Übersetzung vorliegen, Lizzy Sara May (o1918), Mensje van Keulen (o1946) und Gerda Meijerink (o1939), um nur die wichtigsten zu nennen. | |
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Wichtig für die definitive Wende war ferner die Tatsache, daß Ostberliner Verlage wie Volk und Welt und Aufbau in den siebziger Jahren neben dem Werk von Louis Paul Boon auch die erste Übersetzung im deutschen Sprachraum vom bedeutendsten noch lebenden flämischen Schriftsteller Hugo Claus und Erzählungen von Heere Heeresma präsentierten. Außderdem verlegten sie die sehr erfolgreiche Sammlung Erkundungen und ergänzten damit die ebenfalls sehr verdienstlichen, aber weniger erfolgreichen Anthologien vom Ende der siebziger Jahre Gedichte aus Belgien und den Niederlanden (1977) von Hans Joachim Schädlich, Jenseits aller Deiche (1979) von Cornelis Ouboter und Moderne Erzähler der Welt (Belgien und Niederlande) (1978 bzw. 1979) von Carl Peter Baudisch bzw. Martin Mooij. So wurde kontinuierlich ein neues Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum vorbereitet. Einen wichtigen Beitrag zu dieser positiven Entwicklung haben Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre schließlich auch eine Reihe von kleinen Verlegern geleistet, die vorrangig die niederländische Literatur als Literatur zu präsentieren versuchten. Damit distanzierten sie sich von den meisten großen westdeutschen Verlegern, die, da sie nicht von der Lesewut, die ostdeutsche Leser gegenüber ausländischer Literatur zeigten, profitieren konnten, mit ihrer Förderung von Autoren wie Albert Baantjer (o1923), Simon Carmiggelt, Martine Carton, Gerben Hellinga (o1937), Esteban López, Anja Meulenbelt, Jan Wolkers und Jan Willem van de Wetering weiter auf Themen, Genres und Trends wie Sex, Unterhaltungsliteratur, Krimis und feministische Literatur setzten. Gestützt durch die niederländische Stiftung zur Förderung der niederländischen Literatur in deutscher Übersetzung auf der einen Seite und durch die damals sehr aktive Gruppe Übersetzerinnen und Übersetzer an der Universität von Hamburg um Josch van Soer, präsentierten Verlage wie Schlender und Nautilus (Nemo Press) in ihrer ‘niederländischen’ bzw. ‘holländischen’ Reihe Romane und Poesie von jüngeren Autoren wie Kester Freriks (o1954), Maarten 't Hart (o1944), Frank Herzen (o1933), Jotie 't Hooft (1956-1977) und Mensje van Keulen neben Klassikern wie Paul van Ostaijen und Theun de Vries und bewiesen damit ein weiteres Mal, daß im deutschen Sprachraum auch um 1980 Interesse für die Literatur aus den Niederlanden und Flandern bestand. Leider konnte sich ihr Programm, wie das sovieler Kleinverleger in der Bundesrepublik, nicht behaupten. Die definitive Wende gab es Mitte der achtziger Jahre, als die Stichworte wieder ‘Differenz, Peripherie, das Einzelne, das Andere’Ga naar voetnoot287 lauteten und sich die Großverleger als Folge dieses ‘Orientierungswan- | |
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del[s]’Ga naar voetnoot288 auch verstärkt kleineren Literaturnationen wie den Niederlanden und Belgien zuwandten. Damals waren Klett-Cotta und Suhrkamp bereit, es (zum Teil wieder) mit Hugo Claus, Harry Mulisch und Cees Nooteboom zu versuchen. Motiviert durch den unübertroffenen Erfolg der neuesten Arbeiten dieser Autoren im niederländischen Sprachraum, durch die Tatsache, daß Nootebooms Roman Rituale (1984, ndl. Rituelen, 1980) den ‘Pegazus Prize for Literature’ der Mobil Corporation erhalten hatte, und daß darüber hinaus bei Nooteboom eine Übersetzung aus der DDR übernommen werden konnte, beschloß man bei Suhrkamp, Nootebooms Rituale, bei Klett-Cotta, Claus' Kummer von Flandern (1986, ndl. Het verdriet van België, 1983) und bei Hanser, Mulischs Attentat (1986, ndl. De aanslag, 1982) zu verlegen. Dies, wohlgemerkt, obwohl von Harry Mulisch außer den Übersetzungen bei Henri Nannen vom Stern und seinem Roman Zwei Frauen (1980, ndl. Twee vrouwen, 1975) nichts erschienen war und obwohl diese ßbersetzungen, wie zu seiner Zeit die von Cees Nooteboom und die von Claus, kaum Erfolg gehabt hatten. Daß die Operation von Suhrkamp, Hanser und Klett-Cotta schließlich gelungen ist, daß diese Verleger in der Mitte des vorigen Dezenniums den lange erwarteten Durchbruch der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum realisiert haben, kann sicher nicht nur damit begründet werden, daß in den davorliegenden Jahren bei einem bestimmten Publikum ein gewisses Interesse für und ein gewisses Vertrauen in die Literatur aus den Niederlanden und Flandern gewachsen waren. Möglich wurde dies erst durch die bereits erwähnte grundsätzliche Neuorientierung innerhalb der deutschsprachigen literarischen Landschaft auf das Ausland und dadurch, daß sich die Literatur im deutschen Sprachraum erneut in einer Übergangssituation befand.Ga naar voetnoot289 Besonders wichtig war darüber hinaus, daß zum ersten Mal seit langem wieder wirklich Werbung für die aus dem Niederländischen übersetzten Autoren gemacht wurde. So sandten die Verleger von Claus und Mulisch - was seit den sechziger Jahren mit keinem niederländischsprachigen Autor mehr gemacht worden war - ihre Autoren mit ihrer neuen Übersetzung auf eine Lesetour durch die Bundesrepublik. Dabei war es ein glücklicher Zufall, daß die Publikation der Übersetzungen von Claus, Mulisch und Nooteboom von der beträchtlichen Anzahl kultureller Manifestationen, Lesungen und (Literatur-) Ausstellun- | |
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gen, die 1985/1986 im Rahmen der ‘Begegnungen mit den Niederlanden’ von der Königlich Niederländischen Botschaft in Bonn in verschiedenen deutschen Städten organisiert worden waren, begleitet wurde. Schließlich war es für die Wende in der Mitte der achtziger Jahre auch entscheidend, daß Suhrkamp, Hanser und Klett-Cotta entschlossen waren, den Forderungen nach verlegerischer Weitsicht aus den sechziger Jahren zu entsprechen und keine vereinzelten Übersetzungen mehr auf den Markt zu bringen, sondern das gesamte Werk von Autoren zu verlegen. Dementsprechend erschienen nach dem Attentat bei Hanser von Harry Mulisch auch Höchste Zeit (1987, ndl. Hoogste tijd, 1985), Augenstern (1989, ndl. De pupil, 1987) und Die Elemente ([1989], ndl. De elementen, 1989); Klett-Cotta setzte seine Reihe von Übersetzungen von Hugo Claus mit der Übersetzung des Sakraments (1989, ndl. Omtrent Deedee, 1963) fort, und bei Suhrkamp erschienen bis 1991 von Cees Nooteboom In den niederländischen Bergen (1987, ndl. In Nederland, 1984), Ein Lied von Schein und Sein (1989, ndl. Een lied van schijn en wezen, 1981), Mokusei! (1990, ndl. 1982), Berliner Notizen (1991, ndl. Berlijnse notities, 1990) und schließlich der heutige Bestseller im Bereich der niederländischen Literatur in deutscher Übersetzung Die folgende Geschichte (1991, ndl. Het volgende verhaal, 1991). Suhrkamp, Klett-Cotta und Hanser zeigten also, daß sie Vertrauen in die Literatur aus den Niederlanden und Flandern gewonnen hatten. Dies ist auch dadurch belegt, daß sie nicht mehr länger auf Initiativen der niederländischen und flämischen Behörden zur Förderung der niederländischen Literatur im Ausland oder auf die seit Jahren bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft angekündigte Geschichte der niederländischen Literatur warteten, sondern selbst für Interessierte, in erster Linie Buchhändler und Rezensenten, eine Broschüre über die neuesten Entwicklungen in der niederländischen Literatur publizierten.Ga naar voetnoot290 Gleichzeitig ergänzten sie ihr Programm mit Arbeiten anderer niederländischsprachiger Autoren: Klett-Cotta brachte 1986 Das verbotene Reich von J.J. Slauerhoff heraus, Suhrkamp verlegte Erzählungen von Maarten Biesheuvel (o1939) unter dem Titel Schrei aus dem Souterrain (1986), Louis Couperus' Roman Das schwebende Schachbrett (1987, ndl. Het zwevende schaakbord, 1922), Ein Schwarm Regenbrachvögel (1988, ndl. Een vlucht regenwulpen, 1978) von Maarten 't Hart, Quissama (1990, ndl. 1985) von F. Springer (o1932), Sterben kann man immer noch (1987, ndl. Nee heb je, 1985) und Immer verliebt (1986, ndl. Liefst verliefd, 1983) von Renate Rubinstein (1929-1990), Eine teure Freundschaft (1991, ndl. Vriend van verdienste, 1985) von Thomas Rosenboom (o1956) und Die Stunde X | |
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(1989), eine Sammlung von Gedichten von Martinus Nijhoff. Die Zeit, daß das Interesse für niederländische Literatur sich ausschließlich auf Unterhaltungsliteratur, auf die epische Erzählung oder vorwiegend auf bestimmte Themen konzentrierte, schien also vorbei zu sein, wie ein Zitat aus dem Verlagsprogramm 1992 des Suhrkamp Verlages belegt: ‘Innerhalb der letzten Jahre hat die Literatur aus den Niederlanden bei Lesern und Kritikern in Deutschland beträchtliche Aufmerksamkeit erlangt. [...] Ein Grund für dieses gewachsene Interesse mag darin liegen, daß die niederländischen Autoren in ihren Büchern die Grundfunktionen aller Literatur mit neuen Mitteln erforschen und dadurch poetisches Neuland betreten.’Ga naar voetnoot291 Wenn dies zuträfe, wäre endlich das Vorurteil überwunden, das noch in den sechziger Jahren von Kindlers Literatur Lexikon tradiert wurde, nämlich daß die niederländische Prosa ‘nur bis zur Form der gediegenen Erzählung gelangt’Ga naar voetnoot292 wäre und daß ‘für das Komplexe in Charakteren und Handlung’Ga naar voetnoot293 die ‘Gestaltungskraft’Ga naar voetnoot294 fehle. Damit wäre die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum endgültig zur Literatur aufgestiegen.Ga naar voetnoot295 Diese für die Rezeption der niederländischen Literatur bedeutende Hypothese soll im folgenden am Beispiel der momentan im deutschen Sprachraum bedeutendsten niederländischen Prosaschriftsteller Hugo Claus, Harry Mulisch und Cees Nooteboom überprüft werden. | |
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4.2.4 Die Poetisierung des Faktischen: Hugo ClausDer mehrfach ausgezeichnete flämische Dichter, Prosaschriftsteller, Drama- und Drehbuchautor, Film- und Theaterregisseur und Maler Hugo Claus gehörte zur Gruppe der flämischen ‘Fünfziger’ um die Zeitschrift Tijd en Mens (1949-1955) und war Mitglied der avantgardistischen Maler-gruppe COBRA. Neben Louis Paul Boon ist er der wichtigste Erneuerer der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Achtzehnjähriger debütierte Claus mit eher traditioneller Poesie, wandte sichlen’ manieristischen Sprachvirtuosen Claus, der wie kein anderer flämischer Autor auf mystifizierende bzw. mythifizierende Art mit Text(en), Stilen, Genren und Rhythmen spielt, ist auffallend barock, emotional, sensualistisch und heterogen. Im Mittelpunkt stehen immer wieder die Beziehungen des Individuums zur Familie, zur Gesellschaft und zur Wirklichkeit, das Ödipusmotiv und die verlorene Unschuld. Die Verwunderung (1979, ndl. De verwondering, 1962) gilt allgemein als Claus' erstes Meisterwerk und als Meilenstein in der Entwicklung der niederländischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch wurde es erst relativ spät im deutschen Sprachraum bekannt, nicht zuletzt weil gerade Hugo Claus, der laut Hermanowski ‘einen Malaparte an pornographischen Einfällen’Ga naar voetnoot296 zu übertreffen suchte, von diesem engagierten Übersetzer boykottiert wurde. Als Volk und Welt Die Verwunderung auf den Markt brachte, mußte Claus im deutschen Sprachraum noch eingeführt werden. Es hatte bis dahin nur vereinzelte Aufführungen einiger seiner Dramen gegeben. Außerdem wußte man, dies hat schon die Rezeption der ersten Werke von Louis Paul Boon im deutschen Sprachraum gezeigt, Ende der siebziger Jahre immer noch vergleichsweise wenig über die neueren Entwicklungen in der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern. Daran hatten übersetzte Werke von Boon, Geeraerts, Haasse, Insingel, Lampo, Michiels, Raes, Snoek und De Wispelaere wenig geändert. Sie waren zu vereinzelt geblieben, um den beabsichtigten Anschluß an die Moderne in Flandern zu realisieren.Ga naar voetnoot297 | |
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Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre können halb fragende Feststellungen wie: ‘Von den zeitgenössischen flämischen Schriftstellern ist Hugo Claus bestimmt einer der herausragendsten’Ga naar voetnoot298, also als durchaus typisch bezeichnet werden. Aber dies war nicht der einzige Grund für die Zurückhaltung, mit der Die Verwunderung im deutschen Sprachraum empfangen wurde. Zusätzlich zur Schwierigkeit, Die Verwunderung ins Gesamtwerk von Claus und in die Geschichte der niederländischsprachigen Literatur in Flandern einzuordnen, kam noch, daß man aufgrund der Distanz, die man seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gegenüber Belgien und den Niederlanden gewahrt hatte, auch wenig über den der Verwunderung zugrunde liegenden historischen und kulturellen Hintergrund wußte. Das Nachwort von Udo Birckholz, das in das ‘nicht leicht verständliche Gesamtwerk’Ga naar voetnoot299 von Claus und die Geschichte Flanderns um den Zweiten Weltkrieg einführte, war also mehr als unerläßlich. Gereicht hat es aber nicht. Die Kritik zu Claus' ‘Monolog eines Ausgestossenen’Ga naar voetnoot300 war zwar relativ positiv. U.a. war im Wiesbadener Kurier zu lesen: ‘Auf allen Instrumenten weiß Claus zu spielen, mal realistisch und mal surrealistisch, mal hart bis an die Grenze des Grausamen, mal mit behaglichem Humor bester flämischer Tradition (Timmermans!), mal skurril und burlesk, mal beißend sarkastisch und dann wieder sensibel wie die Zentralfigur seines Romans’Ga naar voetnoot301,und auch die Saarbrücker Zeitung schrieb: ‘Es wäre zu wenig, würde man “Die Verwunderung” einfach als eine zeitkritische Darstellung klassifizieren. Bemerkenswert sind auch die literarischen Mittel, mit denen Hugo Claus den Roman in Szene setzt. Er ergötzt sich nicht nur an burlesken Einfällen und Späßen, die oft bis zur Absurdität getrieben werden. Bei der sprachlichen Gestaltung greift er auch auf Elemente der modernen Lyrik zurück. Die unterschiedlichen Erzählebenen, der ständige Wechsel von Wahn und Erkenntnis, von Traum und Wachsein, halten die Balance zwischen Fiktion und Realität und machen das Buch keineswegs zu einer kurzweiligen Lektüre.’Ga naar voetnoot302 | |
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So wie man sich im Osten damals längst nicht immer nur darauf beschränkte, Die Verwunderung als ‘interessante[n] Beitrag zur ‘Vergangenheitsbewältigung’Ga naar voetnoot303 zu klassifizieren, der besonders auf ‘die Gefahren des Antihumanismus in der spätbürgerlichen Gesellschaft’Ga naar voetnoot304 aufmerksam mache, begnügte man sich im Westen also nicht einfach damit, mit dem Verlag festzustellen, daß hier in ‘einem literarisch ungewöhnlich ausgefeilten Stil’Ga naar voetnoot305 Bilder entstanden seien, die ‘an die Visionen eines Hiernoymus [sic] Bosch’Ga naar voetnoot306 erinnerten. Aber für einen Erfolg setzte das ‘alpdruckartig beschwerende [...], mehrschichtige [...] Panorama’Ga naar voetnoot307 am Ende wohl doch Zuvieles, nicht nur Literarisches, voraus. Offensichtlich war dies eine Lehre für den Verlag Klett-Cotta, als dieser es 1986 erneut mit Claus versuchte. Anders als zu seiner Zeit bei der Verwunderung wurde diesmal, wie bereits erwähnt, die Publikation des Romans Der Kummer von Flandern von einer in bezug auf die niederländische Literatur nie gesehenen und bislang auch einmalig großen Werbe- und Informationskampagne begleitet. Klett-Cotta informierte dabei sowohl über das Werk von Hugo Claus als auch allgemein über die niederländische Literatur sowie Claus' Rolle darin und über die sozialen, politischen und kulturellen Hintergründe des Kummers von Flandern. Gleichzeitig bot man Zuordnungshilfen an, indem man auf der einen Seite auf die Verwandtschaft von Louis Seynaeve, der Hauptfigur aus dem Werk von Claus, mit Grass' Blechtrommelheld Oskar Matzerath und auf der anderen Seite auf die Verwandtschaft vom Kummer von Flandern mit De Costers Ulenspiegel hinwies. Schließlich wurde auch auf die alte deutsche Zuneigung zu Flandern angespielt, indem das Buch nicht, wie es dem niederländischen Titel entsprochen hätte, den Titel Der Kummer von Belgien erhielt, sondern werbewirksamer zum Kummer von Flandern umgetauft wurde.Ga naar voetnoot308 Unter dieser Voraussetzung gelang die ‘Kletterpartie ins deutsche Bestseller-Gelände’Ga naar voetnoot309 relativ gut. Die anscheinend ‘ausgezeichnete’Ga naar voetnoot310 | |
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deutsche Übersetzung von Het verdriet van België tauchte schon bald auf der verkaufsfördernden ‘Bestenliste’ vom Südwestfunk auf und erreichte bereits 1986 die zweite Auflage. Später erschien die Übersetzung von Johannes Piron auch noch beim Verlag Volk und Welt in Berlin, und 1991 eröffnete sie die neue Reihe ‘dtv-Studio’ vom Deutschen Taschenbuch Verlag. Daß gerade Der Kummer von Flandern diese Reihe von dtv eröffnen durfte, war nicht zuletzt darin begründet, daß das Werk von Claus im deutschen Sprachraum außerordentlich viele und gute Rezensionen erhalten hatte. Die ‘gewaltige Erzählung’Ga naar voetnoot311 Der Kummer von Flandern mit ihrem ‘phantastische[n] Panorama’Ga naar voetnoot312 war wegen der dichten Sprache, der Üppigkeit der Farben, der ungezähmten Stilmittel, des Humors und der Ironie und schließlich der ‘realistische[n] Schilderungsweise, die unvermerkt ins Visionäre und Unheimliche sich steigert’Ga naar voetnoot313, immer wieder gepriesen worden.Ga naar voetnoot314 Vereinzelt hatte man zwar auch eine gewisse ‘Bildungshuberei’Ga naar voetnoot315 kritisiert, die ‘unerschöpfliche Bilderfülle’Ga naar voetnoot316 und die Tatsache, daß Phantasie und Witz in Claus' ‘artistische[r] Inszenierung des Trivialen’Ga naar voetnoot317 manchmal ‘zur Manier’Ga naar voetnoot318 würden, daß sich Claus gelegentlich auf einen ‘Fliegendreck’Ga naar voetnoot319 blind zu starren scheine. Im allgemeinen war man 1986 in den deutschsprachigen Zeitungen aber der Meinung, daß Claus' | |
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‘phantasievolle[r] Episodenroman’Ga naar voetnoot320, sein ‘flirrendes Mosaik der schmerzlichsten Epoche in der belgischen Geschichte’Ga naar voetnoot321, von ‘schonungsloser Offenheit und drastischem Vokabular’Ga naar voetnoot322, nicht nur ‘eine Entdeckung’Ga naar voetnoot323 sei, sondern ‘internationales Interesse’Ga naar voetnoot324 verdiene. Dieser flämische Autor, dessen Werk ‘nicht leicht zu lesen’Ga naar voetnoot325 sei, das aber ‘bei weitem die erzählerische Qualität eines Hans Fallada oder Oskar Maria Graf, die genauso politische und soziale Vorgänge in der Provinz zu erhellen versuchten’Ga naar voetnoot326, zu übertreffen scheine, gehöre unbestritten ‘zu den wirklich innovativen Autoren unserer Zeit’Ga naar voetnoot327. ‘“Der Kummer von Flandern” ist ein hochartifizieller, mit vielen Formen und Motiven spielender Roman, der den Kenner der literarischen Tradition auf Schritt und Tritt überrascht - und gleichwohl keine Leser überfordern dürfte’Ga naar voetnoot328, schrieb der Rheinische Merkur und wiederholte damit das Urteil aus der Welt am Sonntag, wo der Erzählstil des ‘Innovator[s]’Ga naar voetnoot329 Claus nicht nur ‘helle Freude’Ga naar voetnoot330 ausgelöst hatte, sondern das Buch ein ‘belgischniederländischer “Ulysses”’Ga naar voetnoot331 genannt worden war. Bestimmend für den Erfolg vom Kummer von Flandern im deutschen Sprachraum war auch die Tatsache, daß im Roman die Geschichte von einer kleinbürgerlichen Familie im besetzten Flandern des Zweiten Weltkrieges beschrieben wurde, in deren Mitte die Hauptperson Louis ‘vom naiven Hitlerjungen zu Bewusstsein und Selbsterkenntnis’Ga naar voetnoot332 erwachte. Angesprochen wurden damit nämlich die Schuldgefühle, die bereits das | |
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Interesse für die Tagebücher der Anne Frank und ihren Erfolg bestimmt hatten: ‘Wichtig ist - und das macht den hohen Rang des Buchs aus -, daß von Hugo Claus ein Werk des kollektiven Erinnerns eines Volkes geschrieben wurde, eine Selbstdarstellung belgischer Probleme, die zugleich europäische Probleme waren und sind; ein Schuldbekenntnis von seltener Eindringlichkeit und ein Beispiel für die stete “Bereitschaft”, sich “von den Bazillen des Bösen” anstecken zu lassen. Derb-drastisch, dann wieder verträumt, skurril und tragikomisch, oft an Pieter Bruegel und seine Bilder erinnernd, schildert Hugo Claus eine Epoche flämischer Geschichte mitten im Herzen von Europa. Eine Epoche der Schuld und der Schmach, die auch unsere - der Deutschen - Schuld und Schmach sind.’Ga naar voetnoot333 Gleichzeitig hatte der Verlag durch seine Hinweise auf Charles de Costers Ulenspiegel, Günter Grass' Blechtrommel und Garcia Marquez' Hundert Jahre Einsamkeit eine gute Basis für Vergleiche gelegt. Manchmal wurden die Anregungen von Klett-Cotta zwar nur ‘bemüht’Ga naar voetnoot334, gab man sich, wie in der Basler Zeitung, mit einfachen Hinweisen zufrieden oder suggerierte man lediglich, daß Der Kummer von Flandern alle Chancen habe, ‘nach de Costers “Ulenspiegel” einmal ein zweites, komplementäres Nationalepos zu werden’Ga naar voetnoot335. Im allgemeinen aber wurden die Hinweise ernst genommen und sogar kritisch betrachtet.Ga naar voetnoot336 Dabei war schnell klar, daß Claus ‘nicht im Sinn’Ga naar voetnoot337 gehabt haben konnte, einen Schelmenroman zu schreiben, und daß Louis Seynaeve höchstens ‘weitläufig’Ga naar voetnoot338 mit Oskar Matzerath verwandt war. Abgesehen davon, daß Claus ‘vorlaute Vergleiche’Ga naar voetnoot339 mit Till Ulenspiegel, Oskar Matzerath oder Hundert Jahre Einsamkeit sowieso immer zurückgewiesen, sein | |
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Werk also nie als ‘belgische Antwort auf Günter Grass' “Blechtrommel”’Ga naar voetnoot340 betrachtet hat und es, wenn überhaupt, lieber mit dem von deutschen Romantikern wie Achim von Arnim oder Clemens von Brentano in Zusammenhang gebracht sehen wollte, hob man in der deutschsprachigen Kritik längst nicht nur Gemeinsamkeiten hervor. Im Gegenteil, neben den Hinweisen darauf, daß erstens sowohl Grass' Blechtrommel als auch Claus' Kummer von Flandern aus der Perspektive eines kleinen Jungen geschrieben seien, sie beide zweitens alles andere als langweilige Vergangenheitsbewältigungsprosa seien und sie drittens durch eine harte Fügung unterschiedlicher Themen und Tonarten, durch historische Legitimität, historiographische Prägnanz, poetische Valenz und politische Topographie gekennzeichnet seien - wobei auch betont wurde, daß in beiden Werken viel gebetet und die Nazizeit ziemlich unchristlich durchlebt worden sei -, wurde ausdrücklich der Unterschied zwischen der Blechtrommel und dem Kummer von Flandern herausgestellt.Ga naar voetnoot341 Dieser zeige sich vor allem in der Tatsache, daß Claus' Louis ‘der böse Blick Oskar des Trommlers’Ga naar voetnoot342 sowie seinem Schöpfer ‘die erzieherische, die moralisierende Absicht’Ga naar voetnoot343 fehle. Im Gegensatz zu Grass, so zeigte sich im deutschen Sprachraum immer wieder, ‘lehrt’Ga naar voetnoot344 Claus nicht, sondern ‘malt’Ga naar voetnoot345; spiele er sich nicht als ‘Richter post festum’Ga naar voetnoot346 auf, messe er die Menschen ‘nicht an Theorien, sondern am Menschen-Möglichen’Ga naar voetnoot347. Die Feststellung, daß es Claus besser als vielen deutschen Kollegen gelinge, ‘die Perspektive des besseren Wissens konsequent auszublenden’Ga naar voetnoot348, trug wesentlich dazu bei, daß die poetische Valenz, die ‘Poetisierung des Faktischen’Ga naar voetnoot349 im Kummer von Flandern die beschriebene positive | |
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Würdigung fand. Sie war es, die den ‘genialisch undisziplinierte[n] Epiker’Ga naar voetnoot350 in den Ruf eines ‘demokratischen’ Erzählers brachte.Ga naar voetnoot351 Nach einem solchen positiven Comeback waren im deutschen Sprachraum die Erwartungen bezüglich des nächsten übersetzten Werkes von Claus natürlich hoch gespannt. Zu hoch offensichtlich, denn groß war die Enttäuschung einiger Kritiker bei der Publikation des Romans Das Sakrament. In Claus' Kleinbürgerdrama zum Muttergedenktag wurde teilweise nicht viel mehr erkannt als eine ‘passable Vorübung’Ga naar voetnoot352 zum Kummer von Flandern. Von einer Apokalypse, so wie das Buch vom Verlag angepriesen wurde, könne, so wurde geschrieben, ‘keine Rede’Ga naar voetnoot353 sein, allenfalls von der eines ‘zum mittelständischen Sozialpfründner aufgestiegenen Spießers’Ga naar voetnoot354. Für andere wiederum überstieg das Buch nicht das Niveau eines ‘platten Bauernschwank[s]’Ga naar voetnoot355: ‘Claus' Roman ist weder Fisch noch Fleisch, weder die Doppelbödigkeit der bürgerlichen Moral entlarvende Komödie, noch abgrundtiefe, erschütternde Tragödie, die dem Begriff “Familie” die (Toten-) Maske herunterreißt.’Ga naar voetnoot356 Anders als im Kummer von Flandern schien im Sakrament das Wort ‘Mittel zum Zweck’Ga naar voetnoot357 geworden, die Wahrheit ‘überhöht’Ga naar voetnoot358 und wirkten die Figuren ‘flach’Ga naar voetnoot359. Die ‘bewußt suggestiv angepeilte Empfindsamkeit des Lesers’Ga naar voetnoot360 wurde nach Meinung eines Rezensenten ‘überstrapaziert’Ga naar voetnoot361, während ein anderer wiederum meinte, daß die ‘Manier’Ga naar voetnoot362, die er bereits beim Kummer von Flandern krisitiert habe, sich nun endgültig ‘verselbständigt’Ga naar voetnoot363 zu haben scheine. Geblieben sei ‘Langeweile’Ga naar voetnoot364. | |
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Zum Glück waren dies nicht die einzigen Stimmen zum Sakrament. In der Welt am Sonntag wurde das ‘“Test”, das gar keines war’Ga naar voetnoot365, durchaus als ein ‘frohgemutes Jubilieren zum Tode, als ein [...] grelle[r] Gang von Lemmingen - faszinierend geschrieben, schmucklos, aufregend einfach und [...] hypnotisierend’Ga naar voetnoot366 gewürdigt, und auch anderswo stand man dem Werk positiv gegenüber: ‘der Tag hat es in sich’Ga naar voetnoot367, ‘ein Meisterwerk des Balanceakts zwischen Wunsch und Wirklichkeit’Ga naar voetnoot368, eine ‘beklemmende Burleske vom letzten Abendmal [sic]’Ga naar voetnoot369, ‘eine handfeste Allegorie auf unseren ganz normalen, latenten, alltäglichen Wahnsinn’Ga naar voetnoot370. Dennoch, die Begeisterung für Das Sakrament hielt sich im Vergleich zu den Lobeshymnen, die allerorts zum Kummer von Flandern gehalten worden waren, mehr als in Grenzen. Diese Reaktion kann teilweise damit erklärt werden, daß die Übersetzung zu spät kam. Immerhin war Das Sakrament im Original in den sechziger Jahren publiziert worden und profitierte der Roman 1986 kaum noch vom Schockeffekt, den er damals in Flandern ausgelöst hat und Anfang der sechziger Jahre wahrscheinlich auch im deutschen Sprachraum noch hätte auslösen können.Ga naar voetnoot371 In der Tat: Mit welcher Berechtigung konnte man über 25 Jahre nach Erscheinen der Originalausgabe vom deutschsprachigen Leser erwarten, daß er mit ‘zeitgenössischen Augen’Ga naar voetnoot372 las? Aber abgesehen davon war für die mehr oder weniger mißlungene Rezeption des Sakraments im deutschen Sprachraum wesentlich, daß man im allgemeinen das bei der Beurteilung vom Sakrament nicht berücksichtigte, was man im Kummer von Flandern erkannt hatte: nämlich daß Claus ‘auf verschiedenen Ebenen’Ga naar voetnoot373 erzählt, daß er mit Geschichten ‘jongliert’Ga naar voetnoot374, mit seinem ‘Facetten-Duktus’Ga naar voetnoot375 versucht, | |
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unsere fragmentarische Wirklichkeitserfahrung literarisch umzusetzen, und daß sein Werk deshalb ‘mit Anspielungen und Querverweisen prall gespickt’Ga naar voetnoot376 ist. Als Ausnahmen sind nur zu erwähnen: Alexander von Bormann, der auf die Parallelität zwischen der ‘Entstrukturierung des Ich’Ga naar voetnoot377 nach dem Zweiten Weltkrieg und dem entgrenzenden Erzählen von Claus hinwies, Hermann Wallmann, der von einer ‘sardonische[n] Versuchsanordnung [...], unter deren Bedingungen physikalische und chemische Prozesse ausgelöst und beobachtet werden’Ga naar voetnoot378, sprach und Ralf Stiftel, der zu Recht auf die ‘mythische[n] Dimensionen’Ga naar voetnoot379, mit denen Claus seinen Roman unterlegt hat, verwies. In keinem seiner Werke bietet Claus, wie er selbst im Zusammenhang mit dem Sakrament einmal gesagt hat, dem Leser ein Bonbon an. Es ist immer eine ganze Schachtel.Ga naar voetnoot380 Im Sakrament zeigt sich dies im gleichzeitigen Neben- und Durcheinander von Psychologie, Metaphysik, Ethik und Erotik, Parallelität von Schöpfungsgeschichte, Suche nach dem Ursprung der Religion, Vater-Sohn-Konflikt, Analyse der kleinbürgerlichen flamischen Gesellschaft, der Geschichte von der verlorenen Unschuld, Dekonstruktion der verschiedensten Pole wie Gut und Böse, Leben und Tod, Liebe und Zerstörung usw. Dies alles kann natürlich unmöglich in einer relativ kurzen, fürs breite Publikum gedachten Zeitungsrezension aufgedeckt werden. Aber daß die, im Grunde genommen, komplizierte Struktur unter der Oberfläche des Sakraments in der deutschsprachigen Kritik zumeist noch nicht einmal ansatzweise erkannt wurde, ist bemerkenswert. Die Reaktionen auf die Publikation vom Sakrament zeigen also, daß die unübersehbare Anerkennung, die Claus mit dem Kummer von Flandern auch in literarischer Hinsicht zuteil geworden ist, wohl weniger darauf beruht, daß Claus' spezifische Eigenart anerkannt wird, als auf der Bewunderung für die Art und Weise, in der der flämische Schriftsteller das Kriegsthema aufgearbeitet hat und sich von den bekannten und bewunderten deutschen Beispielen distanziert. Die Rezeption von Claus ist bislang eine partielle geblieben. Trotz literarischer Anerkennung für den Kummer von Flandern fehlte für eine richtige Würdigung des Sakraments das nötige Wissen über die spezifische Eigenart des Schriftstellers Hugo Claus. Das Sakrament wurde | |
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vom Verlag unglücklicherweise auch als ‘pralle’Ga naar voetnoot381 Tragikomödie bzw. ‘Farce’Ga naar voetnoot382 dem einige Jahre zuvor verlegten ‘Epos von der Schmach und dem Neubeginn Belgiens nach dem Zweiten Weltkrieg’Ga naar voetnoot383 gegenübergestellt, während die Beziehungen zwischen dem bekannten und dem neuen Werk vernachlässigt wurden.Ga naar voetnoot384 Was für einen Erfolg des Sakraments und für die richtige Beurteilung der Bedeutung von Hugo Claus im deutschen Sprachraum außerdem fehlte, war das nötige Hintergrundwissen über die Bedeutung des flämischen Schriftstellers innerhalb seiner Literatur. Durch die Publikation und den Erfolg vom Kummer von Flandern (zusammen mit dem Erfolg von Nooteboom und Mulisch natürlich) hatte man zwar erreicht, daß das Übersetzen aus dem Niederländischen selbstverständlich geworden war - in keiner Rezension zum Sakrament wurde noch, wie das bis 1985 der Fall war, der Begriff niederländische Literatur problematisiert oder etwa bedauert, daß die Literatur aus den Niederlanden und Flandern im deutschen Sprachraum so unbekannt sei -, aber trotzdem wußte man kaum etwas über die niederländischsprachige Literatur aus Flandern und schon gar nichts über die Tradition des von Alexander von Bormann erwähnten ‘entgrenzenden Erzählens’ in dieser Literatur. 1986 war Der Kummer von Flandern zwar als ‘Hauptwerk flämisch-niederländischer Nachkriegsliteratur’Ga naar voetnoot385 eingestuft worden. Aber dabei war man offensichtlich, nicht nur was die irreführende Wahl des Begriffes, sondern auch was die Einstufung des größten Romans von Claus betraf, lediglich dem Vorschlag | |
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des Verlages gefolgt.Ga naar voetnoot386 Zu einem eigenen Urteil fehlten ‘die niederländischen Vergleichsmöglichkeiten.’Ga naar voetnoot387 Die moderne niederländische Literatur existierte 1986 noch immer eher als ‘Gerücht’Ga naar voetnoot388, und von der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern kannte man zumeist immer noch nicht viel mehr als das Werk von Streuvels, Claes und Timmermans.Ga naar voetnoot389 In Interviews wurde Claus dann auch immer wieder gebeten, die niederländische Literatur und seine Zugehörigkeit dazu zu charakterisieren bzw. zu bestimmen. Das, was 1986 im Zusammenhang mit dem Kummer von Flandern geschrieben wurde - ‘“Der Kummer von Flandern” bietet ein schelmisches Panorama des Landes zwischen Schelde und Nordsee. Die Leute tölpeln darin herum wie auf den Bildern von Pieter Breughel. Nicht sehr elegant, auch nicht heldenhaft, aber bauernschlau und mit untrüglichem Überlebens-Instinkt gesegnet. Der ist auch nötig, denn es geht um die Zeit des Zweiten Weltkrieges’Ga naar voetnoot390 -, | |
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war also weitgehend auch das Fundament für die Rezeption des Sakraments. Dagegen hätte der Verlag etwas unternehmen müssen. 1989 war die niederländischsprachige Literatur aus Flandern zwar keine ‘flandrische Literatur’Ga naar voetnoot391 mehr, aber ein wirkliches Verständnis dafür, warum Das Sakrament ‘zu den Säulen seines umfangreichen literarischen Schaffens’Ga naar voetnoot392 zählte oder warum gerade Hugo Claus immer wieder für den Nobelpreis vorgeschlagen worden ist, gab es Ende der achtziger Jahre nicht. Obwohl so ‘nan’Ga naar voetnoot393, waren Flandern und seine Literatur für viele deutschsprachige Leser immer noch zu ‘fremd’Ga naar voetnoot394. | |
4.2.5 ‘Zeit-Zeugen’: Harry MulischZusammen mit Hermans und Reve wird Mulisch als wichtigster Autor der Nachkriegsliteratur aus den Niederlanden betrachtet. Wie Claus ist er ein äußerst vielseitiger Künstler. Er hat sowohl Erzählungen und Romane als auch Poesie, Theaterstücke und Drehbücher geschrieben und hat sich auch als versierter Essayist und Journalist einen Namen gemacht. Prägend für das Oeuvre von Mulisch, der mit allen bedeutenden niederländischen Literaturpreisen geehrt wurde, ist seine Überzeugung, daß das Werk eines Autors ein großer Organismus sein muß, in dem jeder Teil mit den anderen Teilen durch unzählbare Fäden und Kanäle verbunden ist. Intertextualität spielt bei Mulisch also eine sehr große Rolle. Postmodern ist auch Mulischs Auffassung der Wirklichkeit, die er in seinen Werken nicht abbildet, sondern enträtselt, indem er die Hierarchie der Pole Leben und Tod, Liebe und Zerstörung, Bewegung und Stillstand auflöst und immer wieder zeigt, daß es hier nur scheinbare Gegensätze betrifft. Typisch in dieser Hinsicht ist z.B. Mulischs Interpretation des Ödipus-Mythos als Mythos vom Menschen, der durch die Heirat der Mutter die lineare Zeit und damit den Tod zu überwinden versucht. Im Gegensatz zum Werk vieler niederländischsprachiger Nachkriegsautoren ist das Werk von Mulisch weniger realistisch als äußerst bildreich, symbolisch und streckenweise sogar phantastisch. Zumeist ist es stark philosophisch - 1980 publizierte Mulisch eine philosophische Studie, in der er versuchte, eine Systematik der Welt zu entwerfen - und auf den Autor bezogen. | |
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Schon 1960 wurde das erst ein Jahr zuvor in den Niederlanden erschienene Werk Das steinerne Brautbett (ndl. Het stenen bruidsbed, 1959) im deutschen Sprachraum verlegt. Der Roman, der als Mulischs erstes Meisterwerk gilt und ebenfalls als Meilenstein in der Geschichte der niederländischen Literatur betrachtet werden muß, handelt vom amerikanischen Zahnarzt Corinth, der einen Kongress in Dresden besucht, in der Stadt, die er 1945 zusammen mit anderen Fliegern völlig mit Bomben zerstört hat. Während seines Aufenthaltes in Dresden hat er eine kurze, aber heftige Beziehung mit seiner Reiseführerin Hella. Auf einer zweiten, mythischen Ebene erzählt Mulisch in Form von griechischen Gesängen den vernichtenden Krieg bei der Eroberung von Hellas. Im Steinernen Brautbett werden so Gewalt, Krieg und Vernichtung mit Erotik, Sinn und Sinnlosigkeit, Geschichte und Mythologie mit der Gegenwart verbunden. Charakteristisch für den frühen Mulisch ist auch die Erzählung Das schwarze Licht (1962, ndl. Het zwarte licht, 1956), in der Mulisch den eitlen Versuch beschreibt, Gott zu werden, um so den Tod zu überwinden, die Wirklichkeit zu beherrschen. In seiner zweiten Periode zeigt sich Mulisch ausdrücklicher als vorher engagiert. Im Mittelpunkt stenen nun mehr und mehr die politischen Geschehnisse, die Aktualität, die Gegenwart sowie Rolle und Aufgaben des engagierten Schriftstellers. Aus dieser Periode stammt sein Bericht über den Eichmann-Prozess, der im deutschen Sprachraum unter dem Titel Strafsache 40/61 (1963, ndl. De zaak 40/61, 1962) erschien.Ga naar voetnoot395 In den siebziger Jahren kehren die Magie, das Mythische in symbolischer Form wieder verstärkt in Mulischs Prosa zurück. So ist Zwei Frauen nur auf den ersten Blick eine leicht verdauliche, etwas melodramatische, tragische Geschichte über die lesbische Liebe zwischen der jungen Sylvia und der unfruchtbaren, geschiedenen Laura. Auch in diesem Roman haben die Geschehnisse symbolische Bedeutung und wird wie in den meisten Werken von Mulisch versucht, die lineare Zeit literarisch zu durchbrechen. Bei der Rezeption von Zwei Frauen im deutschen Sprachraum konzentrierte man sich allerdings vorwiegend auf die erste Ebene, und das endete in einem Verriß. | |
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‘Peinlich ist eher die Kluft, die sich auftut zwischen dem Anspruch, einen feinfühligen Liebesroman zu schreiben, und dem Ergebnis, das sich von hohler Feierlichkeit über dürftige Überraschungen bis hin zur “Tatort”-Mentalität erstreckt, das Ganze durchsetzt von Kritikergebrabbel, Partygebrummel und natürlich von Bettgeflüster, etwa folgenden Niveaus: “Wir stehen der Welt viel offener gegenüber. Männer haben nur neun Öffnungen in ihrem Körper, wir zwölf.”’Ga naar voetnoot396 Dies schrieb Die Welt, und in der Nürnberger Zeitung war damals zu lesen: ‘Wenn an diesem Roman überhaupt etwas bemerkenswert ist, dann ist es nicht die allzu konstruiert wirkende Story und auch nicht der keinesfalls faszinierende Stil [...], sondern die Tatsache, daß sich der Autor als Mann einigermaßen in die Psyche der Frauen einzufühlen vermag’Ga naar voetnoot397. Ursache für dieses Phänomen war wohl weniger, wie Harry Mulisch selbst in einem Interview mutmaßte, die Tatsache, daß das Werk in einer ‘niederländischen Reihe’ erschien, sondern eher, daß das literarische Werk von Harry Mulisch sowie sein Autor in den siebziger Jahren, 20 Jahre nach dem Erscheinen des Steinernen Brautbettes, im deutschen Sprachraum völlig unbekannt waren. ‘Die Rede ist hier nicht von den netten Büchlein einer gewissen Emanuelle, sondern vom Werk eines Herrrn Harry Mulisch aus den Niederlanden’Ga naar voetnoot398, schrieb die Nürnberger Zeitung, und auch der Rezensent in der Welt war offensichtlich nicht mit dem Werk von Mulisch vertraut: ‘Sappho lächelt und grüßt Holland [...] Gewissermaßen unter ihrer Schirmherrschaft’Ga naar voetnoot399 schrieb Harry Mulisch, ‘der sonst Reportagen über das Bombardement auf Dresden, den Eichmann-Prozeß und über Kuba verfaßt hat [...]’Ga naar voetnoot400, laut dieses Kritikers das Buch. Ferner hatte, wie gesagt, das Programm von Jürgen Hillner eine Erwartungshaltung geschaffen, die die Rezeption von Zwei Frauen gewissermaßen in Richrung ‘Liebesroman’Ga naar voetnoot401 vorprogrammiert hatte. Auch die Rezeption von Zwei Frauen war also deutlich partiell. Die literarische ‘Raffinesse’Ga naar voetnoot402 und die Tatsache, daß sich Mulisch in diesem Roman tatsächlich ‘mehr an mythologischen denn an psychologischen | |
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Strukturen’Ga naar voetnoot403 orientierte, wirkten sogar störend. Zwei Frauen wurde zwar auf der einen Seite von den ‘voyeuristische[n] oder gar pornographische[n]’Ga naar voetnoot404 Büchern distanziert, auf der anderen Seite war aber nur von einem ‘Liebesmachwerk’Ga naar voetnoot405, von einer ‘konstruierte[n] Story mit pseudophilosophischem Geschreibe’Ga naar voetnoot406 die Rede und bedauerte man, daß Mulisch trotz aller ‘sprachlichen und kompositorischen Anstrengung’Ga naar voetnoot407 die Liebe unter Frauen, die eigentlich nur vordergründig Thema des Romans ist - wie Mulisch im Roman selbst sagt, hätte Sylvia ebensogut ein Junge sein können -, auf das Niveau des ‘Kitschigen’Ga naar voetnoot408 herunterziehe. Beim Erscheinen des Attentats mußke das Werk von Harry Mulisch wie zu seiner Zeit auch das von Claus im deutschen Sprachraum also noch entdeckt werden. Gestützt durch den großen Verlag, die Lesereihe, die Werbekampagne, durch die Verfilmung des Attentats, die 1987 den Oscar für den besten ausländischen Film erhielt, und dadurch daß die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt Mulischs Roman über Anton Steenwijk, der mit dem Krieg und seinen Greueln konfrontiert wird und der sein ganzes Leben lang mit dieser Erfahrung zu kämpfen hat, im Juli 1986 zum Buch des Monats kürte, gelang diesmal aber der Durchbruch. Mulischs ‘meisterhaft knapp erzählte’Ga naar voetnoot409, ‘lakonisch[e], unsentimental[e]’Ga naar voetnoot410, ‘trockene [...] kühle’Ga naar voetnoot411, aber zugleich ‘feinfühlige’Ga naar voetnoot412 Bestandsaufnahme gefiel sowohl als ‘Polit-Parabel’Ga naar voetnoot413 als auch als ‘spannender zeitgeschichtlicher Roman’Ga naar voetnoot414 und als ‘erstrangiger Kriminalroman’Ga naar voetnoot415. Dies belegt u.a. die Kritik der TAZ: ‘“Das Attentat” ist ein | |
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fesselnder, subtil konstruierter Thriller, der vor allem durch seine präzise, kühle Sprache besticht’Ga naar voetnoot416, durch ‘eine Distanz, die nicht auf Kosten der Genauigkeit geht, sondern den Leser in beides hineinzieht: in eine spannende Geschichte und in die Frage nach Sinn und Unsinn des Lebens’Ga naar voetnoot417. In der Neuen Osnabrücker Zeitung war zu lesen: ‘Dieses Buch verschlingt man, liest es von der ersten bis zur letzten Seite, ohne aufhören zu können’Ga naar voetnoot418, und in der Süddeutschen Zeitung stand schließlich: ‘[...] “Das Attentat”, ein bedeutendes Werk literarisch-dialektischer Entfaltungskunst, läßt sich mit einigen modellhaften Arbeiten von Siegfried Lenz - den Romanen “Stadtgespräch”, “Deutschstunde”, dem Theaterstück “Zeit der Schuldlosen” - vergleichen. Der um ein Jahr jüngere Mulisch zeigt sich in seinem Roman als souveräner Kombinator literarischer Genres; er verschmilzt die Vorzüge der novellistischen “Falken-Technik”, [sic] mit denen episch-breiten Erzählens und der spannenden Enthüllungspsychologie und arbeitet seinem Stoff überdies philosophische Prosagedichte ein. [...] Natürlich zehrt dieser Roman nicht allein von der literarischen Intelligenz des Autors, der sorgfältigen Recherche, der poetisch-philosophischen Durchdringung einer “unerhörten Begebenheit”. Bei aller Objektivierung durch die literarische Methode bleibt deutlich, daß es sich um ein sehr persönliches, autobiographisch grundiertes Buch handelt.’Ga naar voetnoot419 Ein wichtiger Faktor im Zusammenhang mit dem Erfolg vom Attentat im deutschen Sprachraum war natürlich wie bei der Rezeption vom Kummer von Flandern, daß Mulisch die nationalsozialistische Vergangenheit und den Zweiten Weltkrieg aufarbeitete. Dabei wurde die von der deutschsprachigen Kritik allgemein anerkannte Feststellung, daß im Attentat gezeigt wurde, daß das ‘Vergangene noch lange nicht vergangen’Ga naar voetnoot420 war, höchst unterschiedlich interpretiert. Zum einen schien Mulisch zeigen zu wollen, daß die Vergangenheit für die Niederländer alles andere als vergessen sei, und dies hieß wiederum für den einen, daß der Schrecken des Zweiten Weltkrieges immer noch fortdauere - ‘“Das Attentat” führt den Holländern eine Nation vor, die den Krieg noch in sich trägt - auch wenn die, die ihn führten und erlitten, nach und nach verschwinden’Ga naar voetnoot421 -, während es für den anderen bedeutete, daß das | |
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niederländische ‘Volk von Puritanern und Selbstgerechten’Ga naar voetnoot422 erst langsam von einer ‘Krankheit’Ga naar voetnoot423 genese.Ga naar voetnoot424 Weiter wurde Das Attentat interpretiert als ‘ein Versuch, frei von Ressentiments Trauerarbeit zu leisten’Ga naar voetnoot425, wobei Mulisch offensichtlich versuche, ‘zwischen Deutschen und Deutschen’Ga naar voetnoot426 zu unterscheiden. Drittens erkannte man im Attentat die Frage nach Täter und Opfer, nach Schuld und Unschuld und interpretierte das Werk als eine Antwort auf das Leben, auf die ‘ewige Frage nach Wahrheit und Lüge’Ga naar voetnoot427, die die ‘Fragwürdigkeit starrer moralischer Normen’Ga naar voetnoot428 zeige und belege, ‘daß ein Leben ohne Schuld in gewalttätigen Zeiten praktisch nicht zu führen’Ga naar voetnoot429 sei. Schließlich sah man gerade im Attentat eine Antwort auf die Versuche, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen, also keine Antwort auf die Frage, ‘wann Vergangenheit endlich vergangen ist’Ga naar voetnoot430, sondern zu Recht eine Abrechnung mit der Nichtbewältigung vergangener Untaten. Man betrachtete es also als Reaktion auf die nicht zu übersehene Tendenz in den achtziger Jahren, die Auseinandersetzung mit der Nazizeit abzubrechen, die Vergangenheit nicht weiter in die Gegenwart zu verlängern. ‘Das teilnahmslos, schläfrig vor sich hindümpelnde Bewußtsein “wach-watschen”, das scheint heute dringlicher denn je’Ga naar voetnoot431, schrieb Helmut Lesch in bestem Neu-Deutsch und fügte hinzu: ‘Der Niederländer Harry Mulisch liefert ein Beispiel, wie so etwas auf hohem Niveau geschehen kann: Ein Jugendtrauma, die Erschießung der Familie durch die Nazis, begleitet ein Leben bis in die Gegenwart. Ein ganz normaler Alptraum | |
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wild zum Realitäten-Horror. Politik-Kommentar, Krimi-Spannung. Vitalität durch Wahrheit.’Ga naar voetnoot432 Wenn auch keiner der vorliegenden Beiträge wirklich ins Detail ging - dies ist, wie gesagt, auch eher eine Aufgabe für Aufsätze in literarischen Zeitschriften -, wurden die literarischen Kunstgriffe, mit denen Harry Mulisch seine Leser zu ‘Zeit-Zeugen’ - ‘Je mehr freilich die Zeit fortschreitet, desto näher rückt die Vergangenheit’Ga naar voetnoot433 - des Faschismus machen wollte, in den Rezensionen zum Attentat im deutschen Sprachraum herausgestellt.Ga naar voetnoot434 Eindeutig wurde von verschiedenen Seiten hervorgehoben, daß Mulisch die Vergangenheit ‘gelten’Ga naar voetnoot435 lassen und sie nicht ‘wie eine Schulaufgabe’Ga naar voetnoot436 bewältigen wolle, daß er deshalb bewußt seine Geschichte weder als Schicksal noch als Lehrstück, sondern, wie es in der Badischen Zeitung genannt wurde, als ‘Konstellation’Ga naar voetnoot437 mit einem ‘demonstrativen Charakter’Ga naar voetnoot438 konzipiert habe, und in seinem ‘philosophischen Roman (was, denkt man an Ecos “Rose”, sehr viel sein kann)’Ga naar voetnoot439, in dem die Symbolik ‘genau’Ga naar voetnoot440 zu stimmen scheine, die Personen bewußt teilweise nur als ‘Stichwortgeber’Ga naar voetnoot441 erscheinen lasse. | |
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Nur Kritiker, die Das Attentat wirklich lieber als spannende ‘Tragödie [...] der Schuld und des weiterwirkenden Verhängnisses’Ga naar voetnoot442 betrachten wollten, bedauerten eine gewisse erlähmende Darstellungskraft, die vielen Zufälle, von denen die Geschichte abzuhängen scheine, die Schwächen der Feinzeichnung, die Tatsache, daß der Roman ‘schon fast peinlich konstruiert’Ga naar voetnoot443 wirke, und gewisse Brüche ‘zwischen mit Symbolik aufgeladenen Passagen und eher hölzernen Dialogen sowie eine unmotivierte Liebesgeschichte’Ga naar voetnoot444. Erstaunlich war in diesem Zusammenhang doch, daß in den deutschsprachigen Kritiken sehr wohl hervorgehoben wurde, daß Das Attentat als Märchen, als Parabel gestaltet war, so wie immer wieder darauf hingewiesen wurde, daß der Roman die Struktur eines Krimis hat, ohne daß aber die moralisierenden Aspekte des Märchens oder die Schuldzuweisung als Kern des Kriminalromans herausgestellt wurden. Außerdem war im Zusammenhang mit der Rezeption des Attentats im deutschen Sprachraum bezeichnend, daß die fünf Episoden, die die äußere Struktur des Attentats begrenzen (1945 Hungerwinter in den Niederlanden, 1952 Koreakrieg, 1956 Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn, 1966 Provo-Bewegung, Vietnamkrieg, 1981 Anti-Atomwaffendemonstration in Amsterdam), mit denen Mulisch zum einen versucht hat, ‘den nationalen Rahmen’Ga naar voetnoot445 zu überwinden und zum anderen zu zeigen, daß das Tausendjährige Reich im Kalten Krieg den Selbstmord Hitlers und den Sieg der Alliierten überlebt hat, ausschließlich mit den damit verwobenen individuellen Erlebnissen Antons oder gar als Exempel ‘der niederländischen Nachkriegsgeschichte’Ga naar voetnoot446 identifiziert wurden.Ga naar voetnoot447 Dies sagt wohl mehr über die Kraft der tatsächlich noch vorhandenen Verdrängungsversuche und das in den achtziger Jahren noch immer vorhandene ‘unre- | |
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flektierte[...] Verhältnis des großen zum kleinen Nachbarn’Ga naar voetnoot448 aus als über die Tatsache, daß etwa zu wenig über den Hintergrund des Oeuvres von Mulisch im deutschen Sprachraum bekannt war. Auf jeden Fall änderte dies nichts an der Tatsache, daß der ‘moralischen Instanz’Ga naar voetnoot449 Harry Mulisch, dem ‘Günter Grass’Ga naar voetnoot450 der Niederlande, mit dem Attentat der Durchbruch im deutschen Sprachraum auf Basis einer echten Anerkennung seiner literarischen Bedeutung gelang. In den Kritiken zu Mulischs nächstem Roman Höchste Zeit über den Schauspieler Willem Bouwmeester, der nie Anerkennung gefunden hat, außer vielleicht während seiner (verdrängten) Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten, und der nun in hohem Alter seine große Chance bekommt, als er bei einem alternativen Amsterdamer Theater sozusagen seine eigene Biographie darstellen darf, war wiederum die Rede von einem ‘Meister der Komposition’Ga naar voetnoot451. Mulischs ‘Vexierbild’Ga naar voetnoot452, sein ‘Streifzug durch das Inferno’Ga naar voetnoot453, sein ‘Jongleursakt mit den Bällen Wirklichkeit und Illusion’Ga naar voetnoot454, seine Darstellung des ‘Abgründige[n] und Überrationale[n] einer scheinbar aufgeklärten rationalen Welt’Ga naar voetnoot455 wurden als ein ‘formschönes, spannendes Stück’Ga naar voetnoot456, als ‘vergnüglich zu lesender Theaterroman’Ga naar voetnoot457 mit ‘präzisen Schilderungen’Ga naar voetnoot458 gewürdigt. ‘Der Realismus, mit dem die Figuren gezeichnet sind, verdichtet sich zu surrealen Explosionen, die Phantasie überwuchert das Alltägliche, das Feststehende gerät nicht nur dem Helden, sondern auch dem Leser ins Rutschen’Ga naar voetnoot459, | |
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schrieb der Wiener Kurier. Es gab zwar auch Kritiker, die der Meinung waren, daß Höchste Zeit nicht mehr als ein ‘aufgebläht daherkommende[r] Roman’Ga naar voetnoot460 sei, die betonten, daß sich bald eine ‘gewisse Müdigkeit’Ga naar voetnoot461 einstelle und daß sich Mulisch bei seinem Versuch, aufs Ganze zu gehen sowie die Grenzen der Illusion hin zur wirklichen Wirklichkeit zu durchbrechen, in ‘schier endlosen Probenbeschreibungen und Binsenweisheiten’Ga naar voetnoot462 ergehe. Solche Kritik gipfelte in der Feststellung, daß Mulisch sich als ein ‘Fipsei-und Schnipsel-Konstrukteur und als Puppe-in-der-Puppe-in-der-Puppe Virtuose’Ga naar voetnoot463 entpuppe. Dennoch erfuhr Höchste Zeit im deutschen Sprachraum die Wertschätzung, die de Roman verdiente.Ga naar voetnoot464 Höchste Zeit bestätigte im allgemeinen das Vertrauen, das Harry Mulisch im deutschen Sprachraum mit dem Attentat gewonnen hatte. Als der Hanser Verlag 1989 mit Augenstern den neuesten Roman von Mulisch auf den Markt brachte, war der Ruhm des ‘Doyen[s] der niederländischen Literatur’Ga naar voetnoot465 im deutschen Sprachraum gefestigt. Der Autor mußte nicht mehr vorgestellt werden; daß auch sein neuester Roman übersetzt wurde, war selbstverständlich. Der Roman gefiel allgemein, obwohl viele der Werke von Mulisch, auf die in seiner märchenhaften Biographie Augenstern verwiesen wird, noch übersetzt werden mußten (bzw. müssen), der deutschsprachige Leser also längst nicht alle Intertextuellen Verweise deuten konnte. Man akzeptierte ganz einfach, daß es wohl die Figuren seines eigenen Oeuvres seien, die während der Schlüsselszene - der Sesselliftfahrt mit der Witwe des Erfinders der Sicherheitsnadel, Madame Sasserath -Ga naar voetnoot466 auftauchten, und würdigte | |
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ansonsten den ‘kleine[n] Schelmenroman’Ga naar voetnoot467, der an das Werk von Novalis erinnere, wegen der ‘Sparsamkeit der Mittel’Ga naar voetnoot468, dem ‘Mut zu Vergleichen’Ga naar voetnoot469, dem ‘Sinn für das skurrile Detail’Ga naar voetnoot470, der ‘märchenhafte[n] Leichtigkeit’Ga naar voetnoot471, der ‘gute[n] Komposition’Ga naar voetnoot472 und der ‘stimmenden mythologischen Bezüge[...]’Ga naar voetnoot473. Mehr als ‘höchst vergnügliche Lektüre’Ga naar voetnoot474 also, nicht nur ‘spannend, kurzweilig und phantasievoll’Ga naar voetnoot475 oder ‘rätselhaft-amüsant’Ga naar voetnoot476, sondern ein ‘Kabinettstück’Ga naar voetnoot477, ‘eine selbstkritische Hommage an die eigene Sturm-und-Drang-Zeit’Ga naar voetnoot478, eine ‘brillante Novelle’Ga naar voetnoot479, eine ‘Etude’Ga naar voetnoot480, die den Leser ‘gänzlich bestrickt’Ga naar voetnoot481, zum Teil aber auch ‘verwirrt’Ga naar voetnoot482 zurückläßt.Ga naar voetnoot483 ‘Eine poetische Erzählung, eine Art individuelle Beschreibung eines höchst eigenwilligen Initiationsritus, eine Erzählung über dichterische Wahrheit und wahre Dichtung,einscheinbar flüchtiges,in Wahrheit federleicht-schwergewichtiges meisterhaftes Impromptu über das, was den Schriftsteller macht, ein Werk über Phantasie nämlich, über die fließenden Grenzen von Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung, über Tod letztlich und dessen Verklärung.’Ga naar voetnoot484 | |
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Mit Augenstern hatte Mulisch nach Meinung der deutschsprachigen Zeitungskritik erneut gezeigt, daß er ein Schriftsteller von ‘europäischem Format’Ga naar voetnoot485 sei, ‘sprachgewandt, mit Humor und Ironie’Ga naar voetnoot486, daß er sich als ‘souveräner Spieler mit Wirklichkeit und Phantasie’Ga naar voetnoot487, als ‘Wanderer auf dem Grat zwischen Realem und Irrealem, zwischen der äußeren und der irmeren Welt’Ga naar voetnoot488 behaupten könne.Ga naar voetnoot489 So waren die unverkennbar negativen Reaktionen nach der Publikation von Mulischs ‘Odysseus des Marketings’Ga naar voetnoot490Die Elemente wohl zu verkraften: ‘eilig geschrieben [...] nicht frei von Gemeinplätzen [...] pathetische Momente, die [...] unproportional wirken’Ga naar voetnoot491; ‘[...] beim Jonglieren mit dem leichthändigen Erzählen darf man nicht die Handgelenke knacken hören’Ga naar voetnoot492; ‘Wir sind anderes, gewichtigeres [sic] von Mulisch gewohnt - und warten’Ga naar voetnoot493; ‘Was der Autor dieses “klassischen” Dramas dabei [...] seinem Helden (und dem Leser) als schicksalhafte Verknüpfung von Ereignissen zumutet, übersteigt doch das Maß dessen, was wir selbst bei bester Laune der Ironie des Schicksals zuzugestehen bereit sind’Ga naar voetnoot494; ‘es ist, als ob Peter Handke einen Trivialroman erzählen würde’Ga naar voetnoot495; ‘Mulisch ex und hopp’Ga naar voetnoot496. Es gab zwar Kritiker, die Mulisch auch nach Lektüre seines letzten mediterranen Romans weiter als ‘Vorbild’Ga naar voetnoot497 betrachteten, die dem Werk ‘Anteilnahme [...] Amüsement’Ga naar voetnoot498 bzw. ‘heitere Unterhaltsamkeit’Ga naar voetnoot499 bescheinigten und die, nicht zuletzt da es Mulisch gelang, | |
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den ganzen Roman in der zweiten Person Singular zu schreiben, von einem rhetorischen ‘Kabinettstückchen’Ga naar voetnoot500, von einem ‘bravourös’Ga naar voetnoot501 inszenierten ‘Untergang des Helden im prosaischen Zeitalter des Massentourismus’Ga naar voetnoot502 sprachen, aber die meisten Kritiker waren im Hinblick auf das, was sie kennengelernt hatten, enttäuscht. Deshalb, und nicht etwa aus Kurzsichtigkeit oder mangelnder Einsicht in die spezifische Eigenart des Werkes von Harry Mulisch, betrachteten sie Mulischs Versuch, in den Elementen das Chaos der Welt künstlerisch zu erfassen und zu ordnen, als gescheitert, und fragte der Chronist der Nachbarsprache Niederländisch, Heinz Eickmans, zu Recht, ob der Hanser Verlag diesmal nicht besser, anstatt wie bislang stets das neueste Werk von Mulisch, einen älteren ‘richtigen’ Roman von Mulisch herausgebracht hätte.Ga naar voetnoot503 Aber unabhängig davon, auch die negative Kritik zu den Elementen zeigt noch einmal, daß man im deutschen Sprachraum Mulisch nicht nur als Moralisten, sondern deutlich auch wegen seiner literarischen Qualität schätzengelernt hatte. | |
4.2.6 Unbeteiligt beteiligt sein: Cees NooteboomCees Nooteboom, der mit dem Roman Das Paradies ist nebenan (1958, ndl. Philip en de anderen, 1955) debütierte, hat nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch in den Niederlanden lange auf wirkliche Anerkennung warten müssen. Obwohl sein erster Roman im niederländischen Sprachraum auf breite Zustimmung stieß, er mit De ridder is gestorven (1963, ‘Der Ritter ist gestorben’), einem Roman über einen Schriftsteller, der den Roman eines verstorbenen Kollegen fertigschreibt, einen wichtigen Beitrag zur literarischen Identitätssuche lieferte, die den modernen niederländischen Roman, insbesondere den aus Flandern kennzeichnet, und obwohl er bedeutende Poesie geschrieben und das Genre des literarischen Reiseberichtes in der niederländischen Presse etabliert hat, wurde er eigentlich erst mit Rituelen entdeckt. Kennzeichnend für das Werk von Nooteboom sind eine leichte Melancholie, die zunehmend unterkühlte Position eines einsamen, betroffen reflektierenden und die Distanz wahrenden Beobachters, die er nach seinem eher romantischen Debüt eingenommen hat, sowie die bildreiche | |
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Sprache. Alle Werke von Nooteboom kreisen um die Themen Wahrheit und Dichtung, Zeit und Tod, wobei das Abschiednehmen, die Rückkehr zum Ursprung und das Bewußtsein der beschränkten Möglichkeiten der Sprache und der Literatur im Mittelpunkt stehen. Die deutschsprachige Kritik zum Werk von Cees Nooteboom hat sich von Anfang an auf die Beziehung zwischen Phantasie und Wirklichkeit, die Rolle des Autors und sein Experiment mit den Möglichkeiten der Literatur konzentriert. Schon bei Das Paradies ist nebenan, dem sentimental-poetischen Roman eines romantischen Verlierers, der vom Haasse-Übersetzer Joseph Tichy bei Diederichs untergebracht wurde, einem Verleger, der in den fünfziger Jahren neben Walschap auch Elsschot, Gezelle und Van de Woestijne herausgebracht hatte, wurde von der Kritik herausgestellt, daß Nooteboom ein Lyriker sei, ‘der sich die Erscheinungen der wirklichen Welt’Ga naar voetnoot504 nur ausleihe, ‘um sie nach eigenem Sinn in ein anderes, wunderliches Gefüge zu bringen’Ga naar voetnoot505. Was dies beinhaltete, zeigte sich allerdings erst Mitte der achtziger Jahre in den Rezensionen zu den Nooteboom-Ausgaben im Suhrkamp Verlag. Obwohl man sich in der deutschsprachigen Kritik zu Nootebooms Roman Rituale, der einerseits die verschiedenen Stationen des Lebens von Inni Wintrop, der lebte, ‘als hätte ihn jemand aufgezogen’Ga naar voetnoot506, und andererseits Vater und Sohn Taads beschreibt, die ihr Leben nach einem strengen System organisiert hatten, nicht einig war, wie man dieses ‘Überlebensbuch’Ga naar voetnoot507, diesen ‘Zeitroman der reinen Ideen’Ga naar voetnoot508, diese ‘spöttische’ Analyse der ‘Erstarrung der Gegenwart’Ga naar voetnoot509, in der sowohl ein gewisses ‘Bedauern’Ga naar voetnoot510 als auch die ‘politische[n] Revolten’Ga naar voetnoot511 | |
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zu fehlen schienen, aus moralischer Hinsicht werten sollte, in literarischer Hinsicht war man einer Meinung: Nooteboom hatte sich als ‘Meister der unsichtbaren Hilfen’Ga naar voetnoot512 entpuppt.Ga naar voetnoot513 Sein gerade übersetztes Werk Rituale reizte ‘zum Widerspruch’Ga naar voetnoot514, war ‘packend geschrieben’Ga naar voetnoot515, ‘unterhaltsam und intelligent’Ga naar voetnoot516, zeichnete sich durch ‘befreiende[n] Witz’Ga naar voetnoot517 aus und ‘trotz aller Überkonstruktion’Ga naar voetnoot518 durch eine ‘blendend[e]’Ga naar voetnoot519 Erzählung und einen ‘ungewohnt provokanten Ton’Ga naar voetnoot520. | |
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‘Die Qualität von Nootebooms Schreiben ist wahrhaft hinreissend. Nicht nur stimmen seine Figuren und die mit böser Phantasie ausgedachten Geschichten, nicht nur ist seine These klug, bedenkenswert und existentiell beunruhigend, sondern auch sein Stil ist einzigartig intelligent.’Ga naar voetnoot521 Wenn auch das Werk von Cees Nooteboom im deutschen Sprachraum durch die Publikation von Rituale keinen unmittelbaren Durchbruch erlebte; dadurch daß Nooteboom ab 1985 immer wieder nach Deutschland reiste und der Suhrkamp Verlag 1987 In den niederländischen Bergen, 1989 Ein Lied von Schein und Sein und 1990 Mokusei! folgen ließ, wurde Nooteboom schnell ein Begriff, zumindest für die Kenner der niederländischen Literatur. Bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens der Berliner Notizen im Jahre 1991, aus denen Auszüge vor der Publikation bei Suhrkamp in der Berliner tageszeitung zu lesen waren, stand der Name Nooteboom für ‘Weltliteratur aus Holland’Ga naar voetnoot522, fur einen ‘Meister zwischen Schein und Sein’Ga naar voetnoot523, der ‘abseits des Sensationellen und abseits geläufiger Diskurse’Ga naar voetnoot524 uber ‘Zeit und Materie [...] die Relativität der Wirklichkeit’Ga naar voetnoot525 meditiere, für ‘sublimeres spirituelles Vergnügen’Ga naar voetnoot526, für einen charismatischen, ironisch-selbstironischen, virtuosen, produktivmachenden und tiefsinnigen Märchenerzähler, der mit seinem ihn kennzeichnenden ‘Gestus der Beiläufigkeit’Ga naar voetnoot527 ‘Bildung lebendig’Ga naar voetnoot528 mache und dessen Werk sich durch eine Sprache auszeichne, die ‘schöner nicht sein kann: klar, poetisch und voll Humor’Ga naar voetnoot529. Dementsprechend war auch die Resonanz auf Berliner Notizen, in denen Nooteboom während seines Aufenthaltes in Berlin als Stipendiat des DAAD die Ereignisse um den Fall der Berliner Mauer kommentierte. Das Buch wurde nicht nur deshalb geschätzt, weil es, wie es in der Entscheidung der Jury für den ‘Literaturpreis zum 3. Oktober’, den Nooteboom als erster am 29. November 1991 erhielt, hieß, ‘die großen Anstrengungen und fruchtbaren Bemühungen, aber auch die unguten Tendenzen wie deutsch-nationale Auswüchse und die rapide wachsende | |
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Ausländerfeindlichkeit innerhalb des sensiblen Prozesses des Zusammenwachsens’Ga naar voetnoot530 zeige. Ebenso wichtig waren inzwischen die differenzierte Sprache, die ‘innere [...] Distanz’Ga naar voetnoot531 und das ‘Prinzip von Annäherung und Distanzierung’Ga naar voetnoot532, mit der der Protokollant Nooteboom in einer Art ‘Aggregatzustand des Schreibens’Ga naar voetnoot533 etwas ‘anklingen’Ga naar voetnoot534 lasse, ‘ohne mit schwerdeutscher [sic] Interpretationen’Ga naar voetnoot535 anzukommen. In Berliner Notizen würdigte man also nicht nur den Bericht über die Geschehnisse im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung, sondern auch Nootebooms typisches ‘unbeteiligt [...] Beteiligtsein’Ga naar voetnoot536. Zum Bestseller und zum wirklich anerkannten Repräsentanten der modernen niederländischen Literatur entwickelte sich Nooteboom im deutschen Sprachraum aber erst, als - vielleicht durch die Verleihung des Literaturpreises zum 3. Oktober auf ihn aufmerksam geworden - auch Marcel Reich-Ranicki ihn entdeckte und in der Fernsehsendung ‘Literarisches Quartett’ in bezug auf Die folgende Geschichte gestand: ‘Es hat mich tief beeindruckt und ich bedaure es außerordentlich, daß ich die bisherigen Bücher von Nooteboom alle übersehen und nicht gelesen habe. Das ist ein ganz bedeutender europäischer Schriftsteller, [sic] und eines der wichtigsten Bücher, vielleicht das wichtigste, das ich in diesem Jahr gelesen habe. (...) Die Erzählung ist glänzend geschrieben. (...) Mich hat das Buch tief getroffen, und wenn ich ein Buch empfehlen kann - denn es kommt ja jetzt die Weihnachtszeit, und die Leute werden Bücher kaufen, und sie werden die falschen kaufen - dann sage ich: ein Bestseller ist es nicht, aber es sollte ein Bestseller werden. (...) Ich empfehle es, weil es wirkliche Literatur ist. (...) Ich spreche gern vom doppelten Boden, der das Kennzeichen von Literatur ist, hier ist er da, der doppelte Boden, hier ist Literatur und Poesie. Und ich bin tief von diesem Nooteboom beeindruckt; sieh da, die Holländer haben einen solchen Autor!’Ga naar voetnoot537 | |
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Die Folge war, daß Nootebooms Auftragsarbeit und Geschenk zur niederländischen Buchwoche - im Frühjahr 1991 wurden über 500.000 Exemplare an die niederländischen Leser verschenkt -, das in den Niederlanden gar nicht so günstig empfangen, sondern eher als zu schwierig empfunden wurde, im deutschen Sprachraum ein Bestseller und sein Autor der Senkrechtstarter der 43. Frankfurter Buchmesse wurde. Nsahezu sofort war die Auflage vergriffen, und inzwischen wurden schon weit über 80.000 Exemplare verkauft. In einer für einen niederländischsprachigen Autor ungekannt großen Welle von Rezensionen wurde Nootebooms Erzählung von Sokrates' Erinnerungsreise in die eigene Vergangenheit gewürdigt, und dies nicht nur, weil der Literaturpapst Reich-Ranicki dies so gewollt hatte, sondern erneut, weil man die ‘ineinander verschränkte[n]’Ga naar voetnoot538, aber ‘klar’Ga naar voetnoot539 gegliederten Satzkonstruktionen, die ‘metaphernreiche’Ga naar voetnoot540, ‘leise’Ga naar voetnoot541 Sprache, den Humor, die Leichtigkeit, das ‘illusionistische [...] Spiel’Ga naar voetnoot542 und die ‘Mischung aus herber Poesie und kühler Sachlichkeit’Ga naar voetnoot543 zu schätzen wußte. Negative Kritiken gab es kaum. Jürg Scheuzger meinte, eine Kritik aus dem Jahr 1988 aufgreifend, ‘ein wenig zu gekonnt, zu elegant, zu formulierungssicher, zu glatt. Aber wer will sich angesichts der allgemeinen Nichtskönnerei über einen beschweren, der es zu gut kann?’Ga naar voetnoot544 In der Mittelbayrischen Zeitung war die Rede von einer ‘miserablen Geschichte’Ga naar voetnoot545, ‘katastrophal langweilig und windschief’Ga naar voetnoot546 konstruiert. Noch negativer äußerte sich Peter Handke, der in einem Interview in Theater heute ziemlich unvermittelt feststellte: | |
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‘Das ist ein völlig nachgemachter, hohler Ton, ein Ausplündern von Topoi, die durch kein Auge, kein Ohr und vor allem kein Herz im Erzählen gerechtfertigt sind. [...] das ist Kitsch der äußersten Papierklasse. Es gibt ein paar amüsierende Sätze, sowas unterläuft ja jedem von uns, der dreißig Jahre an der Schreibmaschine herummurkst. Aber das Buch hat keinen Körper, keine Dringlichkeit, keine Suche, es ist nichts als bemüht - für mich das Beispiel eines plündernden Postmodernismus, wo man alles machen kann.’Ga naar voetnoot547 Solch negative Äußerungen fanden (anders als in den Niederlanden, wo man sich offensichtlich über Nootebooms Erfolg im deutschen Sprachraum wunderte) wenig Anklang. Im Gegenteil, das Lob für Die folgende Geschichte, als ‘deren eigentliche Hauptfigur die Poesie selbst’Ga naar voetnoot548 erkannt wurde, war überschwenglich: ‘Das Rätselhafteste an Nootebooms charmant enigmatischer Erzählung bleibt freilich der Umstand, wie er diese Fülle an Anspielungen, Assoziationen, Beobachtungen und Erinnerungen in knapp 150 Seiten unterbringen konnte, die nie überladen wirken, nie ausufernd, nie geschwätzig oder prätentiös. Stattdesssen perlt und moussiert dieser Erzählstrom auf das anregendste dahin, mal ironisch sprudelnd. dann wieder melancholisch plätschernd, taucht mythologisch tief und spritzt kleine essayistische Fontönen hoch.schrieb G. Schmickl in der Wiener Zeitung, während in der Presse, ebenfalls aus Wien, zu lesen war: ‘Was gewissen Gegenwartsautoren von Mal zu Mal jämmerlicher mißlingt, erreicht Cees Nooteboom scheinbar mühelos: das Verwandeln oder Einschmelzen von Mythos, Geschichte, Philosophie in Erzählung’Ga naar voetnoot550. Die Frankfurter Allgemeine betonte: ‘Ob Gott nun tot ist oder nicht, der Erzähler [= Nooteboom, HVU] erfindet die Welt’Ga naar voetnoot551 und die Frankfurter Rundschau: ‘Kenner haben da mit Lust und Laune Nüsse zuhauf zu knacken - ein gar nicht geringzuschätzendes | |
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Vergnügen bei einer Lektüre, deren Herzschläge den Kopf durchbluten’Ga naar voetnoot552. Schließlich schrieb die Schwäbische Zeitung: ‘Das Buch bricht radikal mit den Dogmen des Zeitgeistes, es zerstört die Tabus der Moderne, es kündet von einer neuen Zeit’Ga naar voetnoot553. Solche Reaktionen erinnern an die Rezeption von Multatulis Werk um die Jahrhundertwende. Und diesmal gab es keinen apostelhaften Übersetzer wie Wilhelm Spohr. Weder Hugo Claus noch Harry Mulisch, sondern der im niederländischen Sprachraum lange Zeit als literarischer Außenseiter betrachtete Cees Nooteboom wurde Anfang der neunziger Jahre zur neuen Gallionsfigur der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum. Inzwischen wird in ganzseitigen Beiträgen in den literarischen Beilagen bedeutender Zeitungen das Gesamtwerk von Nooteboom analysiert und war die Lyrik Nootebooms, zunächst vom Münsteraner Verleger Kleinheinrich, dann auch von Suhrkamp verlegt, auch Gegenstand einer ausführlichen Studie in der Zeitschrift Akzente, nachdem ein Jahr zuvor Nootebooms Prosa ausführlich in der Zeitschrift Schreibheft vorgestellt worden war.Ga naar voetnoot554 Die Rezeption Nootebooms im deutschen Sprachraum mag, dies konnte leider nicht ausreichend untersucht werden, zwar ein wenig anders gelagert sein als im niederländischen Sprachraum - vor allem Nootebooms heiter-distanzierte Philosophie findet im Land von Hegel und Heidegger offensichtlich mehr Anerkennung als in den Niederlanden -, sie ist auf jeden Fall weniger oberflächlich als z.B. im englischen Sprachraum, und nicht zuletzt deshalb kann, auch wenn die meisten Reiseberichte von Nooteboom im deutschen Sprachraum bislang unbekannt geblieben sind, insbesondere im Fall von Cees Nooteboom, von einer partiellen Rezeption nicht die Rede sein.Ga naar voetnoot555 | |
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4.3 Weitere Beiträge zur niederländischen Literatur in der Periode 1945-1990Die Beiträge zur niederländischen Literatur in deutschsprachigen literarischen Zeitschriften nach dem Zweiten Weltkrieg waren, wie bereits wiederholt betont wurde, im Vergleich zu den vergangenen Perioden mehr als spärlich. Das Interesse für die niederländische Literatur brach im deutschen Sprachraum nach dem Zweiten Weltkrieg in diesen Medien völlig ab. Eine ausführliche Analyse einzelner Zeitschriften, so wie dies für die anderen Zeitabschnitte geschah, macht für die Periode nach 1945 also keinen Sinn. Die wenigen vorliegenden Beiträge und die Anthologien, die in diesem Fall hinzugezogen werden sollen, zeigen aber deutlich, wie nach 1945 kontinuierlich versucht wurde, das Interesse für die niederländische Literatur zu wecken bzw. zu vertiefen. Wie sich bereits bei der Analyse der übersetzten Werke in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt hat, gab es einen relativ nahtlosen Übergang zwischen der Periode vor dem Zweiten Weltkrieg und der nach 1945. Sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten Timmermans, Streuvels, Van Ammers-Küller, Claes, Coolen, Corsari, Walschap, Lulofs, Roothaert und De Jong das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum. Entscheidend für ihren Erfolg nach dem Zweiten Weltkrieg war, wie gesagt, der große Bedarf an Unterhaltungsliteratur und trotz ihrer vorbelasteten Vergangenheit während des Nationalsozialismus ein weitgehend ungebrochenes Vertrauen in die niederländische Literatur. Diesbezüglich war es sehr wichtig, daß das Werk niederländischsprachiger Autoren, insbesondere in katholischen Kreisen, viele Leser gefunden hatte. Für dieses Publikum stellte Decroos 1948 seine Auswahl geistlicher Gedichte aus sieben Jahrhunderten zusammen, und auf dieselbe Leserschaft richtete Hermanowski sein Programm aus, denn er war davon überzeugt, daß es außerhalb des Bodens, den das Christentum in Flandern für sich beanspruche, ‘kaum eine nennenswerte literarische Blüte’Ga naar voetnoot556 zu verzeichnen gebe und daß gerade die christliche Literatur in den letzten Jahren eine ‘außerordentliche Blüte erlebte, die selbst die kühnsten Erwartungen, die man zu Beginn dieser Epoche hegte, weit übertraf’Ga naar voetnoot557. Wahrend Hermanowski nach 1950 doch zunehmend wieder Heimatverbundenheit als Kriterium mit einbezog und Karl Jacobs sich 1946 mit | |
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einer kommentarlosen, ‘neutralen’ Sammlung von Märchen und Volksgeschichten aus Flandern begnügte, versuchten andere in dieser Periode, das alte Bild der niederländischen Literatur zu erneuern.Ga naar voetnoot558 Nico Greitemann gelang es 1951 - trotz des von Rolf Italiaander bedauerten belasteten deutsch-niederländischen Verhältnisses, daß die Publikation so mancher Klassiker unmöglich mache -Ga naar voetnoot559, zunächst eine Sammlung Lyrik aus Holland und Flandern zu präsentieren, in der er sowohl zeigte, daß der ‘in sich gekehrte und als verschlossen verschriene Holländer ein tiefes Innenleben’Ga naar voetnoot560 habe, als auch daß die Dichter in den Niederlanden und Flandern ‘seit der Erneuerung im Jahre 1880 [...] auf europäischem Niveau’Ga naar voetnoot561 stünden. Ergänzt wurde diese Anthologie, die die Generation nach 1945 noch recht stiefmütterlich behandelte, einige Jahre später von Johannes Piron mit seiner Sammlung Muscheln der Tieflande ([1957]), die dort ansetzte, wo Wolfgang Cordan im Weltkrieg mit seinem Spiegel der Niederlande aufgehort hatte, und vom wichtigen Band von Ludwig Kunz Junge niederländische Lyrik (1957), in dem, illustriert von Karel Appel, einige der bedeutendsten niederländischen Fünfziger vorgestellt wurden. 1960 komplettierte Heinz Graef, was die fünfziger Jahre betraf, schließlich das von Hermanowski beschränkte Bild der Lyrik aus Flandern mit seinem Band Flämische Lyrik, der - auch hier sieht man die Opposition zu Hermanowski - auf Vorschlag von Hugo Tommé von der Agentur ILITA zustande kam und in dem nun neben Klassikern die wichtigsten flämischen Fünfziger vorgestellt wurden. Eine sofortige Wende leiteten diese Sammlungen aber nicht ein. Sie wurden zwar von Beiträgen wie dem von H. Wielek aus Amsterdam | |
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begleitet, der sich ausdrücklich von der spannenden und geschickt konstruierten Erzählliteratur von Autoren wie Jan de Hartog distanzierte und ihnen das Werk von Anna Blaman (1905-1960), Willem Frederik Hermans und Gerard Reve gegenüberstellte, aber eine neue Perspektive auf die niederländische Literatur setzte sich, insbesondere was die Prosa anbelangte, zunächst nicht durch.Ga naar voetnoot562 Unterhaltungs- und (vorzugsweise ‘flämische’) christliche Literatur bestimmten das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum. Dies zeigt sich nicht zuletzt im Band X des Romanführers von Johannes Beer, in dem Autoren wie Van Ammers-Küller, Claes, Coolen, De Hartog, De Vries, Streuvels, Walschap und die bereits in den dreißiger Jahren im deutschen Sprachraum bekannten flämischen Realisten im Vordergrund stehen. An neueren Autoren wurden nur Hella Haasse - weil sie wie Fabricius und Lulofs in den Tropen geboren wurde -Ga naar voetnoot563 und die über die Gruppe 47 bekannt gewordenen Autoren Adriaan Morriën und Aar van de Werfhorst (o 1907) aufgenommen, deren Werk als ‘charakteristisch’Ga naar voetnoot564 empfunden wurde. Autoren wie Johan Daisne, Marnix Gijsen, Bernard Kemp, Maria Rosseels und Cees Nooteboom wurden, obwohl damals auch von ihrem Werk bereits Übersetzungen vorlagen, nicht verzeichnet. Bezeichnend ist in diesem Kontext ebenfalls die Übersicht von Franz Lennartz Ausländische Dichter und Schriftsteller unserer ZeitGa naar voetnoot565. Auch dort ist die niederländische Literatur nur durch Van Ammers-Küller, Claes, Coolen, De Hartog, Elsschot, Streuvels, Timmermans und Walschap vertreten. Der in den fünfziger Jahren eingeleitete Trend setzte sich in den sechziger Jahren jedoch fort. Das Blatt wendete sich weiter. Es ging nun deutlich nicht mehr ganz allgemein um das ‘gegenseitige Verstehen’Ga naar voetnoot566, um die Förderung des ‘niederländisch-deutschen Literaturdialogs’Ga naar voetnoot567, sondern man versuchte nun, eine grundlegende Änderung des Bildes der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum zu erreichen und, dies war u.a. eine Folge des unerquicklichen Streites um Hermanowski, zunehmend auch ihre gemeinsame Verbreitung voranzutreiben. | |
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In den beiden Beiträgen, die in den sechziger Jahren in der Zeitschrift für Kulturaustausch zur niederländischen Literatur erschienen, wurde zwar noch fein säuberlich zwischen der Literatur aus den Niederlanden und der aus Flandern getrennt, das Verlangen nach einer Aktualisierung des Bildes der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum war dort aber nicht mehr zu übersehen.Ga naar voetnoot568 Damit entsprachen die Autoren einem Wunsch von Johan van Os, der bereits 1961 die Angewohnheit kritisiert hatte, das Bild der Literatur aus Flandern nach dem Motto ihrer ‘ersten [...] Botschaft’Ga naar voetnoot569 zu variieren und das Programm der niederländischen Literatur in deutscher Übersetzung auf Unterhaltungsschriftsteller, Verfasser von historischen Romanen und humoristischen Skizzen sowie Heimatautoren zu beschränken. Was die Literatur aus Flandern betreffe, so hatte Van Os schon damals dargelegt, fehlten Hugo Claus, Jan Walravens (1920-1965), Piet van Aken, Tone Brulin (o1926) und Paul de Wispelaere, und was die Literatur aus den Niederlanden betreffe, werde zwar ‘Vielfalt und Breite’Ga naar voetnoot570 gezeigt, aber keineswegs ‘Essenz und [...] Höhe’Ga naar voetnoot571. Die Appelle von Johan van Os, Lieven Rens und W. van Leeuwen wurden gehört. Auf der Basis aus den fünfziger Jahren aufbauend, die 1960 noch einmal durch die literaturgeschichtliche Sammlung von Jérôme Decroos Niederländische Gedichte aus neun Jahrhunderten gefestigt worden war, präsentierte Karl Hermann Schwarz-Vanwakeren mit Blüten aus Flandern (1961) die junge Generation flämischer Dichter und stellten Mira Dinger-Hinterkausen und Jürgen Hillner in ihren Sammlungen Flämische Erzählungen bzw. Niederländer erzählen junge Prosaschriftsteller vor. Was die Poesie aus den Niederlanden betraf, wurden in den sechziger Jahren erneut wichtige Akzente von Ludwig Kunz gesetzt, der eine Neuausgabe seiner Anthologie Junge niederländische Lyrik (1965) herausbrachte, diesmal eine bibliophile Ausgabe mit Zeichnungen von Lucebert, | |
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und von Heinrich Schneeweiß, der mit seiner Sammlung Zwischen augen und atem (1964) ebenfalls die Fünfziger in den Mittelpunkt rückte.Ga naar voetnoot572 Für die Prosa aus den Niederlanden hat natürlich Jürgen Hillner wichtige Arbeit geleistet, aber in diesem Zusammenhang muß auch auf Pieter Grashoff hingewiesen werden, der mit Niederländische Erzähler der Gegenwart - in seiner Sammlung war die von der Gruppe 47 preisgekrönte und von Heinrich Böll übersetzte Geschichte von Adriaan Morriën enthalten - Aufsehen erregte.Ga naar voetnoot573 All diese Sammlungen konkurrierten in den sechziger Jahren allerdings nach wie vor mit verschiedenen Anthologien, in denen nicht so sehr der europäische Charakter der niederländischen Literatur, nicht wie bei Grashoff ihr ‘Weltbürgertum’Ga naar voetnoot574 als Kennzeichen herausgestellt wurde, sondern eher wie eh und je nach einer typisch flämischen bzw. niederländischen Note gesucht wurde. Neben einigen Anthologien von Hermanowski waren dies: Ach, Sie sind Holländer (1961) von Martha Baerlecken-Hechtle, in der das Bild der neuen niederländischen Literatur weitgehend auf das satirische Werk von Bomans, Carmiggelt und Morriën beschränkt wurde, Die blühende Muttergottes (1961) von Elisabeth Antkowiak, worin sich die Vorliebe für die ‘innige, erdenfrohe flämische Dichtung’Ga naar voetnoot575 ein weiteres Mal zeigte, und Ferdinand Wippermanns In Flandern blinkt der Himmel blau, in der ‘das Bild des Alten’Ga naar voetnoot576 dominierte. Am Ende setzten sich die Erneuerer, wie der Band von Hillner zeigte, zwar durch, aber es war ein langer und zäher Prozeß. Dies zeigte nicht nur die Kritik an Grashoffs Sammlung, in der immer das Fehlen der erwähnten ‘niederländischen Note’Ga naar voetnoot577 bedauert wurde, sondern auch, daß die an sich erneuernde Anthologie Flämische Erzählungen von Mira Dinger-Hinterkausen aus dem Jahr 1967 sich noch sehr stark nach dem alten Geschmack des deutschsprachigen Lesers richtete. Gerade beim | |
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Zustandekommen dieser Anthologie, zu der das Nachwort von Hermanowskis ‘Erzfeind’ Karel Jonckheere geschrieben wurde, dürfte allerdings vor allem eine gewisse negative Fixierung auf das Beispiel Hermanowski eine Rolle gespielt haben. Denn weshalb sonst entschied sich Mira Dinger-Hinterkausen trotz des Bekenntnisses zur ‘literarische[n] Einheit’Ga naar voetnoot578 von Nord und Süd für einen Sammelband mit Werken von ausschließlich flämischen Autoren und entschloß sie sich, ohne zu berücksichtigen, daß Hermanowski sich bereits knapp 20 Jahre lang für das Vertraute eingesetzt hatte, für das ‘pädagogische [...] Prinzip’Ga naar voetnoot579, vom Vertrauten (Claes, Timmermans, Walschap) zum Unvertrauten überzuleiten. Damit wurde doch nur die Chance verpaßt, ein eindeutigeres Bild der neuen niederländischen Literatur zu geben, und dem Band indirekt der typische Stempel der sechziger Jahre, der Ära Hermanowski, aufgedrückt. Trotz ‘Klarstellung’ und trotz Arbeit der ‘Stiftung’ herrschte außerdem weiterhin eine große Sprachverwirrung und bestimmten äußerst ungenaue Kenntnisse über die Beziehungen zwischen der Literatur aus den Niederlanden und der aus Flandern das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum. Nicht nur, daß in der Anthologie von Pieter Grashoff Gerard Walschap als Niederländer präsentiert wurde, Jürgen Hillner, der erste Herausgeber einer Anthologie niederländischer Prosa aus Flandern und aus den Niederlanden (in seiner Terminologie eine Anthologie ‘“beider Niederlande”’Ga naar voetnoot580), trieb gegen Ende der sechziger Jahre das Ganze auf die Spitze, indem er in guter Absicht als Titel für seine Sammlung ein in der ‘Klarstellung’ ausdrücklich gerügtes pars pro toto wie ‘Niederländer erzählen’ wählte. Damit war die Aufgabenstellung für das nächste Dezennium eigentlich gestellt. Aber die Zeit war noch nicht reif. Noch 1970 publizierte Georg Hermanowski die Sammlung Gedichte aus Flandern: 1920-1970, in der er sich offensichtlich, aber vergeblich darum bemühte, eine deutlich repräsentativere Auswahl als in der Vergangenheit zu treffen. Sie wurde in Flandern ‘als symbool van een mentaliteit’Ga naar voetnoot581 abgeurteilt. Im gleichen | |
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Jahr erschien auch Flämische Lyrik von Paul Wimmer, in der die neuere Poesie aus Flandern besser vertreten war. Da sie aufgrund des Österreichisch-Belgischen Kulturabkommens mit finanzieller Unterstützung des ‘Österreichischen Bundesministeriums für Unterricht und des Niederländischen [sic] Ministeriums für Kultur’Ga naar voetnoot582 herausgebracht wurde, war sie wie damals die Sammlung von Dinger-Hinterkausen ausschließlich auf Flandern beschränkt. Das damals belgische Ministerium für Nationale Erziehung und Niederländische Kultur hatte also erneut nicht im Sinne der selbstgewünschten Integration die Chance genutzt, den engen flämischen Rahmen zu sprengen und endlich eine umfassende Anthologie niederländischer Dichtung herauszubringen.Ga naar voetnoot583 Jonckheeres Bekenntnis aus dem Vorwort zu Wimmers Sammlung, daß die ‘Flämische [sic] Literatur, ohne deswegen Komplexe zu haben, einen Teil der allgemeinen Niederländischen’Ga naar voetnoot584 ausmache, war wiederum ein Lippenbekenntnis geblieben. Was nationale Instanzen nicht leisten konnten - auch Ach, Sie sind Holländer, die Sammlung von M. Baerlecken-Hechtle, in die ausschließlich Niederländer aufgenommen wurden, entstand mit Unterstützung einer nationalen Instanz, in diesem Fall der Niederländischen Botschaft in Bonn-Ga naar voetnoot585, realisierte die ‘Stiftung’.Ga naar voetnoot586 Sowohl die kleine Sammlung Lied zwischen den Zähnen von Heinz Schneeweiß als auch die sehr erfolgreiche Prosa-Anthologie vom damaligen Ostberliner Verlag Volk und Welt Erkundungen: 21 Erzähler aus Belgien und den Niederlanden (1976) und der ebenfalls bei Volk und Welt erschienene Sammelband mit Poesie von Paul van Ostaijen, Gerrit Achterberg (1905-1962), Lucebert und Hugo Claus Gedichte aus Belgien und den Niederlanden entstanden | |
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in Zusammenarbeit mit der ‘Stiftung’ und präsentierten neben Werk von flämischen auch das von niederländischen Schriftstellern.Ga naar voetnoot587 Für die Verleger und die Herausgeber dieser Anthologien war klar: Es mußte ‘unbestreitbar von einer niederländischen Literatur’Ga naar voetnoot588 gesprochen werden. Unterstützung für diesen Standpunkt fanden sie im deutschen Sprachraum aber kaum. In den spärlichen ausführlichen Beiträgen zur niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum war die niederländisch-sprachige Literatur aus Flandern in den siebziger Jahren höchstens ein Phänomen am Rande. Niederländische Literatur war und blieb vorwiegend Literatur aus den Niederlanden.Ga naar voetnoot589 Später zeigte sich, daß inhaltlich die Wende zwar geschafft war, daß das alte Bild also abgelöst war, aber es war kein neues entstanden. Gegen Ende der siebziger Jahre war die niederländische Literatur für viele wieder kaum ein Begriff - ‘wer vermöchte bei uns auf Anhieb einen zeitgenössischen niederländischen Dichter zu nennen’Ga naar voetnoot590, schrieb Michael Rehs 1979 -, und das, was erschien, war als Folge von Hillners Programm stark thematisch orientiert, obwohl doch gerade er mit dem Ziel angetreten war, ‘Einheit und Kontinuität’Ga naar voetnoot591 zu zeigen. Ganz von neuem mußte man jedoch nicht mehr anfangen. Es mußte kein traditionelles, festgefahrenes Bild mehr zerstört werden. Es gab einige gute Ansätze, auf die man bauen konnte, und man konnte davon profitieren, daß die Literatur aus den Niederlanden und Flandern seit Ende der siebziger Jahre international größere Beachtung fand.Ga naar voetnoot592 Dennoch würde es, wie gesagt, noch bis Mitte der achtziger Jahre dauern, bis dank der | |
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Vorarbeiten Carel ter Haars, der unermüdlich über die Geschichte der niederländischen Nachkriegsliteratur publizierte und sowohl die Kontinuität als auch Sonderentwicklungen in der niederländischen Literatur sowie die Rolle des Individualismus der niederländischen und flämischen Autoren in seinen Beiträgen thematisierte, und dank des Mutes von kleineren Verlagen, die regelmäßig immer wieder neue Akzente setzten, schließlich doch der Durchbruch gelang. Die Anthologien aus der Mitte der achtziger Jahre Erkundungen II (1984), Die Reise nach Mohrbach (1985), Mit anderen Augen (1985), Gegenwelten (1985) und die vorbildliche Übersicht moderner niederländischer Lyrik Unbekannte Nähe (1985), die geballt die Aufmerksamkeit auf die niederländische Literatur zogen, erschienen zur rechten Zeit.Ga naar voetnoot593 Sie festigten ein letztes Mal die Grundlage für die erfolgreichen Übersetzungen von Claus, Nooteboom und Mulisch, die in den Jahren darauf erschienen. Diese zogen schließlich, und dies zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, eine ganze Reihe von ausführlichen Beiträgen zur niederländischen Literatur in deutschsprachigen Zeitungen und teilweise auch in Zeitschriften nach sich und zeigten deutlich, daß niederländische Literatur im deutschen Sprachraum endlich (wieder) Anerkennung fand und zunehmend (wieder) öffentlich wurde. |
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