Moderne Niederländische Literatur im Deutschen Sprachraum 1830-1990
(1993)–Herbert van Uffelen[p. 213] | |||||||||||||||||||||||||||||||
3. Der Zeitraum 1914-19453.1 Vom Ersten Weltkrieg bis 1933Die großdeutsche Perspektive auf die Niederlande und Flandern, die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts aufkam, hat sich, was die literarischen Beziehungen zwischen dem deutschen und dem niederländischen Sprachraum betraf, dies wurde im vorigen Kapitel dargelegt, nicht durchsetzen können. Weder in Deutschland noch in Flandern, dies zeigte auch die äußerst geringe Verbreitung der Zeitschrift Germania, haben die alldeutschen Vorschläge breite Unterstützung gefunden; im Gegenteil, sogar innerhalb des Alldeutschen Verbandes ging man bald auf Distanz zur ‘abstrakte[n] Deutschtümelei’1. Dies führte dazu, daß das Bild der modernen niederländischen Literatur in der Periode 1880-1914 vorwiegend von literarischen Kriterien bestimmt wurde.2 Um 1910 erschien jedoch ein erneuter Vorstoß der Alldeutschen sinnvoll, denn zu dem Zeitpunkt zeichnete sich der von den Alldeutschen ‘herbeigewünschte’ Konflikt zwischen der Entente und den Mittelmächten ab, bei dem die Haltung der Niederlande und Belgiens wieder eine bedeutende Rolle spielen könnte.3 Zugleich meldete sich die flämische Bewegung, die sich inzwischen stärker als je zuvor sozialökonomischen und wirtschaftlichen Aspekten der Flamenfrage zugewandt hatte, radikaler und massiver denn je zu Wort. Deshalb versuchten die Alldeutschen wieder verstärkt, die ihrer Meinung nach ‘unbegreifliche Verblendung’4 bezüglich der ‘wahren Interessen und natürlichen Notwendigkeiten [...], die so zwingend auf gute Beziehungen zu dem mächtigen Nachbar zu Lande’5 hinwiesen, aus dem Weg zu räumen. Erneut legten sie dar, daß Flamen und Niederländer wie die Niederdeutschen eine ‘deutsche Volks- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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gruppe’6 wären und betonten, daß sich die Niederlande dem ‘Alldeutsche[n] Reich’7 anschließen sollten. Die gespannte politische Lage und die Tatsache, daß auch bei den Alldeutschen die Distanz zu Flandern und die Skepsis bezüglich der ‘Zukunftsperspektive der flämischen Bewegung und ihrer Fähigkeit, die belgische Politik entscheidend zu beeinflussen’8, gewachsen war, führte diesmal sogar dazu, daß, gesetzt den Fall, daß sich die Niederlande und vor allem Belgien beim erwarteten Konflikt auf die falsche Seite stellen würden, deutlicher und offener als in den neunziger Jahren mit gewaltsamer Annexion gedroht wurde.9 Anders als im ausgehenden 19. Jahrhundert waren es in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur die Alldeutschen, die versuchten, die Beziehungen zwischen Deutschland auf der einen und den Niederlanden und Flandern auf der anderen Seite zu beeinflussen. Aktiver als in der Vergangenheit zeigten in dieser Periode auch die deutschen Katholiken, die seit Anfang der untersuchten Periode ein besonderes Interesse für die niederländische Literatur gezeigt hatten, Interesse für das Schicksal der flämischen Bewegung.10 Wie Wilfried Dolderer gezeigt hat, wurden von katholischer Seite im wesentlichen über das ‘Sekretariat Sozialer Studentenarbeit’ unter Leitung des Priesters Carl Sonnenschein und den 1903 gegründeten flämischen ‘Algemeen Katholiek Vlaamsch Studentenverbond’ um 1910 auf der Basis religiöser und sozialer Überzeugungen neue Kontakte zwischen dem deutschen und niederländischen Sprachraum gelegt und das Band zwischen den Katholiken und der | |||||||||||||||||||||||||||||||
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flämischen Bewegung in Flandern auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite enger denn je geknüpft. Während des Krieges engagierten sich die Katholiken auch stark in der sogenannten Flamenpolitik und für die von den Aktivisten angestrebte Selbstverwaltung in Flandern.11 Als dritte Gruppe beteiligten sich die Niederdeutschen, die bis dahin nur wenig konkretes Interesse für die kulturellen und politischen Entwicklungen im niederländischen Sprachraum gezeigt hatten, obwohl die Beziehungen zu Niederdeutschland im 19. Jahrhundert in Flandern heftig diskutiert worden waren, an der Wiederbelebung der Kontakte zum niederländischen Sprachraum. Ebenfalls bereits in den Jahren vor dem Weltkrieg äußerte sich z.B. der Professor für Niederdeutsche Philologie Conrad Borchling, der während des Krieges eine vielbeachtete, von ‘germanozentrische[r] Aversion gegen Frankreich’12 und ‘machtpolitisch fundierte[m] Interesse’13 gekennzeichnete Schrift zum belgischen Problem verfaßte, in Vorträgen zur Flamenfrage, und während des Krieges setzte sich u.a. Franz Fromme mit der weltpolitischen Schlüsselstellung Belgiens auseinander. Wie die Alldeutschen gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschrieb auch Franz Fromme damals die Revolution in Belgien als den Versuch Frankreichs, Belgien auf Dauer unter seinen Einfluß zu bringen, aber anders als die Pangermanisten zu Anfang des vorigen Jahrhunderts oder die Alldeutschen um die Jahrhundertwende trennte er deutlich zwischen Niederländisch auf der einen und Niederdeutsch auf der anderen Seite. Fromme war zwar wie sein Vorbild, der Flamingant Maurice Josson, besessen von der Angst vor einer Annexion durch Frankreich und der Überzeugung von der Notwendigkeit einer Barriere gegen dieses Land, | |||||||||||||||||||||||||||||||
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befürwortete aber gleichzeitig das flämische Recht auf Eigenständigkeit und warnte ausdrücklich davor, ‘vier Millionen Fremde [Hervorhebung von mir, HVU] assimilieren zu wollen’14. Das neue ‘Flußbett deutschen Geisteslebens’15, das in den Vorkriegsjahren und während des Weltkrieges gegraben wurde, wies also eine Reihe altbekannter Züge auf. Eine ‘rechtstreekse lijn’16 zwischen der alldeutschen Phase und der Periode nach 1910 kann, darauf hat bereits W. Dolderer hingewiesen, dennoch nicht gezogen werden. Die Gruppen und Einzelpersonen, die sich zu Wort meldeten, agierten zumeist unabhängig vom Alldeutschen Verband.17 Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es erstens doch unverkennbar die alten Gruppierungen - Alldeutsche, Katholiken und Niederdeutsche - waren, die sich zum Teil aktiver als je zuvor zu Wort meldeten. Zweitens waren es wie zum Zeitpunkt Arndts und wie zum Zeitpunkt der Gründung des Alldeutschen Verbandes realpolitische Ereignisse, die das Interesse für Flandern und die Niederlande weckten, und schließlich waren es wieder die alte Angst vor der Bedrohung durch Frankreich und die inzwischen deutlich gewachsene Überzeugung, daß das Niederdeutschtum in Belgien ohne Anschluß ans Reich zum Untergang verurteilt wäre, die der erneuten Aufmerksamkeit für Flandern und die Niederlande zugrunde lagen. Insbesondere die Flamenpolitik während des Ersten Weltkrieges wurde von der Angst vor Frankreich und der seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts kontinuierlich gewachsenen Skepsis gegenüber der Überlebensfähigkeit des Germanischen in Belgien bestimmt. Laut R.P. Oszwald, der ‘Inkarnation der Flamenpolitik des Generalgouverneurs von Bissing’18, war die Flamenpolitik zwar eine Politik ‘[...] zur Förderung der freien Entwicklung des flämischen Volkes auf der Grundlage seiner Muttersprache, zur Heranbildung einer flämischen geistigen Oberschicht unter Offenhaltung des Zustroms der für ihre kulturelle und wissen- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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schaftliche Durchbildung notwendigen Nährstoffe aus der holländischen Publizistik’19,eine Politik also, die mit Annexionismus ‘gar nichts’20 zu tun hatte, die an erster Stelle ‘Erfüllung langjähriger Wünsche der Flamen’21 anstrebte und erst an zweiter Stelle Deutschland die Gewähr bieten sollte, daß Belgien nicht ‘von neuem zum Vasallen Frankreichs’22 werden würde. Aber solche Äußerungen sind mit einiger Skepsis zu betrachten, denn Oszwald war aktiv an der Gestaltung der Flamenpolitik beteiligt. Im Gegensatz zu den Darlegungen Oszwalds wurde wohl zumindest eine indirekte Annexion Belgiens durch Vereinnahmung der flämischen Bewegung und durch Zerstörung des belgischen Staates mit ihrer Hilfe angestrebt, weil der Wunsch nach ‘Sicherung der deutschen Grenze gegen französische Übergriffe’23 bestand. Die Erfüllung flämischer Wünsche spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Neu an den deutsch-flämischen bzw. den deutsch-niederländischen Beziehungen in der Periode kurz vor und während des Ersten Weltkrieges waren, wie ebenfalls von W. Dolderer gezeigt wurde, vor allem der Umfang, die Intensität und der transnationale Charakter des konkreten Austausches zwischen Deutschen und Niederländischsprachigen.24 Bemerkenswert war dabei vor allem, daß, bedingt durch die Kriegssituation, die zum Teil völlig unterschiedlichen Interessengruppen für Flandern und die Niederlande sehr nah zueinander rücken und zunehmend ‘gemeinsam’ agieren mußten. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Ein gutes Beispiel hierfür ist wiederum die Flamenpolitik. Sie wurde auffallend ‘langsam’25 konzipiert. Dies nicht nur, weil sich Militär und Regierung nicht über die Kriegsziele einig waren, sondern vor allem, weil man die unterschiedlichen Gruppen, die an der Gestaltung der Flamenpolitik beteiligt waren, wenn möglich gemeinsam vor den Karren der Flamenpolitik spannen wollte.26 Dementsprechend setzte man Robert Paul Oszwald, Pius Dirr, Hermann Felix Wirth, Rudolf Alexander Schröder, Anton Kippenberg, Hans Friedrich Blunck und Konrad Beyerle in der Militär- und Zivilverwaltung ein und zwang man u.a. 1917 die in Düsseldorf gegründete ‘Gesellschaft zur Pflege der deutsch-flämischen Beziehungen’, mit der im gleichen Jahr in Berlin gegründeten ‘Deutsch-Flämischen Gesellschaft’ zu fusionieren. Mit letzterem wollte man sicherstellen, daß keine ‘rechtsoppositionelle [...] Organisation im Lager der Kriegszielbewegung’27 entstand, sondern ein Verein, der als ‘verlängerte[r] Arm’28 der Besatzungsbehörden, als wichtige ‘außenpolitische [...] Verbindungsgruppe’29 fungieren konnte und politisch weitgehend ‘enthaltsam’30 blieb. Nach dem Krieg ging diese durch den Krieg erzwungene Gemeinsamkeit allerdings schnell verloren. Obwohl der Deutsch-Flämischen Gesellschaft ein ‘Querschnitt aller gesellschaftlichen Gruppen’31 einschließlich der ‘Riege’32 der Flandern- und Niederlandekenner aus unterschiedlichsten Richtungen angehört hatte, erfüllten nur einzelne ihrer Ortsgruppen bis zum Beginn der zwanziger Jahre ihre integrative Funktion als Sammelbecken.33 Dies führte dazu, daß man das Feld der deutsch-flämischen Beziehungen bald weitgehend den Aktivisten überließ, d.h. den Flamen, | |||||||||||||||||||||||||||||||
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die während des Krieges mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten, um die alten flämischen Forderungen mit Hilfe der deutschen Besatzungsmacht durchzusetzen, und die nach dem Krieg in Deutschland geblieben oder dorthin ausgewichen waren.34 So ziemlich im Alleingang überbrückten sie die Kluft zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Mitte der zwanziger Jahre, als das Interesse für Flandern in Deutschland wieder zunahm. Verschiedene unter ihnen gründeten in dieser Zeit wichtige Zentren der Begegnung und des Studiums der niederländischen Literatur und Kultur in Deutschland.35 Eines dieser Zentren entstand im ehemaligen ‘Heiligtum der flämischen Hoffnungen’36, in Göttingen. Bereits 1918 hatte der Mitarbeiter des Göttinger Kriegsgefangenenlagers Carl Stange in der Hoffnung, hiermit die während des Krieges geknüpften Beziehungen kontinuieren zu können, angeregt, an der Göttinger Universität ein Niederländisches Institut mit einem Lektor und einer Abteilung zur Pflege der deutsch-flämischen Handelsbeziehungen zu gründen.37 In vollem Umfang wurde das Projekt zwar nie realisiert, aber 1921 konnte doch ein Lektorat mit dem in Deutschland sehr bekannten ehemaligen Aktivisten Raf Verhulst (1866-1941) besetzt werden, was später von dessen Schwiegersohn Leo Delfos, nach dem Ersten Weltkrieg ebenfalls wegen Aktivismus verurteilt, weitergeführt wurde.38 Weitere ehemalige Insassen des Göttinger Lagers setzten sich anderenorts für die Förderung der niederländischen Sprache und Kultur im deutschen Sprachraum ein. In Berlin war dies Michael van de Kerckhove, der nach seiner Entlassung aus dem Kriegsgefangenenlager bis 1968 als Honorarprofessor für | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Niederländisch arbeitete.39 In Münster fanden nach dem Ersten Weltkrieg die früheren Aktivisten Jérôme Decroos und René Victor van Sint-Jan durch Vermittlung von F. Jostes, auf dessen Initiative die dortige Niederlandistik zurückgeht, eine Anstellung. J. Decroos wurde Lektor für Französisch und R.V. van Sint-Jan der erste Lektor für Niederländisch an der Universität Münster.40 Letzterer habilitierte sich 1923 mit einer Arbeit über die Sprache Guido Gezelles und wurde 1932 zum außerordentlichen Professor ernannt. Später verlor er allerdings die Lehrberechtigung, weil er es 1939 unterließ, den Antrag auf Übernahme als Dozent ‘neuer Ordnung’ zu stellen.41 Im Unterschied zu den deutsch-flämischen Beziehungen wurden die deutsch-niederländischen nach dem Ersten Weltkrieg vergleichsweise schnell wieder intensiviert. Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die deutschen Beziehungen zu den Niederlanden, im Gegensatz zu den deutsch-belgischen bzw. deutsch-flämischen, nicht durch die Greuel des Krieges, die Kollaboration, die Besetzung von Eupen und Malmedy, die Zerstörung von Wirtschaft und Industrie und den Schulterschluß zwischen Belgien und Frankreich während des Krieges und danach belastet waren.42 Der Motor der deutsch-niederländischen Beziehungen in den frühen zwanziger Jahren und der Vereinigungen zur Förderung der deutsch-niederländischen Beziehungen in den Niederlanden und Deutschland, in denen sich ‘führende [...] Persönlichkeiten des Geistes und der Wirt- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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schaft’43 zusammenfanden, war das Bewußtsein, daß sich Deutschland und die Niederlande in wirtschaftlicher Hinsicht ‘in glücklicher’44, ja zwingender Weise ergänzten.45 Dies zeigen nicht nur die verhältnismäßig vielen Beiträge, die in dieser Periode bezüglich der deutschen Beziehungen zu den Niederlanden erschienen, sondern wird auch durch die Struktur des 1921 in Frankfurt gegründeten ‘Holland-Instituts’ belegt, das neben der sprachwissenschaftlichen Abteilung von Prof. M.J. van der Meer Ferienkurse für niederländische Lehrer organisierte und eine sehr aktive volkswirtschaftliche Abteilung unter Leitung des Syndikus der Niederländischen Handelskammer in Deutschland, Dr. T. Metz, besaß.46 Mit der frühen Wiederaufnahme der deutsch-niederländischen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg wurde eine wichtige Voraussetzung für die große Akzeptanz für die großniederländischen Ideale geschaffen, die die Beziehungen zwischen Deutschland und dem niederländischen Sprachraum in den zwanziger Jahren prägten.47 Treibende Kraft bei dieser Entwicklung waren allerdings nicht die Niederländer, die für großniederländische Gedanken und für ‘ein gemeingermanisches Ideal’48, wie im deutschen Sprachraum in den zwanziger und dreißiger Jahren immer wieder betont wurde, im allgemeinen wenig übrig hatten, sondern die Flamen, die nach der Ratifizierung des Locarnovertrages, der Demilitarisierung des Rheinlandes, der Verbesserung der wirtschaftlichen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Lage, dem Abschluß des Handelsvertrages mit Belgien 1924 und der zunehmenden Entspannung nach der sogenannten Repression in Belgien wieder mehr Interesse für Deutschland zeigten. Und dies nicht vergeblich, denn in Deutschland war man sich bewußt, daß die Flamenpolitik aus dem Ersten Weltkrieg gescheitert war. Man hatte also etwas gutzumachen und wollte Mißverständnisse bezüglich der Flamenpolitik, die zu so viel Verstimmung gegen Deutschland geführt hatten, richtigstellen. Darüber hinaus war deutlich geworden, daß der französische Einfluß durch den Weltkrieg nicht geringer geworden, sondern im Gegenteil durch den ‘Raub’49 von Eupen und Malmedy, durch den daraus folgenden französisch-belgischen Einfluß auf diese Gebiete und durch die Besetzung der Rheingebiete nur gewachsen war. Recht bald war man also auf deutscher Seite auf zunehmend breiter Front davon überzeugt, daß die Flamen erneut und kräftiger als je zuvor die gereichte ‘Bruderhand’50 drücken müßten: ‘Ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht: die Vlamen sind und bleiben durch wirtschaftliche und kulturelle Gemeinschaft unsere Bundesgenossen bei der Verteidigung des Rheinlandes gegen welsche Bedrohung.’51 In den Vordergrund rückten wie selbstverständlich wieder die Ziele der alten Flamenpolitik, insbesondere das der Zerstörung des belgischen Staates, diesmal aber ausdrücklicher als während des Ersten Weltkrieges - wo man noch eher zögerlich versucht hatte, mit Flandern als Köder die Niederlande verstärkt unter deutschen Einfluß zu bringen -52 mit Hilfe der großniederländischen Bewegung: ‘Der belgische Staat, der [...] heute nur noch als ein Vorposten Frankreichs angesehen werden kann, sucht auch heute noch Flandern unter seinem Joch zu erhalten. Ja, er strebt als ein Sieger des Weltkrieges über Flandern hinaus und hat nicht nur Eupen-Malmedy dem Deutschen Reiche in widerrechtlicher Form entrissen, sondern will auch die holländischen Gebiete in Seeflandern und in Limburg unter seine Botmäßigkeit oder wenigstens in wirtschaftliche Abhängigkeit bringen. [...] Auf dem Wege zu diesem Ziele tritt ihm das erwachte Flandern entgegen, das hier als Vorposten nicht nur für Holland, sondern auch für Deutschland kämpft, und dessen volksbewußte Glieder in einem Großniederländischen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Staate die Sicherheit gegen französische Ansprüche und zugleich die Gewähr für die Erhaltung des Gleichgewichts in Europa sehen.’53 Vorkämpfer dieser Politik waren, wie W. Dolderer in verschiedenen Beiträgen gezeigt hat, vor allem in den Kreisen derer zu finden, die den Vertrag von Versailles als eine weitere Niederlage empfanden; bei denen also, die sich zu einer Art ‘alliantie van de oorlogsverliezers’54 zusammengefunden hatten. Ein wichtiger Sammelpunkt für solche Leute war der auf ‘christelijk-germaanse leest geschoeid[e]’55 Verein Deutscher Studenten. Die Mitglieder dieses Verbandes, der 1897 kollektiv dem Alldeutschen Verband beigetreten war, bemühten sich nicht nur während des Ersten Weltkrieges, sondern auch danach darum, im ‘potentieel Duits-vriendelijke buitenland’56 (man dachte in erster Linie an Flandern, aber auch die Niederlande und die skandinavischen Länder gehörten zur Zielgruppe) das Gefühl von germanischer Schicksalsverbundenheit zu schüren und dem französischen Einfluß in Europa entgegenzuarbeiten. Dabei, und dies unterschied den Verein Deutscher Studenten von dem nach 1918 zu einem ‘clubje van antirepublikeinse samenzweerders’57 ohne ‘merkbare invloed op de Duits-Vlaamse betrekkingen’58 verkommenen Alldeutschen Verband, bemühte man sich intensiv um Kontakte mit den nationalistisch orientierten deutschen Studentenkreisen und nichtdeutschen Studentenorganisationen in den Niederlanden, Flandern, Luxemburg, der Schweiz und Schweden, wodurch die deutsch-flämischen bzw. die deutsch-niederländischen Kontakte ab der Mitte der zwanziger Jahre einen ausgesprochen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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lebendigen, transnationalen Charakter erhielten.59 In diesem Zusammenhang wurde auch ein Studentenaustausch organisiert, der dafür sorgen sollte, daß man Einfluß auf die Führer der Studentenbewegung bekam.60 In den dreißiger Jahren wurde die von den Mitgliedern des Vereins Deutscher Studenten eingeleitete germanische Prägung der deutsch-flämischen bzw. der deutsch-niederländischen Beziehungen durch die nationalsozialistische völkische Erneuerung weiter verstärkt. Die Niederlande und Flandern wurden in dieser Periode zunehmend völkische Begriffe.61 Von dem Ausgangspunkt, daß die Großniederländer keine ‘Wortführer der deutschen Sache’62 waren, blieb bald nichts mehr übrig, ebensowenig von der ‘vorbehaltlose[n] Anerkennung’63 der Verschiedenheit der niederländischen und der deutschen Nation sowie von dem Bewußtsein, daß die politischen Angelegenheiten des belgischen Staates ‘unantastbar’64 sein müßten, wie man teilweise noch Anfang der dreißiger Jahre im deutschen Sprachraum hatte lesen können. Aus der deutsch-flämischen bzw. der deutsch-niederländischen Annäherung | |||||||||||||||||||||||||||||||
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während des Ersten Weltkriegs und den Jahren danach sowie aus den späteren deutsch-großniederländischen Kontakten wurde durch den Einsatz von ehemaligen Aktivisten wie Wies Moens (1898-1982) und den Niederdeutschen, die wie während des Ersten Weltkrieges auch in den späten zwanziger und dreißiger Jahren wieder die Position vertraten, daß gerade Niederdeutschland wegen der Schicksalsverbundenheit bzw. der vergleichbaren Situation, in der sich beide Gebiete befänden, die ‘eigentliche Brücke’65 zwischen Deutschland und dem niederländischen Sprachraum bilden sollte, vorübergehend eine ‘dietsch’-deutsche Annäherung, die schließlich im Rahmen der völkischen Restauration in einer völlig rücksichtslosen Einverleibung des niederländischen Sprachraumes in die ‘Blutsgemeinschaft’66 mit dem großdeutschen Reich endete.67 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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3.2 Das Deutsch-Niederländische Institut in KölnWie kaum eine andere zeigt die Geschichte des ‘Deutsch-Niederländischen Instituts’ in Köln, wie die deutsch-flämischen bzw. die deutsch-niederländischen Beziehungen ab Mitte der zwanziger Jahre von großniederländisch bzw. später großgermanisch denkenden (Nieder) Deutschen in die völkische Ära gesteuert wurden.68 Deshalb soll abschließend noch einmal auf diese Geschichte eingegangen werden.69 Die Initiative zur Gründung eines Zentrums für das Studium der niederländischen Sprache, Literatur und Kultur an der Kölner Universität kam 1919 aus der Kölner Ortsgruppe der Deutsch-Flämischen Gesellschaft. Ihr damaliger Vorsitzender, Dr. Karl Menne, fing im Jahr der Neueröffnung der Kölner Universität mit dem Unterricht der niederländischen Sprache an. Damals war es eine Art Ergänzungsstudium zur deutschen Philologie, in dem immer wieder auf die vielen gemeinsamen Merkmale von Niederländisch und Niederdeutsch hingewiesen wurde und in dem man sich eingehend mit dem Vergleich altniederländischer, mittelniederländischer und niederdeutscher Texte beschäftigte. Ein eigenes Institut gab es nicht. Dafür setzte sich erst 1927 Rechtsanwalt Franz Schönberg, der Gründer der Kölner Deutsch-Niederländischen Vereinigung, ein, die damals ungefähr zur gleichen Zeit mit vergleichbaren Vereinigungen in Lübeck, Bremen, Hamburg, Duisburg und Elberfeld entstand. Schönberg war ein Vertrauensmann und Bekannter von R.P. Oszwald. Ferner verfügte er über gute Kontakte zum Verein Deutscher Studenten und über diesen Verein auch zum Algemeen Vlaamsch Hoog- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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studentenverbond.70 Seine Deutsch-Niederländische Vereinigung war dann auch selbstverständlich großniederländisch orientiert.71 Man war sich sofort darüber einig, ‘daß es keine besondere flämische Kultur gebe, daß die Kulturarbeit der Flamen vielmehr in die gesamtniederländische Kultur eingeflossen sei [...], daß der Selbstbehauptungskampf des flämischen Teiles des niederländischen Volkes die gemeinsame Sache der ganzen niederländischen und darüber hinaus der germanischen Kulturwelt sei und daher wirkungsvoller von einer deutsch-niederländischen, [sic] als von einer auf Deutsche und Flamen beschränkten Kulturgemeinschaft, die leichter Mißdeutungen ausgesetzt sei, unterstützt werden könne.’72 Dementsprechend lautete auch die Antwort auf die Frage des Kurators der Kölner Universität Prof. Dr. Christian Eckert nach der möglichen Bedeutung, dem Sinn und der Funktion eines Zentrums für die Studien von Flandern und den Niederlanden in Köln. Schönberg befürwortete Köln als Standort, weil es im Stromgebiet von Rhein, Maas und Schelde sehr zentral lag, weil Köln die drittgrößte deutsche Stadt und die Metropole des Rheinlandes war und nicht zuletzt auch ein Zentrum des Katholizismus darstellte.73 An gleicher Stelle betonte er, daß Köln mehr als eine ‘Aus- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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fallfestung der deutschen Wirtschaft gegen die Niederlande’74 sein müsse - ‘Köln sollte die Universität der Niederländer auf deutschem Boden werden’75. Nicht nur weil er der Meinung war, daß ‘ein wirtschaftliches Übergewicht eines Volkes über das andere [...] die gegenseitige Freundschaft nicht [vermehre], wenn es nicht mit kultureller Annäherung verbunden’76 sei, sondern auch weil er meinte, und hier klangen bekannte alldeutsche Töne durch, daß ‘die staatliche Einigung des ganzen um das germanische Mittelmeer gelagerten germanischen Kulturraums unter Führung des Festlandgermanentums’ angestrebt werden sollte.77 Aufgrund der Tatsache, daß im Rheinland seit langem rund 100.000 Niederländer wohnten und umgekehrt viele Rheinländer in den Niederlanden Arbeit fanden, glaubte Schönberg, daß die Niederländer, wie sie es bereits bei dem bestehenden Holland-Institut in Frankfurt getan hatten, sicherlich auch bei der Gründung des Deutsch-Niederländischen Instituts zu einer finanziellen Unterstützung bereit sein würden.78 Ganz unbegründet waren diese Erwartungen nicht, denn die Niederländer, deren Außenhandel nahezu völlig von der Weimarer Republik abhängig war, waren, wie gesagt, vor allem Ende der zwanziger Jahre, als die Republik einen protektionistischen Kurs einzuschlagen begann, sehr an einer Erhaltung, wenn nicht gar Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen interessiert, aber sie wurden enttäuscht.79 Die Niederländer waren zu keiner Unter- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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stützung bereit. Auch nicht, als am 3. November 1928 bekannt wurde, daß 25.000 RM für ein Niederländisches Institut aus einer amerikanischen Stiftung zur Verfügung gestellt wurden. Diese Stiftung brachte aber die Verhandlungen mit dem Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer wieder in Gang. Dabei zeigte sich, daß sich die Vorstellungen von den Aufgaben des geplanten Instituts inzwischen weit von denen F. Schönbergs und wohl auch von denen R.P. Oszwalds entfernt hatten. Am 28. März 1929 schrieb nämlich der zukünftige Direktor Prof. Dr. Friedrich G. von der Leyen an K. Adenauer: ‘Die Forschungen des Instituts [für niederländische Geschichte und Landeskunde, wie es in der Planungsphase hieß, HVU] hätten sich [...] einmal auf die geographischen Bedingtheiten der Lebensäußerungen dieses Gebietes zu richten und dann zugleich diese Lebensäußerungen in ihren verschiedenen Erscheinungsformen und in ihrem historischen Ablauf zu untersuchen.’80 Von Flandern war nicht mehr die Rede. Solche eindeutig auf die Niederlande gerichteten Vorschläge konnten zwar die Niederländer noch immer nicht ganz überzeugen - noch Mitte 1929 verwehrte der niederländische Vizekonsul H.C. Scheibler eine finanzielle Unterstützung mit der Begründung, daß die Kosten für das Institut viel zu hoch seien und schlug eine Förderung durch die Industrie vor -81, aber der wirtschaftliche Druck wurde dadurch nicht geringer. Als sich zeigte, daß die ‘politischen’ Bedenken Adenauers durch das veränderte Konzept ausgeräumt waren, waren die Niederländer schließlich doch bereit, einen Platz in einem Kuratorium für das zu gründende Deutsch-Niederländische Institut einzunehmen. Ganz war der Einfluß R.P. Oszwalds und seiner Freunde aber nicht verschwunden. Als am 9. Dezember 1930 das Lesezimmer des Deutsch-Niederländischen Instituts in den Gebäuden des Städtischen Forschungsinstituts für Internationales Pressewesen, Alteburgerstraße 153-155, | |||||||||||||||||||||||||||||||
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eröffnet wurde, stand eine Bibliothek zur Verfügung, die nach einer Liste des Reichsoberarchivrates R.P. Oszwald zusammengestellt und daraufhin mit einem Teil des Geldes der Stiftung Weiss erworben worden war. Auch die alten Beziehungen Schönbergs zum ‘Algemeen Nederlands Verbond’ hatten gefruchtet. Dieser niederländische Verband legte mit einer Schenkung den Grundstein für die heute sehr umfangreiche Kölner Vondelsammlung.82 Obwohl der Vorsitzende der Deutsch-Niederländischen Handelskammer im Herbst 1932 an die Bürgermeister von Rotterdam und Amsterdam schrieb, daß so mancher Vortrag im Deutsch-Niederländischen Institut, das auch als Zentralstelle für niederländische und belgische Bibliographie fungierte, von mehr als 500 Zuhörern besucht wurde, führte die schlechte wirtschaftliche Lage dazu, daß das Institut in den darauffolgenden Jahren kaum finanzielle Unterstützung erhielt. Die erwarteten und zum Teil auch versprochenen Spenden aus den Niederlanden blieben aus, die niederländische Regierung ihrerseits konnte sich nach wie vor nicht zu einer Unterstützung des Instituts entschließen. Wohl unter dem Druck der durch die ausbleibenden Zahlungen aus den Niederlanden katastrophalen wirtschaftlichen Lage besann sich die Leitung des Deutsch-Niederländischen Instituts auf alte Wege. 1934, als die finanzielle Unterstützung von seiten der Niederländer immer ungewisser erschien, war Prof. Dr. von der Leyen, der Direktor des Instituts, auf Drängen der Studentenschaft bereit - unter Ausschaltung politischer Bestrebungen! -, Anschluß bei den Flamen zu suchen.83 Und mit Erfolg. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Am 18. Februar 1936 konnte er darauf hinweisen, daß nicht nur die Kurse des Lektors, sondern auch die Vorlesungen und Übungen von Dr. Franz Petri, der zum Zeitpunkt der Gründung der Deutsch-Niederländischen Vereinigung zum Freundeskreis Schönbergs gehörte, Anklang fanden und daß der Besuch des Instituts viel lebhafter geworden war als in den vergangenen Semestern. Ferner hob er die sehr zufriedenstellende Zusammenarbeit mit der Studentenschaft hervor und stellte insbesondere fest, daß sich das Institut offensichtlich erfolgreich darum bemüht hatte, die Literaturwünsche der Studentenschaft bezüglich Dichtung und Kultur aus Flandern zu erfüllen. Zu der Studentenschaft, von der die Rede war, gehörte wahrscheinlich auch jene Gruppe von Studenten der Außenstelle West der Reichsstudentenführung, die sich mit Studentenorganisationen aus Leuven und Gent zusammengetan hatte und die 1936 wesentlich an der Gründung der Deutsch-Vlämischen Arbeitsgemeinschaft (De Vlag) beteiligt war.84 Außer der Tatsache, daß der damalige geschäftsführende Direktor des Instituts, Dr. Petri, von Februar bis Dezember 1939 als Hauptredakteur für Deutschland für die Zeitschrift der Bewegung De Vlag fungierte (deren Redaktionsadresse nie die des Instituts war), konnten jedoch keine Unterlagen gefunden werden, die die Behauptung von Dr. P. Klefisch bestätigen, daß die Mitarbeiter des Deutsch-Niederländischen Instituts ‘die wesentlichen Träger der 1936 ins Leben gerufenen “Deutsch-Vlämischen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Arbeitsgemeinschaft”’85 waren, deren Aktivitäten sich in der ersten Periode in erster Linie an akademische Kreise richteten und die verschiedene Austauschprogramme für Dozenten und Studenten, gemeinsame Reisen und Kulturtage organisierte. Die Feier anläßlich des 350. Geburtstages von Joost van den Vondel 1937 krönte die Ereignisse um das Deutsch-Niederländische Institut. Es war eine gemeinsame Veranstaltung des Deutsch-Niederländischen Instituts, der Universität zu Köln, des Wallraf-Richartz-Museums, der Universität Amsterdam, des Niederländischen Ministeriums für Unterricht, Kunst und Wissenschaften, der Niederländischen Handelskammer und der 1936 in Berlin gegründeten Deutsch-Niederländischen Gesellschaft, in der alle bis dahin bestehenden Organisationen zur Pflege der Beziehungen zwischen Deutschland und den Niederlanden zusammengeschlossen wurden.86 Damit war die Kölner Vondelfeier ein hervorragendes Beispiel dafür, daß in den dreißiger Jahren wiederum nicht einzelne Gruppierungen getrennt voneinander, sondern, wie zur Zeit der Flamenpolitik, unter Druck der Regierung viele verschiedene Einzelpersonen und Körperschaften ‘gemeinsam’ die bestehenden kulturellen Beziehungen zum niederländischen Sprachraum pflegten und ausbauten. Dabei fällt allerdings auf, und dies war wohl ein Sieg über die deutschen Großniederländer und die Nationalsozialisten, die mit Sicherheit eine deutsch-niederländisch-flämische Propagandamanifestation begrüßt hätten, daß trotz der zunehmenden Orientierung des Deutsch-Niederländischen Instituts auf Flandern ab Mitte der dreißiger Jahre und der Tatsache, daß Vondels Eltern aus Flandern stammten, in keinem der Ausschüsse zur Vorbereitung der Vondelfeier ein Vertreter Flanderns anwesend war. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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3.3 Niederländische Literatur im deutschen Sprachraum 1914-19453.3.1 Niederländische Literatur während des Ersten Weltkrieges: die flämische RenaissanceDie Beiträge zur niederländischen Literatur aus dem Ersten Weltkrieg konzentrierten sich in erster Linie auf die Literatur aus Flandern, was angesichts der Besetzung Belgiens und der Diskussion um die Flamenpolitik verständlich war. Der Insel Verlag brachte während des Ersten Weltkrieges eine flämische Reihe heraus. Für die Literatur aus den Niederlanden bestand während des Ersten Weltkrieges kaum Interesse. Es erschienen zwar eine Reihe Übersetzungen von bereits bekannten Autoren wie Van Eeden und Couperus, einige bemerkenswerte Gedichtbände von Hélène Swarth in Übersetzung von Otto Hauser sowie Poesie von Albert Verwey in Übersetzung von Paul Cronheim, aber dies waren nur Ausläufer des Interesses für die Literatur aus den Niederlanden um die Jahrhundertwende.87 Im Gegensatz zu den Flamen in der gleichen Periode konnten die Niederländer, außer vielleicht mit der Übersetzung von Poesie des Neoromantikers Van Schendel, im Ersten Weltkrieg kein neues Terrain gewinnen. Gegenüber 14 Titeln von Niederländern erschienen während des Weltkrieges 73 Titel von flämischen Autoren, darunter acht Sammlungen. Nachdem es in der vergangenen Periode um die niederländischsprachige Literatur aus Flandern relativ ruhig gewesen war, sogar ernsthafte Zweifel bezüglich ihrer Überlebensfähigkeit aufgekommen waren, verlagerte sich also die ganze Hoffnung wieder auf Flandern. Dabei hatte man eine Menge nachzuholen, denn in den vergangenen Jahrzehnten war über die rezenten Entwicklungen in der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern im deutschen Sprachraum nur wenig bekannt geworden. Deshalb informierte man wie im 19. Jahrhundert in vielen Publikationen wieder | |||||||||||||||||||||||||||||||
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in aller Ausführlichkeit über die Geschichte der flämischen Bewegung und die niederländischsprachige Literatur aus Flandern.88 Besonderer Beliebtheit erfreuten sich während des Ersten Weltkrieges kämpferische, nationalistische Autoren wie Emmanuel Hiel (1834-1899). Hugo Verriest, Albrecht Rodenbach (1856-1880), René de Clercq (1877-1932) und natürlich wiederum Hendrik Conscience. Ein letztes Mal behauptete dieser Autor im deutschen Sprachraum seine Spitzenposition. Dabei wurden in dieser Periode nicht nur weitaus mehr Erstauflagen seiner Werke als in der Periode davor publiziert, sondern sogar 37 der insgesamt 73 in diesem Zeitabschnitt von niederländischsprachigen Autoren aus Flandern übertragenen Werke trugen seinen Namen.89 Consciences Roman Der Löwe von Flandern, der von vielen als Ideal der Literatur aus Flandern betrachtet wurde, wurde mit 15 Ausgaben wieder ein Renner, und überdies wurde bei Kösel und Pustet eine neue, im Vergleich zu den alten allerdings kleine Sammlung Ausgewählte Werke (1916-1923) aufgelegt.90 Das Interesse für die niederländischsprachige Literatur aus Flandern und ihr Erfolg während des Ersten Weltkrieges standen also in unmittelbarem Zusammenhang mit der Flamenpolitik. Durch die Übersetzung der Literatur aus Flandern und durch eine umfangreiche Berichterstattung und Kommentierung wollte man ‘ein Denkmal im Herzen des deutschen Volkes’91 setzen, denn in ihrer Literatur könnten sich die Flamen, die im belgischen Staat nur Bürger ‘zweiten Ranges’92 seien, weshalb Dichten in Flandern immer auch eine ‘Art von Martyrium’93 gewesen sei, noch am besten äußern. Durch eine genaue Kenntnis des flämischen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Volkstums und der Literatur aus Flandern sollte ‘für die Dauer ein unlösbares geistiges Band zwischen dem Deutschtum und Vlamentum’94 geschmiedet werden, schrieb J. Stockey, und von alldeutscher Seite war wieder die Rede von einem ‘geistige[n] deutsche[n] Kriegsziel’95. So entstanden typische Sammlungen wie: Flämische Liederdichtung alter und neuer Zeit (1917), herausgegeben von der ‘Deutsch-Flämischen Gesellschaft’, Flämische Erzähler ([1916]), eine Produktion der Dichter-Gedächtnis-Stiftung, herausgegeben von Heinrich Brühl und 1917 als Weihnachtsgeschenk an die Truppen im Feld verteilt, und der Band Vlämische Dichtung (1916) vom Verlag Diederichs in Jena, ebenfalls ‘ein unmittelbares Erzeugnis des Weltkriegs’96. Die Überzeugung, daß der Literatur aus Flandern Aufmerksamkeit entgegengebracht werden müsse, weil sie zum ‘deutsch-germanischen Kulturkreis’97 gehöre, weil in Flandern ein Volk wohne, ‘dessen Sprache und Art der unsern [= deutschen, HVU] nahe verwandt [sei], dessen Volkstum sich in heldenmütigem Kampfe gegen alle Vergewaltigung erfolgreich gewehrt’98 habe, war in dieser Periode aber nicht das einzige Motiv für die Beschäftigung verschiedener deutscher Übersetzer und Verleger mit der niederländischen Literatur. Ein wichtiger Anlaß für ihr Interesse für die Literatur aus Flandern war entsprechend dem von katholischer Seite gestiegenen Interesse für Flandern auch der ‘katholische [...] Geist’99, von dem sie durchdrungen war. Mehr noch als im 19. Jahrhundert, als es schon einmal ‘den Anschein’100 gehabt hatte, daß es zu einer ‘nähere[n] literarische[n] Beziehung zu den Vlamen’101 kommen würde, sollten nach Leo Schwering gerade katholische Verleger während des Krieges es als ihre | |||||||||||||||||||||||||||||||
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‘Ehrenaufgabe’102 betrachten, sich der Literatur aus Flandern zu widmen. Das Engagement katholischer Verleger beschränkte sich, vom Conscience-Verleger Kösel und Pustet einmal abgesehen, in der Praxis zwar auf den Insel Verlag, aber dafür wurde dieser Verlag entsprechend der Überzeugung des Mitbegründers R.A. Schröder, daß den flämischen Lyrikern ‘eine ausgesprochen katholische Frömmigkeit’103 eigen sei, der Forderung Schwerings mehr als gerecht und ermöglichte es den deutschsprachigen Lesern wie kein anderer Verlag, den ‘vor ihrer Türe liegenden Schatz’104 zu entdecken.105 Schröders Beiträge aus dieser Periode zeigen darüber hinaus, daß es gerade für den Insel Verlag außer dem religiösen Motiv noch andere Gründe gab zu versuchen, den Deutschen eine ‘schöpferische Begegnung’106 mit der niederländischen Literatur, insbesondere mit der aus Flandern, zu ermöglichen. Wie kaum ein anderer zu der Zeit zeigte sich nämlich Schröder von der literarischen Bedeutung der neueren Literatur aus Flandern überzeugt. Seiner Meinung nach war sie keine ‘“Neben-Erscheinung” oder gar [...] “Dialekt-Dichtung”’107, die sich mit einem bescheidenen Platz ‘im Vorhof’108 zu begnügen hatte, sondern sie konnte ‘mit vollem Recht Einlaß in den Tempelbezirk der hohen Weltliteratur’109 fordern. Bei Dichtern wie P. van Duyse stellte Schröder zwar zu Recht einschränkend fest, daß es bei ihm ‘nur eine Minderzahl von Meister- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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stücken’110 gebe - ‘Wenn man weiß, was allenfalls an Resten flämisch-niederländischen Geisteslebens sich über die Zeit der französischen Revolution hinaus hatte bewahren können’111, dürfte dies, so fügte Schröder hinzu, nicht wundern -, aber seine Bewunderung für Autoren wie Van de Woestijne und vor allem für Gezelle kannte keine Grenzen.112 Gezelle war für Schröder ‘der größeste [sic] und eigenartigste unter den neueren flämischen Dichtern’113. Seine Bedeutung beruhte nach Schröder einerseits auf seinem künstlerischen Ausgangspunkt - ‘nicht das bloße Ergebnis einer Begabung, eines dichterischen Vermögens, sondern Notwendigkeit, unwiderstehlicher Zwang, der göttlichste, der Menschenseelen zu seinem Werkzeug macht’114 - und andererseits darauf, daß Gezelle wie kaum ein anderer Dichter aus Flandern ‘mit Bewußtsein “flämisch”’115 schrieb. Hier zeigt sich über das religiöse Motiv und Schröders grundsätzlicher Überzeugung von der Bedeutung der niederländischsprachigen Literatur hinaus noch ein drittes Motiv für seine Beschäftigung mit der Literatur aus Flandern. Denn bewußt flämisch zu schreiben, bedeutete für den Niederdeutschen Schröder, die Möglichkeiten des (West-)Flämischen - ‘die reinest erhaltene und demnach der mittleren Stufe niederdeutscher Sprachgeschichte am nächsten wohnende’116 flämische Mundart -, die typisch niederdeutschen spielerischen und sprachschöpferischen Eigenschaften voll zu nutzen und dieses Werkzeug ‘zu | |||||||||||||||||||||||||||||||
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stärken und zu veredeln’117 und durch die Form den Aussagen ‘Gültigkeit, Gewicht und Tiefe’118 zu verleihen. Da Schröder zunächst in Brussel als Zensor, später in Den Haag wichtige Funktionen innerhalb der Flamenpolitik erfüllte, wurde sein Interesse für die niederländische Literatur während des Ersten Weltkrieges natürlich auch von seiner Überzeugung bestimmt, daß der ‘unablässige Streit der flämischen Dichter um ihr eigenes Recht und um das Recht ihres Volkes’119 deutsche Unterstützung verdiene. Der Dichter, der in seinem Deutschen Schwur seine Erschütterungen über den ‘ungeheuerlichen’120 Krieg aufgearbeitet hatte und der Mitglied der ‘Gesellschaft zur Pflege der deutsch-flämischen Beziehungen’ (= Deutsch-Flämischen Gesellschaft) war, einer Gesellschaft, die, wie gesagt, ‘in systematischer, auf der Stammes- und Sprachverwandtschaft der Deutschen und Flamen aufgebauter Kulturarbeit den Interessen beider Völker dienen’121 wollte, aber ‘jede politische Betätigung’122 ablehnte und ‘keine Augenblickserfolge’123 anstrebte, stellte sich auch ‘ganz auf den Boden der flämischen Bewegung’124. Wohl deshalb rückte er, mehr als in seinen Beiträgen für den Belfried, in seiner Einleitung zu seiner Übersetzung der Poesie Gezelles für den Insel Verlag auch den Kampf der Flamen gegen die französische Unterdrückung in den Mittelpunkt.125 Hiermit kam er außerdem seinem | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Verleger A. Kippenberg entgegen, der der Überzeugung war, daß die deutschen Verleger den Kampf gegen die, die sich gegen das Germanentum ‘koalieren’126, aufnehmen müßten. Hier kommt also doch die Frage auf, inwiefern sich das Programm des Insel Verlages nun wirklich von den hauptsächlich von der Flamenpolitik bestimmten Produktionen wie denen der Deutsch-Flämischen Gesellschaft oder der Deutschen-Gedächtnis-Stiftung unterschied, d.h. inwiefern die literarischen, religiösen und niederdeutschen Motive R.A. Schröders auch innerhalb des Verlages, insbesondere bei A. Kippenberg, eine Rolle gespielt haben. In verschiedenen Beiträgen ist Bert Govaerts dieser Frage, die auch bei der Bewertung des Erfolges von Felix Timmermans in den zwanziger Jahren eine wichtige Rolle spielt, ausführlich nachgegangen und im Gegensatz zu dem, was sich oben im Zusammenhang mit Schröder anzudeuten schien, zu dem Schluß gekommen, daß das Programm von Kippenberg, und damit auch die Übersetzungen Schröders, einen ‘quasi offiziellen’127 Charakter hatten, daß bei Kippenberg ‘sachliche [sic] und militärische Interessen [...] buchstäblich durcheinander’128 liefen und daß er ‘bewußt in die “Flamenpolitik” eingeschaltet wurde’129. Die drei wichtigsten Argumente, die Govaerts dafür anführte, waren folgende: erstens die Erklärung von Kippenberg, daß man unabhängig davon, ob man Belgien nun behalten würde oder nicht, so schnell wie möglich geistige Kontakte schrnieden müßte, ‘vor allem durch den Buchhandel, der in dieser Beziehung viel politischer werden muß’130; zweitens die Zusammenstellung des Programms der sogenannten flämischen Reihe des Insel Verlages und schließlich die Art und Weise, mit der die einzelnen Autoren für den Insel Verlag rekrutiert wurden. Darauf kann aber einiges entgegnet werden. Zunächst zur eben erwähnten Erklärung Anton Kippenbergs. Diesbezüglich kann man sich kurz fassen, denn B. Govaerts zitierte auffallend tendenziös: | |||||||||||||||||||||||||||||||
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‘(...) of we België nu “houden” of “protegeren” of wat dan ook: het is onvoorwaardelijk nodig dat we daar (...) zo snel mogelijk geestelijke banden smeden en die, vooral door de boekhandel, die in dit verband veel politieker moet worden, een reële basis geven. Zo zweeft mij een Duits-Belgische (of Duits-Vlaamse?) uitgeverij voor ogen, met een soort Insel-Bücherei; (...) Wat weten de ons zo nauw verwante Vlamingen van ons en wij van hen?’131 Govaerts ließ also, ohne daß er dies immer kenntlich machte, gerade die Passagen weg, in denen Kippenberg schrieb, daß es nötig sei, vergleichbare geistige Beziehungen ‘auch nach anderen Ländern’132 zu knüpfen, daß er an einen ‘politisch-künstlerisch-literarisch’133 gerichteten Verlag denke (so wie die Insel Bücherei von Anfang an orientiert war) und daß er ‘von einer Buchhandels-Gesellschaft für das Ausland’134 träume, die auch ‘die Kanäle für die Verbreitung deutscher Bücher und deutscher Ideen (auch Zeitungen)’135 schaffen würde. Das Projekt von Kippenberg, weshalb er sich schließlich auf eigenen Antrag nach Belgien hat versetzen lassen, wo er dann die Abteilung XVII für ‘Väterländischen Unterricht’ leitete und bis September 1918 die Kriegszeitung der 4. Armee, Die Blätter für Auskunftswesen und das Nachrichtenblatt für Aufklärungstätigkeit herausgab, war in Wirklichkeit also weniger politisch orientiert und weniger auf Flandern fixiert als von Govaerts suggeriert. Damit zum zweiten Argument, zur Zusammenstellung des Programms der sogenannten flämischen Reihe. In der Insel Bücherei, dem Paradepferd des Insel Verlages, erschienen neben drei Titeln aus der mittelniederländischen Literatur Alte flämische Lieder (1916), Herr Halewijn (nicht etwa der Ulenspiegel!) von Charles de Coster, Kees Doorik und Burch Mitsu von Georges Eekhoud (die drei letzteren erschienen ursprünglich auf französisch und wurden wohl ins Programm aufgenommen, weil man im deutschen Sprachraum seit dem Ende des 19. Jahrhunderts das Werk der auf französisch schreibenden Flamen zur ‘flämischen’ Literatur rechnete), Das Ziegelhaus (1916, ndl. Ernest Staas, advocaat, 1874) von A. Bergmann, Die Ernte ([1917], ndl. De oogst, 1900) und Der Arbeiter ([1917], ndl. De werkman, 1913) von S. Streuvels, Johann Doxa (1916, ndl. Johan Doxa, 1917!) von H. Teirlinck, Der Rekrut von H. Conscience und die Auswahl aus den Gedichten von G. Gezelle. Ferner publizierte der Insel Verlag: Rose van Dalen ([1918], ndl. Het leven van Rozeke van | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Dalen, 1906) von C. Buysse, Der Löwe von Flandern von H. Conscience, Brabanter Geschichten und Die Hochzeitsreise von C. de Coster, Das neue Karthago von G. Eekhoud, Advokat Ernst Staas (1916) von A. Bergmann, Das Nothorn (1917, ndl. De noodhoorn, 1916) von R. de Clercq, Der ewige Jude (1917, ndl. De wandelende jood, 1906) von A. Vermeylen, das Flämische Novellenbuch ([1918]) von Friedrich Markus Huebner und einen Gedichtband von A. Verwey.136 Bei näherer Betrachtung, bis auf den Löwen von Flandern und die Gedichte von De Clercq, also alles andere als ein politisches Programm. Natürlich war es kein Zufall, daß gerade der Etappeninspekteur und ehemalige Generalleutnant Wolfgang von Unger, der Übersetzer von De Clercqs Nothorn, in seiner Einleitung schrieb, daß Deutschland allen Grund habe, ‘nicht nur die politischen, sondern auch die literarischen Regungen des schwer bedrohten Bruderstamms aufmerksam zu verfolgen’137, und daß Severin Rüttgers, damals Redakteur bei der Kriegszeitung, festhielt: ‘Was Conscience und mit ihm all die heißen und kindlich frommen Vlamenherzen, die sein Werk fortsetzen, ihrem Volke schaffen wollten, ist auch heute nicht mehr als Traum und Hoffnung. Solange es nicht Erfüllung wurde, solange Flandern noch leidet und kämpft - nie war das Leiden schwerer und der Kampf bitterer -, so lange bleibt das Werk seines großen Sohnes die leuchtende Morgenröte seines kommenden Tages’138. Wenn aber Flamenpolitik, d.h. der Versuch, den deutschen Einfluß in Flandern auszubauen, indem man das Gefühl vermittelte, daß Deutschland der natürliche Beschützer und zuverlässige Freund sei, wirklich das Ziel von Kippenberg und seinem Verlag gewesen wäre, hätte Kippenberg wohl besser keine französisch schreibenden Flamen übersetzt und wohl auch keinen Streuvels, denn seine Leser waren nach Meinung von Franz Jostes und des Übersetzers Georg Goyert nicht in Flandern, sondern in den gebildeten Klassen Hollands zu finden.139 Und warum hat Kippenberg, wenn er mit seinem Programm wirklich Flamenpolitik betreiben wollte, nicht Antoon Thiry (1888-1954) mehr Aufmerksamkeit gewidmet, dessen Begijnhofsproken (1911, dt. Von Beginen, Pfarrern und dem Jesuskind, 1947) ihm doch bereits seit Januar 1916 vorlagen? | |||||||||||||||||||||||||||||||
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B. Govaerts versuchte seine These, daß Kippenbergs Flandern-Operation eine politische war, auch mit der Art und Weise zu untermauern, wie Kippenberg die Autoren für seine Reihe rekrutierte. Ausgehend von Vorschlägen, die ihm der niederländische Dichter Jan Greshoff (1888-1971) vorgelegt hatte - ein wichtiger Faktor, den Govaerts bald wieder aus dem Auge verliert -140, versuchte Kippenberg offensichtlich mit allen Mitteln, A. Vermeylen, S. Streuvels, G. Gezelle, K. van de Woestijne, C. Buysse und H. Teirlinck für eine Übersetzung zu gewinnen. Streuvels (der auch Geld für die Übersetzung der Dichtungen von Gezelle erhielt), Teirlinck und Van de Woestijne hatten (zum großen Erstaunen ihrer Verleger) keine Einwände gegen eine Übersetzung. Aber bei August Vermeylen, Cyriel Buysse und Maurits Sabbe (1873-1938) lag die Sache anders. Sie weigerten wegen der Kriegssituation die Übersetzungsrechte. Daß dennoch von diesen Autoren bei Insel Werke in deutscher Übersetzung erschienen, ist ein wichtiges Argument von Govaerts, denn er führt dies darauf zurück, daß Kippenberg, der über H. Wirth und R.P. Oszwald über gute Kontakte zu flämischen Aktivisten verfügte - über diese Kontakte hat er, hierüber sind die entmythologisierenden Darlegungen von Govaerts sehr aufschlußreich, u.a. F. Timmermans kennengelernt -141, partout diese Größen der flämischen Bewegung in sein Programm aufnehmen wollte, insbesondere natürlich den ‘“deutschgegnerischen Professor”’142 Vermeylen, aber auch den antideutschen Sabbe, der Mitunterzeichner eines offenen Briefes an Gouverneur General von Bissing war, in dem gebeten wurde, von der ‘Flamisierung’ der Genter Universität abzusehen. Es ist aber doch widersprüchlich, wenn sich Kippenberg bei seiner Operation Flandern aus flamenpolitischen Gründen sowohl um Anti-Aktivisten wie Sabbe als auch um Aktivisten wie Timmermans und Thiry bemüht hätte. Wenn die Flamenpolitik wirklich das vorrangige Ziel von Kippenberg gewesen wäre, hätte er dann die Bitte von Sabbe berücksichtigt, mit der Auslieferung seines Philosophen vom Schleusenhaus (ndl. De filosoof van 't sashuis, 1907), der bereits 1917 gedruckt wurde, bis nach dem Krieg | |||||||||||||||||||||||||||||||
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zu warten?143 Und warum hat sich Kippenberg dann nicht mit einer Ausgabe des Ewigen Juden begnügt, sondern 1918, 1921 und 1923 noch weitere Ausgaben des Ewigen Juden drucken lassen, teilweise auf Büttenpapier mit Goldschnitt und mit Originalholzschnitten von Frans Masereel? Insbesondere was Vermeylen anbelangt, unterschätzt Govaerts die Tatsache, daß Kippenberg nicht nur vom Motiv des Ahasverus fasziniert, sondern auch wirklich von den literarischen Qualitäten des Werkes des Autors begeistert war, der bereits auf der Vorschlagsliste von Jan Greshoff an erster Stelle gestanden hatte.144 Darum, und nicht weil Vermeylen eine führende Persönlichkeit der flämischen Bewegung war, hat Kippenberg noch 1921, als Flandern bereits weitgehend aus dem Mittelpunkt des deutschen Interesses verschwunden war, eine neue Ausgabe des Ewigen Juden auf den Markt gebracht, die nach der 2. Auflage des Originals übersetzt worden war. In der Argumentation von Govaerts spielt nicht zuletzt auch der Konflikt zwischen Kippenberg und dem Nürnberger Übersetzer Georg Gärtner eine große Rolle, der mit verschiedenen flämischen Autoren, u.a. mit Streuvels, Buysse und Sabbe, Verträge und Claims hatte und in dessen Schublade auch Übersetzungen von Vermeylens Werk lagen.145 Ein- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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drucksvoll zeigte er dabei, wie Kippenberg Gärtner ausgeschaltet hat, indem er ihn immer wieder auskaufte.146 Aber ob dies tatsächlich aus politischen Motiven geschah, wie Govaerts suggerierte, bleibt zweifelhaft. Behauptungen, daß Kippenberg u.a. De filosoof van 't sashuis lediglich deshalb hat übersetzen lassen, weil Sabbe eher politisch als literarisch eine ‘begeerlijke’147 Partei war, sind nicht mehr als Vermutungen. Das Gegenteil kann zwar nicht bewiesen werden, da auch dafür keine Unterlagen vorhanden sind, aber mit der gleichen Berechtigung kann die entgegengesetzte Vermutung angestellt werden, und zwar die, daß Kippenberg, dessen Interesse für Sabbe, wie Govaerts darlegte, zurückgegangen war, nachdem er von Sabbe keine Genehmigung für eine Übersetzung erhalten hatte, erst dann wieder auf Sabbe zurückkam, als sich herausstellte, daß Gärtner bereits eine fertige Übersetzung hatte und über eine ‘Genehmigung’ von Sabbe verfügte, so daß die Gefahr bestand, daß die Übersetzung bei einem anderen Verleger erscheinen würde.148 Gerade das wollte Kippenberg mit allen Mitteln verhindern, und dies steht im Gegensatz zu etwaigen vorrangigen politischen Absichten, denn der Flamenpolitik wäre es doch sicherlich dienlicher gewesen wäre, wenn sich mehrere deutsche Verlage der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern zugewandt hätten.149 Kippenberg hat Gärtner ausgeschaltet, weil er sein Insel Programm gegen die Konkurrenz verteidigen, ein Monopol über die Literatur aus Flandern haben wollte.150 Er hat die Gunst der Stunde erkannt und | |||||||||||||||||||||||||||||||
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genutzt und wollte sie mit keinem teilen. Die Flamenpolitik und seine Kontakte in Flandern boten Kippenberg eine einzigartige Möglichkeit, seinen Traum von einer flämischen Insel Bücherei zu verwirklichen.151 Daß er damit der politischen Abteilung in Brussel einen Dienst erwies, wenn auch weniger direkt als durch das Verlegen der Zeitschrift Der Belfried - auch hier hat Kippenberg allerdings, dies beweisen nicht nur die Beiträge R.A. Schröders in dieser Zeitschrift, die Chance genutzt, die Bedeutung und die spezifische Eigenart der niederländischen Sprache und der niederländischen Literatur zu betonen -, ist ihm wohl bewußt gewesen, stand aber nicht im Vordergrund. Gegenteilige Behauptungen von B. Govaerts sind nicht mehr als Unterstellungen und stehen der Tatsache entgegen, daß das literarische Interesse des Insel Verlages für die niederländische Literatur den Ersten Weltkrieg überlebte.152 Auch wenn Kippenberg die Übersetzung von Sabbes De filosoof van 't sashuis schließlich wohl nie herausbrachte, wurde unabhängig von Neuauflagen älterer Übersetzungen und der erfolgreichen Präsentation von F. Timmermans weiter an der Vervollständigung der ‘Wunschliste’ aus den frühen Kriegsjahren gearbeitet, indem Werke von A. van Schendel und von H. Teirlinck auf den Markt gebracht wurden.153 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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3.3.2 Niederländische Literatur im deutschen Sprachraum 1918-1945Nach dem Ersten Weltkrieg ging das deutsche Interesse für die niederländischsprachige Literatur aus Flandern deutlich zurück. Der nicht abreißende Erfolg von Conscience und der Durchbruch des neuen Stars der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum, F. Timmermans, der mit Übersetzungen wie den Romanen Das Jesuskind in Flandern (1919, ndl. Het Kindeken Jezus in Vlaanderen, 1917) und Pallieter (1921, ndl. 1916) sofort große Beliebtheit errang, verhinderten zwar, daß die niederländischsprachige Literatur aus Flandern in Vergessenheit geriet, aber ein weiterführendes Interesse für die Literatur flämischer Autoren stellte sich nach 1918, obwohl der Grundstein dafür während des Ersten Weltkrieges gelegt worden war, nicht ein.154
Abb. 3 Niederländische Literatur im deutschen Sprachraum 1914-1932
Stattdessen, und dies entsprach der allgemeinen Tendenz in der Entwicklung der deutschen Beziehungen zum niederländischen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Sprachraum, rückte die Literatur aus den Niederlanden wieder mehr in den Mittelpunkt. Anders als um die Jahrhundertwende lag diesmal der Akzent, von der Renaissance von Louis Couperus abgesehen, ausdrücklich auf der Unterhaltungsliteratur. Von den meisten für die Entwicklung der modernen Literatur in den Niederlanden bedeutenden Autoren der zwanziger und dreißiger Jahre wurde so gut wie nichts übersetzt. Dies galt sowohl für Martinus Nijhoff (1894-1953), der die Form der Dichtung nicht als Spiegel, sondern als Körper, als Leben betrachtete, als auch für die avantgardistischen Autoren, die sich in den Niederlanden um die Zeitschriften Het Getij (1916-1924) und De Stijl (1917-1931) versammelten: Herman van den Bergh (1897-1967), Constant van Wessem (1891-1954) und den Förderer des Dadaismus in den Niederlanden Theo van Doesburg (1883-1931). Betroffen war auch Hendrik Marsman (1899-1940), der ‘aanvuurder’155 der (vitalistischen) Gegenbewegung zur neusachlichen Richtung in der niederländischen Literatur, von dem im deutschen Sprachraum kein Gedichtband publiziert wurde, obwohl seine erste Sammlung Verzen 1923 aus finanziellen Gründen durch Vermittlung Arthur Lehnings in Deutschland gedruckt wurde.156 Unbekannt blieben ebenfalls die meisten der niederländischen Redakteure der niederländisch-flämischen Zeitschrift Forum (1932-1935), die über Marsmans Forderung nach ‘bruto menselijkheid’157 hinaus die direkte Äußerung der Persönlichkeit, des Menschen hinter dem Gedicht, in der Literatur forderten. Dieses Schicksal traf nicht nur den Anti-Nationalsozialisten Menno ter Braak (1902-1940) und Edgar du Perron (1899-1940), sondern auch Jan Jacob Slauerhoff (1898-1936), der mit seiner | |||||||||||||||||||||||||||||||
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stark autobiographischen Prosa dem Persönlichkeitsideal der Forum-Gruppe zwar entsprach, aber für die Zeit, in der die Literatur in den Niederlanden von Expressionismus und Vitalismus bestimmt war, auffallend romantische und verträumte Literatur schrieb.158 Sein Roman Het verboden rijk (1932, dt. Das verbotene Reich) fand erst 1986 einen deutschen Verleger.159 Lediglich die flämischen Forum-Redakteure erreichten in den dreißiger Jahren eine gewisse Bekanntheit: Der Spezialist des psychologischen Romans Maurice Roelants (1895-1966) mit Maria Danneels ([1932], ndl. Maria Danneels, 1931) ebenso wie der ‘Stoiker’160 Marnix Gijsen (1899-1984) mit Loblitanei zum Hl. Franziskus von Assisi und Gedichte (1931, ndl. Lof-litanie van den Heilige Franciscus van Assisië, 1920). In den dreißiger Jahren entdeckte man auch den zynischen Psychorealisten Willem Elsschot (1882-1960) und wurde sein Roman Tschip (1936, ndl. Tsjip, 1934) übersetzt.161 Autoren, die sich in den zwanziger Jahren großer Beliebtheit erfreuten, waren Johan Fabricius (1899-1981), von dem eine Reihe flott erzählter Romane übersetzt wurde, und Adrianus Michael de Jong (1888-1943), von dem Dickerle und Bohnenstange auf der Weltreise (I-IV) ([1924-1928], ndl. De wereldreis van Bulletje en Bonestaak, 1921-1935) und Mereyntje Geysens Kindheit (I-IV) (1929-1930, ndl. Merijntje Gijzen's jeugd, 1925-1928) teilweise in mehreren Übersetzungen verlegt wurden.162 Besonderes Interesse galt in den zwanziger und dreißiger Jahren | |||||||||||||||||||||||||||||||
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darüber hinaus dem Werk niederländischer Schriftstellerinnen. Neben Melati van Java und Autorinnen von Kolonialromanen, wie Augusta de Wit und Madelon Lulofs (1899-1958), wandte man sich psychorealistischen Schriftstellerinnen wie Margo Scharten-Antink, Jo van Ammers-Küller (1884-1966), Amanda van Hoogstraten-Schoch (1869-1951) und Ina Boudier-Bakker zu.163 Die Basis für dieses Phänomen wurde, wie gesagt, schon vor dem Ersten Weltkrieg von Suze la Chapelle-Roobol, Cecile Goekoop de Jong van Beek en Donk (1866-1941) und Anthonetta van Rhijn-Naeff (= Top Naeff) gelegt. Damals hatte Top Naeff mit ihrem Mädchenroman Freudvoll - Leidvoll (1905, ndl. Schoolidyllen, 1900) aber nur ansatzweise ihren Erfolg aus den Niederlanden wiederholen können, und auch die Begeisterung für die ‘vlot schrijvende, zich gemakkelijk bewegende en met een vlugge, maar oppervlakkige mensenkennis toegeruste’164 Cecile Goekoop de Jong van Beek en Donk hatte nicht über den Ersten Weltkrieg hinaus gereicht.165 In den zwanziger Jahren konnte sich allerdings Jo van Ammers-Küller zu einer außerordentlich bekannten und erfolgreichen Schriftstellerin hocharbeiten. Obwohl ihr Start erschwert wurde, weil ihr erster Verleger, der 1925 Jenny Heystens Blütenweg (1925, ndl. Het huis der vreugden, 1922) herausbrachte, Konkurs anmelden mußte, gelang ihr der Durchbruch bereits im darauffolgenden Jahr mit dem ersten Teil der Trilogie Die Frauen der Coornvelts (1926-1933, ndl. De opstandigen; De vrouwenkruistocht; De appel en Eva, 1925; 1930; 1932), die verschiedene Einzelschicksale von Frauen zum Thema hat, von der mütterlichen in der Familie lebenden Frau bis zur modernen Junggesellin. Das Werk von Jo van Ammers-Küller wurde außerordentlich positiv empfangen. Einige deutschsprachige Kritiker verglichen Die Frauen der Coornvelts sogar mit John Galsworthys Forsyte Saga oder Thomas Manns Buddenbrooks. Die Frauen der Coornvelts sind jedoch lediglich als Familiensaga mit diesen Werken vergleichbar, ansonsten ist die Bedeutung | |||||||||||||||||||||||||||||||
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der Trilogie von Jo van Ammers-Küller weit von der des Werkes des großen Engländers oder des Deutschen entfernt.166 Während Mann bewußt eine Lübecker Kaufmannsfamilie beschrieb und auch Galsworthy mit seinen Forsytes eine bestimmte Art von Menschen charakterisierte, ist im Werk von Van Ammers-Küller der wohlhabende, intellektuelle Bürger ein Exempel für den Menschen an sich.167 Besonders fasziniert zeigte sich bei Jo van Ammers-Küller die deutschsprachige Kritik davon, daß ‘die geborene Erzählerin’168, die, wie sie selbst mitteilte, nie zu den aktiven Kämpferinnen für die Frauenbewegung gehört hatte, in ihrem ‘zeit- und kulturgeschichtliche[n] Bild’169 die Frauenbewegung in den Mittelpunkt stellte. Fast euphorisch schrieb Dettmar Sarnetzki: ‘Was [...] keiner zuvor gewagt hatte und so leicht nicht wieder jemand zu wagen sich unterfangen wird, hat Jo van Ammers-Küller unternommen: die Frauenbewegung selbst, den Kampf der holländischen Frau um gleiche Rechte mit den Männern, um die Erweiterung der Bildungs- und Betätigungsmöglichkeiten und um die Befreiung der Frau aus der abgeriegelten Gesetzmäßigkeit des häuslichen Lebens, wie es in Holland die calvinistisch-bigotte und auf Familiengehorsam und unübertretbar geheiligte Überlieferung aufgebaute Ordnung geprägt hatte, in großen Prosaepen darzustellen, so darzustellen, daß die Absicht einer Werbung oder Rechtfertigung vermieden und lebenswahr der Kampf als solcher im Fühlen und Handeln menschlicher Typen in den Vordergrund gerückt wurde’170. Es war auch interessant festzustellen, daß sich gerade männliche Kritiker ausdrücklich für Jo van Ammers-Küller begeisterten, was wohl vor allem damit zu erklären ist, daß bei dieser Autorin vom ‘erbitterte[n] Kampf gegen das im Schlendrian erstarrte Bürgertum’171, den Ilse Frapan-Akunian noch 1908 bei den niederländischen Schriftstellern meinte beobachten zu können, nicht viel mehr übriggeblieben war. Die Befreiung der Frau spielte sich bei Jo van Ammers-Küller im bestehenden bürgerlichen Rahmen ab. Die Autorin betrieb eine ‘Ehrenrettung der vielverläster- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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ten’172 Frauenbewegung, klagte sie aber an, wo sie ihrer Meinung nach ‘in den Formen’173 ausschritt. Der ‘Frauenkreuzzug’ von Van Ammers-Küller wurde demnach gegen Konventionen geführt, nicht gegen die patriarchalen oder gar kapitalistischen Strukturen der Gesellschaft! Besonders in ihrer Trilogie zeigt sich deutlich, daß Jo van Ammers-Küller in Wirklichkeit davon überzeugt war, daß die größte Stärke der Frau in dem lag, ‘was fraulich, mütterlich und im höchsten Sinne weiblich’174 war. Dies war es, was in der Kritik Zustimmung fand. So betonte die Deutsche Rundschau, daß ‘die Emanzipation, bis in die Ehe getrieben’175, sich ‘zerstörend’176 auswirke, und es wurde von anderer Seite ein Jahr später dargelegt, daß die emanzipierte Frau die ganze Generation schädige, denn ‘mit dem Platz des Mannes beschlagnahmt sie [...] auch den Raum für eine Familie. [...] So gerät die menschliche Gesellschaft aus den Fugen, und das kann nicht Idee und Aufgabe der Frauenbewegung sein.’177 Nach Meinung vieler deutschsprachiger Kritiker war es also wirklich besser, der Sehnsucht nach früheren Zeiten nachzugeben, wo ‘die Frau nur für den Mann da war und für das Kind’178, die Männer in ihrer ‘aufrechten Männlichkeit’179 bewundert wurden, und sich vor Augen zu führen, daß beim Durchhalten nur ‘weibliche [...] Pflichttreue und [...] Aufopferungswille’180 half. Die enormen Auflagen von Jo van Ammers-Küller im deutschen Sprachraum bestätigen, daß es ihren Lesern gefallen hat, daß sich die Schriftstellerin mit der Frauenproblematik beschäftigte, ohne in Propagandismus zu verfallen, daß sie sich darüber hinaus liberal und weitdenkend zeigte und doch ‘en famille’ blieb. Hinzu kam das enorme Gespür der Autorin für gängige Meinungen - so schrieb z.B. Harald Braun, daß das Werk von Jo van Ammers-Küller den Eindruck einer ‘europäische[n] | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Gleichzeitigkeit der Lage der jungen Generation’181 entstehen lasse -182 und schließlich, daß sie den Glauben an das Weibliche hochhielt und das Ganze in ein flottes, wenn auch oft ‘slordig bouwsel’183 goss. Wirkliche Kritik kam nicht auf. Man bemängelte lediglich, daß sich Jo van Ammers-Küller vielfach ‘in Phantastik’184 versteigere oder daß sie ‘dem Religiösen’185 ausweiche. Neben Jo van Ammers-Küller waren in den zwanziger und dreißiger Jahren auch Willy (Ly) Corsari (1897-) - die, was die Anzahl der Übersetzungen betraf, nach Jo van Ammers-Küller an zweiter Stelle rangierte - und Amanda van Hoogstraten-Schoch im deutschen Sprachraum erfolgreich. Wiederaufgelegt wurde insbesondere der 1928 ins Deutsche übertragene Roman letzterer Autorin, dessen niederländischer Titel Gouden teugels (‘Goldene Zügel’) (1927, dt. Cornelia: Einer Mutter Kampf, 1928) noch deutlicher als der deutsche zeigt, daß die Autorin den gleichen Standpunkt wie Jo van Ammers-Küller vertrat. Eine vergleichbare konservative Lösung wie die von Jo van Ammers-Küller, die ihre Heldin am Ende dem Mann in die Provinz folgen ließ, fand man auch in Ruf aus der Tiefe ([1939], ndl. De klop op de deur, 1930) von Ina Boudier-Bakker, einem Roman, in dem die Idee der Mutterschaft im Mittelpunkt steht. Dabei bot sich das Werk von Boudier-Bakker, das ebenso wie das des Autorenkollektivs Carel Theodoor Scharten-Antink (1878-1950) und Margo Scharten-Antink eher das Statische als die Veränderung propagierte, besonders während der NS-Zeit für Übersetzungen an. Bereits hier zeigt sich der nicht zu leugnende Zusammenhang zwischen der Hausse der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum in den dreißiger Jahren und der von Adolf Hitler propagierten ‘moralische[n] Sanierung [am] [...] Volkskörper’186. Durch Ausschluß der sogenannten ‘Literaten’, bei denen politisch-propagandistische Ziele fehlten, und der Autoren sogenannter ‘wurzelloser Asphaltliteratur’, die | |||||||||||||||||||||||||||||||
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von Intellektualismus und Großstadtmentalität bestimmt war, sollten nämlich auch in der Literatur ‘Blut und Rasse’187 zur ‘“Quelle der künstlerischen Intuition werden”’188. Gefördert werden sollten nur noch ‘Dichter’, d.h. Autoren, die den Nationalsozialismus propagierten und der deutschen Kultur und Dichtung ‘eine neue Weltgeltung’189 verschafften. Neben pseudohistorischen, heroisierenden Geschichtsromanen, die das Aufgehen des Individuums in Volk und Nation verherrlichten, und der nationalsozialistischen Kampfdichtung wurde vor allem die Heimatliteratur als Waffe im Kampf ‘gegen Internationalismus und Marxismus, gegen Pazifismus, Zivilisation und Großstadtmentalität’190 eingesetzt. In der Form politisch-völkischer Blut- und Bodendichtung sollte sie dazu beitragen, die von den nationalsozialistischen Kulturideologen propagierte ‘Bodenbeziehung mit mythischen Ursprüngen und von mütterlicher Fruchtbarkeit’191 zu verbreiten. In Anbetracht dessen, daß es der nationalsozialistischen Kulturpolitik nicht gelang, in Deutschland ihre neue Literatur ohne Propaganda, Parteibüchereien, Buchschenkungen, Diffamierung oder Drohung durchzusetzen, und man es in der Praxis weder qualitativ noch quantitativ schaffte, die Lücken zu schließen, die durch die Säuberungen entstanden waren, spielten die Übersetzungen aus den skandinavischen und den niederländischsprachigen Ländern in den dreißiger Jahren eine wichtige Rolle.192 Obwohl nach Meinung der nationalsozialistischen Kulturpropaganda die Literatur nach 1933 ‘auf eigenem Boden wachsen und nicht an einer Weltliteratur teilhaben’193 sollte, wurde in Wirklichkeit ein großer Teil der historischen Romane und der Bauernromane, die den Kern völkischer Dichtung ausmachten, von ausländischen Autoren gestellt.194 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Noch 1940, als die Übersetzungsproduktion schon auf ein Drittel der Produktion aus den letzten Friedensjahren reduziert war und sich weitgehend ‘aus Werken aus dem nordischen Sprachkreis, aus dem Flämischen und Niederländischen’195 zusammensetzte, bedauerte Die Neue Literatur: ‘Wenn auch jetzt der Schwärmerei unserer Verleger für englisch-amerikanische Literaturware ein kräftiges Stückchen vorgeschoben wurde, so müssen wir doch in gleicher Weise, wie Charlotte Bauschinger mit Recht betont, “einen gesünderen Ausgleich mit den [sic] nordischen Literatur” suchen. Vor allem aber müssen wir unser eigenes Licht unter dem Scheffel hervorholen. Es hat Kraft genug, in alle Welt zu leuchten’196. Mit einer Genehmigungspflicht für Übersetzungen aus Fremdsprachen ins Deutsche versuchte man zwar, der ‘Überfremdung der deutschen Literatur’197 entgegenzuwirken und zu verhindern, daß sich deutsche Schriftsteller au ausländischen Autoren orientierten und deutsche Leser sich auf ausländische Literatur stürzten, ‘um dem Schrifttum des eigenen Landes zu entgehen’198, aber diese Politik trug nur dazu bei, daß der deutsche Sprachraum weitgehend von den literarischen Entwicklungen in der amerikanischen, englischen und französischen Literatur abgeschottet wurde.199 Ansonsten hielt die Genehmigungspflicht deutsche Verleger nur ‘grundsätzlich’200 davon ab, nicht erwünschte Autoren oder solche, die es vielleicht werden könnten, zu übersetzen. Wie den Ausführungen Dietrich Strothmanns entnommen werden kann, nutzten Verlage wie Fischer-Suhrkamp, Zsolnay-Bischoff, Rowohlt, Insel und die Deutsche Verlagsanstalt bewußt den Freiraum, der dadurch entstanden war, daß die Nationalsozialisten auf Übersetzungen angewiesen waren, und unterliefen mit ihrer Übersetzungsproduktion, zumindest bis zur konsequenten Durchsetzung der Vorzensur ab 1939, ‘das Literaturprogramm der amtlichen Lenkungsbehörden’201. Dies war verhältnismäßig einfach bei der Literatur aus den ‘stammverwandten’ niederländischsprachigen und skandinavischen Ländern. Die Übersetzungen aus | |||||||||||||||||||||||||||||||
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diesen sogenannten ‘übersetzungsfreien’202 Staaten wurden nämlich von den Nationalsozialisten bevorzugt. Auch für die niederländische und die ‘nordische’ Literatur gab es zwar Verzeichnisse, die ‘der Produktionssteuerung dienten’203 und die im wesentlichen die Autoren berücksichtigten, ‘die den kulturpolitischen Zielsetzungen der NS-Führung entsprachen’204, aber da Übersetzungen der Literatur aus Skandinavien und dem niederländischen Sprachraum auch eine wichtige Rolle bei der ‘kulturpolitischen Europa-Propaganda’205 spielten, wurde bei Genehmigungen von Übersetzungen aus den skandinavischen Ländern und dem niederländischen Sprachraum eine vergleichsweise milde Zensur gehandhabt.206 Hier lag dann auch die Chance für die niederländische Literatur und ihre Verleger im Dritten Reich. Die Abhängigkeit, in die sich die Nationalsozialisten gegenüber der niederländischen (wie der skandinavischen) Literatur begeben hatten, indem sie den ‘Einfuhrüberschuß’207 an Übersetzungen trotz Warnungen nicht abbauten, bot vielen Verlegern die Möglichkeit, die Konjunktur zu nutzen und gerade solche Werke zu übersetzen, die das von den Nationalsozialisten propagierte Bild einer völkischen Literatur differenzierten. Natürlich wurde es nach 1930 zunehmend schwieriger, wie Franz Dülberg in den zwanziger Jahren die Unterschiede zwischen holländischer und deutscher Sinnesart bzw. deutscher und niederländischer Sprache zu betonen oder herauszustellen, daß ‘die Grundnote Hollands’208 zwar eine ‘germanische’209, aber eine ‘durch ein beständiges Dareinklingen aller europäische[r]’210, und nicht nur durch ‘östliche Töne’211, abgeänderte sei, aber eine ähnliche differenzierende Funktion hatten dennoch die Übersetzungen von Werken von Elsschot, Gezelle, Gijsen, Teirlinck und | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Van de Woestijne aus den späten zwanziger, den dreißiger und vierziger Jahren. Bemerkenswert waren in diesem Zusammenhang die Übersetzung des psychologischen Romans Büro Rechtsanwalt Stroomkoning (1939, ndl. Karakter, 1938) von Ferdinand Bordewijk (1884-1965), die deutsche Ausgabe von Grotesken der Dadaautorin Til Brugman (1888-1958), die mit Hanna Höch befreundet war, die Auswahl aus dem Werk von Herwig Hensen (o1917) und dem von Ed. Hoornik (1910-1970), die wir Wolfgang Cordan zu verdanken haben, die Übersetzung von Werk von Jef Last (1898-1972), die wegen der politischen Einstellung des Autors wohl nur im ‘Exil’ erscheinen konnte, und nicht zuletzt natürlich Rudolf Lonnes' Niederland (1930). Letztere Sammlung bot einen ‘Querschnitt durch die geistige Haltung und künstlerische Leistung einer jüngeren Generation in Holland und Flandern’212. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind schließlich auch der Spiegel der Niederlande (1941) und Der vlämische Spiegel (1943) vom Emigranten Wolfgang Cordan, der die niederländische Dichtung seit der Achtziger-Bewegung präsentierte, und die Sammlung Gedichte aus den besetzten Niederlanden (1944), die, ‘trotz aller Unterdrückung’213 von ‘freien Niederländern für freie Niederländer’214 geschrieben, 1944 in Zürich/New York erschien. Alle diese Werke bildeten ein Gegengewicht gegen das Übergewicht der Heimatautoren und der vielen Sammlungen typisch flämischer Literatur wie Am flandrischen Kamin (1937), Lachendes Flandern (1943) oder Das flämische Kampfgedicht (1942).215 Zu Recht hat Murk Salverda in seiner Broschüre zur Ausstellung ‘Niederländische Literatur in deutscher Übersetzung’216 auch Das fünfte Siegel (1939, ndl. Het vijfde zegel, 1937) des einzigen erfolgreichen Forum-Dichters im deutschen Sprachraum, Simon Vestdijk (1898-1971), als bemerkenswerte Produktion im Dritten Reich herausgestellt, denn | |||||||||||||||||||||||||||||||
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dieses Buch, für die deutschsprachige Kritik ein ‘beispielhafter Künstlerroman’217, eine ‘grossartige dichterische Gestaltung’218, stammte nicht nur von einem Autor, der in den Niederlanden als Kritiker des Nationalsozialismus bekannt und Mitglied des sogenannten ‘Comité van Waakzaamheid’ war, einer Gruppierung von Intellektuellen, die die nationalsozialistische Gefahr zu bekämpfen versuchte, sondern in dem Roman wurde auch deutlich Kritik an ‘Zensur der Kunst und Eingriffe[n] in Gewissensfreiheit’219 geübt. Leider hat gerade die Medaille Vestdijk auch eine Kehrseite. Vestdijk, der nicht auf die finanziellen Einkünfte aus Deutschland verzichten wollte - wenn es sein müßte, würde er sogar deutschsprachiger Autor, schrieb er 1941 -220, hat nicht verhindert, daß die Widmungen an E. de Perron bzw. M. ter Braak, die in den Originalausgaben von Fahrt nach Jamaika ([1941], ndl. Rumeiland, 1940) und Aktaion unter den Sternen (1942, ndl. Aktaion onder de sterren, 1941) enthalten waren, in den Übersetzungen nicht abgedruckt wurden, und später auch nichts dagegen unternommen, daß bei der Präsentation seiner Bücher im deutschen Sprachraum die antibritischen Tendenzen über Gebühr herausgestellt wurden.221 Letzteres wurde von der nationalsozialistischen Kritik selbstverständlich dankbar aufgenommen, So schrieb die Bücherkunde, das Organ des Hauptamtes Schrifttum bei dem Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP: | |||||||||||||||||||||||||||||||
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‘So liegt vor dem deutschen Leser ein spannendes Buch, in einer denkbar gepflegten Sprache [...] ein Band von Kultur und Niveau, Unterhaltungsschrifttum bester Form. Inwiefern Vestdijks dubioser Weg zwischen Kollaboration und Widerstand nun tatsächlich als Kollaboration zu interpretieren ist, wurde in der Studie von Adriaan Venema zu Vestdijks Haltung während der deutschen Besatzung der Niederlande ausführlich diskutiert, wobei Venema zu dem wenig schmeichelhaften Schluß kam, daß Vestdijk aus opportunistischen Gründen ‘dubbel spel’223 gespielt hat.224 Was aber weder aus der Studie von Hans Visser noch aus der Analyse von Venema hervorgeht, ist die Tatsache, daß die Nationalsozialisten Vestdijks Übersetzungen nicht nur wegen der antibritischen Propaganda förderten - wobei es außerdem noch die Frage ist, inwiefern die sehr vielen Leser Vestdijks im Hitler-Deutschland in seinen Werken auch wirklich nichts anderes gelesen haben als antibritische Propaganda -225, sondern auch für die Kulturfront. An eine Übersetzung des kritischen Romans Else Böhler: Duitsch Dienstmeisje (1935, ‘Else Böhler: Deutsches Dienstmädchen’) war natürlich nicht gedacht, während des Krieges wurde gerade dieses Buch aus dem Verkehr gezogen, aber die Nationalsozialisten wollten mit den Übersetzungen von Vestdijks Romanen sowie mit dem erzwungenen Beitritt Vestdijks in die sogenannte Kulturkammer und den Vestdijk in Auftrag gegebenen Übersetzungen nationalsozialistischer Autoren versuchen, Vestdijk in den Niederlanden als Leitfigur des Antinationalsozialis- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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mus zu diskreditieren.226 Was das betraf, sind sie aber, und dies ist doch kein geringes Argument bei der Beurteilung der Rolle Vestdijks während des Nationalsozialismus, kläglich gescheitert. Das Urteil über Vestdijk blieb für nationalsozialistisch denkende Niederländer immer so negativ wie 1941 im niederländischen Nationale Dagblad: ‘In ieder geval is dit boek van Vestdijk niet aan te bevelen, zooals trouwens geen van zijn romans. In een periode als de huidige, nu het Nederlandsche volk om zijn bestaan vecht, moeten andere tendenzen naar voren komen, dan die het stokpaardje van een psychiater ons bezorgen kan. Ons volk is reeds genoeg vergiftigd door zulke, eigenlijk joodsch-denkende schrijvers. Hun scherpzinnigheid is de scherpzinnigheid van den Jood Freud en hun kunst is daardoor zuiver “gekunsteld”. Wij twijfelen er niet aan of Vestdijk is “iemand met hersens” zooals men dat in de wandeling pleegt te noemen. Doch hij heeft kennelijk de toch al zoo subtiele grens van het normale overschreden. Het is eenerzijds te betreuren doch anderzijds ben ik de mening toegedaan, dat men niet al te lang of te hevig moet treuren. Als verschijnsel is dergelijke kunst een rotte plek in onze samenleving en...rotte plekken snijdt men uit’227. Ähnlich wie bei den Heimatautoren aus den Niederlanden und Flandern, hierauf ist später noch zurückzukommen, spielten die Nationalsozialisten bei Vestdijk also ein inkonsequentes, doppeltes Spiel. Obwohl sie ihn wegen seiner kritischen Haltung eigentlich mundtot machen wollten, stützten sie ihn, weil sie seine Übersetzungen für Propagandazwecke meinten nutzen zu können, und ermöglichten Publikationen im deutschen Sprachraum, sogar in auffallend hohen Auflagen. Am Ende blieb nur der wenig überzeugende Versuch, ‘nur gegen die am meisten | |||||||||||||||||||||||||||||||
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hervortretenden Fehler’228 vorzugehen und die schädliche Diskussion um den kritischen Vestdijk in den Niederlanden so schnell wie möglich zu beenden.229 Im Unterschied zu anderen Verlagen hat der Rohrer Verlag diese Situation nicht für ein nicht-nationalsozialistisches Literaturprogramm genutzt. Im Gegenteil, er hat die sogenannte antibritische Tendenz im Werk von Vestdijk ausdrücklich herausgestellt und fand es nicht mehr als selbstverständlich, daß Vestdijk der niederländischen Kulturkammer beitrat.230 Anders verhielt es sich nach 1933 bei einer Reihe katholischer Verleger. Sie nutzten bewußt die Abhängigkeit der Nationalsozialisten von der Literatur aus Flandern und den Niederlanden, indem sie versuchten, den Mangel an guter (katholischer) Literatur während des nationalsozialistischen Regimes durch die Förderung der Literatur aus Flandern auszugleichen. Beim Verlag Hegner in Leipzig, der wegen der nichtarischen Abstammung seines Leiters nur bis 1936 ungehindert arbeiten konnte, erschienen die ersten Walschap-Übersetzungen, beim Herder Verlag Werke von Anton van de Velde (1895-1983) und Edward Vermeulen (1861-1934), und der Pustet Verlag gab eine Sammlung flämischer Weihnachtserzählungen heraus, wobei ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, daß versucht werden sollte, die Dichter, ‘die bei uns noch nicht zu der Wirkung gekommen sind, die ihnen gebührt’231, ins Bewußtsein zu rücken. Eine wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch der Alber Verlag in München, bei dem Johannes Maassen, der während des Zweiten Weltkrieges verschiedene katholische Jugendzeitschriften herausgegeben hat, Lektor war. In diesem Verlag publizierte Heinz Graef eine ganze Reihe von Gedichten von Karel van de Woestijne und der Übersetzer Karl Jacobs 1943 seine Sammlung Flandern erzählt. Dort war zu lesen: ‘So stolz die Flamen auf die Wertschätzung sind, die wir ihrem Schrifttum entgegenbringen, so sehr haben sie recht, wenn sie sagen, daß wir es einseitig | |||||||||||||||||||||||||||||||
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sehen. Freilich, das flämische Volk ist ein Bauernvolk, und die älteren Schriftsteller sind am stärksten in der Gestaltung des Bäuerlichen. Aber unsere Erkenntnis dürfte sich nicht mit Streuvels, Timmermans und Claes erschöpfen. Flandern ist nicht nur das Land.’232 Gerade beim Alber Verlag lag, so betonte Graef, ‘eine Art Täuschung vor in dem Sinne, dass unter dem Etikett “flämische Dichtung” eigentlich die Herausgabe katholischer Dichtung beabsichtigt wurde.’233 Es war dann auch kein Zufall, daß in Graefs Auswahl aus den Gedichten Van de Woestijnes überdurchschnittlich viele religiöse Gedichte aufgenommen wurden und daß Graef, der Van de Woestijne nicht nur als Dichter der Herbstlichkeit, sondern dem deutschen Image der Literatur aus Flandern entsprechend als ein Dichter der Kraft, Sinneslust und Mystik, ‘Rubens und Ruusbroec in einem’234, betrachtete, bei seiner Übersetzung neben dem sensualistischen Charakter von Van de Woestijnes Poesie gerade die religiösen Aspekte übersteigerte.235 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Interessant ist schließlich auch, daß die zweideutige Haltung der Nationalsozialisten zur niederländischen Literatur auch nicht-katholische Verleger dazu ermutigte, das völkische Programm der Nationalsozialisten, das sich im wesentlichen auf die kämpferische Literatur und die Heimatliteratur konzentrierte, zu differenzieren, indem sie ein breiteres Spektrum der niederländischen Literatur als unbedingt erforderlich zeigten. Sogar beim Diederichs Verlag, dessen Programm 1935 als ‘Volkwerdung durch Mythos und Geschichte’236 umschrieben wurde, erschien 1943 eine Sammlung Novellen aus Flandern, die vom Herausgeber Filip de Pillecijn (1891-1962) mit folgenden Worten eingeleitet wurde: ‘Diese Sammlung von Novellen will nicht ein vollständiges Bild dessen geben, was das Flandern der letzten Jahre auf diesem Gebiet der Dichtung hervorgebracht hat. Wir haben absichtlich in Deutschland sehr bekannte Namen fortgelassen, weil wir es als überflüssig erachteten, in diesem Band eine Nachlese des allzu Bekannten zu bringen. Und zweitens, weil dieses Schrifttum auf überwiegend folkloristischer Grundlage von der Zeit überholt ist.’237 Die Autoren, die De Pillecijn statt Stijn Streuvels und Felix Timmermans präsentierte, nämlich Marcel Matthijs (1899-1964), Piet van Aken (1920-1984), Sylva de Jonghe (1904-1950), Ernest van der Hallen (1898-1948), Eugen Bosschaerts (1901-1965), Gerard Walschap (1898-1989), André Demedts (1906-1992), Albert van Hoogenbemt (1900-1964), Maurice Roelants, Willem Elsschot und August van Cauwelaert (1885-1945), gehörten vorwiegend der jungen Generation an und waren zumeist zugleich auch die Dichter, die in Deutschland von den katholischen Verlegern gefördert wurden. Anders als in den meisten Darstellungen zur Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum während des Nationalsozialismus suggeriert wird - ‘Zur Zeit des Dritten Reiches wurde in Deutschland neben Timmermans [...] Stijn Streuvels entdeckt’238; ‘Nach dem Abflauen des deutschen Interesses für die Achtziger bestimmten typische Heimatschriftsteller wie Timmermans, Claes, Streuvels, Coolen und A.M. de Jong das Bild der niederländischen Literatur’239 -, verlagerte sich, dies muß abschließend noch einmal hervorgehoben werden, das Interesse für die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Abb. 4 Niederländische Literatur im deutschen Sprachraum 1933-1944
bereits in den zwanziger Jahren auf die Unterhaltungsliteratur und auf Felix Timmermans und wurde das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum in den dreißiger Jahren alles andere als ausschließlich durch von den Nationalsozialisten bevorzugte (Heimat-)Literatur bestimmt. Außerdem, und dies soll die nun folgende ausführliche Analyse der Rezeption der niederländischsprachigen Heimatliteratur im Hitler-Deutschland zeigen, ging das Werk von Autoren wie Felix Timmermans, Ernest Claes (1885-1968), Antoon Coolen (1897-1961) und Gerard Walschap auch nicht einfach in der Blut-und-Boden-Literatur auf, sondern konnte in Wirklichkeit von den Nationalsozialisten nur sehr bedingt assimiliert werden. | |||||||||||||||||||||||||||||||
3.3.3 Niederländische Heimatliteratur und Nationalsozialismus3.3.3.1 Stijn StreuvelsDie flämischen Neunziger Prosper van Langendonck (1862-1920), August Vermeylen, Cyriel Buysse, Stijn Streuvels, Karel van de Woestijne und Herman Teirlinck, die sich Ende des vorigen Jahrhunderts um die Zeitschrift Van Nu en Straks (1893-1894/1896-1898/1900/1901) - ‘gewijd aan de kunst van Nu, nieuwsgierig naar de kunst-nog-in-wording - van Straks -, hier en in het buitenland’240 - versammelten, blieben, dies hat die Analyse der Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum in der vorigen Periode gezeigt, bis zum Erscheinen der Übersetzungen aus dem Ersten Weltkrieg weitgehend unbekannt. Der | |||||||||||||||||||||||||||||||
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einzige Neunziger, der bereits vor 1914 größere Aufmerksamkeit erregte, war Stijn Streuvels. Die erste Übersetzung eines seiner Werke erschien im deutschen Sprachraum 1903, in dem Jahr also, als er zusammen mit seinem französisch schreibenden Landsmann Maeterlinck für den Nobelpreis vorgeschlagen worden war. Es war eine Reihe von Novellen unter dem Titel Sonnenzeit in einer Übersetzung von Martha Sommer, die für den Bruns Verlag in Minden, der auch Multatuli herausbrachte, später auch die Novellensammlungen Frühling und Sommerland ins Deutsche übertrug. Später war es der Insel Verlag, der die Reihe der Streuvels Übersetzungen ergänzte: zunächst mit dem Roman Der Arbeiter - in dem wie in den Männern am feurigen Ofen (1936, ndl. Het leven en den dood in den ast, 1926 in Werkmenschen (‘Arbeiter’) erschienen) das Proletariat im Mittelpunkt stand -, dann mit der Ernte und Streuvels' bedeutendstem Werk Der Flachsacker ([1918], ndl. De vlaschaard, 1907). Andere Verleger publizierten vor 1930 noch Minnehandel (1919, ndl. 1903) in einer nicht autorisierten Übertragung für die ‘Schriften der deutsch-vlämischen Gesellschaft’ und Knecht Jan (1928, ndl. Langs de wegen, 1902). Die Anerkennung für Streuvels' Werk wuchs entsprechend der allgemeinen Skepsis gegenüber der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern in dieser Periode recht zögerlich. Sogar Streuvels' erste Übersetzerin, M. Sommer, berichtete, daß sie zuerst durch ein ‘aufmerksames Studium’241 ihre Zweifel in bezug auf die Qualität des Werkes des bei den ‘leicht zu befriedigenden Nachbarn’242 umjubelten Stijn Streuvels hatte überwinden müssen, bevor sie in dem großen Van Nu en Strakser, der sich ihrer Meinung nach durch sein Studium der klassischen und modernen Dichtung, durch seine intensive Beschäftigung mit der (westflämischen) Sprache zum echten Dichter erzogen hatte, einen zweiten Gottfried Keller erkannte und sie sein der Quelle der ‘Naturpoesie’243 entsprungenes Werk wirklich zu schätzen wußte. Es sei nämlich mit den ‘einfachsten Mittel[n]’244 gezeichnet, in ihm stehe die ‘sittliche Wahrheit’245 im Mittelpunkt, und in ihm sei auch der ‘berauschende [...] Duft’246 von Märchen, Sagen und Erzählungen des alten Testamentes zu spüren.247 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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O. Hauser, der richtigerweise das Studium der klassischen und modernen Dichtung bei Streuvels weniger stark hervorhob als M. Sommer, denn Streuvels hat nach eigener Aussage Maxim Gorki und Emile Zola, mit denen er oft verglichen wurde, nie gelesen, bestätigte gut ein Jahr später das Urteil von M. Sommer. Er sprach von ‘eine[r] ganz neue[n] Kunst mit Mitteln, die andere nur gelegentlich anwendeten’248. Streuvels, ‘der erste holländische [sic] Erzähler, der ganz im Boden seiner Heimat wurzelt und zugleich genug Künstler ist, um auch im Auslande beachtet werden zu müssen’249, personifizierte für Hauser ‘die Zukunft der holländischen Literatur’250. Bereits 1903 war man im deutschen Sprachraum also der Meinung, daß das Werk von Streuvels durch sein literarisches Niveau die schlichte provinzielle ‘Dorfdichtung’251 weit überrage. Ganz eigenwillige Akzente setzte 1904 Arthur Moeller-Bruck in dem Magazin für Litteratur. Zeitgemäß präsentierte er Streuvels als ‘durchaus dekadente Erscheinung’252 mit einer Dichtung, ‘so still, bleich und vornehm, als ob sie der letzte Sproß eines vielhundertjährigen Adelgeschlechtes [sic] ersonnen hätte’253. Anders als die meisten Rezensenten vor und nach ihm war er der Meinung, daß sich die niederländische Literatur aus Flandern nicht durch das Bodenständige, Markige auszeichne, daß nicht das Saft- und Kraftvolle der robusten Heimatkunst für Streuvels' Werk kennzeichnend sei, sondern die ‘unsagbar diskreten Tinten’254, in denen Streuvels seine rustikale Stoffwahl wiedergebe.255 Für Moeller-Bruck war Streuvels einer der ‘femininen Poetennaturen’256, die ‘kein männ- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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lich festes, schweres, kräftiges Material’257 verwendeten. Dies zeige sich auch in der Darstellung der menschlichen Psyche, die Streuvels nicht wie in der sonstigen psychologischen Dichtung bewußt analysiere, sondern der er ‘einzig und allein mit einer unwillkürlichen Sympathie’258 nachgehe. So festigte sich in der ersten Hälfte des ersten Dezenniums dieses Jahrhunderts Streuvels' Ruf im deutschen Sprachraum. Sogar Die schöne Literatur, die Streuvels anfangs nur als einen der ‘besten Volksschilderer’259 Flanderns präsentiert und 1907 bezüglich Sommerland von einem unerfreulichen Buch gesprochen hatte - ‘eins von denen, die man unbefriedigt und mit leisem Kopfschütteln bei Seite legt’260 -, bezeichnete 1909 Streuvels als einen ‘Künstler von ungewöhnlicher Begabung’261. Durch das Erscheinen von Auszügen aus seinem ‘Kriegstagebuch’ geriet Streuvels während des Ersten Weltkrieges kurze Zeit in den Mittelpunkt der Diskussion um die Kriegsziele, aber mit dem Erscheinen vom Flachsacker rückte die literarische Bedeutung der Werke des flämischen Heimatdichters wieder in den Vordergrund. Heinrich Brühl stellte fest, daß hier Streuvels offensichtlich von dem ‘Skizzenhaften seiner ersten Werke [...] zu der Lösung größerer Probleme’262 übergegangen sei, und Streuvels' Werk wurde erneut als ein ‘köstliches Kleinod flämischer Erzählungskunst’263 präsentiert. Zwischen 1914 und 1929 wurde der ‘Balzac der Armen’264, wie R.A. Schröder Streuvels genannt hat, als lyrischer Realist, als Heimatoder Volksschriftsteller beschrieben, der mit ‘Sinn für die äußere Schönheit der Natur’265 und einer ‘virtuose[n] Beherrschung des artistischen Registers’266 nach ‘Klarheit und Knappheit des Ausdrucks’267 strebe, ‘ohne Umschweife’268 ‘tief in die Psychologie | |||||||||||||||||||||||||||||||
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der Bauern und in die Kinderseele’269 eindringe und auf den Kern der Dinge losgehe.270 Bemängelt wurde in dieser Periode, daß Streuvels ‘sehr (manchmal zu) breit’271 erzähle, sein Werk manchmal zur ‘konstruierten Idylle’272 verkümmere, daß es also nicht immer ‘frei von Rhetorik und einem gewissen Rausch des Schreibens’273 sei. Dann allerdings begann die dritte Phase der Rezeption von Streuvels im deutschen Sprachraum. Wie kaum ein anderer niederländischsprachiger Autor wurde Stijn Streuvels im Rahmen der nordischen Renaissance und der Förderung der Heimatliteratur von den Nationalsozialisten umworben und einverleibt. 1936 erhielt er zusammen mit René de Clercq und Cyriel Verschaeve (1874-1949) den mit 10.000 RM dotierten Rembrandtpreis und 1941 auf Betreiben des deutschen Propagandaministeriums sogar den Doktor honoris causa der Universität Münster.274 Besonders Adolf Spemann hat sich in dieser Periode als Herausgeber, Übersetzer und Verleger für Streuvels eingesetzt.275 Er war es, der 1936 eine Kampagne in die Wege leitete, mit der er die schwedische Akademie von Stijn Streuvels als Kandidaten für den Nobelpreis für Literatur überzeugen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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wollte, und der 1941 vergeblich versuchte, Streuvels mit Hitler zusammenzubringen.276 Entsprechend der Vorliebe der Nationalsozialisten für Streuvels änderte sich mit dem ‘jaar der opstanding 1933’277 die deutsche Perspektive auf den flämischen Autor schlagartig. Schon der Inhalt der Petition von A. Spemann für das schwedische Nobelpreiskomitee sprach diesbezüglich für sich: ‘Der Nobelpreis für Literatur ist bisher noch niemals an einen Dichter Belgiens gefallen, und mit jedem Jahr wächst deshalb die Wahrscheinlichkeit, daß er einmal nach Belgien vergeben wird, wir brauchen gerade Ihnen gegenüber nicht zu betonen, wie wichtig es aber dann ist, daß der bedeutendste flämische Dichter, den Belgien heute besitzt, den Preis bekommt, ein Dichter, der durch zahlreiche deutsche Ausgaben seiner Werke bereits zum deutschen Volksbesitz gehört und unserer deutschen Kultur eng verbunden ist’278. Auf Basis eines Gefühls der tiefen Verwandtschaft mit dem ‘Dichter des stammverwandten flämischen Volkes’279 wurde Streuvels dem deutschen Volksbesitz zugeschlagen. Die Idee der gemeinsamen ‘tiefen völkischen Verwurzelung’280 forderte geradezu die Aufnahme der ‘alte[n] germanische[n] Eiche’281 ‘in die großdeutsche Kultur’282. Nach Meinung propagandakonformer Kritiker war Streuvels geblieben, | |||||||||||||||||||||||||||||||
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‘was er nach Blut und Überlieferung’283 war und garantierte sein Werk durch seine ‘wahrhaft volksverbundene Haltung’284, daß es sich um keinen ‘“Literat[en]”’285 handelte, sondern um einen wahren und echten ‘völkischen’286 Dichter. Während M. Sommer zu ihrer Zeit betont hatte, daß der Ausdruck ‘poeta nascitur, non fit’ nur die halbe Wahrheit zum Ausdruck brachte, und dargelegt hatte, wie Streuvels an sich hatte arbeiten müssen, um sich vor dem ‘Schicksal der sogenannten Kraftgenies zu bewahren’287, wurde in den dreißiger Jahren genau das Gegenteil herausgestellt. Für die meisten Kritiker während des nationalsozialistischen Regimes war Streuvels der geborene Heimatdichter, ein ‘tapferer Realist’288, der sich ‘bäurisch echt [...] hart und ernst’289 von der Zivilisation, der Kunst der ‘phantastischen Bilder und Worte’290, der Idylle und den ‘“zeitlosen” flämischen Schriftstellern’291 distanzierte.292 Bezeichnend war diesbezüglich nicht zuletzt folgende Rezension vom Liebesspiel in Flandern (1936, ndl. Minnehandel, 1903) in der Bücherkunde: ‘Es gibt nur wenige Bücher, die mit gleicher Sorgfalt, aber auch mit gleicher Selbstsicherheit geschrieben wurden. Von der ersten bis zur letzten Seite ist dieses Buch eine echte Dorfgeschichte ohne Manieriertheit oder Krampf. Da ist keine Spekulation auf das Publikum, keine künstlich aufgebaute Handlung. Die zahlreichen Steigerungen des Geschehens sind alle lebensnah, fast möchte man meinen zufällig und getragen von einer Selbstverständlichkeit, die nur einer schildern kann, der selber noch in seines Wesens Urgrund ein Bauer ist. [...] Der Groß- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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städter fühlt sich beim Lesen dieses flandrischen Romans neidisch wie ein Kind, das seine Nase an einem Schaufenster plattdrücken möchte und nicht zu den Schätzen dringen kann.’293 Die ‘außerordentliche Gestaltungskraft’294 von Stijn Streuvels, die ‘literarisch-ästhetische[n] Reize’295 seines Werkes, die ‘schier unerschöpfliche Fülle’296 seiner Sprache, die Treffsieherheit seiner Bilder und die ‘eigenwillig aufgelockerte Form’297 blieben zwar auch nach 1933 nicht unbemerkt, rückten aber in den Hintergrund. Unterstrichen wurde stattdessen die Erdverbundenheit und betont, daß Streuvels' ‘reife [...] Kunst’298 eine Rückführung des Lebens auf ‘Urinstinkte’299 sei, daß Streuvels das Feiern des ‘ewigen Alltag[s] des Bauern’300 darstelle, ‘Hohe-Lieder auf die gesegnete Erde Flanderns’301 verfasse. An Stelle der künstlerischen Kriterien, die früher die Rezeption von Streuvels' Werk bestimmt hatten, rückten in typischer Weise politisch-weltanschauliche, völkische.302 Das Werk von Streuvels wurde entindividualisiert. Seine Romanhelden wurden ‘Gestalten aus dem herrlichen Lande Flandern’303, ihre Einzelschicksale ‘ewige Grundleidenschaften’304. Nicht mehr die in der ersten und zweiten Phase der Streuvels-Rezeption im deutschen Sprachraum gelobte Psychologisierung des Individuums wurde gewürdigt, sondern ein nicht näher bestimmtes Wissen ‘um die Werte und Eigenheiten menschlichen Strebens’305, ‘der Instinkt, das Triebhafte, das Wachsende, Werdende’306 als der Kern der Werke Streuvels' hervorgehoben. Die Figuren in den Romanen und Erzählungen von Streuvels | |||||||||||||||||||||||||||||||
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waren für die nationalsozialistischen Kritiker das ‘Urbild des Knechtes’307 und der ‘Typus des Bauern’308. Sie waren es, die ‘die Gesamtheit des flämischen Volkes’309 repräsentierten. Zu Recht hob Kathryn Smits in ihren Untersuchungen zur Rezeption von Streuvels' Werken im deutschen Sprachraum also hervor, daß man während des Nationalsozialismus die ‘Bedeutung und die Eigenart’310 der Werke von Streuvels - die zwar als bodenständig und schicksalhaft charakterisiert werden können, aber die ansonsten nichts mit Blut-und-Boden-Dichtung zu tun haben und fast alle vor 1930 in der Originalsprache erschienen waren, dies darf man bei alledem nicht aus dem Auge verlieren - bewußt ‘verkannt’311 hat und daß man Streuvels Eigenschaften ‘angedichtet’312 hat, die ihm ‘fremd’313 waren. Nur so konnte der flämische Autor allerdings, wie von der nationalsozialistischen Propaganda vorgesehen, als einer der wenigen ausländischen Dichter ‘zum anspornenden Vorbild für echte, mit Volk und Heimat verbundene Dichtung’314 werden. Welche große ‘Ehre’ Streuvels hiermit zuteil wurde, zeigt die Tatsache, daß nur für ganz wenige Autoren wie Stijn Streuvels und Knut Hamsun vom Grundsatz, daß die völkische Dichtung auf eigenem Boden wachsen sollte und in ‘keiner Buchbesprechung der Parteipresse und in keiner offiziösen Literaturgeschichte [...] Verbindungen oder Übereinstimmungen zwischen den Werken deutscher und ausländischer Schriftsteller’315 aufgedeckt werden sollten, abgewichen wurde. Als einer der wenigen ausländischen Dichter trug Streuvels, wie Fritz Peuckert, der Spezialist für die Literatur aus Flandern in den Nationalsozialistischen Monatsheften, schrieb, die Bezeichnung ‘germanischer Dichter’316 und wurde er ‘für alles, was noch in Zukunft an “Bauernromanen” geschrieben werden wird’317, als ‘hones Vorbild’318, als ‘Maßstab’319 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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präsentiert. Dabei zählte, wie gesagt, nicht die literarische Qualität der Werke, nicht das, was als ‘Literatur’ bezeichnet wurde, sondern immer wieder undefinierbare Kriterien wie das ‘stiller Einfalt und bewegter Größe’320. Auf wenig Gegenliebe stieß bei den Nationalsozialisten lediglich die Tatsache, daß es im Falle von Streuvels einen katholischen Heimatdichter betraf und daß dies in Deutschland nicht nur bekannt war - 1929 hatte es z.B. Nico Rost (1896-1967) hervorgehoben, im gleichen Jahr also, als ein anderer Kritiker sich gefragt hatte, warum sich gerade die katholischen Verlage bislang so wenig für Streuvels interessierten -321, sondern daß von katholischer Seite auch nach 1933, wenn auch nicht so oft wie bei Felix Timmermans, Antoon Coolen oder Gerard Walschap, auf die ‘religiöse [...] Haltung’322 des ‘christlichen Dichter[s]’323 und die ‘religiöse Verwurzelung’324 seiner Romanfiguren hingewiesen wurde. Den Nationalsozialisten war dies alles andere als recht, denn sie waren, wenn auch nicht immer gleich offen - Hitler brauchte auch die Katholiken und die Protestanten für den Aufbau des Dritten Reiches -325, ausdrückliche Gegner des Christentums und insbesondere der Kirchen.326 Dementsprechend kritisierte das Rosenberg-Organ Bücherkunde die | |||||||||||||||||||||||||||||||
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‘konfessionelle Gebundenheit’327 von Streuvels. Sie führte nach Meinung der Zeitschrift dazu, daß die Personen in Streuvels' Romanen manchmal ‘zu weich und traumverloren’328 wirkten und daß zu Unrecht der Eindruck entstand, daß ‘ein anständiges Leben beinahe gleichbedeutend mit einem frommen Leben’329 zu sein schien. Zu einer echten Ablehnung irgendeines der Werke von diesem, wie die Bücherkunde kritisch hervorhob, ‘gläubige[n] Sohn der Kirche’330 hat dies aber nicht geführt. Im Gegenteil, gerade Werke wie Das Christkind (1933, ndl. Het kerstekind, 1911) und Letzte Nacht (1933, ndl. Kerstwake, 1928) konnten in der Periode 1933-1945 mit viel Erfolg verkauft werden, und sie erhielten gute Kritiken, auch in der nationalsozialistischen Presse.331 Dies resultierte daraus, daß innerhalb des nationalsozialistischen Lagers radikale und konservative Kräfte um die Vorherrschaft kämpften und daß Streuvels nun einmal als Vorbild für deutsche Dichter hingestellt worden war.332 In nationalsozialistischen Rezensionen kamen Worte wie Katholizismus, Kirche oder Kirchlichkeit natürlich selten vor. Stattdessen betonte eine Zeitschrift wie Die Neue Literatur bezüglich des Christkindes vielmehr, daß sich die Geschichte ‘im Schnee eines flandrischen Dorfes’333 abspiele und daß es eine Geschichte ‘ohne märchenhafte Verkleidung [...] von der alten ewigen Not und alten ewigen Erlösung der Menschenkinder’334 sei. Die Bücherkunde, die, wie gesagt, 1936 die konfessionelle Gebundenheit von Streuvels ausdrücklich angeprangert hatte, empfahl Weihnachtsgeschichten (1937) 1938 ebenfalls, allerdings nicht, weil es Weihnachtsgeschichten betraf, sondern weil der Autor Geschichten seiner Heimat erzähle - ‘Ergreifend ist besonders “Weihnachten im Niemandsland” - vom Krieg vertriebene Menschen finden ihre Heimat wieder und bauen ihren Hof auf’335! - und nicht die in der | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Kirche eingebundene Religiosität, sondern die ‘innere Gläubigkeit’336 besonders herausstelle. Beim Versuch, Streuvels als Blut-und-Boden-Dichter zu präsentieren, wurde also seiner Religiosität ein germanischer Charakter aufgedrückt, indem von einem Glauben ‘an Gott in der Natur, an Gott im eigenen Volke, an Gott im eigenen Schicksal, im eigenen Blute’337 die Rede war. Natürlich muß man sich fragen, inwiefern Streuvels' Werke, insbesondere seine Weihnachtserzählungen, tatsächlich nur im nationalsozialistischen Sinne gelesen wurden. Da das Werk von Timmermans, Claes, Coolen und Walschap, wie die Kritiken zeigen, sehr wohl, sehr viel und sehr gerne außerhalb nationalsozialistischer Kreise gelesen wurde, ist sogar zu vermuten, daß dies nicht der Fall war, wenn es sich auch kaum nachweisen läßt. Fest steht nur, daß das Bild der Kritik das Gegenteil suggeriert. Anders als bei der Rezeption von den eben erwähnten niederländischsprachigen Heimatautoren, die im folgenden näher betrachtet wird, deuten bei Streuvels nur vereinzelte Rezensionen und Beiträge darauf hin, daß sein Werk nicht fest in der völkischen Literatur integriert war. Die Tatsache, daß dies erstens gerade bei Streuvels, einem der bedeutendsten niederländischsprachigen Autoren, geschah, daß sich Streuvels, der zwar zur Aushändigung der Doktorbulle in Münster und des Rembrandtpreises nicht erschien, auch nie irgendwelche ihm angebotenen ‘Ämter und Vergünstigungen’338 angenommen und sich immer geweigert hat, in Deutschland aus seinem Werk zu lesen - nach K. Smits weil er nicht wußte, in welchem Ausmaß sein Werk von der nationalsozialistischen Propaganda mißbraucht wurde -339, zweitens nicht ausdrücklich gegen die Ausbeutung seines Werkes durch die Nationalsozialisten in Deutschland gewehrt hat, hatte schwerwiegende Folgen für das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum im allgemeinen, insbesondere aber natürlich für die Rezeption der Werke von Stijn Streuvels.340 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Noch in den späten sechziger Jahren wurde von deutschen Studenten ein Buch wie Der Flachsacker ‘als Blut-und-Boden-Literatur met weerzin’341 abgewiesen, und 1971 schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezüglich der Verfilmung der Großen Brücke ([1938], ndl. De teleurgang van den Waterhoek, 1927): ‘Bedecken wir Mira, von dem Holländer Fons Rademakers, an der schwermütigen Schelde nach Stijn Streuvels [sic] Roman [...] handwerklich sauber heruntergedreht, mit Schweigen, die Zeiten von Blut und Boden sind ja vorbei’342. Es muß jedoch betont werden, daß Werke von Autoren wie Stijn Streuvels, Jozef (Jef) Simons (1888-1948), Cyriel Verschaeve, René de Clercq, Emiel Buysse (o1910), Jef Hinderdael (1877-1948), die entweder der völkischen Literatur zugerechnet werden müssen oder deren Werk mit Hilfe der nationalsozialistischen Propaganda fast nahtlos in das Bild der propagierten völkischen Literatur aufging, nur ca. 14 Prozent der gesamten aus dem Niederländischen in dieser Periode übersetzten Literatur ausmachten. Unabhängig von der Tatsache, daß ein wesentlicher Teil des Bildes der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum wie in den zwanziger Jahren weiterhin geprägt wurde vom Erfolg von Autorinnen und Autoren wie Jo van Ammers-Küller, Jan Apon (o1910), Johan Fabricius, Jan de Hartog (o1914), Amanda van Hoogstraten-Schoch, Marie Koenen (1879-1959), Madelon Lulofs, Top Naeff, Gerarda van Nes-Uilkens (1877-1952), Maria Peremans-Verhuyck (1887-), Margo Scharten-Antink, Theo Thijssen (1879-1943), Henri van Wermeskerken (1882-1937) und Willy Corsari (= 20% aller Übersetzungen aus dem Niederländischen zwischen 1933 und 1945), wurde das Bild der niederländischen Literatur in dieser Periode bestimmt von Werken von Felix Timmermans, Ernest | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Claes, Antoon Coolen und Gerard Walschap (ca. 33% der Übersetzungen), den Werken von Hendrik Conscience (5%) und denen weiterer Autoren, die wie André Demedts zu den führenden katholischen Autoren aus Flandern gerechnet werden können (weitere 3%). Darüber hinaus war das Werk von Timmermans und Claes nicht nur viel besser verbreitet als das von Streuvels, es ließ sich auch nicht ohne weiteres oder nur unter großen Abstrichen von den Nationalsozialisten vereinnahmen.343 | |||||||||||||||||||||||||||||||
3.3.3.2 Felix Timmermans und Ernest ClaesDer erfolgreichste Autor im deutschen Sprachraum, nicht nur in der Periode 1914-1945, sondern zeitweise auch danach, war Felix Timmermans. Von Anfang an wurde dieser idyllische ‘Malerpoet’344 und sein Werk, das in der Hauptsache von A. Kippenberg und dem Insel Verlag im deutschen Sprachraum bekannt gemacht wurde, mit Begeisterung aufgenommen. Vom Jesuskind in Flandern, in dem Timmermans die Geburt Christi nach Flandern verlegte, und von seiner Ode auf das Leben Pallieter waren um 1923 bereits die ersten zehntausend Exemplare verkauft.345 Das Werk von Timmermans war also nicht von dem Tief betroffen, das die niederländischsprachige Literatur aus Flandern nach dem Ersten Weltkrieg im deutschen Sprachraum erlebte. Als Erklärung für dieses Phänomen führte bereits Josef Mertens in seiner Studie über die Ursachen des Erfolges von Timmermans im deutschen Sprachraum die Entdeckung Flanderns während des Ersten Weltkrieges an.346 Mit ‘liebender Hinwendung’347 und weniger aus ‘Sehnsucht nach der Zeit, in der ein Sieg möglich schien’348, dachten die Deutschen an Flandern zurück, wo sie nicht nur viel gelitten, sondern sich zugleich auch zu Hause gefühlt hatten. In den zwanziger Jahren verband man mit Flandern eine doppelte Hoffnung: Erstens die Hoffnung auf eine sicherere, bessere Zukunft, die auf besondere Weise mit Flandern verknüpft war, denn durch den Ersten Weltkrieg und die Flamenpolitik war das Bewußtsein entstanden, daß sich | |||||||||||||||||||||||||||||||
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das mehr oder weniger ‘fröhliche’349 flämische Bekenntnis zur germanischen Herkunft aus dem 19. Jahrhundert in Flandern inzwischen zu einem echten Kampf für die germanische Eigenart entwickelt habe, was neue Perspektiven für die schon so lange ersehnte Barriere gegen Frankreich versprach. Zweitens, und dies war von noch größerer Bedeutung, war durch die Begegnung mit Flandern der Eindruck entstanden, daß man sich gerade in Flandern noch in intensivem Kontakt mit den Quellen der germanischen Wesensart befinde.350 Zusammen mit der katastrophalen sozialen und ökonomischen Situation nach dem Ersten Weltkrieg machte diese doppelte Hoffnung, dieses romantische Verlangen nach dem eigenen Ursprung in Kombination mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft es möglich, daß gerade im deutschen Sprachraum versichert wurde: ‘Nein, Europa geht [...] nicht unter, solange Timmermans lebt’351. Timmermans' originelles, bewußt naives, idyllisches und humoristisches Werk, das mit ‘blühende[r] Fabulierlust’352, ‘Farbenpracht und Erdfrische’353, ‘warme[m] Klang des Sinnlichen’354 und ‘zarten Schwingungen des Gemüts’355 eine ‘frohe Botschaft von der Schönheit und Kraft des Lebens’356 zu verkünden schien, paßte darüber hinaus wie kaum ein anderes zu dem im deutschen Sprachraum schon im 19. Jahrhundert geprägten Bild der mystisch-sensualistischen Literatur aus Flandern. Dabei gelang es Timmermans, wie J. Mertens ebenfalls richtiger- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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weise betonte, die Spannung zwischen Sensualismus auf der einen und dem Streben nach geistigem Leben auf der anderen Seite in einem erdverbundenen Gottesvertrauen zu lösen. Auch dies hat natürlich dazu beigetragen, daß Timmermans' Bücher ‘wie ein Labsal’357, wie ein ‘Gesundbronnen [sic]’358 empfunden wurden. Das Werk von Timmermans wurde ferner als Beweis dafür erfahren, daß der Literatur aus Flandern die ‘Irrgänge’359 der deutschen Literatur erspart geblieben waren. Während die deutsche Literatur nach Einschätzung verschiedener Kritiker, ‘wie überhaupt die ganze westliche Literatur [...] von der Großstadt abhängig und rein ästhetisch orientiert’360 war, hatten die Flamen ihre Heimatverbundenheit nicht aufgegeben: ‘So findet sich bei den Flamen das, was wir schmerzlich entbehren: eine eigenartige und noble Volksdichtung, eine Kunst also, die das einfache Gemüt erhebt und begeistert, und die dem Kenner dabei doch wohlgefällt.’361 Der ‘Germane’362 Timmermans ermöglichte also, was Stijn Streuvels mit seiner realistischen, pessimistischen, ja sogar fatalistischen Literatur nicht bieten konnte: die Erfüllung deutscher ‘Wunschbilder’363. Die Erwartungen und Hoffnungen, die mit Flandern verknüpft waren, erleichterten die Identifikation mit dem im Werk von Timmermans | |||||||||||||||||||||||||||||||
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dargestellten sogenannten flämischen ‘Naturreservat’364. Aber trotzdem wurde das Flandern von Timmermans nicht mit dem realen Flandern gleichgesetzt. Die Artikel und Beiträge aus den zwanziger Jahren zum Werk von Timmermans zeigen vielmehr, daß Traum und Realität selten verwechselt wurden, daß nur einzelne Kritiker zu glauben schienen, daß Flandern ein ‘Shangri-la’365, ‘das in Pflanze, Tier und Mensch ewig fruchtbare [sic]’366, das Paradies nebenan war. Man war sich stattdessen der für Timmermans' Werk typischen ‘Verklärung’367 bewußt, betonte, daß das Flandern von Timmermans ‘eine Frage des Stils’368 sei und daß sein Werk ‘außerhalb der Zeit und aller Zeitprobleme’369 liege. Die meisten Rezensenten realisierten sich also, daß die Personen aus den Werken von Timmermans in Flandern keine leibhaftigen Verwandten hatten. Wesentlich für den Erfolg von Timmermans im deutschen Sprachraum in den zwanziger Jahren und, wie sich zeigen wird, von außerordentlicher Bedeutung im Zusammenhang mit der Rezeption seiner Werke während des Hitler-Regimes, war schließlich, daß das Werk von Timmermans vom ‘warmen Glaubensleben des gemütvollen flämischen Volkes’370 erfüllt gesehen wurde. Besonders dadurch gewann Felix Timmermans in den zwanziger Jahren seine breite Leserschaft im deutschsprachigen Publikum. Die Bewunderung galt diesbezüglich nicht nur dem Jesuskind in Flandern, dem Triptychon von den heiligen drei Königen (1924, ndl. Driekoningentryptiek, 1923) oder dem Pfarrer vom blühenden Weinberg (1927, ndl. De pastoor uit den bloeyenden wijngaerdt, 1923), von dem die Zeitschrift Der Gral schrieb, daß man ‘mit besonderer Genugtuung und leisem Neid’371 feststellen müsse, daß in diesem Werk ‘die ganze Fülle und Größe des Christentums und der katholischen Kirche’372 zum Ausdruck komme. Auch in anderen Werken fand man | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Timmermans' ‘christliche[n] Realismus’373 bestätigt, stellte man fest, daß sie von ‘Himmelssehnsucht und weltüberwindendem Glauben’374 erfüllt seien. Sogar Timmermans' Bruegelbiographie war für die deutschsprachige Kritik ein Beweis dafür, ‘daß man heute von einer wirksamen katholischen Erzählungskunst’375 sprechen dürfe. Selbstverständlich gab es von katholischer Seite auch Kritik. So empfand man die ‘Darstellung einer außerehelichen Verbindung’376 in Pieter Bruegel (1928, ndl. 1928) als ‘ungeordnet’377, wurde im Gral bemängelt, daß Timmermans ‘die Mitwirkung der offiziellen Kirche am Werke des hl. Franz in ihrer wahren Bedeutung’378 zu verkennen scheine, und wurde, wie zu seiner Zeit im niederländischen Sprachraum, vor allem Pallieter kritisiert. Bei letzterem Werk bemängelte man, daß der Roman eine ‘heidnische, panische Welt’379 beschreibe, daß das Buch zu ‘robust, zu rustikal’380 sei und daß in dem Werk die ‘große, alles an sich ziehende Mitte’381 fehle, aber zugleich betonte man - und man vergleiche diese Reaktion mit der Haltung der Kirche in Flandern -, daß Pallieter ‘in seinem inneren Wesen als katholisch anzusprechen’382 sei und daß gerade mit diesem Werk das ‘Märchen von der Weltflucht des Katholizismus’383 entkräftet werde. Timmermans war also bei religiösen Kritikern nicht unumstritten, aber trotzdem steht unzweifelhaft fest, daß Timmermans im deutschen Sprachraum von Anfang an als katholischer Dichter aufgenommen wurde.384 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Der religiöse und idyllische Charakter des Werkes von Timmermans verhinderte, wie sich zeigen wird, in den dreißiger Jahren, daß Timmermans zu dem wurde, wozu ihn auch B. Govaerts trotz aller Einschränkungen machen wollte, nämlich zu einer Art ‘Literaturstier’ der Nationalsozialisten. Zwar war das Werk von Timmermans artverwandt, mit der Heimat verwachsen, ‘bodenständig’385, suchte Timmermans wie jeder Heimatschriftsteller Verbindung mit den ‘natürlichen Urquellen des Lebens’386 und konnte man mit Recht sagen, daß sein Schaffen in das ‘schollengebundene Volkstum’387 hineinwurzelte. Aber trotzdem paßten Timmermans' Werke nicht in das von den Nationalsozialisten propagierte Bild der ‘Blut-und-Boden-Literatur’. Für die meisten deutschsprachigen Kritiker war und blieb offensichtlich, daß das Werk von Timmermans nicht mit den (düsteren) Büchern von Streuvels vergleichbar war und höchstens als ‘notwendige Ergänzung zu ihnen’388 betrachtet werden konnte. Trotz der Bemühungen von nationalsozialistischer Seite, Timmermans blieb Timmermans, der beschauliche ‘Idylliker’389, der, wie man es immer wieder betonte, schrieb, ‘wie es den Leuten gefällt’390: ‘Behaglich und gemächlich, feinsinnig und heiter’391. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Dementsprechend reagierte man Mitte der dreißiger Jahre auch auf die Kritik, die zunächst von W. Moens geäußert wurde, daß gerade Timmermans, der ein ‘Pseudo-Flandern’392 beschreibe, der ‘nur eine Seite flämischen Lebens’393 zeige, soviel Erfolg im deutschen Sprachraum habe. Schließlich, so meinten die Kritiker, sei Flandern doch ‘nicht nur mit Windmühlen, sondern auch mit Schloten bestanden’394 und das flämische Volk, obwohl dies im Werk von Timmermans nicht zum Ausdruck komme, doch ‘ungebrochen kämpferisch’395 geblieben! Solche Vorwürfe stießen im deutschen Sprachraum auf taube Ohren. Nur allzu gut wußte man, daß die ‘tragische Größe Flanderns’396 in Timmermans' Werk nicht gestaltet war. Man glaubte nicht, daß dies dem Autor Abbruch tat, daß man also etwa deshalb den ‘liebenswürdigen, fröhlichen, gleichzeitig derben und zarten Dichter weniger lieben’397 sollte. Letztendlich, so entgegnete man, suche man in Flandern und in seiner Literatur an erster Stelle ‘nach dem Flämischen, das nicht deutsch sein könnte’398, und müsse man bedenken, in welcher ‘Problematik und Verwirrung’399 Deutschland steckte, als man Timmermans zu übersetzen begann. Auch in den dreißiger Jahren störte es wenig, daß Timmermans den Eindruck vermittelte, daß Flandern in einem ‘Friedenstale der Weltabgeschiedenheit’400 lebe, daß es ‘nichts zu geben hätte als Bauerngeschichten und Schilderungen von Essen, Trinken und tollen Streichen’401. Man erfreute sich einfach weiter an der Menschlichkeit, der fast kindlichen Naivität und der Güte, die das Werk von Timmermans ausstrahlte, und betonte weiterhin die ‘Daseinsfreude’402, das ‘Behagen am Sein’403, | |||||||||||||||||||||||||||||||
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die ‘selbstverständliche Lust am Erdhaften’404, die ‘volksnahe Einfachheit, die unintellektuelle Gegenständlichkeit und die Farbigkeit der Phantasie’405. Die Befürchtungen von W. Moens waren also unbegründet. Man verwechselte das Spiel der Phantasie im Werk von Timmermans nicht mit Realität. Im deutschen Sprachraum blieb man sich immer bewußt, daß in den Romanen und Erzählungen von Timmermans die flämische Wirklichkeit verzerrt wurde. Nur vereinzelt wurden während der nationalsozialistischen Diktatur Stimmen laut, die den Eindruck vermittelten, wirklich zu glauben, daß die Wirklichkeit in Flandern dem Werk von Timmermans entspreche, daß Pallieter tatsächlich der ‘echte flandrische Mensch’406 sei oder daß sich ‘die Seele des flämischen Volkes’407 gerade bei Timmermans ‘am reinsten und unmittelbarsten’408 äußere. Stattdessen bewunderte man nach wie vor, daß die Menschen bei Timmermans ‘auf eine unverkennbar persönliche Weise’409 gefärbt seien und daß sie, ‘obwohl vollkommen bodenständig, durch das Timmermanssche Temperament gesehen’410 würden. Dies alles mindere den Wert seiner Werke nicht, sondern gebe ihnen gerade den ‘Reiz’411. Um es mit Lili Sertorius zu sagen: Die Timmermanssche Welt ist beschränkt, ‘aber natürlich gewachsen voll Farbe und Freude des Wohlgeratenseins. Eben darum wirkt dies enge flämische Weltlein hinaus in eine weite Welt.’412 Zu denen, die sich von der beschränkten Welt von Timmermans am wenigsten begeistert zeigten, gehörten im Gegensatz zu dem, was Govaerts suggerierte, die Kritiker nationalsozialistischer Zeitschriften. F. Peuckert schätzte in dem Werk von Timmermans zwar das Malerische der Figuren, denn sie waren für ihn ‘ein Nachklang frühester flämischer Gemäldekunst’413, aber zugleich sah er in dem idyllischen Charakter der Romane Timmermans' eine große Gefahr. Gerade Timmermans kam laut Peuckert | |||||||||||||||||||||||||||||||
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der ‘wohlumfriedeten und biedermeierlichen Phantasiewelt’414 des kaum noch zu genießenden ‘ästhetischen Individualismus’415 beunruhigend nah. Vergleichbare Kritik wurde auch in der Neuen Literatur geäußert. Dort bedauerte Fritz Rostosky die ‘Zuckerbäckerei’416 in Delphine (1930, ndl. Anna-Marie, 1921), so wie er 1935 die Erzählungen aus der Bunten Schüssel ([1933]) als ‘aus sich heraus nirgends gerechtfertigt[e]’417 liebenswürdige Geschichten verurteilte. Irreführend schrieb B. Govaerts also, daß die Nationalsozialisten Timmermans liebten und daß dies mit genauso vielen Worten in ihren Zeitungen stünde.418 Im Gegensatz zu Govaerts' Mutmaßungen standen gerade nationalsozialistische Rezensenten eher kritisch dem Werk von Timmermans gegenüber. Es entsprach nicht ihren Vorstellungen von guter politisch-völkischer Literatur. Dafür war es zu idyllisch-biedermeierlich und vor allem zu religiös. Schon 1932 schrieb F. Rostosky über Franziskus (1932, ndl. De harp van Sint-Franciscus, 1932): ‘Man muß unwillkürlich und mit Bedauern an die entzückende Treuherzigkeit des Jesuskindes in Flandern denken. Diese einmalige Erfassung des Legendenhaften auf dem Boden der Heimat war bei Franz von Assisi natürlich nicht möglich. Timmermans hat das wohl erkannt. Was er aber herausstellt, wirkt nach seinen früheren Büchern blaß und dünn wie eine Glasmalerei, die Alter vortäuschen möchte, obwohl sie nur das heutige Licht verfärbt, nicht aber das von Jahrhunderten bis zur Sättigung aufspeichert, wie es die Alten verstanden. - So bleibt es also ein katholisches Lesebuch. Als solches wird es seinen Weg machen.’419 Als katholischer Dichter war der Mitbegründer der Pelgrim-Bewegung - auch diesen Aspekt vernachlässigte Govaerts - aus nationalsozialistischer Sicht abzulehnen. Diesbezüglich wurde sogar für Bauernpsalm ([1936], ndl. Boerenpsalm, 1935) keine Ausnahme gemacht. Natürlich gab es Rezensenten, die gerade den vitalistischen Bauernpsalm von | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Timmermans als ‘besonders zeitgemäss’420 beurteilten, die das Buch als ‘Wendung’421 des Malers des liebenswürdigen Flanderns, als ‘Gegenstück’422 zum ‘Wunschbild’423 Pallieter betrachteten. So mutmaßte z.B. Antoon Jacob 1942, daß Bauernpsalm den Quellen entsprungen wäre, die Timmermans im Dritten Reich entdeckt hätte, aber eine nationalsozialistische Zeitschrift wie Die Neue Literatur lehnte das Werk ab.424 Ihrer Meinung nach war auch Bauernpsalm zu ‘religiös im Sinne katholischer Lehre’425 und wurde auch in diesem Roman die katholische Lehre zu Unrecht ‘als selbstverständlich’426 vorausgesetzt. Ex negativo bestätigte Die Neue Literatur damit das weit verbreitete Urteil der christlich orientierten Rezensenten, die Bauernpsalm zu Recht als eine Geschichte über die ‘Demut und den tiefen Glauben eines Menschen, der eine ehrliche Haut hat’427, betrachteten. Diese Kritiker betonten, daß das Buch von der ‘Echtheit der Religion’428 erfüllt sei, und hoben hervor, daß es falsch sei, den Roman, der ‘im Zeichen christlicher Dichtung mit einem Loblied auf die Schöpfung’429 schließe, nur unter dem Aspekt des Bauernromans zu beurteilen: ‘Gewiß ist der Bauer Träger der Handlung. Gewiß erzählt der derbe, treuherzige, tiefreligiöse Bauer Knoll sein eigen [sic] Schicksal, eben ein Bauernschicksal. Aber es wird der Bauer darin ein Menschentyp, der die Ganzheit eines Menschendaseins offenbart. Das Wort Erde bekommt in einem solchen Roman eine Bedeutung, die weit über den ursprünglichen Charakter des Wortes hinausgeht. Es ist die Heimat, der Hof, der die Wurzeln der menschlichen Existenz birgt. Es ist die Stätte, an der sich im Rhythmus der Jahreszeiten auch der Lauf eines seelisch reichen Lebens vollzieht. Es ist der Boden, auf dem nicht nur Nahrung und Brot für die Notdurft des Lebens gewonnen werden, sondern auf dem auch das ewige Heil des Menschen wachsen muß.’430 Es zeigte sich also bald, daß die meisten Kritiker nicht davon zu überzeugen waren, daß das Volk in Flandern ‘ebenso selbstverständlich | |||||||||||||||||||||||||||||||
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fromm [sei], wie seine Bräuche derb’431 seien, daß es sich beim Timmermansschen Katholizismus um einen ‘germanischen Katholizismus eigener Prägung’432 handele. Für die deutschsprachigen Rezensenten war und blieb Timmermans ein echt katholischer Dichter. Vergeblich behaupteten also die Nationalsozialisten, daß das Werk von Timmermans ‘nicht in Erbpacht bei der Kirche’433 sei, daß der sogenannte internationale Katholizismus Timmermans zu Unrecht eine ‘klerikale Mönchskutte übergeworfen’434 habe. Sogar im nationalsozialistischen Lager waren einige der Überzeugung, daß Timmermans ein katholischer Autor sei, was die erwähnte Kritik evozierte. Trotz alledem wollte man, und dies hob Govaerts zu Recht hervor, im Dritten Reich nicht auf Timmermans verzichten. Das Propagandaministerium, das als staatliches Organ in mehr als einer Hinsicht in Konkurrenz zu den Parteiorganen stand, setzte sich einfach über die Kritik aus den eigenen Reihen hinweg.435 Für das Propagandaministerium zählte offensichtlich mehr die Tatsache, daß Timmermans der Motor der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern im deutschen Sprachraum war. War er es doch, der die Türen für andere Autoren aus Flandern im deutschen Sprachraum aufgestoßen hatte und immer noch aufstieß. Ähnlich wie man, weil es sich eben um einen bedeutenden Verleger handelte, bei Kippenberg hinnahm, daß er im Laufe der Jahre bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in seinem Verlag auch 25 unerwünschte Autoren publizierte, trennte man sich nicht von Timmermans, dessen Werke die Ideale von ‘Blut-und-Boden’ untergruben, weil er, und nicht Streuvels, Verschaeve oder De Clercq, es war, der sich schon vor dem Hitler-Regime neben Conscience zu dem weit verbreitesten, bekanntesten und beliebtesten Vertreter niederländischsprachiger Literatur aus Flandern profiliert hatte und der für den größten Teil der deutschsprachigen Leser | |||||||||||||||||||||||||||||||
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die niederländischsprachige Literatur aus Flandern verkörperte. Man wollte nicht riskieren, daß ein Verbot oder Teilverbot von Timmermans bei vielen Lesern die gesamte Förderung der Literatur niederländischsprachiger Autoren aus Flandern in Frage stellen würde. Dementsprechend versuchten verschiedene nationalsozialistische Kritiker zunächst, den idyllisch-biedermeierlichen und religiösen Timmermans zu integrieren, ihm einen Platz unter den förderungswürdigen Dichtern zu geben. Sie suchten also nach Wegen, die Förderung des ‘fabulierende[n] Kleinkunstmeister[s] des Alltags’436, der in Deutschland ‘ein gern gesehener Gast’437 war, zu verantworten. Schon Mitte der dreißiger Jahre war man allerdings nicht mehr bereit, wie F. Rostosky, der 1931 schrieb, daß Timmermans an der Erde hinge, ‘die ihn trug’438, den Landsmann ‘des Rubens und des van Dijck’439, der ‘das Tüchtige’440 und das ‘ehrliche Draufzu-Gehen’441 liebe, als Vorbild für deutsche Dichter herauszustellen und zu sagen: ‘seht zu, wo stehen unsere Brüder!’442. Dennoch versuchte F. Peuckert auch zu dem Zeitpunkt noch zu retten, was zu retten war. In den Nationalsozialistischen Monatsheften hat er immerfort nach Wegen gesucht, um die Förderung von Timmermans im deutschen Sprachraum zu verantworten. Mit diesem Ziel vor Augen hat er 1939 unter dem Motto ‘Zweierlei Flandern?’ in verschiedenen Beiträgen eine Theorie entfaltet, die ausschließlich darauf abzielte, den unübersehbaren Gegensatz zwischen dem Werk von Timmermans und dem von Streuvels, Verschaeve und De Clercq zu minimalisieren. Peuckert legte dar, daß man aufgrund der Erfolge von biedermeierlichen Idyllikern wie Timmermans nicht glauben müsse, daß es in Flandern eine ‘innere Zwiespältigkeit’443 gebe. Im Gegenteil, so führte er aus, das Politisch-Völkische auf der einen und das Beschaulich-Biedermeierliche auf der anderen Seite seien in Flandern keine ‘gegensätzlichen Grundhaltungen’444. Schließlich sei die flämische Idylle von einer ‘zupackende[n] Haltung erdfesten Humors und eine[r] in jeder | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Hinsicht einwandfreie[n] Verdauung’445 gekennzeichnet. Und, so fügte Peuckert hinzu, hatte sich nicht bereits Conscience, der Autor vom ‘politisch-völkische[n]’446 Löwen von Flandern, der mit ‘ganzer Seele politischer Erzieher seines Volkes sein wollte’447, später zum ‘Idylliker’448 entwickelt und dabei gezeigt, daß sich Idylle und politisch-völkisches Engagement bei flämischen Autoren abwechselten wie ‘Einatmen mit Ausatmen’449? Trotzdem sei Vorsicht angebracht. Die Theorie vom Janusgesicht Flanderns hielt Peuckert nicht davon ab, die, wie er es nannte, konjunkturbedingte ‘flüchtige [...] literarische [...] Mode’450, die zum überdurchschnittlichen Erfolg von Timmermans im deutschen Sprachraum geführt habe, zu kritisieren und darauf hinzuweisen, daß sich Timmermans öfters zu ‘fern von allen gefährlichen Grenzen und Wirklichkeiten’451 befinde. Besonders was die Religiosität anbelangte, war die Kompromißbereitschaft von Peuckert rasch zu Ende. Zum gleichen Zeitpunkt, als er die Theorie von der Koexistenz von Idylle und politisch-völkischem Engagement in Flandern entwickelte, warnte Peuckert ausdrücklich vor der ‘streng kirchlich katholische[n] Melodie’452, die aus manchen Werken von Timmermans spreche, und betonte, daß solche ‘Stücke einer konfessionellen Winkelliteratur [...] dem deutschen Leser ohne Schaden’453 vorenthalten werden könnten. Da, so riet Fritz Peuckert, sollte man sich doch lieber dem Werk von Streuvels zuwenden, in dem der germanische Kern nicht vernebelt oder betäubt werde, sondern unbestreitbar weiterlebe.454 Wie sehr gerade die ‘kirchlich betonte Katholizität’455 die ‘Liebe’ der Nationalsozialisten zur Literatur aus Flandern belastete, belegen auch | |||||||||||||||||||||||||||||||
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die Beiträge zum Werk vom ‘heitere[n], humorige[n]’456 Ernest Claes, der mit dem ‘lustige[n] Intermezzo’457 Flachskopf (1930, ndl. De Witte, 1920), dem ‘frisch-frohe[n]’458 Bubi (1931, ndl. Kiki, 1925) und dem ‘fröhliche[n]’459 Bruder Jakobus ([1935], ndl. Kobeke, 1933) im Schatten von Timmermans die deutschsprachigen Leser begeisterte. Nach Meinung der Kritik im deutschen Sprachraum zeichnete sich das Werk von Claes durch ‘Mut und Frische und Frohsinn’460 aus. Man schätzte es, weil es unproblematisch, bei ‘all seiner Derbheit [...] feinfühlig und phantasievoll’461 sei und weil es durch die ‘sehr hellen, flandrischen Farben’462, die man bereits von Timmermans her kenne, gekennzeichnet sei. Dabei stand allerdings fest, daß Timmermans ‘nicht nur die Priorität, sondern auch die Superiorität’463 gelte.464 Auch die nationalsozialistische Kritik, wieder in der Person von F. Peuckert, schloß sich dieser positiven Meinung an. Schließlich hatte man sich schon bei Timmermans mit dem idyllischen Charakter seiner Werke arrangiert. Außerdem unterschied sich Claes von Timmermans, weil er ‘ganz nahe und vorsichtig an der Grenzscheide von Wirklichkeit und Idyll’465 entlanggehe. Peuckert fragte sich im Falle von Claes also nicht mit manchem Rezensentenkollegen, ob sich Claes nicht zu ‘peinlich getreu auf Timmermans Spuren’466 bewege, ‘ob der flämische Mensch wirklich so unproblematisch sei’467, sondern er betonte eher pauschal, daß auch | |||||||||||||||||||||||||||||||
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das Werk von Claes von der Liebe für sein Volk, für ‘Land und Volk - und nicht Welt und Menschheit’468 bestimmt sei. Absolut verwerflich sei aber bei Claes wie bei Timmermans, daß sein Werk in ‘konfessioneller Tradition’469 wurzele, daß so manche Geschichte eine ‘süßlich-frömmlerische’470 oder ‘klerikale’471 Tendenz aufweise. Dies war es, was Peuckert bei Claes nicht nur ‘enttäuscht’472, sondern ‘für alle Zukunft etwas skeptisch’473 machte. J. Mertens sprach bezüglich der unbehinderten Publikation der Übersetzungen von Timmermans im Dritten Reich von einer zögernden Haltung der Nationalsozialisten, weil die Diskussion um die fehlende ‘kämpferische Note’474 in den Werken von Timmermans bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges anhielt. Damit verwies er im wesentlichen auf eine Diskussion, die streitbare Flamen wie Wies Moens führten. Das Problem der Nationalsozialisten war aber nicht so sehr die Idylle, die fehlende kämpferische Note im Werk von Timmermans oder Claes. Wirkliche Schwierigkeiten hatte man nur mit der katholischen Orientierung in ihrem Werk. Es hat, wie gesagt, innerhalb der nationalsozialistischen Bewegung zwar ‘keine einheitliche Auffassung’475 gegeben, wie das Christentum aus nationalsozialistischer Sicht zu beurteilen sei und vor allem nicht darüber, ‘welcher Weg beim Vorgehen gegen die christlichen Kirchen einzuschlagen sei’476, aber trotzdem: was die katholische Orientierung im Werk von Timmermans, Claes und sogar Streuvels anbelangte, hatte die nationalsozialistisch orientierte Presse, allen voran Fritz Peuckert in den Nationalsozialistischen Monatsheften, eine eindeutig ablehnende Meinung. Die nationalsozialistischen Ideologen liebten Timmermans nicht, aber sie brauchten die Übersetzungen aus dem Niederländischen, vor allem die von Timmermans, für die Kulturpropaganda. So erklärt sich auch, daß eine Zeitschrift wie die Nationalsozialistischen Monatshefte, die keine literarische Zeitschrift war, der Literatur aus Flandern, insbesondere der | |||||||||||||||||||||||||||||||
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von Timmermans, soviel Platz einräumte, und von daher wird auch verständlich, warum gerade der im nationalsozialistischen Lager so umstrittene Timmermans 1942 den Rembrandtpreis erhielt. Auch diese Ehrung diente kulturpropagandistischen Zwecken. Sie war wie die Verleihung des Doktortitels an Stijn Streuvels 1941 Teil der ‘Flamenpolitik’ des Hitlerregimes. Bei der Beurteilung der Tatsache, daß Timmermans trotz langer Überlegung den Preis nicht abgelehnt hat, darf also nicht nur darauf verwiesen werden, daß mit dem Preis ein großer Geldbetrag verbunden war und daß Timmermans ein Mann war, der viel öffentliche Anerkennung brauchte. Ebenso wichtig ist der Hinweis darauf, daß die Nationalsozialisten versucht haben, mit der Preisverleihung an Timmermans die gegenüber Deutschland herrschende negative Stimmung in Flandern ins Positive zu wandeln, und daß sie dieses Ziel, wenn überhaupt, nur bedingt erreicht haben. Gerade die Verleihung des Rembrandtpreises an den Idylliker Felix Timmermans schockierte nämlich die Teile der flämischen Bewegung, die bereits Mitte der dreißiger Jahre darauf hingewiesen hatten, daß Deutschland zu Unrecht in Timmermans den Vertreter der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern sah. Und außerdem konnten die Nationalsozialisten nicht echt überzeugend darlegen, was und wie gerade Timmermans zum ‘Aufstieg des flämischen Volkes im Umbruch des neuen Jahrhunderts’477 beigetragen haben sollte.478 Nicht einmal Hans Teske gelang es, dies in seiner Festrede mit dem bekannten Titel Die Überwindung des Provinzialismus in der flämischen Literatur nachzuweisen. Im Gegenteil, Teske ließ ìber die Sonderstellung des Idyllikers Timmermans innerhalb der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern trotz des Rembrandtpreises keinerlei Zweifel. Erst nachdem er alle bedeutenden Dichter aus Flandern erwähnt hatte, kam er auf den Ehrengast Timmermans zu sprechen: ‘[...] wir wünschen uns und wir wünschen Flandern, dass auch in der Zukunft neben der Inbrunst eines Gezelle und Rodenbach und Verschaeve, neben der Tiefe eines Streuvels, neben der Problematik eines Walschap und De Pillecijn, neben der Weltoffenheit der [sic] Pol de Mont und der Männer von Van Nu en Straks Raum bleibe für die idyllische Welt der einfachen und reinen Seelen, für deren Geschenk an Europa und Deutschland wir heute danken.’479 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Wenn das Werk von Timmermans wirklich in die politisch-völkische Ideologie gepaßt hätte, wenn es wirklich den Idealen des Dritten Reiches entsprochen und wenn Timmermans wirklich seinen Beitrag zum Aufstieg des flämischen Volkes im Umbruch des neuen Jahrhunderts geleistet hätte, hätte Teske wohl andere Worte gefunden. Die Behauptungen und Mutmaßungen über die politischen Hintergründe des Erfolges von Autoren wie F. Timmermans und E. Claes im deutschen Sprachraum, so wie sie von Govaerts gemacht werden, müssen also erheblich differenziert und relativiert werden. Man darf natürlich, wie es Govaerts richtigerweise herausstellte, nicht vergessen, daß Timmermans und sein Verleger Kippenberg auf der einen und die Nationalsozialisten auf der anderen Seite einander duldeten und einander (ge)brauchten.480 Schließlich ist die Existenz der sogenannten nordischen Renaissance und der nationalsozialistischen Propaganda, in deren Zusammenhang Kippenberg, Timmermans und Claes ihre Erfolge feierten, nicht zu leugnen. Aber was Timmermans und Claes betrifft, muß dies vor dem Hintergrund beurteilt werden, daß erstens die Nationalsozialisten größte Schwierigkeiten mit ihrem idyllisch-religiösen Werk hatten, das ihren Idealen nicht entsprach, daß es zweitens keinerlei Beweise dafür gibt, daß sich das Publikum von Timmermans und Claes vorzugsweise aus nationalsozialistischen Kreisen rekrutierte - das Gegenteil ist vielmehr der Fall -481 und daß drittens, was Timmermans betrifft, seine Liebe zu Deutschland nie ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus nach sich gezogen hat. Wenn sich Timmermans in den dreißiger Jahren politisch geäußert hat, dann hat er seinen alten Traum von Flandern zum Ausdruck | |||||||||||||||||||||||||||||||
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gebracht.482 Deshalb hat er in seinem umstrittenen Vorwort zu J. Simons' Flandern stirbt nicht (1937, ndl. Eer Vlaanderen vergaat, 1927), einem Bericht über ein flämisches Fronterlebnis, geschrieben: ‘Das Herz Flanderns schlägt in diesem Buch. Wer dies [sic] Buch las, ist [...] überzeugt: Flanderns Volk stirbt nicht. Flandern bleibt. Flandern wird groß!’483 So wie er in seiner Ansprache anläßlich der Überreichung des Rembrandtpreises auch im Namen des flämischen Volkes gesagt hat: ‘Auch mein Volk dankt Ihnen, das Volk von Flandern! Das Flandern, in dem wir geistig schwimmen, das uns durchtränkt und durchrieselt, das uns begeistert und beseelt mit seiner schönen Kraft, seiner strahlenden Vergangenheit und seiner großen Tragik, das uns mit Stolz erfüllt auf die lebensvolle und lebensfrohe Kunst seiner Bauten und Bilder, dessen Hoffnung auf eine glückliche Zukunft uns erhebt, welche uns den seit langem verlorenen Eigenwert wiederschenken soll. Dies [sic] Volk dankt Ihnen!’484 Natürlich war es etwas naiv anzunehmen, daß ihn das davor schützen würde, erneut in den Verruf der Kollaboration mit der Besatzungsmacht zu kommen.485 Aber dies darf nicht vergessen lassen, daß Timmermans wie Claes durch die doppelte und hoffnungsvolle Sehnsucht, die mit ihrem Werk assoziiert wurde, sowie durch den idyllisch-religiösen Charakter ihrer Literatur auch dazu beigetragen haben, daß im Dritten Reich dem ‘Atem des geistigen Verfalls’486 etwas entgegengestellt wurde. Timmermans und Claes wurden von den Nationalsozialisten mißbraucht, und sie haben sich mißbrauchen lassen, aber mit ihren Vorträgen und mit ihrem Werk haben sie während des Hitler-Regimes, im Falle von Timmermans nicht zuletzt auch wegen seines Glaubens an einen neuen Geist sowie seiner Hoffnung auf eine neue Lebenseinsicht, vielen deutschsprachigen Lesern im Sinne der inneren Emigration zumindest vorübergehend eine Hoffnung auf einen Ausweg aus den ‘Wirklichkeiten, Problemen und Schrecken’487 der Zeit geboten. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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3.3.3.3 Antoon CoolenDer in sich widersprüchliche Charakter der Förderung der niederländischen Literatur während des Hitler-Regimes, der darauf beruhte, daß zum einen bevorzugt völkische Literatur gefördert werden sollte, zum anderen aber auch mit allen Mitteln die Stimmung gegenüber Deutschland im Ausland, in diesem Falle im niederländischen Sprachraum, verbessert werden sollte, prägte auch die Rezeption des dem ‘vlämischem Volke und Geiste so nahe verwandt[en]’488 Niederländers Antoon Coolen, der im deutschen Sprachraum vielfach zu den ‘flämischen’ Autoren gerechnet wurde.489 Anders als etwa Timmermans und Claes ließ sich Coolen, was die Nationalsozialisten auch unternahmen, nicht zu Propagandazwecken mißbrauchen. Er weigerte sich nicht nur sehr lange, in die niederländische Kulturkammer einzutreten, auch die Kandidatur für den Rembrandtpreis, der ihm 1940 vom Mäzen Alfred Töpfer in Aussicht gestellt wurde, hat er abgelehnt. Ebenso hat er abgewinkt, als er 1941 vom Kulturintendanten des Reichskommissars besucht wurde, der ihn für die niederländische Kunstwoche in Köln einladen wollte, wo er einen Vortrag halten sollte. Als er sich schließlich am Ende des Krieges auch noch dagegen wehrte, sein dramatisches Werk im deutschen Sprachraum fördern zu lassen, mußte er untertauchen.490 Auch im Falle von Antoon Coolen stellte sich bald heraus, daß ein großer Teil der deutschsprachigen Kritiker zu Recht den Peel-Dichter (die Peel ist die Gegend an der Grenze zwischen den Provinzen Nord-Brabant und Limburg) nicht nur als einen volkstümlichen, sondern auch vor allem | |||||||||||||||||||||||||||||||
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als einen ‘christliche[n] Heimatdichter’491 betrachtete. In den Kritiken und Rezensionen im deutschen Sprachraum wurde nämlich nicht nur die ‘wunderbare Lebensfülle und unmittelbare Natürlichkeit’492, der ‘grundgesunde Optimismus’493 und die Spannung zwischen ‘Ernst und Humor, Tragik und Komik, die im Rahmen der Idylle das Charakteristische der Coolenschen Kunst ausmachen’494, hervorgehoben. Schon gleich mit dem Erscheinen von Coolens Debütwerk im deutschen Sprachraum, Brabanter Volk ([1933], ndl. Kinderen van ons volk, 1928), wurde auch betont, daß das Werk von Coolen voll von ‘Vertreter[n] gläubigen und gesunden Menschentums’495 sei. Brabanter Volk wurde also auch im deutschen Sprachraum als ‘meesterwerk van de jongere katholieke vertelkunst’496 beurteilt: ‘Nicht jede Übersetzung ist ohne weiteres ein Verdienst. Aber für dieses Buch muß man sowohl Elisabeth und Felix Augustin als auch dem Insel-Verlag dankbar sein. Hier stößt wieder einmal echte Dichtung durch die Schuttdecke bloßer Literatur durch, was gerade heute, wo die Neuorientierung der zeitgenössischen deutschen Dichtung noch im vollen Gange ist, nicht übersehen werden darf. Heute sind wir auch im Bereich der Dichtung vor die Wahl gestellt zwischen Antichrist und Gott, zwischen dem Nichts und dem All, zwischen Rußland oder Flandern. Coolens Buch vom Brabanter Volk wird uns die Wahl leicht machen.’497 Das Erscheinen späterer Romane Coolens, in denen nicht ein Dorfpfarrer, sondern der Arzt Tjerk van Tacke, der deutlich kein Christ ist, im Mittelpunkt steht, änderte nichts an diesem Bild. Der ‘blonde Riese’498 Tjerk van Tacke verhält sich nämlich ‘“liberal” im schönen Sinne’499, läßt seiner Familie den Glauben und übt, wenn überhaupt, nur Kritik an der ‘rhetorischen “Erhabenheit” bestimmter sich “kirchlich” gebender Kreise’500. Man blieb also der Meinung, daß das Werk von Coolen, obwohl dieser ‘viele Stimmen des Lebens’501 darstelle und sich | |||||||||||||||||||||||||||||||
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eher selten zur ‘Parteinahme’502 entschließe, grundsätzlich mit ‘den Untiefen des Lebens in einem tiefen Wissen um das Brüchige irdischer Sicherheit verbunden’503 und daß es von der ‘Unzulänglichkeit des Irdischen [...] in dem katholischen Sinne’504 durchdrungen sei. In seiner Präsentation von Antoon Coolen für den Insel Verlag zweifelte auch Georg Kurt Schauer nicht an der religiösen Überzeugung des niederländischen Dichters. Dieser Kritiker und Übersetzer versuchte zwar - hier zeigt sich erneut der innere Konflikt zwischen staatlicher und kirchlicher Institution, dem die deutschen Katholiken während des nationalsozialistischen Regimes ausgesetzt waren -, zunächst der neuen Ideologie Rechnung zu tragen, indem er betonte, daß es bei jedem Übersetzungsvorhaben darum gehe, ‘sein volksgebundenes Ich ins übervölkische All zu erweitern’505. Aber, so fügte Schauer bald hinzu, es sollten klare Grenzen gezogen werden, um eine ‘Kreuzung der Arten’506 zu vermeiden. Die niederländische und die deutsche Literatur seien zwar ‘Nachbarn’507, und es sei zwar so, daß Coolen sein ‘Gastrecht’508 in Deutschland erworben habe, weil er sich ‘mit offenen Augen und offenem Herzen’509 dem Dorf und dem Bauernvolk von Brabant zugewandt habe, er ‘aus der Essenz einer im tiefsten begriffenen, ihm selbst eingeborenen und blutverbundenen Natur’510 dichte und den ‘Rhythmus des Alltagskampfes um die Scholle, den Halm, das Vieh, den Nachwuchs, die Frau’511 beschreibe, aber zugleich - und hier siegte dann doch seine katholische Überzeugung - ‘warnte’ Schauer den deutschsprachigen Leser vor Coolen mit folgenden Worten: ‘Der Romanaufbau Coolens, das Nebeneinander des Geschehens, schließt ein tiefes Mißtrauen gegen eine Zielsetzung innerhalb des menschlichen Bereichs in sich ein, eine Verneinung jeglichen menschlichen Fortschritts. Die Erde ist - deutlich wird es oft genug - ein Jammertal. Das Leben ist ein ewiger, ewig unentschiedener Kampf des einen gegen alle, aller gegen die Elemente. So war es, so wird es sein. Und Verzweiflung befiele manchen, waltete nicht verborgen, nie genannt und doch immer da, eine Gnadenmacht, ein großes Mitleid. Sie ist im | |||||||||||||||||||||||||||||||
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tiefsten Grunde katholisch, und ein katholisches Weltbild liegt als Fundament dem gesamten Schaffen Coolens zugrunde.’512 Wie bei Timmermans und Claes war den Nationalsozialisten auch bei Coolen wenig Erfolg beschieden, als sie versuchten, solche Standpunkte zu widerlegen, indem sie darlegten, daß es sich bei der Religiosität im Werk von Coolen um eine ‘volksnahe Frömmigkeit’513 handle, daß es keinen ‘Katholizismus römischer Prägung’514, sondern einen ‘eigener niederländischer Art’515 betreffe und daß Coolen zwar zeige, daß das Leben ein Jammertal sei, aber daß er zugleich deutlich mache, daß man es deshalb nicht ‘verneinen’516 dürfe, daß man sich ‘bescheiden soll mit dem Seienden’517. Auch in den eigenen Reihen waren einige sich der Tatsache bewußt, daß Coolen überzeugter Katholik war und wurde der ‘katholisierende [...] Heiligenschein’518 weiter herausgestellt und kritisiert. In Coolens religiöser Überzeugung war nach Meinung von Karl Vietz von der Essener Nationalzeitung sogar die Hauptursache dafür zu suchen, daß er nie mehr schreiben wollte, denn die Zeitung verabschiedete sich 1942 mit folgenden Worten von dem Autor: ‘Augenscheinlich handelt Coolen unter geistlichen Einflüssen. - Er war zu hohem Rang berufen, das ist kein Zweifel. Er verzichtet nun selbst darauf, um nicht einmal den Anschein zu erwecken, als bekenne er sich zum neuen europäischen Geist. Man kann nur kopfschüttelnd Abschied nehmen.’519 Trotz der Blamagen, die die Nationalsozialisten durch Coolens Weigerungen immer wieder einstecken mußten, und der Tatsache, daß es wie bei Timmermans und Claes ernsthafte Bedenken gegen die religiöse Überzeugung Coolens gab, bemühten sich die Nationalsozialisten weiterhin um den niederländischen Autor. Was Coolen nach dem Krieg bezüglich Felix Timmermans geschrieben hat, traf also auch auf ihn selbst zu: | |||||||||||||||||||||||||||||||
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‘Juist omdat hij geen Nazist was, achtten de Duitsers zijn adhaesie van zoveel belang. Van Kettmann, Beversluis en Eekhout maakten zij geen werk, die waren voor ons toch allemaal te verdacht’520. Auch die Übersetzungen von Antoon Coolens Werken sollten im niederländischen Sprachraum den Eindruck ungetrübter Beziehungen zwischen den Nachbarländern erwecken. Sie wurden, wie die von Timmermans, für die Kulturfront eingesetzt.521 Deshalb nahmen die Nationalsozialisten auch einen Auszug aus den Drei Brüdern ([1937], ndl. De drie gebroeders, 1936) in Das Niederlandbuch522 auf, ließen sie das Werk von Coolen bis 1940 ungehindert im deutschen Sprachraum erscheinen und behinderten sie während des Kriegs auch nicht die weiteren Auflagen von dem Wirtshaus zur Zwietracht (1940, ndl. Herberg In 't misverstand, 1938), vom Dorf am Fluß ([1936], ndl. Dorp aan de rivier, 1934) und von den Drei Brüdern. Sogar zwei weitere Auflagen von Coolens Brabanter Volk waren möglich. Daß während des Zweiten Weltkrieges keine neuen Übersetzungen von Coolen bei Insel mehr erschienen, war also wohl weniger auf die Nationalsozialisten zurückzuführen als auf die Haltung Kippenbergs, der es für nicht mehr länger möglich erachtete, sich ‘“abseits”’523 zu halten.524 Dafür wurde neues Werk von Coolen vom Tiefland Verlag herausgebracht. Dieser Verlag wurde von Dr. K. Kollár, einem Ungarn, | |||||||||||||||||||||||||||||||
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geleitet, der auch Leiter der Akademischen Verlagsanstalt Panthéon (Amsterdam) war.525 Kollár nutzte ihn als Tarnverlag für Publikationen für den deutschen Sprachraum, die wie die beiden Anthologien niederländischsprachiger Literatur von W. Cordan (Spiegel der Niederlande und Der vlämische Spiegel) bei einem deutschen Verleger nicht unterkommen konnten. Vergleichbares galt auch für die Übersetzungen Jan der Schuhflicker aus Brabant (1941, ndl. Jantje den schoenlapper en zijn Weensch kiendje, 1927), Peerke der Hasenfuß (1941, ndl. Peerke den haas, 1937) und Der Mann mit dem Kasperletheater (1941, ndl. De man met het Jan Klaassenspel, 1933) von Antoon Coolen. Auch sie konnten wegen der Kritik der Nationalsozialisten an Coolens Haltung und ihrer inhaltlichen Bedenken bezüglich seines Werkes anderswo nicht mehr untergebracht werden. Als die Übersetzungen von G.K. Schauer, der unmißverständlich die Verwurzelung Coolens im Katholizismus herausgestellt hatte, bzw. von den antinationalsozialistischen Emigranten Wolfgang Cordan und Werner Ackermann erschienen, bekamen Coolens Werke im deutschen Sprachraum, obwohl ursprünglich von den Nationalsozialisten gefördert, endgültig den Status eines Gegenprogramms zur nationalsozialistischen Literatur.526 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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3.3.3.4 Gerard WalschapDeutlicher noch als bei Timmermans, Claes und Coolen zeigt die Rezeption des Werkes von Gerard Walschap - der letzte Autor, dessen Rezeption während des Nationalsozialismus eingehend untersucht wird -, wie stark der von den Nationalsozialisten initiierte Erfolg flämischer Autoren in Deutschland, sehr zum Mißfallen der Nationalsozialisten, vom Interesse katholischer Leser bestimmt wurde. Sofort sprach man bei Walschap, die, wie man sagte, ‘merkwürdigste und erregendste Gestalt der jungen flämischen Literatur’527, von einem Dichter, der ‘die innerste[n] Probleme des katholischen Lebens mit ungewöhnlicher künstlerischer Kraft’528 thematisiere, und wußte man zu schätzen, daß Walschap ‘illusionslose Wirklichkeitskunst’529 mit einem ‘Bekenntnis zu katholischen Ordnungen’530 verband. Dabei war man sich bewußt, daß Gerard Walschap mit seinem Werk, in dem nicht die ‘fröhlichen “Tagemelker”’531 von Timmermans, sondern ‘flämische Menschen mit starker Sinnlichkeit, mit starkem Glauben’532 das Bild bestimmten, einen kritischen Standpunkt gegenüber der katholischen Kirche einnahm. Wenn man auch im deutschen Sprachraum Walschap den Wahlspruch in den Mund legte, ‘Zuerst Katholik, und dann erst Flame sein’533, so betonte man zugleich, daß diese Losung bei Walschap nie zu ‘blinde[r] Gefolgschaft’534 geführt hatte. Walschap war ein ‘scharf kritische[r] Mann [...], der die Wahrheit über den kirchlichen Gehorsam setzt’535. Im deutschen Sprachraum war man außerdem sehr wohl darüber informiert, daß das Werk von Walschap, das Dogmen anklagte, Grenzbezirke des Daseins und krankhafte Naturen zeigte, im ‘sittenstrengen Flandern’536 auf Ablehnung stieß. Katholische Zeitschriften wie Der Gral oder Hochland stellten dennoch nur fest, daß in Walschaps Werk | |||||||||||||||||||||||||||||||
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die ‘Abgründe [...] schmerzlich offen’537 lägen, daß vieles eher dem Willen des Dichters als dem Willen Gottes, ‘dem er den seinen zuschiebt’538, entspringe. Anders als in Flandern blieben die Kritiker im deutschen Sprachraum davon überzeugt, daß im Werk von Walschap die ‘ernste und nicht wegzuleugnende Problematik [...] aus tiefer katholischer Schau’539 überwunden werde. Obwohl nach Aussage Walschaps Das Kind ([1939], ndl. Het kind, 1939) die mittlere Stufe seiner latenten Glaubenskrise dokumentierte, erkannte man in diesem Werk wie auch in Heirat ([1934], ndl. Trouwen, 1933) und Der Mann der das Gute wollte (1938, ndl. Een mensch van goeden wil, 1936) einen ‘neue[n], sehr gläubige[n] Zug’540. Lediglich, was Begegnung mit Christus (1935, ndl. Bejegening van Christus, 1940) betraf, in dem auch nach deutscher Einschätzung durchaus ‘Nachdenkliches’541 über Jesus zu lesen war, waren die Meinungen geteilt. Während Der Gral bei der Besprechung des ‘aufwühlende[n]’542 Buches von Walschap bedauerte, daß der Verfasser in weiten Teilen seines Werkes ‘den Anregungen des Evangeliums mit seiner Lehre von der Wiedergeburt’543 nicht gefolgt sei und daß er die ‘Partie zwischen Mensch und Gott [...] unentschieden’544 gelassen habe, stellte Hochland den Roman als ‘ein hohes Beispiel dafür, wie katholische Epik aussehen muß’545, heraus. Im Gegensatz zu vielen Reaktionen auf Walschaps Werk in Flandern wurden im deutschen Sprachraum seine Romane und Erzählungen im | |||||||||||||||||||||||||||||||
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allgemeinen als ein ‘große[r] Gewinn’546 betrachtet. Man staunte zwar auch über die ‘atemverschlagend[e]’547 Lebensnähe, aber man war nicht schockiert. Mit Recht wurde vielmehr betont, daß die Romane Walschaps im Vergleich zu anderen Werken eher harmlos waren. Beim flämischen Dichter fehlte z.B. ‘die beklemmende an das Urböse verlorene Gewalt der Bücher von Bernanos’548 oder die ‘eschatologische Ausweglosigkeit [...] Julien Greens’549. Scheinbar war der Leser im deutschen Sprachraum, besser als der in Flandern, dem dynamischen Stil Walschaps, den kurzen Sätzen und Sprüngen, der ‘filmisch gedrängt[en] ’550 Beschreibung der Geschehnisse in ihrer ‘außerlichen Manifestation’551 gewachsen. Die heftige Kritik am Werk Walschaps in Flandern wurde sogar ausdrücklich als ein Mißverständnis gedeutet, das auf Schwächen beim Leser zurückzuführen sei: ‘Bei Timmermans ist Flamland eine glaubensstarke Insel der Seligen in einem verdüsterten Europa, bei Walschap hinsichtlich Problematik und seelischer Zerrüttung so gemein-europäisch wie nur möglich. Unverrückt aber bleiben bei ihm die Maßstäbe katholischen Ethos. Sie werden nicht lehrhaft ausgesprochen, machen sich aber in jedem seiner Bücher unverkennbar geltend. Mißverständnisse bedrohen die Geltung seines Werkes - Mißverständnisse, die freilich mehr auf Defekten der Leser als solchen dieser Dichtungen beruhen, die doch große, herbe Kunst mit verantwortungsbewußter Glaubenstreue verbinden.’552 Natürlich wurden im Zeichen der Zeit auch bei Walschap typisch völkische Züge wahrgenommen. So erkannte man in Heirat und in der Sünde der Adelaide (1933, ndl. Adelaïde, 1929) das ‘Hohelied des starken Weibes’553 und war bezüglich dieser Werke von der ‘Rangordnung des | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Ewig-Weiblichen’554 die Rede. Aber zugleich stellte man klar: ‘[...] gewiß ist, daß Walschap es unbeeinflußt von einer Modeströmung aufgriff und in religiöser Schau zu meistern strebt’555. Mißverständnisse ließ man also nicht aufkommen. Es gab einfach kaum einen anderen flämischen Dichter, der die Forderung nach einer Kunst aus Blut und Boden so aus ‘klarster religiöser Überzeugung’556 erfüllte wie Walschap. Gerade mit Walschap nutzten Verleger wie Hegner und der Insel Verlag nach 1933 die Gelegenheit, um einen flämischen Dichter auf den Markt zu bringen, der mit seinem dynamischen Stil das Bild der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern erneuerte und der zugleich durch seine religiöse Überzeugung dem katholischen Deutschland nicht nur eine Alternative für die von den Nationalsozialisten propagierte Blut-und-Boden-Literatur bot, sondern zugleich auch einen Führer. Dem konnten die nationalsozialistischen Kritiker kaum noch etwas gegenüberstellen. Aber erneut waren sie zu keinem Verzicht bereit. Im Hinblick auf die Bedeutung von Walschaps übersetzten Werken für den Kampf an der Kulturfront im niederländischen Sprachraum versuchte man wieder, die Religiosität in den Werken Walschaps in volksnahe Frömmigkeit umzudeuten. So schrieb F. Peuckert bezüglich Heirat in den Nationalsozialistischen Monatsheften: ‘Schicksal und frommer christlicher Glaube der Menschen erscheinen immer wieder nur wie der Gleichnis gewordene höchste Ausdruck der geheimen Lebensgesetze des flämischen Volkes. “Es sind keine erhabenen Grundsätze, es sind gesunder Glaube, Lebenslust und Mut”’557. Zugleich versuchte Peuckert, von der religiösen Orientierung Walschaps abzulenken und völkische Aspekte in seinem Werk zu betonen. Er betonte, daß Heirat vor allem deshalb ein schönes und gesundes Buch sei, | |||||||||||||||||||||||||||||||
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weil Walschap darin Stadt und Land ‘wie schlechte und gute Rasse’558 gegenüberstelle. Bereits beim Erscheinen des Kindes mußte Peuckert jedoch wieder auf Distanz gehen und herausstellen, daß Walschap in diesem Roman nicht nur den Gegensatz Stadt-Land nicht mehr überzeugend ausgearbeitet, sondern sogar gezeigt habe, daß ‘die Heimat Flandern und der Schoß der Kirche und ihre verzeihende Weisheit [...] untrennbar eins’559 seien. Peuckert fühlte sich nun ‘um jede ehrliche Antwort betrogen’560: ‘Ein müder Ton, der keine Hoffnung läßt als eine skeptische Resignation in guter Freundschaft mit dem verständnisvollen Klerus, durchzieht das ganze so geistvoll und spannend zu lesende Buch und findet seinen besten Ausdruck in den folgenden Sätzen: “Wir sind alle gute Christen. Viele sind katholisch, wenige sind Sozialisten, der Rest ist liberal und dann noch ein Gemisch, das nichts ist” [...]. Unter dem letztgenannten Gemisch ist vermutlich jede Äußerung und Richtung flämisch-völkischer Natur zu verstehen, die neben einem August Borms immerhin auch einige Namen kämpferischer Volksprediger von Guido Gezelle bis Cyriel Verschaeve als die Vertreter eines zukunftsgläubigen flämischen Volkstums aufzuweisen hat’561. 1939 standen also die Nationalsozialistischen Monatshefte in der Person von Fritz Peuckert Walschap äußerst skeptisch gegenüber. Dabei ist es bemerkenswert, daß sich Peuckert in diesem Zusammenhang auf die Gegenüberstellung Stadt-Land im Werk Walschaps fixierte und daß er Walschaps Beziehung zur Kirche kritisierte, anstatt die zunehmend kritische Haltung des Autors gegenüber der Kirche aufzugreifen.562 In | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Wirklichkeit glaubte wohl auch Peuckert, es mit einem wirklich katholischen Dichter zu tun zu haben. Hätte er nämlich, indem er seine kritische Haltung herausgestellt hätte, nicht viel besser Walschap als das Vorbild eines völkischen Dichters präsentieren können? Anders als vielfach angenommen, war das Erscheinen von Walschaps Jan Houtekiet (1941, ndl. Houtekiet, 1939), einer mythologisierenden Geschichte von der Gründung des Dorfes Deps durch den ‘Urmenschen’ Jan Houtekiet, aus nationalsozialistischer Sicht keine Selbstverständlichkeit. Dies mußte wohl sehr zu seinem eigenen Erstaunen sogar der Verlag Eugen Diederichs feststellen, denn der Verlag, der von seinem Gründer nach den Grundsätzen: ‘Volkwerdung durch Mythus und Geschichte - Bindung in Blut und Boden - Wille zur Gemeinschaft’563 ausgerichtet war, der 1939 die Erzählungen Flandrische Erde (1939, ndl. Volk, 1930) herausgegeben und der auch verschiedene Schriften des Deutsch-Niederländischen Instituts in Köln verlegt hatte, erhielt zunächst keine Genehmigung zur Übersetzung von Houtekiet.564 Trotz dieser anfänglichen Ablehnung erschienen aber während des Krieges, also bei herrschender Papierknappheit und zu einer Zeit, als nur Bücher mit einer ‘kriegswichtigen’565 Funktion erscheinen durften, doch drei Auflagen von Walschaps Meisterwerk. Der Roman erreichte damit die gleiche Wirkungsdichte wie z.B. Das Christkind von Streuvels, Ich sah Cäcilie kommen (1939, ndl. Ik zag Cecilia komen, 1938) von Timmermans oder, wenn wir den Zeitraum 1930-1945 als Ganzes betrachten, wie Der Löwe von Flandern von Conscience.566 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Leider konnte nicht eindeutig geklärt werden, warum man schließlich doch die Publikation von Jan Houtekiet genehmigte, aber vermutlich hing dies mit der nach 1940 veränderten Haltung Gerard Walschaps gegenüber den Nationalsozialisten zusammen. Walschap, der bis zum Ausbruch des Krieges prinzipiell nicht bereit gewesen war, Lesungen in Deutschland zu halten, hatte sich, von der Besatzungsmacht, die ihm zu Anfang des Krieges die Stelle eines Staatsaufsehers für die Bibliotheken angeboten hatte, unter Druck gesetzt, zum einen nun doch damit einverstanden erklärt, die Lesung in Berlin zu halten, zu der er bereits vor dem Krieg eingeladen worden war, und zum anderen September 1940 den Vorsitz in der Antwerpener Literaturkammer übernommen. Damit eignete sich das Werk von Walschap besser für die Kulturpropaganda in Flandern.567 Über inhaltliche Einwände von offizieller Seite bezüglich der Publikation von Jan Houtekiet ist nichts bekannt. Aus den Rezensionen, die von nationalsozialistischer Seite in Deutschland publiziert wurden, ist aber abzuleiten, daß es wahrscheinlich welche gegeben hat. Heftige Kritik kam nämlich nicht nur von F. Peuckert, der, wie gesagt, schon vorher vor Walschap gewarnt hatte. Peuckert gab sich überhaupt nicht mit der positiven Lebensbejahung zufrieden, die u.a. von der Übersetzerin Martha Hechtle in ihrer Literaturgeschichte Die flämische Dichtung von 1830 bis zur Gegenwart568 bei ihrer Besprechung von Jan Houtekiet als typisch für Walschap und Flandern herausgestellt wurde. Dort hatte sie nämlich geschrieben: ‘Houtekiet selbst wie seine Umgebung und auch die Gestalten der übrigen Romane des Dichters verkörpern die ganze Buntheit, Fülle, Kraft und sinnenfrohe Unbeschwertheit, deren Flandern fähig ist - man denke an die dionysisch-rauschhaften Feste! Jedoch ist das nicht Ausdruck eines naiven Herzens bei Walschap, es kommt vielmehr aus dem “Dennoch”, aus dem “Ja” zum Leben und seinen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Freuden, trotz dem Wissen um die Hinter- und Untergründe. Diese Haltung ist ganz flämisch und [...] verleiht seinen Gestalten eine allgemein menschliche Gültigkeit’569. Abgesehen von der Tatsache, daß gerade Hechtles Literaturgeschichte von Peuckert verrissen wurde, weil sie ‘den wahren Charakter des germanischen Flandern’570 entstelle, lehnte Peuckert eine, wie er es nannte, einfache ‘Rückkehr zur Natur à la Rousseau’571 kategorisch ab. Im Gegensatz zu Hechtle war Peuckert der Meinung, daß Jan Houtekiet zu Unrecht vom Verlag als ein ‘Bekenntnis zu den Lebensmächten Flanderns, seiner Erde und seinen Menschen’572 angekündigt worden war. Der Roman war für ihn nichts anderes als ein schlechtes Beispiel für völkische Literatur, das unmißverständlich zeige, ‘wie sein Held [...] in den grundsätzlichen Dingen [...] müde resigniert’573. Es sehe zwar so aus, so hob Peuckert hervor, als ob auch Walschap die ‘entscheidenden sozialen und weltanschaulichen Fragen unseres Jahrhunderts’574 erkannt habe, aber der Autor, ‘geistig und psychologisch im Rationalen befangen’575, habe sie offenbar nicht verstanden. Schlimmer noch, es könne sogar sein, daß Walschap, der nicht mal selbst an die ‘Wünschbarkeit, geschweige denn Erfüllbarkeit seiner geistreichen und oft beinahe gemütvollen Utopie’576 glaube, sie nicht hätte verstehen wollen. Positiv wurde natürlich in verschiedenen Rezensionen die Tatsache beurteilt, daß die Volksgemeinschaft von Deps, dem Dorf, in dem die Geschichte von Jan Houtekiet spielt, im Biologisch-Mythischen wurzelte, denn hierin erkannte man eine ‘Reaktion gegen die alles biologische Leben überwuchernde Zivilisationsdürre’577. Ferner wurde herausgestellt, daß die Frauen in Jan Houtekiet ihre Mutterrolle in beispielhafter Weise erfüllten, daß für Houtekiet sein Leben lang ‘Religion etwas Fremdes und Gleichgültiges’578 geblieben sei und daß er für ‘Gottesdienste [...] | |||||||||||||||||||||||||||||||
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keinen Sinn’579 habe. Aber trotzdem blieb Peuckert nicht der einzige nationalsozialistisch orientierte Kritiker, den Jan Houtekiet nicht wirklich überzeugte. Auch im Inneren Reich fragte man sich, warum die Einwohner von Deps überhaupt ‘ihr Werk und Leben dem Himmel anvertrauen’580, und in der Europäischen Literatur bemängelte man, daß Jan Houtekiet vor allem durch den Stil und nicht ‘wie die deutschen Meisterwerke’581 durch ‘Seelenwärme’582 gewinne: ‘[...] er [= Walschap, HVU] suggeriert nur, er reißt uns gewalttätig hinein ins strudelnde Geschehen und lähmt unsere gefangene Seele; die Tatsachen sind Herr, unser Ich kann nicht frei, wie bei großen Dichtungen aller Zeiten, in reiner Hingabe zu höherer, kritischer und schöpferischer Beschauung emporsteigen’583. Obwohl dies später mehrmals unterstellt wurde, kann also nicht gesagt werden, daß Jan Houtekiet von der deutschsprachigen Kritik während des Krieges als die ‘Verherrlichung des Herrenmenschen’584 gelesen wurde. Dafür fehlte außerdem die für die ‘Herrenmenschenliteratur’ typische Gefolgschaftstreue und - dies wurde wiederum von F. Peuckert herausgestellt, indem er feststellte, daß Houtekiet ‘eigentlich gegen seinen Willen [...] zum Vorbild und ungekrönten König einer um ihn herum entstehenden Siedlung des neuen Lebens wird’585 - der aus der Geschichte heraus legitimierte Machtanspruch. Auch das Werk von Walschap, das im Dritten Reich überdurchschnittlich erfolgreich war, entsprach nicht den Idealen politisch-völkischer Literatur. Dabei war der Umstand, daß Walschap von vielen Kritikern nicht nur als katholischer Dichter, sondern sogar als der Führer der katholischen Literatur betrachtet wurde, nicht das einzige Problem. Walschaps Werk war darüber hinaus, wie F. Peuckert immer wieder betonte, zu rational, und sein sogenannter ‘Originalstil’586 hatte zuviel vom Expressionismus. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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3.3.3.5 Niederländische statt völkische Literatur?Die oben stehenden Darlegungen haben gezeigt, daß die Nationalsozialisten mit ihrer Förderung der niederländischen Literatur zwecks Stimulierung der einheimischen Produktion neuer völkischer Literatur und für den Kampf an der Kulturfront, zumindest was Timmermans, Claes, Coolen und Walschap betrifft, gescheitert sind. Lediglich mit Streuvels konnten sie Erfolge verbuchen.587 Ansonsten untergruben die Nationalsozialisten, bedingt durch die doppelte und in sich widersprüchliche Zielsetzung - was zur Stimulierung der Produktion völkischer Literatur gut war, war zumeist nicht der Kulturfront förderlich und umgekehrt -, mit der niederländischen Literatur ihr eigenes Programm. In der trügerischen Hoffnung, auf Dauer durch die Übersetzung niederländischer (und skandinavischer) Autoren doch noch richtige Erfolge an der Kulturfront erzielen zu können, ließ man den ‘Einfuhrüberschuß’588 bestehen, obwohl in den nationalsozialistischen Zeitschriften immer wieder darauf hingewiesen wurde, daß verschiedene deutsche Verleger von der sogenannten nordischen Renaissance profitierten, indem sie Autoren übersetzen ließen, die dem Dritten Reich kritisch gegenüberstanden oder deren Literatur den völkischen Idealen nicht entsprach.589 Man setzte sich also bewußt über die Warnung, daß das deutsche Volk, wenn es sich auf breiter Basis ausländischen Autoren zuwenden würde, ‘geistig und sogar rein biologisch’590 zugrunde gehen könnte, hinweg und bot stattdessen Verlegern die Möglichkeit, ihrem Publikum eine Ausweichmöglichkeit zur von den Nationalsozialisten propagierten Blut-und-Boden-Literatur aufzuzeigen. Anders als geplant wurden während des nationalsozialistischen Regimes die von der eigenen Zensur geschaffenen Lücken als Folge der Priorität, die der kulturpolitischen Flandern- und Niederlandepropaganda trotz der tatsächlich nur geringen Fortschritte in diesem Bereich eingeräumt wurde, also zu einem bedeutenden Teil von Autoren wie | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Timmermans, Claes, Coolen und Walschap geschlossen, deren Werk zu religiös, zu idyllisch bzw. zu rational war und eher die Entwicklung echter völkischer Literatur behinderte als stimulierte. So wie es den Nationalsozialisten, wie D. Strothmann ausführlich belegt, nicht gelungen ist, den Begriff ‘Weltliteratur’ auf die ‘nordische’ und ‘germanische’ Dichtung einzuengen, hat das nationalsozialistische Regime es auch nicht geschafft, das Bild der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern auf das Werk der von ihnen wirklich bevorzugten Autoren wie Streuvels, Verschaeve, De Clercq zu reduzieren.591 Nicht nur, daß ab 1933 - Autoren wie M. ter Braak und E. du Perron, die nicht nur zur Avantgarde gehörten, sondern auch den Nationalsozialismus offen kritisierten, konnten natürlich nicht übersetzt werden -, was die niederländische Literatur anbelangte, in Wirklichkeit tatsächlich fast ‘ieder werk en iedere auteur’592 von ‘eenige beteekenis’593 übersetzt wurde, innerhalb der Literatur aus Flandern war es auch nicht Streuvels, sondern der religiöse Idylliker Timmermans, der das Bild der niederländischen Literatur bestimmte. Stijn Streuvels konnte sich zwischen 1933 und 1944 trotz vehementer Förderung durch die Nationalsozialisten nicht durchsetzen. Obwohl von ihm in diesem Zeitabschnitt nach Timmermans die meisten Titel in erster Auflage erschienen, erreichte keines seiner übersetzten Bücher in dieser Periode eine hohe Wirkungsdichte. Wenn man die Bücher nimmt, die in über zehn verschiedenen oder gleichen Ausgaben aufgelegt wurden, sieht für die Periode 1920-1944 die ‘Hit’-Liste wie folgt aus:
Streuvels spielte dabei also keine Rolle. Nicht anders war es in der Periode 1933-1944, wenn man die Übersetzungen in Betracht zieht, die in über sechs verschiedenen oder gleichen Ausgaben aufgelegt wurden:
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Wie in den zwanziger Jahren bestimmten während der Hitlerzeit Conscience, Timmermans und die erfolgreichen Autorinnen bürgerlicher Romane, allen voran Jo van Ammers-Küller, das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum.594 Die alte ‘Konjunkturwelle’ setzte sich also trotz aller Bemühungen der nationalsozialistischen Kulturpropaganda einfach fort. | |||||||||||||||||||||||||||||||
3.4 Niederländische Literatur in Zeitschriften: IIIMit Hilfe der Internationalen Bibliographie der Zeits chriftenliteratur wurden für diese Periode auf Anhieb die meisten Beiträge zur niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum im Gral gefunden. Deshalb, und weil Der Gral im Gegensatz zum Literarischen Handweiser die Weltwirtschaftskrise überlebte, wurde er und nicht etwa der ‘hochstehende’595 Literarische Handweiser zur detaillierten Untersuchung der Rezeption der niederländischen Literatur in deutschsprachigen Zeitschriften für diese Periode herangezogen. Ferner wies die Internationale Bibliographie der Zeitschriftenliteratur auch eine ganze Reihe von Beiträgen im Literarischen Echo (bzw. in der Literatur) und in der Schönen Literatur (bzw. in der Neuen Literatur) aus. Dadurch bot sich ein erneuter Vergleich der Rezeption der niederländischen Literatur in diesen Zeitschriften an, wovon jedoch abgesehen wurde, weil ein Vergleich zwischen den Reaktionen zum literarischen Geschehen in den Niederlanden und Flandern in zwei katholischen Zeitschriften als letzter Prüfstein für die in den vergangenen Abschnitten aufgestellte These von der besonderen Rolle der religiös orientierten Verlage und Kritiker im Zusammenhang mit dem Erfolg der nieder- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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ländischen Literatur im deutschen Sprachraum während des nationalsozialistischen Regimes interessanter erschien. Aus diesem Grunde wurde neben dem Gral die Zeitschrift Hochland ausgewertet, in der ebenfalls auf Anhieb eine ganze Reihe von Beiträgen zur niederländischen Literatur gefunden wurde und die mit dem Gral gemein hatte, daß sie ebenfalls - Der Gral 1937 und Hochland 1941 - unter dem Druck der Nationalsozialisten eingestellt werden mußte. Eine spezifisch nationalsozialistisch orientierte Zeitschrift wird an dieser Stelle nicht analysiert, da die nationalsozialistischen Positionen zur niederländischen Literatur bei der Darstellung der Rezeption der niederländischsprachigen ‘Heimatautoren’, in deren Kontext Zeitschriften wie die Nationalsozialistischen Monatshefte und Die Neue Literatur ausführlich zur Sprache gekommen sind, ausreichend beleuchtet wurden. Um einen Einblick in den Standpunkt der Niederdeutschen bezüglich der Entwicklungen in Belgien und den Niederlanden in der Periode 1914-1945 geben zu können, wurde als dritte Zeitschrift für die detaillierte Analyse die Deutsche Rundschau gewählt, in der der Niederdeutsche Franz Fromme verschiedene seiner wichtigen und bekanntesten Beiträge über das Verhältnis Niederdeutschlands zum niederländischen Sprachraum publiziert hat. Außerdem ergänzte gerade die Deutsche Rundschau, in der zwar nicht sehr viele Rezensionen und Beiträge zur niederländischen Literatur gefunden wurden, durch ihren allgemeinen Rundschaucharakter und ihre nichtchristliche, anti-nationalsozialistische Orientierung hervorragend die bereits gewählten kulturell orientierten katholischen Zeitschriften. | |||||||||||||||||||||||||||||||
3.4.1 Der GralWie kaum eine andere deutsche Zeitschrift hat sich in dieser Periode die katholische Monatsschrift für Dichtung und Leben Der Gral (1906-1937) der niederländischen Literatur gewidmet. Der Gral, 1906 als ‘Monatsschrift für schöne Literatur’ in Wien gegründet, war zu Anfang, unter der Redaktion von Franz Eichert und Richard von Kralik, anders als Karl Muths liberaleres Hochland extrem konservativ und vom Prinzip durchdrungen, daß wahre Kunst nur katholisch sein könne.596 Nach der Übernahme in die Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck, und einem Wechsel | |||||||||||||||||||||||||||||||
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in der Redaktion machte Der Gral 1918 jedoch ‘eine tiefgehende Wandlung’597 durch. Der Streit mit Hochland wurde beigelegt, und die Redaktion des Grals versuchte nun ganz allgemein, das zu publizieren, ‘was im positiven Sinne fortschrittlich war’598. Wesentlich blieb aber immer die katholische Weltanschauung. Dies zeigte sich nicht zuletzt bei der Perspektive auf die Literatur der Niederlande und Flanderns. So widmete man, nachdem Der Gral unter Friedrich Muckermann den niederländischen Sprachraum entdeckt hatte, u.a. dem Erscheinen von Pieter van der Meer de Walcherens (1880-1970) Werk im deutschen Sprachraum besondere Aufmerksamkeit, denn gerade dieser Autor verlangte ‘beinahe gebieterisch eine katholische Gemeinschaftskunst’599. Darüber hinaus fand das Werk vom Achtziger Frederik van Eeden wegen seiner Konversion zum Katholizismus große Beachtung.600 Van Eeden wurde als ‘eine der Säulen des wiedererwachenden religiösen Bewußtseins’601 betrachtet. Leider hatte der Autor, so bedauerte Der Gral, nicht mehr die Gelegenheit gehabt, katholische Lyrik zu schreiben, und so blieb nur die Hoffnung, daß sich jemand finden würde, der die Elemente im Werk Van Eedens aufzeige, ‘worin wir den Keim finden, der sich später zum vollen katholischen Glauben entwickeln sollte’602. Dem Wunsch ‘nach stärkerer Zusammenarbeit der Katholiken aller Länder’603 entsprechend bildete die Analyse der Beziehungen deutscher Katholiken zum niederländischen Sprachraum im Gral einen Schwerpunkt. Dabei war die Hoffnung vor allem auf die Niederlande gerichtet, denn | |||||||||||||||||||||||||||||||
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‘[in] Holland weht in gewissem Sinne mehr Weltluft als bei uns. Es hat offene Fenster nach Frankreich, England und Deutschland. Die lebendige See trägt ihm immerfort frische Brisen zu. Treu national, hat man dort nicht in Nationalismus gemacht und darum Zeit gehabt, etwas der Welt zu schenken. In keinem Lande Europas vielleicht ist die Idee der katholischen Zusammenarbeit so gepflegt und verstanden worden, als eben dort.’604 Ausführlich verfolgt wurden in diesem Zusammenhang der hundertjährige Geburtstag des ‘katholischen Bahnbrechers Professor Alberdingk Thijm’605 und verschiedene Vorträge von Gerard Brom (1882-1959) zum Thema Beziehungen zwischen deutschen und niederländischen Katholiken.606 Die Auswahl der im Gral besprochenen Werke aus der niederländischen Literatur bestätigt, daß sich die Zeitschrift nach dem Ersten Weltkrieg zu einer ‘weltaufgeschlossenen’607, ‘mehr unterhaltend[en]’608 Zeitschrift entwickelt hat. Obwohl eine der Informationsquellen für die Redaktion des Grals die Jaarlijksche Boekenschouw war, in der nicht nur über die niederländische, sondern auch über die Literatur anderer Nationen informiert wurde, und schon Mitte der zwanziger Jahre im Gral eine Abrechnung von W. Moens mit der individualistischen Poesie der Achtziger erschien, in der er zugleich ein Plädoyer für die humanitär beseelte katholische Dichtung hieit und neben Dichtern wie Albert Kuyle (1904-1958), Karel van den Oever (1879-1926), Marnix Gijsen auch Martinus Nijhoff und Paul van Ostaijen vorstellte, publizierte Der Gral in den zwanziger Jahren vor allem Rezensionen zum Werk von Johan Fabricius und Jo van Ammers-Küller.609 Natürlich waren gerade diese Autoren sehr erfolgreich, aber man hätte doch auch Louis Couperus mehr Aufmerksamkeit schenken können. In seinem Fall berichtete Der Gral aber lediglich über die Übersetzung von Iskander ([1925], ndl. Iskander, 1920) und betonte dabei bezeichnenderweise nicht viel mehr, als daß Couperus in diesem Roman ‘meisterhaft’610 gezeigt habe, wie Alexander ‘an | |||||||||||||||||||||||||||||||
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seinen eigenen Lastern’611 zugrunde gehe, wodurch sich der Roman ‘über die Höhe des kulturhistorischen Romans’612 erhebe. Ein wirkliches Interesse für hochstehende niederländische Literatur gab es im Gral also nicht.613 Dafür wurde das Werk von Jo van Ammers-Küller auffallend günstig beurteilt.614 Dieser niederländischen Schriftstellerin wurden ‘hervorragende epische Gaben und Werte’615 bescheinigt, und es wurde betont, daß ihr Werk auch ‘vom kulturgeschichtlichen Gesichtspunkte aus’616 einen ‘überzeitliche[n]’617 Wert besitze.618 Den Resultaten der vorangehenden allgemeinen Untersuchungen zur Rezeption des Werkes Jo van Ammers-Küllers im deutschen Sprachraum entsprechend wurde im Gral hervorgehoben, wie richtig die Rolle der Frau gerade von Jo van | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Ammers-Küller gezeichnet wurde. Erneut war zu lesen, daß die niederländische Autorin der ‘Wahrheit letzte[n] Schluß’619 zeige, daß die Frauen ‘im Grunde auch heute nicht viel anders sind und sein können als früher’620. Sogar die Redakteurin Nanda Herbermann bestätigte: ‘Im tiefsten Kern aber geht es in diesem Buch wieder um die Frau, um ihre eigentliche Berufung, und mag auch die Sehnsucht der modernen Frau nach Selbständigkeit, nach einem geistigen und verantwortungsvollen Beruf noch so groß sein, hier wird wieder bewiesen, wohin die Frau gehört, wohin sie auch nur will, wenn sie ehrlich ist, mag ein selbständiger, angesehener und freier Posten hier oder dort auch noch so verlockend sein.’621 Kritik wurde an Van Ammers-Küller im Gral im wesentlichen nur dort laut, wo man eine Ausschaltung ‘der tiefinnersten Natur der Frau, der opferwilligen Liebe’622 meinte beobachten zu können, und natürlich da, wo die Autorin das oberste Prinzip der Zeitschrift, die katholische Weltanschauung, zu verletzen schien. Während N. Herbermann hervorhob, daß die Bücher von J. van Ammers-Küller, obwohl die Autorin offensichtlich ‘dem Religiösen’623 auszuweichen schien, voll ‘von reifer Lebenserfahrung, von sittlichen Grundsätzen und Werten’624 seien und sie deshalb die Bücher J. van Ammers-Küllers noch der ‘reifen Jugendund Frauenwelt’625 meinte empfehlen zu können, wurde Tantalus (1928, ndl. 1925) im gleichen Jahrgang von einem anderen Kritiker abgelehnt, weil die Autorin nichts ‘von der Kraft der Religion’626 zu wissen scheine. Die Feststellung, daß Der Gral tatsächlich mehr auf Unterhaltung orientiert war, darf also nicht darüber hinwegtäuschen, daß die katholische Weltauffassung für die Zeitschrift bestimmend blieb. Dies belegen nicht zuletzt auch die allgemeineren Artikel zur Entwicklung in der Literatur in den Niederlanden. Mitte der zwanziger Jahre stellte Wies Moens in seinem bereits erwähnten Beitrag ausdrücklich heraus, daß neben der | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Entwicklung zum expressionistischen Gedicht, zum freien, dynamischen Vers sowohl in Flandern als auch in den Niederlanden die ‘ethische Botschaft’627 an Bedeutung gewann, und bedauerte, daß man in den Niederlanden ‘zurzeit’628 noch keine katholische Poesie, ‘die ganz unserer Zeit und ganz der Ewigkeit angehören soll’629, besitze. Bezeichnend war dann auch seine Hoffnung, daß die Generation von Albert Kuyle und Henri Bruning (1900-1983) ‘die Brücke, über die unsere Nachkommen ziehen werden zur Eroberung all dessen, was wir mit verlangender Sehnsucht nur in der Ferne anzudeuten vermögen’630, schlagen würde. Ebenso bezeichnend war die Prophezeiung von Moens, daß es auch in Flandern nicht ausbleiben könne, daß sich die katholischen Jüngeren, deren Poesie sich ‘meist im Lichtkreis christlicher Lebensauffassung’631 bewege, wieder ‘an dem ewigen Jungbrunnen der uralten Kirche’632 niederknien würden. Typisch für die Perspektive des Grals auf die niederländische Literatur war auch die Rezension der Sammlung Niederland von R. Lonnes. Darin wurde nicht nur gewürdigt, daß der deutschsprachige Leser in dem Band mit ‘bishin gänzlich unbekannten Autoren’633 bekannt gemacht wurde, sondern zugleich bedauert, daß die katholische Gruppe niederländischsprachiger Autoren etwas ‘stiefmütterlich’634 behandelt werde.635 Anfang der dreißiger Jahre begann im Gral mit Carl Hanns Erkelenz die völkische Periode. Ganz im Gegensatz zu Moens, der die literarischen ‘Umwühlungen und Erneuerungen’636 in der Dichtung in den Niederlanden und Flandern betont hatte, leitete Erkelenz seinen Beitrag zur Dichtung in Flandern mit folgenden bezeichnenden Sätzen ein: ‘Flandern rührt uns heimatlich an. Prall wie der Wind in den Mühlenflügeln des Landes steht die Lebensfreude in den Gesichtern der Menschen. Sie sitzen schmatzend am irdischen Mahle und freuen sich an der Buntheit des Jahrmarktes. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Unersättlich schwenken sie die schweren Körper im Tanz zu dem Takt der Posaunen und Flöten. [...] hier ist das Dasein noch vom beruhigenden Einklang mit Gott und Mensch durchwaltet. Es ist eingefügt in den Gang der Gezeiten und atmet mit im Werden, Blühen und Vergehen der irdischen Dinge, über denen heiter die Wölbung des Himmels stent.’637 Nicht mehr ‘Kunst fürs Leben’638, von einem ‘brandenden Zeitbewußtsein’639 erfüllte Dichtung war gefordert, sondern Erkelenz schwärmte jetzt dem nationalsozialistischen Literaturgeschmack entsprechend für vage, kaum definierbare Ideale wie die transparente Darstellung des Daseins, die dem ‘Strom des Lebens Farbe, Saft und Fülle’640 verleihe, und machte Begriffe wie ‘Wurzelsäfte’641, ‘naive Volkssubstanz’642 und ‘Instinkt und Blut’643 zu Hauptkriterien seiner Beurteilung der niederländischen Literatur. Alles lief nun auf die Feststellung hinaus, daß endlich ‘[u]rgermanischer Kulturboden’644 wieder Früchte trage. Dementsprechend wurden Dichter wie Paul van Ostaijen, der bedeutendste flämische Dichter des Interbellums, vielleicht sogar dieses Jahrhunderts, und Gaston Burssens (1896-1965) abgewiesen. Der erste, weil seine Poesie als zügellos, als ‘strömender Strom’645 empfunden wurde, da in ihr der Intellekt nicht ganz an Instinkt und Blut gebunden sei, der zweite, weil er durch ‘die Wirklichkeit der Städte dem Volkstum entrückt’646 sei. Auch die Literatur aus den Niederlanden versuchte Erkelenz damals aus völkischer Perspektive zu betrachten. Dies stellte sich allerdings als schwieriger heraus, weil die Dichtung aus den Niederlanden, anders als die aus Flandern, ‘Dichtung schweigsamer Menschen’647 sei: ‘Der Geist des Landes [= der Niederlande, HVU] verengt die Formen, in denen er schafft, spannt sie nicht weich, locker und offen, weit ausgebauscht [sic] wie ein starkes sonniges Segel im Wind, schwellend unter unstillbarer Lebenslust wie | |||||||||||||||||||||||||||||||
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bei den Flamen, sondern spannt sie hart, straff, schroff und verschlossen. Die dunkle Nachdenklichkeit des Holländers läßt keine laute Lebensfreude zu.’648 Dennoch erkannte Erkelenz auch bei einigen Niederländern einen ‘feurige[n], leidenschaftliche[n] Lebenstrieb’649, und zwar bei Jan Slauerhoff, bei dem er manchmal ‘[v]erbittert, verzweifelt’650 zum Ausdruck komme, bei Roel Houwink (1899-), bei dem der Lebenstrieb zur Entdekkung des Evangeliums führe, bei Hendrik Marsman, bei dem er sich in einer Mischung von dunkelblütiger ‘Berauschung’651 und ‘hellhirniger Spiellust’652 äußere, und bei Anthonie Donker (1902-1965), bei dem sich das ‘dunkle [...] Lebensgefühl’653 in Balladen legendarischer Prägung zeige. Der Dichter, bei dem das ‘Blut der Ahnen’654, der ‘Drang zu elementar gebundener Lebensform’655 laut Erkelenz aber am besten, d.h. mit ‘fast magische[r] Kraft der Versinnlichung und mythenbildende[r] Substanz’656 zum Ausdruck kam, war Theun de Vries (o1907). Deshalb betrachtete Erkelenz De Vries als ‘die bedeutendste Hoffnung der jungen niederländischen Dichtung’657. Er zeige, daß in den Niederlanden die Dichtung der Jüngeren ‘vollen Lebensraum’658 erobere und zu ‘geistigen Tiefenschichten’659 vordringe. Die Akzentuierung der Heimat, des im Wesen guten, deutschen Kerns, die Ablehnung von Verstand, Analyse und moderner Literatur, die Gegenüberstellung von Mythos und Logos, das Denken in zumeist ‘schwammigen’660 völkischen Kategorien und die anti-aufklärerische Haltung, so wie sie in den Beiträgen von Erkelenz zum Ausdruck kam, | |||||||||||||||||||||||||||||||
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scheinen auf den ersten Blick die Befürchtungen von Robert Leroy und Eckart Pastor, die in ihrer Studie zur alldeutschen Phase des Grals bereits präfaschistische Züge in der Zeitschrift herausgestellt haben, zu bestätigen.661 Aber dieser erste Eindruck täuscht. Abgesehen davon, daß in den Aufsätzen von Erkelenz wichtige Aspekte der nationalsozialistischen Ideologie wie etwa der Antisemitismus, der Autoritarismus und das Kämpferische fehlten - ‘Fremdenhaß' äußerte sich allerdings in Erkelenz’ eher traditioneller Ablehnung von allem Französischen -, waren, zumindest was die niederländische Literatur betraf, Beiträge wie die von Erkelenz im Gral alles andere als die Regel. Typischer für den Gral war vielmehr der Aufsatz von Felix Augustin aus dem Jahr 1932. Im Gegensatz zu Erkelenz scheute sich Augustin nämlich nicht, darauf hinzuweisen, daß der kämpferische Conscience später von ‘manchem [...] Autor überragt’662 werde, die ‘behäbige, schmausende’663 Fülle, die Erkelenz als Grundzug der Literatur aus Flandern hervorgehoben hatte, der ‘ungekünstelt[en], klar[en] und wirklichkeitsnah[en]’664 Prosa von Cyriel Buysse gegenüberzustellen und zu betonen, daß in den Adern von Streuvels, dem ‘größte[n] Erzähler Flanderns’665, eher ‘Dichterblut’666 als Bauernblut fließe. Den Ausführungen von Erkelenz zu Timmermans stellte Augustin gegenüber, daß man ‘die komischen und absonderlichen, die verschrobenen und putzigen, robusten und zimperlichen Gestalten’667 des flämischen Autors zwar unweigerlich lieben müsse, aber daß sie doch ‘irgendwie ihr Herz, ihre Seele verloren’668 hätten. Anders als Erkelenz war Augustin also der Meinung, daß Timmermans' Romanfiguren ‘zu sehr Farbe, Klang, Ton. Zu wenig Menschen’669 seien. Von den jüngeren Flamen erwähnte Augustin noch Herman Teirlinck, der eine ‘Zwischenstellung’670 einnehme, Maurice Roelants und Gerard Walschap. Roelants wegen der Qualität seiner Dichtung - ‘Schon sein erster Roman “Kommen und Gehen” ist ein lyrisch empfundenes Werk von | |||||||||||||||||||||||||||||||
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sehr reifer psychologischer Einfühlung’671 - und Walschap, dessen Dorfgeschichten laut Augustin zu den besten kurzen Erzählungen ‘der ganzen Welt’672 gehörten, weil er der Führer des katholischen Flanderns sei: ‘Sein [= Walschaps, HVU] Programm lautet: “Vor allem Katholik, dann erst Flame”. Und dieses Programm ist es wohl, das uns mehr noch als die germanische Blutsverwandtschaft mit diesem jungen Flandern über Landes- und Sprachgrenzen hinweg verbindet.’673 Am Ende wurde also ausdrücklich die Religiosität in den Vordergrund gerückt. Nicht anders verhielt es sich bei der Besprechung der Werke von Timmermans, der außer von Augustin im Gral zumeist sehr positiv rezensiert wurde. Wieder wurde betont, daß sich ‘Religion, Landschaft und Volksleben’674 in Timmermans' Werk ‘zu einer wundervollen Einheit’675 vereinen würden: ‘In dem Werk lebt die ganze Fülle und Größe des Christentums und der katholischen Kirche. Mit besonderer Genugtuung und leisem Neid, daß wir keinen Timmermans haben, setzen wir diese Wunderblume auf das Stoppelfeld unseres Literaturstreites. Erst an der Blume merkt man recht, was ein Stoppelfeld ist.’676 In vergleichbarer Weise wurde bei den Besprechungen von Timmermans erzählt ([1935]) die ‘naiv selbstverständliche Gläubigkeit’677 herausgestellt und in Pieter Bruegel - ‘eine[m] der stärksten Bücher der Gegenwart, so voll Kraft wie voll Zartheit, so voll Erdenlust wie voll Himmelsglück, so voll Tragik wie voll Glaube’678 - der ‘christliche [...] Realismus’679 von Timmermans hervorgehoben: ein Realismus, ‘dem im Sinnenhaften der Geist lebendig ist und dem die Wirklichkeit doch im Tiefsten Symbol bleibt’680. Dabei identifizierte sich der Autor des letzten Beitrages bezeichnenderweise dort mit Timmermans, wo dieser im Bruegelroman die Frage stellte: ‘Aber ich fühle mich [...] als Geuse, ich wäre also ein Geuse mit dem katholischen Glauben. Warum auch nicht, warum soll das nicht möglich sein?’681, denn gerade diesen ‘Zwiespalt’682 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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könne man verstehen: ‘[...] warum kann man nicht Deutscher sein und zugleich Katholik? Ja, “warum soll das nicht möglich sein?”’683 Kritisiert wurde Timmermans im Gral dort, wo das Treiben in seinen Erzählungen ‘allzu menschlich’684 war, oder dort, wo er, z.B. bei den Werken des heiligen Franziskus, die Bedeutung der Kirche ‘zu verkennen’685 schien. Die Perspektive des Grals auf Antoon Coolen war erwartungsgemäß keine andere als die auf Felix Timmermans. Auch bei Coolen stellte man heraus, daß es ihm nicht nur gelang, ‘Natur und Leben in ihrem Heimlichsten und Tiefsten zu belauschen’686 und die ‘Schuttdecke bloßer Literatur’687 zu durchstoßen, sondern daß er auch die Wahl zwischen ‘Antichrist und Gott, zwischen dem Nichts und dem All, zwischen Rußland oder Flandern’688 erleichtere. Der Gral blieb also auch Mitte der dreißiger Jahre, als die ausdrückliche Vertretung katholischer Prinzipien zunehmend schwerer wurde, seinen Grundsätzen treu. Als Der Gral das Werk von Stijn Streuvels, der gerade mit dem Rembrandtpreis geehrt wurde, besprach, mied der Kritiker bewußt die Diskussion um den völkischen Charakter des Werkes von Streuvels und beschränkte sich weitgehend auf Inhaltsangaben.689 Zugleich bemühte man sich, die ‘außerordentliche [...] Gestaltungskraft’690 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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des flämischen Dichters herauszustellen und dem ‘Walten der Natur’691, der ‘Macht der Erde’692, dem ‘geheimnisvolle[n] Wirken der Vorsehung’693 religiöse Züge gegenüberzustellen.694 Bezeichnend war diesbezüglich besonders der Schluß des Beitrages: ‘Unter den gegenwärtigen Dichtern, die die Macht und den Segen der Erde wie auch die Ehrfurcht vor den überirdischen Gewalten fühlbar machen, steht er [= Streuvels, HVU] in vorderster Reihe’695. In vergleichbarer Weise versuchte man im Gral auch beim Bauernpsalm, um noch einmal auf Timmermans zurückzukommen, sich von der propagierten und geforderten völkischen Perspektive zu distanzieren. Erneut wurde nicht nur betont, daß Timmermans, der zu der Zeit gerade seinen 50. Geburtstag gefeiert hatte, ‘dem Blut nach’696 dem deutschen Volke nahestehe, sondern klargestellt: ‘Felix Timmermans ist mehr als ein Landschaftsdichter, er hat vielmehr von der Landschaft und vom eigenen Stamm aus organisch die Welt erobert, ist zu großem Format gediehen, steht heute als Gestalter der Ganzheit vor uns. Es wäre darum falsch, in seinem neuen, vielleicht reifsten Buch Bauernpsalm nur etwa einen Bauernroman zu sehen.’697 Natürlich wurde gerade beim Bauernpsalm, ähnlich wie bei den Werken von Streuvels, im Gral nicht bestritten, daß es sich um einen Bauernroman handelte, aber, so stellte man heraus: Bauer Knoll, die Hauptperson dieses Romans, offenbare ‘die Ganzheit eines Menschendaseins’698. Oder: Im Werk bekomme die Erde eine ‘weit über den ursprünglichen Charakter des Wortes’699 hinausgehende Bedeutung. Schließlich stand ebenso wie bei Timmermans, bei dem bis zuletzt die ‘Echtheit der Religion’700 herausgestellt wurde, auch bei Walschap | |||||||||||||||||||||||||||||||
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im Gral die Religiosität im Mittelpunkt. Sogar C.H. Erkelenz schloß sich in diesem Falle der allgemeinen Meinung des Grals an und betonte, daß dieser flämische Autor die von ihm beschriebene Problematik ‘aus tiefer katholischer Schau heraus’701 überwinde. Auf Distanz ging Der Gral bei Walschap erst, als dieser in seinem Roman Begegnung mit Christus, wie die Zeitschrift darlegte, ‘Anregungen des Evangeliums’702 nicht gefolgt, der ‘Macht der Gnade’703 zu wenig Raum gegeben und die ‘Partie zwischen Mensch und Gott’704 unentschieden gelassen habe.705 Die Analyse der Behandlung der niederländischen Literatur in der konservativen, katholischen und vor allem auf die Unterhaltung orientierten Zeitschrift Der Gral bestätigt also die These, daß während des nationalsozialistischen Regimes katholische Kritiker und Zeitschriften versucht haben, auf Basis ihrer katholischen Weltanschauung die niederländische Literatur aus dem von den Nationalsozialisten propagierten Bild herauszulösen. Von einer Art Bollwerk gegen den Nationalsozialismus kann im Falle vom Gral zwar nicht die Rede sein, aber die Zeitschrift hat die von C.H. Erkelenz Anfang der dreißiger Jahre eingeleitete Wende nicht fortgesetzt, sondern stattdessen versucht, sich von der nationalsozialistischen Ideologie zu distanzieren, die von den Nationalsozialisten propagierte Literatur niederländischsprachiger Autoren aus katholischer Perspektive neu zu bewerten und sie dementsprechend ihren Lesern zu empfehlen. Damit hat Der Gral einen wichtigen Beitrag zum kulturellen Freiraum geliefert, den sich die deutschen Katholiken während des Nationalsozialismus zu schaffen versuchten, und ermöglicht, daß sich viele deutschsprachige Leser ohne Bedenken Autoren wie Antoon Coolen, Ernest Claes, Felix Timmermans und Gerard Walschap zuwenden konnten. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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3.4.2 HochlandIn Hochland (1903-1941, 1946-) erschienen deutlich weniger Beiträge und Rezensionen zur niederländischen Literatur als im Gral. Aber dennoch wurden in Hochland, das schneller als Der Gral den Weg zur Literatur aus den Niederlanden und Flandern fand und in dem wie im Gral Erzählungen und Gedichte niederländischsprachiger Autoren in deutscher Übersetzung publiziert wurden, neben den vielen politischen Beiträgen zu den Geschehnissen im niederländischen Sprachraum im Vergleich zu anderen Zeitschriften verhältnismäßig viele Beiträge zur niederländischen Literatur veröffentlicht. Der Erste Weltkrieg lenkte das Interesse der ‘kulturelle[n] Rundschauzeitschrift katholischer Richtung’706 auf die flämische Bewegung und darüber hinaus auf das Werk der flämischen Autoren, die in dieser Periode, wie bereits erwähnt, im deutschen Sprachraum eine echte Renaissance erlebten. Im Mittelpunkt der Beiträge in Hochland, in denen die deutschen Beziehungen zu Belgien zur Sprache kamen, stand damals die Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Verletzung der belgischen Neutralität. Dabei zeigte sich, daß klar war, daß die Invasion in Belgien zwar eine Verletzung des Völkerrechtes darstellte, aber zugleich betonte man, daß es Fälle gebe, in denen ‘das natürliche, höhere Recht des Lebens dem verbrieften Recht internationaler Abmachungen vorgehen’707 müsse. Der Überfall auf Belgien, das als Produkt des Wiener Kongresses sowieso keine Bürgschaft für längeren Frieden geboten hatte, wurde als Notwehr dargestellt.708 Es wurde sogar mit der Heiligen Schrift argumentiert, mit der man glaubte zeigen zu können, ‘daß der Durchmarsch durch ein neutrales Land als Teil einer kriegerischen Aufgabe nicht verweigert werden könne, wenn er unter gerechten Bedingungen gefordert werde.’709 Was die Greueltaten der Deutschen beim Einmarsch in Belgien gegen die Zivilbevölkerung betraf, ließ Hochland ebenfalls keinen Raum für Diskussionen. Berichte über Grausamkeiten wurden als das Produkt des | |||||||||||||||||||||||||||||||
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‘systematisch gewobenen Lügennetz[es] einer gewissenlosen Presse’710 abgetan: ‘Wer unser Volk kennt, seine Gottesfurcht, seine heroische Opferwilligkeit und angeborene Gutmütigkeit, der weiß, was von den ihm zugeschriebenen Untaten zu halten ist und wie nur die ärgsten Herausforderungen des Gegners schließlich auch den deutschen Soldaten zu unerbitterlicher Vergeltung veranlassen, wenn der Verwundete z.B., dem er den Trunk Wasser reicht, in hinterlistiger Wut auf ihn schießt oder Franktireurs und selbst Frauen Mordanschläge gegen ihn verüben.’711 Selbstverständlich beschäftigte sich Hochland auch mit der Flamenpolitik. Dabei stellte sich die Zeitschrift ausdrücklich auf die Seite der Aktivisten und der Genter Gruppe um die Zeitschrift Vlaamsche Post (1915-1916). Aufbauend auf den Schriften Leo Picards und Stijn Streuvels, dessen Kriegstagebuch immer wieder hinzugezogen wurde, erkannte man für die vom belgischen Staat unterdrückten Flamen nur zwei Möglichkeiten: Zu schweigen und abzuwarten, bis die Deutschen das Land wieder verlassen hätten, oder mit Hilfe der Deutschen weiterzukämpfen. In Anbetracht dessen, daß die belgische Regierung ‘wohl nie als neutral zurückkehren’712 würde, blieb laut Hochland nur der letzte Weg. Angst vor der deutschen Übermacht, vor der u.a. Streuvels gewarnt hatte, brauche man dabei nicht zu haben. Deutschlands Aufgabe sei es schließlich, andere Nationen zu schützen, und dies gelte natürlich auch für die belgische Selbständigkeit: Man wolle Belgien nicht annektieren, sondern werde sich damit ‘begnügen’713, das Selbstwertgefühl der Flamen zu stärken, ohne daran zu denken, ‘vier Millionen Fremde’714 zu assimilieren. Wenn überhaupt, wolle man den Flamen nur militärische und vielleicht auch wirtschaftliche Verpflichtungen auferlegen. Dies entsprach laut Hochland durchaus dem Programm der Gruppe Jungflamen um den Führer der antibelgischen Aktivisten Jan Domela Nieuwenhuis Nyegaard. Schließlich wünschten auch sie einen engeren Anschluß an Deutschland und teilten nicht die Bedenken von Stijn Streuvels, daß die Flamen, wenn die deutsche Kultur sie überfluten würde, im | |||||||||||||||||||||||||||||||
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‘großen Strom’715 mitgeschleppt und ihre Selbständigkeit verlieren würden. Daß nicht jeder in Flandern die Loslösung Flanderns aus dem belgischen Staat für wünschenswert hielt, daß es also belgisch fühlende Flamen gab, wurde in Hochland zwar nicht bestritten, und man war durchaus auch bereit, ein gewisses Verständnis dafür aufzubringen, aber unterstützt wurden nur die jungflämischen Bestrebungen, die auf die Gründung eines selbständigen flämischen Staates abzielten.716 Die religiöse Orientierung von Hochland machte es selbstverständlich, daß während des Ersten Weltkrieges besonders die Haltung des belgischen Kardinals Désiré Mercier kritisch beleuchtet wurde, dessen Herz ‘warm’717 für die Französierung Belgiens schlage und der in seinem Hirtenbrief von Weihnachten 1914 mit ‘wallonische[m] Rednergeist’718, anstatt Trost zu spenden und Mut zu machen, die deutsche Invasion von vornherein verurteilt und so ‘den Durst nach “Revanche”, den Rausch des Ruhmes, das Hochgefühl des Stolzes’719 angefacht habe. Bei aller Hochachtung für die Werke Merciers wurde im religiösen und philosophischen Bereich ausdrücklich bedauert, daß der belgische Kardinal trotz der entgegenkommenden Haltung der deutschen Besatzung während des Krieges nicht nachließ, in der Kriegsschuldfrage, einschließlich der Diskussion um den belgischen Volkskrieg gegen Deutschland und bezüglich der von den Aktivisten mit deutscher Hilfe angestrebten Verwaltungstrennung und der Schaffung einer niederländischsprachigen Universität, gegen Deutschland Stellung zu nehmen. Die ‘patriotisch[e]’720 Haltung, die Fritz Schlawe Hochland wohl nicht zuletzt aufgrund eben genannter Beiträge bescheinigte, bestimmte während des Ersten Weltkrieges natürlich auch die Perspektive der Zeitschrift auf die niederländische Literatur. So wurde die Besprechung von René de Clercqs Nothorn dazu genutzt, um zur Flamenpolitik Stellung zu nehmen. De Clercq wurde als ‘Prophet [...] seines Volkes’721 herausge- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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stellt, weil er erkannt habe, daß der ‘Wirbel der Zeitgeschehnisse’722 Flandern einen ‘näheren Anschluß, oder wenigstens die Anlehnung an das große und mächtige Brudervolk der Deutschen’723 befehle, und das war nach Auffassung von Hochland der einzige Weg, die ‘Verwelschungsgefahr’724, die bei einem eventuellen Sieg Frankreichs die ‘letzte, vielleicht entscheidende Stärkung’725 erhalten könnte, von Flandern abzuwenden. Ein breites Engagement für die Literatur aus Flandern, wie es wegen der patriotischen, antifranzösischen und antibelgischen Einstellung der Zeitschrift vielleicht zu erwarten gewesen wäre, stellte sich allerdings nicht ein. Erst im Jahrgang 1918/1919 erschien eine ausführlichere Besprechung mehrerer Übersetzungen aus dem Niederländischen. Interessanterweise distanzierte man sich hierin ausdrücklich von der ‘Aktualitätssucht’726, die den Erfolg Consciences während des Krieges zu einem wesentlichen Teil bestimmt hatte, empfand man das im ‘Kriegstaumel’727 geschriebene Nachwort von Jacob van Artevelde aus dem Jahr 1917 als ‘schmerzlich’728 und präsentierte man den bekannten flämischen Autor Conscience nunmehr als einen wertvollen ‘Volksschriftsteller [...] auch für solche Leser, die es nicht gelernt haben, ihn und sein Werk im Rahmen der nationalen Aspirationen zu sehen, denen er dient’729. Gleichzeitig empfahl Hochland neben dem Novellenbuch von G. Goyert und der Auswahl Flämische Liederdichtung alter und neuer Zeit von H. Brühl die von R.A. Schröder öbertragenen Gedichte des ‘namhaftesten unter den neuzeitlichen flämischen Poeten’730 Guido Gezelle. Lange hielt dieser Gesinnungswandel aber nicht an. Ab Mitte der zwanziger Jahre flackerte die Diskussion um die deutsch-belgischen Beziehungen in Hochland wieder auf. Man war nun zwar bereit, einiges einzugestehen. So wurde betont, daß Kardinal Mercier während des Krieges zu Unrecht als Erzfeind betrachtet worden war, um Verständnis für seine Haltung geworben, ein Großteil der Schuld am Ersten Weltkrieg anerkannt und die Verletzung der belgischen Neutralität als unrechtmäßig dargestellt. Zugleich stellte man jedoch klar, daß dieser Sachverhalt England und Frankreich noch lange nicht das Recht gebe, Anklage gegen Deutschland zu erheben - gerade sie hätten doch dadurch, daß sie ihrer- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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seits auch einen Einmarsch in Belgien in Erwägung gezogen hatten, ‘jedes Recht [...], als Ankläger Deutschlands aufzutreten’731, verwirkt. Ferner wurde kritisiert, daß man vergaß, daß die deutsch-belgischen Beziehungen durch die belgische Unterdrückung der Untersuchung des ‘Franktireur-Krieges’ und durch die Behinderung der Volksbefragung in Sachen Eupen-Malmedy nach wie vor schwer belastet waren.732 Bei allen Eingeständnissen blieb also der Versailler Frieden auch in Hochland ein ‘falsche[r] Frieden’733. In den zwanziger Jahren wurde Hochland darüber hinaus ein Medium für flämische Nationalisten. Diese vertraten anders als Marcel Romeo Breyne (1890-1972), der sich 1923 in seinem Aufsatz über Cyriel Verschaeve noch weitgehend darauf beschränkt hatte, die Bedeutung dieses in den zwanziger Jahren zunehmend antibelgischen Führers der flämischen Bewegung als Lyriker, Kritiker und Dramatiker herauszustellen, wieder ausdrücklich antibelgische Positionen.734 So betonte der Chefredakteur der flämisch nationalen Zeitschrift Jong Dietschland (1927-1933), Victor Leemans, daß es ‘keine belgische Seele’735 gebe und daß es sie nie gegeben habe. Damit widersprach er erneut der These vom ‘sogenannten belgischen Charakter der Revolution von 1830’736 und legte zum soundsovielten Male dar, daß die Revolution vor allem auf die Ressentiments der Wallonen, die Hetze Frankreichs und die Tatsache, daß Frankreich sich nicht mit der tatsächlichen Existenz Belgiens als Bollwerk gegen Frankreich abfinden könne, zurückzuführen sei. Kennzeichnend für die Ausführungen Leemans' war auch, daß er wie R.P. Oszwald die deutsche Flamenpolitik als Politik zur Förderung und Sicherstellung der ‘freie[n] Entwicklung des flämischen Stammes’737 verteidigte und daß er als Solidarist die flämische Bewegung als eine | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Bewegung präsentierte, die versuchte, die öffentlich-rechtliche Organisation ‘den Wesensgesetzen des Volkes’738 anzupassen.739 Die Spannungen der flämischen Bewegung mit dem belgischen Staat und den ‘flämischen Belgizisten’740, so führte er aus, seien darin begründet, daß die ‘Neuordnung des politischen Lebens in Nordwesteuropa [...] auf ein viel ausgedehnteres staatspolitisches Objekt’741 abziele. Leemans distanzierte sich dabei jedoch ausdrücklich vom Faschismus. Immer wieder führte er seinen Lesern vor Augen, daß die national eingestellten Flamen versuchten, ‘für deneuropäischen Westen ein neues politisches Ordnungsprinzip auf volkischer [sic] Grundlage zu schaffen’742, wobei er zugleich betonte, daß sich der flämische Freiheitskampf als eine korporative Bewegung entfalten solle und sich nicht ‘auf den Boden einer bestimmten Staatsauffassung’743, auch nicht auf den des Faschismus, stellen dürfe. Außer antibelgischen und solidaristischen setzte V. Leemans schließlich, und dies war wohl auch der Hauptgrund, warum seine Beiträge in Hochland aufgenommen wurden, bezüglich der deutsch-belgischen bzw. der deutsch-flämischen Beziehungen auch noch katholische Akzente. Nach Leemans mußte der flämische Befreiungskampf nämlich im Zusammenhang mit seiner ‘Sendung für Kirche und Abendland’744 gesehen werden. Letztendlich habe die Überzeugung der katholischen Obrigkeit, daß die flämische Frage im Rahmen des belgischen Staates gelöst werden müsse, sowie die Rücksicht, die auf die katholische Staatspartei genommen werde, ‘dem katholischen Leben schweren Schaden zugefügt’745 und verhindert, daß sich das Arbeitsfeld der Katholiken zu einem Terrain entwickeln konnte, in dem jeder Katholik, ‘der der Kirche seinen guten Willen entgegenbringt, ganz gleich, welcher politischen Partei er angehört’746, tätig werden könne. Ausdrücklich bedauerte Leemans deshalb, | |||||||||||||||||||||||||||||||
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daß der Aktivismus von führenden Katholiken wie Kardinal Mercier verurteilt worden sei und brachte die Hoffnung zum Ausdruck, daß die Gegensätze zwischen den katholischen Autoritätspersonen und den ‘idealistischen jungflämischen Katholiken’747 verschwinden würden. In den dreißiger Jahren kam Leemans in Hochland noch einmal auf das Thema der Sendung der flämischen Bewegung für Kirche und Vaterland zurück und bedauerte nun, daß das ehemals katholische Belgien seit dem Ende des Ersten Weltkrieges von einem Glaubensabfall gekennzeichnet sei und daß die Jugend in Flandern den ‘religiösen Urgrund’748 vergessen habe und ‘folgerichtig in politischen Totalitarismus’749 verfallen sei. Die von katholischen Politikern befürwortete ‘Katholische Aktion’750 habe, wie Leemans darlegte, offensichtlich ihr Ziel verfehlt und die ‘Erneuerung des Politikers’751 gefördert, anstatt unabhängig von der politischen Orientierung ihrer Zielgruppe, die ‘Liebeshaltung, aus der heraus allein eine neue Menschenwelt aufgebaut werden kann’752, zu stimulieren.753 An dieser Stelle führte Leemans die Literatur als Beispiel an und legte dar, daß man auch in der neueren Literatur in Flandern ein Mangel an Interesse für die ‘eigentliche [...] Problematik des Lebens’754 beobachten könne. Dies gelte anders als bei ‘‘lteren’ Autoren wie Julius Persijn (1878-1933), Cyriel Verschaeve, Guido Gezelle, Stijn Streuvels, Wies Moens und Paul van Ostaijen sowohl für das Werk von Gerard Walschap als auch für das von August van Cauwelaert, Raymond Brulez (1895-1972), Filip de Pillecyn und Lode Zielens (1901-1944). Ihr Werk bleibe allzu ‘individualistisch’755 und sei vielfach nichts mehr als Naturalismus ‘mit psychoanalytischer Einkleidung’756. Neben der ‘Menschlichkeit Dostojewskijs’757, der ‘epische[n] Kraft Sigrid Undsets’758 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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und der ‘Bodenständigkeit eines Stijn Streuvels’759 vermißte Leemans bei den eben erwähnten Autoren vor allem, daß sie nicht zum ‘Metaphysischen’760 durchstießen. Hiermit sprach Leemans dem Hochland-Herausgeber Karl Muth aus dem Herzen. Denn gerade Muth, der Hochland als ‘Sammelbecken positiv-christlicher, katholischer Geistesströmungen’761 betrachtete, war von der ‘Idee der untrennbaren Verbundenheit von Dichtung und Religion’762 überzeugt und hat in seiner Zeitschrift immer einen katholischen Geist in der Literatur gefordert, der weder von konfessioneller Voreingenommenheit noch vom eingeengten Blickfeld irgendeines anderen Parteistandpunktes bestimmt wurde.763 Dabei sollte Hochland zum Entstehen einer Literatur beitragen, ‘die sich die objektive Welt der christlichen Offenbarungslehre und den Inhalt des christlichen Glaubenslebens zum Maßstab’764 nehme und die nicht, wie z.B. Der Gral, eine romantisch-christliche Lebensstimmung verbreite oder sich gar zur Aufgabe mache, ‘nur einen christlichen Moralismus künstlerisch zu verbrämen’765. In diesem Sinne wurde 1921 in Hochland das Werk des englisch schreibenden und im deutschen Sprachraum sehr erfolgreichen Niederländers Maarten Maartens (1858-1913?) ausführlich auf religiöse Aspekte hin untersucht und stand beim Nachruf auf Frederik van Eeden sein ‘religiöse[r] und sittliche[r] Standpunkt’766 im Mittelpunkt.767 Für den Ver- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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fasser des Nachrufes auf Van Eeden in Hochland war der große niederländische Achtziger weder ‘der größte moderne niederländische Dichter’768 noch ein ‘Denker erster Ordnung’769, noch ein ‘Meister des Romans’770 oder geborener Dramatiker, sondern lag seine Bedeutung im lyrischen Gedicht und darin, daß er als ‘Prophetennatur’771, als ‘Fremdling’772 inmitten seiner Generation das l'art-pour-l'art-Prinzip verdammt, den Kampf gegen den individualistischen, materialistischen und naturalistischen Wahn seines Jahrhunderts aufgenommen hatte und seiner ‘sittliche[n] Berufung’773 gefolgt war. Van Eeden habe ‘moderner als fast alle modernen’774, schrieb L. Feber, Ethik und Ästhetik ‘nach dem Beispiel der lebendigen Wirklichkeit zu einer Zweieinigkeit zu verschmelzen’775 versucht.776 Natürlich blieb nicht aus, daß das grundsätzliche Interesse von Hochland für die Heimatliteratur und insbesondere für die politischen Entwicklungen in Flandern die Aufmerksamkeit der Zeitschrift auf Dauer doch fast ausschließlich auf die Literatur aus Flandern richtete. Die Solidarität mit der flämischen Bewegung und der Vorzug für Heimatliteratur waren aber nicht die einzigen Motive für das Interesse für die | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Literatur aus Flandern. So zeigt der Beitrag von Georg Schäfer über Felix Timmermans aus dem Jahr 1927, daß die Literatur aus Flandern auch deshalb geschätzt wurde, weil sie religiös orientiert war. In diesem Sinne kontrastierte Schäfer das Werk der flämischen ‘Sänger der Urzeit’777 mit dem ‘überhitzter Kaffeehausbesucher, die mit ihren Gedanken und Wünschen sich immer im Kreise drehen’778, stellte er es also der westlichen, von der Großstadt abhängigen, rein ästhetisch orientierten Literatur und der dem kunstliebenden, aber ungelehrten Menschen als ‘Surrogat’779 angebotenen ‘Belletristik übelster Sorte’780 gegenüber. Zugleich betonte Schäfer, daß Timmermans wie kaum ein anderer die ‘Sterilität’781 so mancher christlicher Kunst überwunden und mit ‘einer erstaunlichen Kraft’782 das Irdische und das Übersinnliche miteinander verbunden habe. Bester Beleg hierfür sei, so Schäfer, Das Jesuskind in Flandern, in dem Timmermans ‘das Alte neu gewandet’783 habe und Neues, Lebendiges daraus habe entstehen lassen. Schließlich betonte Schäfer, und dies hätte auch der Hochland-Herausgeber K. Muth schreiben können, daß sich die Schönheit nicht ‘in gegebenen Formeln’784 finde, daß es bei der christlichen Dichtung nicht so sehr auf die christlichen Stoffe ankomme, sondern daß es vielmehr von Bedeutung sei, das Leben vom religiösen Standpunkt aus neu zu durchdringen. Dies war Timmermans nach Schäfer gelungen, und deshalb bezeichnet er ihn auch als ‘große[n] Künstler durch die Gnade Gottes’785. Da von Anfang an die Kritik an Großstadtmentalität und individualistischem Ästhetizismus auf der einen und das ‘Streben nach Gemeinschaft mit dem Volke’786, also die Forderung nach Heimatkunst auf der anderen Seite, zum Programm von K. Muth und seinem Hochland gehörten, lag es auf der Hand, daß in der Zeitschrift solche Ansätze länger als im Gral Würdigung fanden. Trotzdem hielten sich wie bei G.K. Schauer im Beitrag von G. Schäfer Anti-Ästhetizismus und Heimatverbundenheit auf der einen und Befürwortung der religiösen Orientierung | |||||||||||||||||||||||||||||||
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auf der anderen Seite in erstaunlicher Weise die Waage und verloren in den anderen. Beiträgen zur niederländischen Literatur in Hochland Begriffe wie Heimatverbundenheit und Anti-Ästhetizismus relativ schnell an Gewicht. Die Mitarbeiter von Hochland waren also nicht bereit, sich den nationalsozialistischen Idealen unterzuordnen. Wie es K. Muth in seinem ‘Programm’ im ersten Jahrgang formuliert hatte, wollte man zwar modern sein und die Aktualität mit dem Zeitgeist ‘durchdringen’, aber nicht um jeden Preis.787 Kern des Hochland-Programms blieb auch in den dreißiger Jahren die christliche Geisteshaltung. In diesem Sinne kritisierte Ernst Alker in seinem Essay Ernte aus Blut und Boden, mit dem er Hochland ‘zeitweise ernstlich in Gefahr’788 brachte, die von den Nationalsozialisten geförderte ‘Konfektionsliterarur’789 der ‘Warenmarke “Blubo”’790. Er legte dar, daß den reichsdeutschen Autoren, anders als ausländischen Autoren wie Streuvels, der ‘nicht hinreichend’791 gewürdigt werde, Tirnmermans, dessen Pallieter eine ‘notwendige Ergänzung’792 zu Streuvels' Werk bilde, und Walschap, | |||||||||||||||||||||||||||||||
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der dem flandrischen Bauernroman ‘moderne [...] Haltung’793 verleihe, die ‘selbstverständliche Grundhaltung’794 fehle, die die Entstehung der Dichtung ‘aus Blut und Boden, die wir erhoffen (deren Entstehung wir allerdings für nicht sehr wahrscheinlich halten)’795, ermöglichen könnte.796 Wie diese Grundhaltung aussehen könnte, führte Alker an Hand des Beispieles Walschap aus. Er schrieb, daß Walschap zwar nicht über ‘Streuvels' magische Synthese von Mensch und Landschaft’797 verfüge, er aber das Werk von Streuvels ‘innerlich’798 um das Hamsun-Motiv von Segen der Erde ergänze und wie kaum ein anderer Autor die erwünschte Verbindung von ‘illusionslose[r] Wirklichkeitskunst und unumwundene[m] Bekenntnis zu katholischen Ordnungen’799 realisiere.800 In diesem Sinne stehe Walschaps Werk ‘voll dunkler Schatten, menschlicher Gebrechen und untermenschlicher Leidenschaften’801 über dem Werk von Timmermans, in dem Flandern nur als ‘eine glaubensstarke Insel der Seligen in einem verdüsterten Europa’802 dargestellt werde und die katholische Ethik lediglich ‘unverrückt’803 bleibe, und konnte Alker seinen Aufsatz mit der bemerkenswerten, bereits zitierten und für Hochland bezeichnenden Feststellung beschließen: ‘[...] es gibt gegenwärtig nur sehr wenige Dichter, welche von innen heraus, getragen von künstlerischer und menschlicher Notwendigkeit, die Forderung nach einer Kunst aus Blut und Boden und - das sei ausgesprochen - aus klarster religiöser Überzeugung so erfüllen wie Walschap [...] Sein Ziel ist kein Übermensch, sondern ein gehobener Mensch, seine Sehnsucht und sein Glaube mehr als irdische Beglückung und leidlose Gesundheit.’804 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Soweit aus den verschiedenen Beiträgen zur niederländischen Literatur in Hochland ersichtlich wurde, blieb die Zeitschrift auch nach den riskanten Beiträgen von Alker bei ihrem Standpunkt. Vage Darstellungen wie die Weihnachtsbücherschau von 1933/1934, in der bezüglich der niederländischen Literatur von Büchern wie ‘Wolken mit Sternen, Blitzen, Engeln und dem Auge Gottes darin’805 die Rede war, blieben die Ausnahme. Zumeist wurde eine eindeutige Sprache gesprochen. So wurde im Zusammenhang mit Streuvels festgestellt, daß die ‘“Welt” [...] niemals Sache der meßbaren Fülle’806 sei und daß es sich um Werk von einem ‘christlichen Dichter’807 handle. Über Walschaps Begegnung mit Christus konnte man lesen: ‘Walschaps Buch ist ein hohes Beispiel dafür, wie katholische Epik aussehen muß, um voll als Dichtung genommen zu werden’808. Über den Mann der das Gute wollte urteilte man, daß der Roman die Entwicklung eines Menschen zeige, der ‘zu einem Menschtum reift, das als ein Ebenbild Gottes auch ein Abglanz seiner Güte sein soll’809; von Ernest Claes wurde bezeichnenderweise nur Der Pfarrer aus dem Kempenland (1939, ndl. Pastoor Campens zaliger, 1935) besprochen, und bei den Rezensionen vom Werk von Felix Timmermans wurde mehr als bei G. Schäfer die Religiosität in den Mittelpunkt gerückt.810 Im Kontext des Erzählbandes Das Licht in der Lanterne (1926, ndl. Het keerseken in de lanteern, 1924), der, wie gesagt, von Peuckert wegen seiner ‘wohlumfriedeten und biedermeierlichen Phantasiewelt’811 abgelehnt wurde, sprach Adolf Fleckenstein schließlich von einem Humor, ‘wie er dem Christen eigen sein soll: “Bei allen und allem fehlt irgend etwas”’812, und bei der Besprechung von Bauernpsalm hob der gleiche Kritiker hervor: ‘Aus kargem, scheinbar kunstlosem Bericht über Jahr und Tag dieses kümmerlichen Daseins wird das Unveränderliche und Gültige des Menschtums offenbar: der labor improbus auf der justissima tellus, das unruhige Herz und die lex salus animae, die Gnade des Himmels und die gloria dei.’813 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Lediglich bei der Zuordnung vom Werk Antoon Coolens zögerte man ein wenig. Die Hauptperson im Dorf am Fluß bezeichnete A. Fleckenstein als einen ‘frommen Riesen’814, #x2018;“liberal” im schönen Sinne’815, Die drei Brüder jedoch als ein ‘männliche[s] Buch’816 mit einer ‘scheue[n] Gleichgültigkeit’817, die nur noch K. Hamsun gegeben sei. Erst in seiner letzten Besprechung zum Werk von Coolen und zur niederländischen Literatur in Hochland überhaupt schien die Entscheidung gefallen. Nun wurde auch Coolen im Muthschen Sinne als ein christlicher Dichter präsentiert: ‘Hell und Dunkel fließen nach Art der großen Niederländer ineinander, denn Coolen, gütig wie jeder wahre Dichter, weiß, daß das Leben “auf dieser Erde nicht vollkommen ist, aber es ist das Leben auf dieser Erde. Es blüht und trägt Frucht, und man kann ihm gar nicht demütig genug nahen. Es wird nicht allein vom Schicksal bestimmt, das Schicksal gehört dazu wie die Stürme zu den Feldern. Sie zerstören, aber sie vernichten nicht; immer wieder gibt es neue Frucht und neue Ernte. Und so dürfen wir getrost dabei verweilen, die Hände falten und zuversichtlich sagen: So sei es!”’818 Frontalangriffe auf die von den Nationalsozialisten propagierte Blut-und-Boden-Literatur wurden nach 1936 in Hochland in den Beiträgen zur niederländischen Literatur nicht mehr beobachtet. Aber die Forderung nach einer christlichen Grundhaltung in der Literatur blieb ungeschwächt erhalten. Darüber hinaus ging man auch zu gewissen Autoren auf Distanz. Zum Beispiel wurde anders als im Gral in den Beiträgen zur niederländischen Literatur in Hochland die Verleihung des Rembrandtpreises an Verschaeve, De Clercq und Streuvels nicht erwähnt, obwohl gerade diese Autoren, nicht zuletzt auch durch die Beziehungen der Zeitschrift zu den flämischen Nationalisten, natürlich keine Unbekannten waren. Einschränkend muß man allerdings feststellen, daß Hochland sich zwar anders als Der Gral von ‘geistlose[r] Tendenz- und Unterhaltungsliteratur’819 ferngehalten hat, daß aber wirklich differenzierte Kritik, wie sie Ernst Alker bezüglich der deutschsprachigen Kunst aus Blut und Boden geäußert hat, dem Werk von Streuvels, Timmermans, Claes und Coolen in Hochland nicht zuteil geworden ist. Nur bezüglich Walschap wurde eine Ausnahme gemacht. Bei der niederländischen Literatur ging es Hochland in erster Instanz um den Nachweis der christlichen Grundhal- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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tung. In diesem Zusammenhang wurden auch im deutschen Sprachraum weniger bekannte Dichter vorgestellt. Gerard Walschap schrieb 1935 einen Beitrag über August van Cauwelaert und präsentierte ihn als einen der Besten der ‘wiederauflebende[n] flämische[n] Romankunst’820, und 1938 publizierte Heinz Graef einen ausführlichen Beitrag über die neuere flämische Lyrik, in dem neben Graefs Lieblingsdichter Karel van de Woestijne nicht nur die flämischen Expressionisten zur Sprache kamen, sondern in dem bezeichnenderweise der von den Nationalsozialisten geehrte Cyriel Verschaeve eher als ‘Denker erhabener Gedanken’821 denn als großer Lyriker vorgestellt wurde.822 | |||||||||||||||||||||||||||||||
3.4.3 Deutsche RundschauDie angesehene, von Julius Rodenberg gegründete allgemeine Rundschau-Zeitschrift Deutsche Rundschau (1874-1964) hat sich in der untersuchten Periode neben der Politik auch für die Kultur und die Literatur in den Niederlanden und Flandern interessiert. Dabei wurde die Perspektive der Deutschen Rundschau auf den niederländischen Sprachraum von ‘kulturellem Konservatismus’823 bestimmt, der die Zeitschrift bereits während der Herausgeberschaft von Julius Rodenberg kennzeichnete. Nach 1919 wurde sie von Rudolf Pechel einfach fortgesetzt, denn er war ein Befürworter der ‘Konservative[n] Revolution’824, der Bewegung also, die den Ausgang des Ersten Weltkrieges durch ‘“Volkwerdung” aus dem Geiste der Vergangenheit überwinden wollte’825. Die ‘entschieden nationale’826 Haltung, mit der in der Deutschen Rundschau, ähnlich wie in Hochland, nach dem Ersten Weltkrieg die | |||||||||||||||||||||||||||||||
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negativen Folgen des Versailler Vertrages diskutiert wurden und versucht wurde, das deutsche Selbstvertrauen wieder zu stärken, war also tatsächlich sozusagen ‘naturgemäß’.827 Anders als in Hochland stammten die Beiträge zum Themenkomplex deutsch-flämische bzw. deutsch-niederländische Beziehungen aber fast alle aus einer Hand und zwar aus der des Schriftstellers, Journalisten und Übersetzers Franz Fromme. Er nutzte vorzugsweise die Deutsche Rundschau für seine Ausführungen zum unbelgischen Charakter des belgischen Staates, in denen er darlegte, daß Belgien nicht mehr als ein Pufferstaat sei, ‘so wenig belgisch wie die Angelsachsen bretonisch’828. Typisch für die Beiträge von Fromme war, daß er betonte, daß beim ‘zweitausendjährigen’829 Kampf, der auf belgischem Gebiet stattgefunden habe, ‘auf glänzende Waffentaten der Germanen [...] stets um so nachdrücklicher die politischen und kulturellen Dauergewinne der Romanen’830 gefolgt seien und daß er also in dem stets weiter nach Norden verschiebenden belgischen ‘Kampffeld’831 ein langsames, aber kaum aufzuhaltendes Vordringen der romanischen Kultur feststellte. Weiter betonte er immer wieder, daß am Ende die 20jährige französische Herrschaft in Belgien nicht gereicht habe, um mehr als ‘einzelne Überläufer dem Romanentum zu gewinnen’832, sondern daß zur ‘Verwelschung des vlämischen Volkes [...] weitere hundert Jahre, die belgische Revolution und die daranschließende “belgische” Politik’833 notwendig seien.834 Die ‘sogenannte “belgische” Revolution’835 wurde in den Darlegungen Frommes also erneut nicht als eine Revolution von Flamen und Wallonen präsentiert, sondern als eine von den nach Erweiterung ihrer Ostgrenze sehnenden Franzosen ‘veranlaßte Unruhe’836, die nicht die | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Gründung eines selbständigen belgischen Staates, sondern die Annexion des abgelösten Teiles des Vereinigten Königreichs zum Ziel hatte. Dieses Ziel sei zwar nicht vollständig erreicht worden, aber von einem Erfolg könne dennoch gesprochen werden: ‘Vom wichtigsten Kampffelde der Germanen und Romanen wurde der Krieg mit männlichen Waffen, der Krieg der Soldaten und Generäle, verbannt und der Kampf den friedlichen Waffen, den Worten, der Druckerschwärze und den Schaustellungen anheimgegeben. Und in diesem verfügten die Romanen gerade hier über die wichtigsten Waffenarten, während den Germanen, die in dies Staatsgebilde eingesperrt wurden, kaum noch eine einzige in der Hand geblieben war und bis auf den heutigen Tag keine neue in die Hand gegeben wurde.’837 Nach der Revolution sei in Belgien alles französisch geworden, sowohl der Geist der Verfassung als auch die Sprache der Gesetze und des Unterrichts an den Universitäten. Jetzt, wo das belgische Kampffeld ‘wieder in den Bereich der Waffen’838 geraten und ein ‘Sieg der Germanen’839 nicht mehr auszuschließen sei, sei die Wende für das flämische ‘Brudervolk’840 gekommen: Belgien, so Fromme, werde bald am Ende und die Gründung eines Königreichs Flandern nicht mehr länger eine Utopie sein. Schon 1915 konnte man von Fromme in der Deutschen Rundschau eine vernichtende Kritik über das Werk des ‘Deutschenfeind[es]’841 und ‘modernen Meister[s] belgischer Geschichtsschreibung’842 Henri Pirenne lesen, dessen ‘Postulat’843 von der belgischen Seele im Deutschland des Ersten Weltkrieges, wie Fromme natürlich bedauerte, viele Anhänger fand.844 Dem stellte Fromme u.a. die Gedanken des ‘klaren Kopfes’845 Picard entgegen, der Fromme in seiner Überzeugung bestärkte, daß die belgische Regierung nach dem Krieg ‘als Vasall Englands und Frank- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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reichs’846 zurückkehren würde und daß Deutschland Flandern seine Unabhängigkeit lassen, aber zugleich den flämischen Einfluß stärken und ‘eine scharfe Trennung des flämischen und welschen Landes’847 durchführen müßte. Picard, der in Wirklichkeit von einem befreiten Flandern in einem verbesserten belgischen Staat träumte, war Fromme allerdings noch zu gemäßigt.848 Lieber stellte sich der Niederdeutsche radikal auf die Seite des Führers der antibelgischen Aktivistengruppe ‘Jong-Vlaanderen’, J. Domela Nieuwenhuis Nyegaard, und forderte mit ihm den ‘völlige[n] Untergang des belgischen Staates’849. Vehement von Fromme unterstützt wurde in diesem Zusammenhang die Forderung nach einer niederländischsprachigen Universität in Gent. Eine niederländischsprachige - Fromme betonte ‘nicht eine hochdeutsche!’850 - Universität in Gent wäre nämlich eine ‘überlegene Kulturwaffe in der Hand der Vlamen’851 und könnte das Germanentum in Flandern erhalten und widerstandsfähig machen. Durch ihre Gründung könnte das ‘gesellschaftliche Ansehen der vlämischen Sprache’852 steigen, das ‘[N]achäffen’853 der französischen Oberschicht zurückgedrängt, das flämische Volk an Selbstvertrauen gewinnen und der allgemein-niederländische Gedanke gestärkt werden. Als die von-Bissing-Universität in Gent schließlich 1916 gegründet wurde, betonte Fromme selbstverständlich noch einmal die Richtigkeit dieser Entscheidung: Endlich sei das Deutsche Reich nicht nur auf eine alte Forderung ‘vorurteilsloser Führer unter den Vlamen’854, die erkannt hätten, ‘daß nur durch eine Umwälzung der bisherigen Erziehungs- und Schulverhältnisse ihrem Volk - und damit dem Germanentum - das verlorene Gebiet zurückgewonnen werden könnte’855, eingegangen, | |||||||||||||||||||||||||||||||
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sondern hätte es auch etwas Konkretes gegen die ‘Durchtränkung Belgiens mit französischer Sprache und französischer Kultur’856 unternommen. Fromme sprach in der Deutschen Rundschau also seine Sympathien für die flämischen Aktivisten und ihre Forderungen offen aus. Dabei stellte er in seinen verschiedenen Beiträgen aber auch immer wieder klar, daß er keine Annexion Flanderns wünsche. Fromme betrachtete die Flamen als ‘Fremde’857. Der einzige Staat, der nach Fromme Flandern einverleiben könne, ‘ohne in den Einverleibten hartnäckige Widersacher zu finden’858, sei Holland. Auch wenn von ‘Jong-Vlaanderen’ zumindest vorübergehend ein militärischer Anschluß des zu gründenden Königreichs Flandern gefordert wurde und Fromme sich später selbst auch einen Zollanschluß vorstellen konnte, plädierte er nie für eine Annexion Flanderns, nicht zuletzt weil dann wiederum zentralistisch, und das bedeutete für Fromme ungermanisch, regiert werden würde. Flandern müsse flämisch bleiben.859 Franz Fromme stellte sich schließlich auch immer wieder die Frage, ob eine Stärkung des flämischen Germanentums ‘in seiner Eigenart’860 am Ende nicht zu einer Bedrohung für das Deutsche Reich werden könnte. Dabei mußte er trotz seiner Überzeugung von der Existenz eines ‘gemeingermanische[n] Bewußtsein[s]’861 in Flandern und der Vermutung, daß dort ein Bewußtsein dafür bestehe, daß nicht die Deutschen, sondern die Franzosen das Wort Neutralität ‘nicht so ernst und gründlich in seiner innersten Bedeutung [nähmen]’862, zugeben, was viele Deutsche während des Krieges selbst erfahren hatten, nämlich daß sich der Flame im all- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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gemeinen dem Deutschen nicht zu öffnen pflege, ‘außer einem solchen, den er persönlich schon lange kennt’863. Es war also auch für ihn denkbar, daß so mancher Flame, ‘von germanischer Anhänglichkeit an seinen Fürsten und an seine alte Regierung erfüllt’864, die dargebotene Hand zurückstoßen würde. Dieses sollte man, so betonte er aber immer wieder, der flämischen Bewegung jedoch nicht zum Verhängnis werden lassen. Deutsche und Flamen sollten nicht den gleichen Fehler begehen wie die deutschsprachigen Belgier, die sich mit den Flamen gegenseitig daran gehindert hätten, das durchzusetzen, ‘was der germanischen Kultur zugute gekommen wäre’865. Einerseits könne man - nach Fromme - davon ausgehen, daß sich ein großer Teil des Problems durch die neu zu gründende und später tatsächlich auch gegründete niederländischsprachige Universität lösen würde: ‘[...] wenn eine wirklich vlämische Universität zustande kommt, [darf man] damit rechnen, daß die uns günstige Stimmung unter den Vlamen zunehmen und daß dies auch auf die übrigen Niederländer nicht ohne Eindruck bleiben wird.’866Andererseits müsse man bedenken, daß durch die Unterstützung der flämischen Bewegung die innere Kraft des Deutschen Reiches, die nach Fromme aus der ‘Mannigfaltigkeit seiner Volksstämme’867 resultiere, wegen des daraus enstehenden ‘Wetteifer[s] und der gegenseitigen Befruchtung’868 nur verstärkt werden könne.869 Fromme drückte damit | |||||||||||||||||||||||||||||||
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seine Hoffnung aus, daß Deutschland im Rahmen der Flamenpolitik gegenüber Flandern eine andere als die bislang gegenüber Niederdeutschland eingenommene Haltung vertreten würde. Wie er in seinem ausführlichen, dreiteiligen Aufsatz Niederdeutsche und Niederländer870 darlegte, bedeutete dies: Man sollte die kulturelle Entwicklung der einzelnen Volksstämme unterstützen, anstatt sie durch neuzeitliche Gleichmacherei, Zentralismus und verkehrte Angst vor Partikularismus einzuengen. Frommes Plädoyer für Flandern und die niederländische Spache und Kultur war zugleich, und hier zeigte sich der Kern seines Engagements für Flandern, immer ein Plädoyer für Niederdeutschland, seine Sprache und seine Kultur. Fromme bedauerte dann auch, daß gerade die Niederdeutschen bei dem für die deutsch-flämischen Beziehungen so wichtigen Ereignis der Verniederländischung der Genter Universität nicht echt beteiligt waren und daß stattdessen die Macht in der Hand von ‘Ober- und Hochdeutschen’871 geblieben war, ‘die von Hause sehr wenig Kenntnisse dazu mitbrachten’872. Deshalb richtete er einen Appell an die deutsche Verwaltung, es zu ermöglichen, die niederdeutschen Organisationen auszubauen, ‘bewußte, politisch geschulte Niederdeutsche’873 zu ihren Diensten heranzuziehen, und hoffte er auf eine Wiederherstellung der Verbindung zwischen Niederdeutschland und Flandern, die durch die Schuld des belgischen Nationalstaates, nämlich die Grenzregelung von 1839, eigentlich zur ‘Sackgasse’874 geworden war. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Die niederdeutschen Akzente, die Fromme in seinen Beiträgen zu den deutsch-vlämischen bzw. deutsch-niederländischen Beziehungen setzte, verloren in der Deutschen Rundschau nach dem Ersten Weltkrieg bald an Bedeutung.875 Was blieb, war die von Fromme eingeleitete Verteidigung des ‘Völkerrechtsbruch[s]’876 in Belgien als ‘Notlage’877. Ende 1918 schrieb diesbezüglich die Deutsche Rundschau: ‘Nach dem Ausbruch des russischen Krieges und nach der Neutralitätsverweigerung Frankreichs und Englands besaß Deutschland vom Standpunkt der Notwehr aus ein volles moralisches Recht zum Durchbruch durch Belgien’878 Auch der General der Infanterie von Zwehl, der in der Deutschen Rundschau von Belgien als einem ‘staatlichen Kunstprodukt’879 sprach, betonte in seinen ausführlichen, zweiteiligen Erinnerungen aus dem Weltkrieg: ‘Wer heute noch glaubt, daß wir anders hätten handeln können, als uns der Krieg durch die Entente aufgezwungen war, ist unbelehrbar.’880 Kritik am Versailler Vertrag äußerten in der Deutschen Rundschau darüber hinaus Werner Wirths und der Übersetzer von R. de Clercqs Noodhoorn W. von Unger. Während Wirths sich Anfang der dreißiger Jahre für die ‘abgetrennten’881 Staatsbürger deutscher und Malmedyer Muttersprache einsetzte, wies von Unger in den frühen zwanziger Jahren, wie bereits Fromme vor ihm, auf die Bedeutung wirtschaftlicher und kultureller Kontakte zwischen Flandern und Deutschland hin und hob hervor, daß Frankreich die Bestimmungen des Versailler Vertrages mißbrauche, indem es Belgien an seine Belange kette und Flandern gegen die nordniederländischen Brüder ausspiele.882 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Auch nach dem Ersten Weltkrieg blieb entsprechend der traditionell antifranzösischen Haltung der Zeitschrift, insbesondere was die deutschbelgischen Beziehungen anbelangte, Frankreich also der Hauptfeind Deutschlands und warnte man vor der welschen Bedrohung: ‘Da Belgien sich kulturell, politisch und militärisch vollkommen Frankreich ausgeliefert hat, entsteht somit hier dicht vor den Toren Deutschlands ein neues französisches Industriegebiet, an dessen Entwicklung die französisch-belgische Rüstungsindustrie großen Anteil hat.’883 Wohl wegen der Neutralität der Niederlande während des Ersten Weltkrieges gab es während des Ersten Weltkrieges und in den zwanziger Jahren in der Deutschen Rundschau trotz der frühen Wiederaufnahme der deutsch-niederländischen Beziehungen vergleichsweise wenig Beiträge über das kulturelle und politische Geschehen in diesem Lande. Aber in diesen wenigen Beiträgen wurde deutlich versucht, das herrschende deutsche Bild von den Niederlanden und den Niederländern zu differenzieren. Im wesentlichen wurden dabei drei Akzente gesetzt: erstens wurde die Rolle des Hauses von Oranien für die ‘tiefere [...] und breitere [...] Auffassung von Staat und Freiheit’884 in den Niederlanden hervorgehoben, zweitens wurde für eine Stärkung der ‘freisinnig-soziale[n] Richtung’885 plädiert, und schließlich wurde die Bedeutung der internationalen Beziehungen für die Niederlande herausgestellt, wobei versucht wurde, die weit verbreitete Auffassung zu widerlegen, daß die Niederlande durch die Ausschaltung Deutschlands verstärkt am englisch-französischen Gegensatz interessiert seien oder, im Gegenteil, gerade Anschluß an Deutschland suchten.886 Stattdessen wurde darauf hingewiesen, daß die Niederlande nach wie vor bestrebt seien, eine selbständige Außen- und international orientierte Wirtschaftspolitik zu führen.887 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Mitte der zwanziger Jahre rückte dennoch in der Deutschen Rundschau die großniederländische Bewegung ins Blickfeld des Interesses. Karel Eduard Oudendijk, Mitglied des Vorstandes des 1895 errichteten ‘Algemeen Nederlands Verbond’, betonte zu Anfang nur, daß das Ziel der großniederländischen Bewegung die ‘höhere [...] Einheit’888 der Nordniederländer und der Flamen in Belgien und im Norden Frankreichs sowie der ‘Dietsch-sprechenden’889 Südafrikaner sei, wobei er zugleich die Auffassung zu korrigieren versuchte, daß die großniederländische Bewegung andere als kulturelle Ziele habe. Durch die antibelgische Gesinnung, die auch nach 1925 in der Deutschen Rundschau verbreitet wurde - ‘Der Zweck dieses Staates [= Belgiens, HVU] ist es [...], die wallonischen und vlämischen Gebiete zuerst kulturell, dann auch politisch der französischen Macht dienstbar zu machen’890 -, und durch das Aufkommen der völkischen Ideologie erhielt das Interesse für die großniederländische Bewegung in der Deutschen Rundschau aber bald politische Züge. Als acht Jahre nach dem Beitrag von Oudendijk das Thema ‘Großniederland’ in der Deutschen Rundschau von R.P. Oszwald aufgegriffen wurde, hatte der Inhalt seines Aufsatzes anläßlich der Gedenkfeier des vierhundertjährigen Geburtstages Wilhelm von Oraniens kaum noch etwas mit dem seines Vorgängers gemeinsam. Während Oudendijk an erster Stelle das gegenseitige Verständnis und die gegenseitige ‘Achtung und Würdigung’891 zu fördern versucht hatte, betrachtete Oszwald, obwohl er früher kulturelle und wirtschaftliche Gesichtspunkte in den Mittelpunkt gestellt und darauf hingewiesen hatte, daß die niederländische ‘Ängstlichkeit’892 vor einem deutschen Übergriff unbegründet sei, weil die Stimmen in Deutschland, die ‘Holland zu dem “eigentlich” deutschen Gebiet’893 rechnen wollten, gar nicht zahlreich seien, die deutsch-niederländischen Beziehungen nun vorrangig aus völkischer und antibelgischer Perspektive: | |||||||||||||||||||||||||||||||
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‘Wie bei uns in Deutschland durch den Weltkrieg und vor allem durch die Not der Nachkriegszeit die Auffassung immer tiefer und weiter geworden ist, daß das Volk naturgeworden und von Ewigkeitswert ist, während der Staat die geschaffene, veränderliche und dem wechselvollen geschichtlichen Ablauf unterworfene Form für den naturgewordenen, sich aus Urquellen des Lebens immer neu gebärenden volkischen [sic] Inhalt darstellt, so zeigen die diesjährigen Gedenkfeiern für Wilhelm von Oranien, daß auch in dem gesamten niederländischen Volke jene Auffassung zwar noch nicht Allgemeingut geworden, aber doch in weiten Kreisen durchgedrungen ist. [...] Die holländische Geschichtsschreibung stand bis in die jüngste Zeit hinein ganz unter einem auf die gegenwärtigen staatlichen Grenzen beschränkten Blickpunkt und sah in der Trennung der beiden Niederlande im 16. Jahrhundert, zum Teil in unmittelbarer Nachfolge von Pirenne, eine geschichtliche Notwendigkeit, welche [zu Unrecht, wie Oszwald darlegt, HVU] vor allem auf einem Unterschied der beiden Teile in Abstammung, Geschichte und Religion beruhen sollte.’894 Die Konsequenz, die er schließlich aus der Feststellung zog, daß die deutsch-niederländisch-flämische Kulturgemeinschaft an ‘keine politischen Grenzen gebunden’895 sei, nämlich die Notwendigkeit, den niederländischen Sprachraum ‘von Fesseln einer Geschichtsperiode, die früher einmal Großes geleistet hat, die heute aber im Absterben begriffen ist, [zu befreien,] um einer neuen Ordnung und einer neuen seelischen Ausrichtung und Haltung Platz zu machen’896, wurde aber nicht mehr in der Deutschen Rundschau publiziert. Die Zeitschrift, die, wie Schlawe hervorhob, aus ihrer ‘Ablehnung des Nazismus’897 nie einen Hehl gemacht hat, hat ihm dazu nicht mehr die Gelegenheit geboten. Stattdessen wurden nach 1933 alle Kontakte mit flämischen Nationalisten sowie deutschen und niederländischen Großniederlandisten abgebrochen.898 Bei der großen Aufmerksamkeit, die die Deutsche Rundschau im Zeitraum 1914 bis 1933 den Geschehnissen in Flandern geschenkt hat, war es erstaunlich, daß die Zeitschrift, deren literaturbezogene Beiträge von F. Schlawe als ‘verhältnismäßig beachtlich’899 eingestuft wurden, der Literatur aus den Niederlanden und Flandern vergleichsweise wenig Interesse entgegengebracht hat. Obwohl F. Fromme schon 1917 bei einer Besprechung einiger deutscher Schriften über die Zukunft Belgiens darauf hingewiesen hatte, daß durch den Krieg die ‘Schleusen der vlämischen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Literatur’900 nach Deutschland geöffnet wurden, kamen Werke niederländischsprachiger Schriftsteller in der Zeitschrift so gut wie gar nicht zur Sprache. Das politische Geschehen in Belgien blieb Hauptaugenmerk der Zeitschrift. Auch Fromme beschränkte sich in seinen Beiträgen für die ‘Literarische Rundschau’ während des Ersten Weltkrieges auf die Rezension von Kampfschriften, in denen für die Unabhängigkeit Flanderns plädiert wurde, und erwähnte die meisten beim Insel Verlag erschienenen Bücher niederländischsprachiger Autoren nur in einer Fußnote.901 Ausführlicher besprochen wurde, wie zu seiner Zeit in Hochland, lediglich R. de Clercqs Nothorn, ein Werk, das auch Fromme die Gelegenheit bot, die belgische Politik zu verurteilen und darauf hinzuweisen, daß sich die Flamen, insbesondere der Autor De Clercq als ihr ‘unverfälscht germanisch[er]’902 Vertreter, nach einem Nationalstaat sehnten, der ihre Rechte respektierte.903 Auch in den zwanziger Jahren erschienen nur zwei Beiträge zur niederländischen Literatur in der Deutschen Rundschau. Dabei spielten interessanterweise, anders als während des Ersten Weltkrieges, die so oft diskutierte problematische Lage der Flamen und ihre Schwierigkeiten, sich im französisch gesinnten Belgien zu behaupten, keine Rolle. Stattdessen wies der Rezensent von F. Timmermans' Pallieter auf die Beziehung von Timmermans' Werk zu den Bildern alter flämischer Meister hin und stellte, wie viele andere Rezensenten zu der Zeit auch, Pallieter als ‘Bad der Gesundheit’904 sowie als ‘Erlebnis und Offenbarung eines Gottes, dessen Wesen die Freude und die Kraft ist’905, heraus. Der zweite Beitrag aus dieser Periode stammt von F. Dülberg. Auch er konzentrierte | |||||||||||||||||||||||||||||||
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sich vollkommen auf die Literatur. Dem allgemein gestiegenen Interesse für die Niederlande in Deutschland entsprechend versuchte dieser Förderer der niederländischen Literatur, die Leser der Deutschen Rundschau insbesondere mit der Dichtung aus den Niederlanden bekannt zu machen. Dies bedeutete, die Geschichte der niederländischen Literatur noch einmal von den frühen Anfängen an darzulegen, denn in der Deutschen Rundschau war seit Ausbruch des Krieges kaum über die niederländische Literatur berichtet worden. Die Leser der Deutschen Rundschau kannten die niederländische Malerei, aber nicht die Dichtung: ‘Frisia non cantat’906. Was die moderne niederländische Literatur betraf, konzentrierte sich F. Dülberg auf die Achtziger, insbesondere auf Perk und Van Deyssel, dessen ‘Doppeleinfluß’907 die Literatur in den Niederlanden wesentlich bestimmt hatte, und auf die gerade verstorbenen Couperus und Emants. Dabei betonte Dülberg zu Recht, daß Couperus jetzt, wo eines seiner Werke im Massenverlag des ‘Volksverbandes der Bücherfreunde’ erschienen war, ‘auf dem Wege zu populärer Wirkung in der verbreitesten germanischen Sprache’908 sei, und bedauerte, daß Emants im deutschen Buchhandel ‘längst wieder vergessen’909 sei. Die ganz junge niederländische Literatur, insbesondere die niederländischen Expressionisten - dies könnte auf das Alter von Dülberg, er war damals schon 61 zurückzuführen sein, würde aber auch zur in literarischer Hinsicht allgemein zurückhaltenden Politik der Deutschen Rundschau passen -,910 kamen bei Dülberg nicht mehr zur Sprache. Die Darlegungen Dülbergs beschränkten sich, was die neue niederländische Literatur betraf, auf eine kurze Erwähnung von Autoren wie Israel Querido (1872-1932), Herman Robbers (1868-1937), Josine Simons Mees (1863-1948) und Jo van Ammers-Küller. Anfang der dreißiger Jahre änderte sich die Perspektive der Deutschen Rundschau auf die niederländische Literatur erneut. Die Anzahl der Beiträge blieb zwar nach wie vor äußerst bescheiden - abgesehen von der | |||||||||||||||||||||||||||||||
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bereits erwähnten Kritik zu Pallieter, einer Kritik zu Knecht Jan und einer zu den Frauen der Coornvelts wurde, was die niederländische Literatur anging, das von Schlawe festgestellte allgemeine Interesse für ‘bessere Unterhaltungsliteratur’911 in der Deutschen Rundschau wiederum nicht bestätigt -, aber parallel zur allgemeinen Entwicklung bezüglich der Darstellungen der deutsch-flämischen bzw. der deutsch-niederländischen Beziehungen gewann nun auch in den Besprechungen der aus dem Niederländischen übersetzten Literatur die flämisch-nationale und völkische Perspektive an Bedeutung. Der in Berlin wohnende Herbert Martens aus Antwerpen, der intensive Beziehungen mit Niederdeutschen wie Fromme unterhielt, sprach bei seiner Rezension von Streuvels' Knecht Jan nun wieder von der ‘sterbenden Seele’912 Flanderns, von der Beschreibung einer ‘Tragödie’913 eines Volkes, das ‘zum Knecht Jan wurde’914, bedauerte bei seiner Besprechung des Werkes von R. de Clercq erneut, daß man in Flandern nicht ahne, ‘welcher Geist ihm in der Fremde verloren ging’915, und präsentierte den Priester-Dichter Cyriel Verschaeve wiederum als ‘Künder der völkischen Seite der Künste’916, als Kämpfer gegen die ‘grenzenlose Entartung, die sich überall in den Literaturen’917 zeige.918 Durchgesetzt hat sich diese Tendenz in der Deutschen Rundschau aber nicht. In seinem Beitrag Das Land ohne Berge: Vom Zustand des niederländischen Schrifttums919 legte G.K. Schauer neben seinem Hinweis auf die bürgerlichen Romane von Autorinnen wie J. van Ammers-Küller und auf die Bedeutung des Romantikers und ‘wahrhafte[n] Dichter[s]’920 A. van Schendel zwar großes Gewicht auf die Literatur aus | |||||||||||||||||||||||||||||||
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dem Süden des niederländischen Sprachraums, wo De Coster den ‘großen grausigen Festtag seines Volkes’921 feiere und Streuvels ‘den ewigen Alltag des Bauern’922 und Timmermans ‘Fragen, Glauben, Drängen, Wachsen und Vergehen im ewigen Kreislauf’923 schildere, aber gleichzeitig stellte er in der nichtreligiös orientierten Deutschen Rundschau, wie in seinen Beiträgen für andere Zeitschriften auch, die katholische Orientierung der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern heraus. Schauer betonte nicht nur, daß in Timmermans' Bauernpsalm Gott überall am Werk sei, sondern ließ auch Walschap, der in manchen seiner Werke zwar leider zu sehr darauf abziele, eine ‘These’924 zu exemplifizieren und damit das ‘spezifisch Flämische’925 aufzugeben scheine, eine Sonderposition zukommen, weil dieser Autor in seinem Werk immer wieder zeige, daß aus ‘dem Abgrund irdischer Schwäche ein Turm der Seelenstärke zum Himmel’926 rage. Schließlich würdigte Schauer auch die katholische Orientierung bei Antoon Coolen, weil das Werk dieses Autors von ‘der Unzulänglichkeit des Irdischen’927 geprägt sei. Schauer ging also in der für ihn typischen Weise zur völkischen Ideologie auf Distanz. Der Hinweis auf die katholische Orientierung der niederländischen Heimatliteratur war nicht die einzige Waffe der Deutschen Rundschau gegen den nationalsozialistischen Übergriff auf die niederländische Literatur. Schauer wies auch darauf hin, daß bedeutende niederländischsprachige Autoren wie Van Schendel und Coolen in völliger Zurückgezogenheit lebten und auf jeglichen Führungsanspruch verzichteten: ‘Ihre Bücher werden von einer breiten bürgerlichen Schicht gelesen, und der einfache Bauer begegnet dem Dichter, der neben ihm wohnt, mit einer Achtung, in der das Vertrauen wohnt. Nirgends bemerkt man den Anspruch auf Führerschaft oder auf Sonderrechte des Künstlers, aber ihr Wort gilt viel.’928 So konfrontierte er die deutsche Wirklichkeit mit einer anderen (besseren) Welt und kritisierte hiermit in der für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in dieser Zeitschrift typischen indirekten Art die von den Nationalsozialisten im Zusammenhang mit der niederländischen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Literatur verbreitete Ideologie.929 Als Schauer auf die Tatsache, daß die Nationalsozialisten ihren Führungsanspruch aus der Geschichte ableiteten, zu sprechen kam, wurde er sogar direkt. Mit einem Zitat von Johan Huizinga stellte er fest: ‘Die Geschichte mag andere Völker lehren, auf ihre ruhmreiche Vergangenheit stolz zu sein, für uns lautet ihre Lehre, wenn man sie recht begreift, nichts als Demut.’930 Während Zeitschriften wie Der Gral und Hochland die nationalsozialistische Literaturpolitik untergruben, indem sie ‘flämische Literatur’ zur katholischen Literatur deklarierten, reagierte die Deutsche Rundschau nicht direkt auf die Renaissance der niederländischen Literatur. Kam die niederländische Literatur nach 1933 zur Sprache, dann wurden völkische Aspekte in den Hintergrund gedrängt oder wurde, wie im Beitrag der Mitarbeiterin des Deutsch-Niederländischen Instituts in Köln, M. Hechtle, die Literatur aus Flandern ausgeklammert.931 Obwohl die Zeitschrift wichtige Beiträge im Zusammenhang mit der Diskussion um die Flamenpolitik geliefert hat, den Propagandisten der großniederländischen Bewegung innerhalb gewisser Grenzen ein Medium war und bereits sehr früh mit den Beiträgen von H. Martens die späteren Rembrandtpreisträger Streuvels, Verschaeve und De Clercq vorgestellt hat, hat sie den Erfolg dieser Autoren später negiert. Auch in der Deutschen Rundschau wurde die Preisverleihung an die drei flämischen Autoren nicht erwähnt. Stattdessen publizierte die Deutsche Rundschau 1941 einen kurzen Beitrag zur Entstehungsgeschichte von Streuvels' Erfolg im deutschen Sprachraum von Gerhart Pohl, der zu seiner Zeit Knecht Jan herausgegeben hatte, unter dem provozierenden Titel: ‘Stijn Streuvels liest kein Mensch’.932 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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3.5 Niederländische Literatur in Einzeldarstellungen: III3.5.1 Während des Ersten WeltkriegesIn den größeren Beiträgen zur niederländischen Literatur, die in der untersuchten Periode außerhalb der hier ausführlich analysierten Zeitschriften erschienen, stand während des Ersten Weltkrieges, bedingtdurch die Kriegssituation, erwartungsgemäß nicht die Literatur aus den Niederlanden, sondern die Literatur aus Flandern im Mittelpunkt. In Anbetracht des geringen Interesses für die niederländischsprachige Literatur aus Flandern in der vergangenen Periode galt es, hier Neuland zu entdecken. So schrieb F.M. Huebner um 1915 nicht als einziger: ‘Daß das vlämische Belgien ein eigenes, reiches und selbständiges Schrifttum besitzt [...] davon hat kaum der belgische Landsmann, geschweige denn der entfernt wohnende Ausländer eine sachkundige Vorstellung’933. Auch anderswo war die Rede von einem ‘den Deutschen merkwürdig unbekannte[n] Gebiet’934, einer ‘Domäne kleiner gebildeter Kreise’935, ‘einer wenig bekannten Provinz’936 oder einem ‘ungehobene[n] Schatz’937. Der Einmarsch in Belgien und die Flamenpolitik, die das alte ‘Flußbett deutschen Geisteslebens’938 zwischen Flandern und Deutschland wieder ‘stromgerecht’939 machten, führten aber bis auf wenige Ausnahmen nicht zu einem vertieften Studium der Literatur aus Flandern, sondern im wesentlichen nur zur ‘Entdeckung’, daß der flämische Geist ‘Geist vom deutschen Geiste’940 und daß der Charakter des Flamentums ‘urgerma- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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nisch’941 sei. Vorzugsweise nutzte man die Beiträge zur Literatur aus Flandern, um sich mit der flämischen (germanischen) Bewegung in Flandern und ihrem Kampf um die germanische Eigenart zu solidarisieren. Dies galt auch für die Gruppen, die sich bereits vor dem Weltkrieg um eine Verbesserung der deutschen Beziehungen zum niederländischen Sprachraum bemüht hatten. Bei Niederdeutschen wie Fromme kam, wie gesagt, die Literatur aus Flandern nur dann zur Sprache, wenn es in seinem Kampf zur Sicherung der deutschen Grenzen und zur Verbesserung der Lage der Niederdeutschen in Deutschland sinnvoll erschien, und auch die meisten Katholiken haben den ‘tief eingewurzelten Katholizismus’942 in der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern nicht zum Anlaß genommen, um es wie die Ausnahmeerscheinungen R.A. Schröder und A. Kippenberg und ihr Insel Verlag als ‘Ehrenpflicht’943 zu betrachten, das deutsche Volk so bald und so gründlich wie möglich mit der Literatur aus Flandern vertraut zu machen. Bezeichnend war diesbezüglich auch der Beitrag in den Stimmen der Zeit. Jakob Overmans beschäftigte sich darin nur mit der Literatur aus Flandern - die nicht überschätzt werden sollte, denn ‘[i]m ganzen hat uns Flandern wie Holland in der Malerei unvergleichlich Herrlicheres geschenkt als in der Dichtkunst’944 -, um ein ‘geschichtlich treues Bild’945 der Haltung der katholischen Kirche zur flämischen Bewegung zu gewinnen und den ‘Anteil des katholischen Gedankens an der nationalen Erneuerung Flanderns’946 zu bestimmen. Die Alldeutschen als dritte Gruppe haben ihr proklamiertes ‘geistiges deutsches Kriegsziel’947, daß u.a. darin bestand, dem bedrohten ‘Bruderstamme in der Würdigung seines Schrifttums’948 zu Hilfe zu kommen, ebenfalls nicht in die Tat umgesetzt. Lediglich der ehemalige Germania-Mitarbeiter Tony Kellen publizierte während des Krieges im Literarischen Echo einige Beiträge über die Literatur aus Flandern, in denen er die wichtigsten während des Krieges erschienenen Übersetzungen aus dem | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Niederländischen vorstellte und insbesondere die Bedeutung von Gezelle und Vermeylen für die Weltliteratur herausstrich. Im Gegensatz zu den Beiträgen von alldeutschen Autoren wie Hanns Heiss und Kurd von Strantz, die nicht nur von den ‘Niederdeutsch redenden Bewohner[n] von Belgien’949 sprachen, sondern auch den flämischen Teil Belgiens als ‘deutsch’950 bezeichneten und sich für eine Annexion Belgiens als Vorposten des Deutschtums gegen Frankreich einsetzten, waren seine Aufsätze aber, wie zu erwarten, nicht von großdeutschen, expansionistischen Zügen geprägt.951 Wie Fromme spekulierte der Luxemburger Kellen vielmehr darauf, ohne Annexion und Verhochdeutschung durch eine Verbesserung der Beziehung mit den Flamen, die sich im französischen Belgien ‘mit echt deutscher Zähigkeit’952 erhalten hätten, einen verbesserten Schutz Deutschlands gegen Frankreich zu erreichen. Deshalb verurteilte Kellen die ‘Vlamenschwärmer’, die glaubten, daß die Mehrheit des flämischen Volkes deutschfreundlich sei, und schrieb, daß Versuchen, ‘das ganze geistige Leben der Vlamen [...] enger an das der übrigen germanischen Länder, vor allem Deutschlands’953, zu ketten, ‘wenig Erfolg’954 beschieden sei. Antibelgische Äußerungen waren in den Beiträgen während des Ersten Weltkrieges also weit verbreitet. Auch außerhalb der im vorigen Abschnitt ausführlich analysierten Zeitschriften betonte man immer wieder, daß Belgien lediglich ‘in politischer und ökonomischer Hinsicht ein einheitlicher Begriff’955, daß die Grenze zwischen Flandern und Wallonien ‘uralt’956 sei, daß es bereits im 19. Jahrhundert in Flandern ‘alldeutsche’957 Interessen gegeben habe, daß die Flamen ‘von der Gnade der wallonisch-französischen Machthaber’958 abhingen und daß das ‘künstlich geschürte belgische “Nationalgefühl”’959 die ‘vüllige unumschränkte Geltung des Französischen auf allen Gebieten des | |||||||||||||||||||||||||||||||
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öffentlichen, auch des geistigen Lebens’960 bedinge. Gerne erinnerte man auch an die ‘Aufgabe’961, die Deutschland während des Ersten Weltkrieges bezüglich der Unterstützung der Selbständigkeitsbestrebungen der Flamen zu übernehmen habe. Dabei wies man sowohl auf ‘die ersten Helfer’962 aus dem 19. Jahrhundert hin als auch darauf, daß gerade durch die Flamenpolitik die flämische Bewegung einen ‘unbezweifelbaren Triumph’963 erlebe. Kennzeichnend für die Periode um den Ersten Weltkrieg war ferner, hierauf hat Hugo Dyserinck bereits in den sechziger Jahren aufmerksam gemacht, daß der Hinweis auf den germanischen Ursprung Flanderns und seiner Dichter nicht immer von rassentheoretischem Denken frei war: ‘Verhaeren bleibt der Nichtfranzose, er ist Vlame, und nicht bloss als menschliche und dichterische Persönlichkeit [...], sondern auch als Rasseerscheinung’964. Ferner wurde zwischen flämischer und ‘rein flämisch-germanische[r] [...] Geistesart’965 unterschieden und darauf hingewiesen, daß die französischsprachigen Autoren aus Flandern nicht ‘ungestraft’966 in französischer Sprache gedichtet, daß sie sich im deutschen Sprachraum leider ‘zu ungunsten anderer Leistungen neueren flämischen Schrifttums’967 durchgesetzt und daß sie - auch hier setzten sich alte Images durch -968 leider mit ihrem Hang zum ‘lebensleeren, überkultivierten Franzosentum’969 ihren flämischen Ursprung verleugnet hätten. Bereits | |||||||||||||||||||||||||||||||
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in der Periode zwischen 1914 und 1918 war die Kritik an der ‘fauligen Literatur des nachkaiserlichen Paris’970, so wie sie u.a. im Werk von Autoren wie Karel van de Woestijne, denen man ‘französische Dekadenz in germanischem Gewand’971 vorwarf, zum Ausdruck komme, also typisch. Dieser Anti-Ästhetizismus in anti-französischem Gewand, um in der damaligen Terminologie zu bleiben, war zusammen mit der Reduzierung der niederländischen Literatur aus Flandern auf Heimatliteratur - ‘Alle Liebe und Treue zur angestammten Erde, aller Stolz auf eine ruhmvolle Vergangenheit, alles hartnäckige Verlangen nach eigener Bürgerwürde pressen die Flamen in ihre Kunst, die immer und allein den einen Gegenstand abwandelt: ihr Volk und ihr Land. [...] Sie ist Heimatkunst in ihrer sittlichen Bedeutung’972 -einerseits und nationalistisch-kämpferischer Dichtung andererseits - Frings stellte z.B. dem von ihm abgelehnten Van de Woestijne De Clercq gegenüber, den ‘starken Mann, den man seinen Kameraden nennt’973 - ein geradezu idealer Ausgangspunkt für die völkische Annexion der niederländischen Literatur in den dreißiger Jahren. In so manchem der Beiträge zur niederländischen Literatur aus Flandern aus dem Ersten Weltkrieg läßt sich also der Zeitgeist der dreißiger Jahre ausmachen, aber dennoch unterscheiden sich beide Phasen der Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum wesentlich. Die Erschließung der niederlßndischsprachigen Literatur aus Flandern und die Entdeckung der ‘Verwandtschaft der deutschen und flämischen Dichtung’974 führten nämlich nicht zu einer pauschalen Gleichsetzung | |||||||||||||||||||||||||||||||
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von ‘flämisch’ und ‘deutsch’. Während des Ersten Weltkrieges respektierte man noch weitgehend die Eigenständigkeit der Literatur in Flandern. Bestimmend hierfür war die Überzeugung, daß sich die Literatur aus Flandern von der deutschen unterschied, weil sie durch den langen Winterschlaf, in den sie seit ihrer Blüte im Mittelalter verfallen sei und aus dem sie erst im 19. Jahrhundert erwacht sei, dichter beim gemeinsamen Ursprung geblieben sei. Der flämische ‘Zweig der niederdeutschen Dichtung’975 wurde zum Symbol für die ‘Urheimat’976 der deutschen Literatur, da er sich einer Sprache bediene, die ‘viel echter und deutscher’977 als die neuhochdeutsche Schriftsprache sei, und da bei ihm ‘die geistige Zusammengehörigkeit aller germanischen Völker, die freilich keinen staatlichen Zusammenschluß bedingt’978, wie bei keiner anderen Literatur deutlich werde. Hiermit erklärte man die erstaunliche ‘Triebkraft’979, mit der die Literatur in Flandern ‘in so kurzer Zeit eine so reiche Ernte’980 zeige. Gleichzeitig konnte man so die französisch schreibenden Flamen, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg das Bild der Literatur aus Flandern stärker als die niederländischsprachigen bestimmten, leichter als ‘flämische Erzahler’ würdigen.981 Dementsprechend rückte Charles de Coster, dessen Sprache man als ‘oberflächliches Gewand’982, hinter dem sich ‘der kräftige [...] vlamische [...] | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Körper’983 frei bewegen könne, betrachtete, zwischen 1914 und 1918 zu einem der ‘bedeutendsten’984 flämischen Dichter auf. Anders als in den dreißiger Jahren erkannte man während des Ersten Weltkrieges auch die ‘verstandesmäßig unvereinbare’985, altbekannte Polarität zwischen Mystik und Sensualismus, obwohl sie eigentlich auf einem Gegensatz zwischen ‘französische[m] konkrete[m] Sinn’986 und typisch niederdeutschem ‘geheimnisvolle[m] Grübeln’987 beruhe, als typisch germanisch an und war man bereit, die flämische Vorliebe für alles Französische als deutsch zu kennzeichnen. Trotz Flamenpolitik und trotz aller Sehnsüchte nach alten Zeiten stand man außerdem zwischen 1914 und 1918 der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern eher kritisch gegenüber. Man war sich zwar über den urgermanischen Charakter einig und darüber, daß die Literatur aus Flandern schon ‘längst’988 mehr Aufmerksamkeit verdient habe, aber man war sich zugleich immer wieder darüber klar, daß es eine Literatur betraf, die ‘nicht bloß literarische Bedeutung’989 habe, sondern die vor allem ‘irgendwie politisch’990 sei. Deshalb war man während des Ersten Weltkrieges auffallend darum bemüht, Distanz zu wahren und auf ‘Anzeichen gelegentlicher Ueberschätzung’991 hinzuweisen. Letzteres traf vor allem Conscience, dessen Werk nach Meinung der Kritiker ‘deutsche Tapferkeit und Zähigkeit im hellsten Lichte erstrahlen’992 ließ. Bezüglich dieses Autors wies T. Kellen darauf hin, daß man nicht vergessen dürfe, daß er seine Erzählungen verfasse, ‘um die Flamen erst wieder in ihrer Mutterspache lesen zu lehren’993, und Die Gegenwart schrieb damals, daß Consciences Löwe von Flandern, ‘obwohl sein stofflich populärstes, nicht sein bestes Werk’994 darstelle. Die | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Glocke bezeichnete ihrerseits die Werke von Conscience als ‘kleinbürgerlich-pathetisch’995, während die Illustrierte Zeitung feststellte, daß die künstlerischen Qualitäten Consciences ‘nach strengem Maßstabe noch wenig entwickelt’996 seien. Die Internationale Monatsschrift für Wissenschaft Kunst und Technik rundete schließlich das Urteil über Conscience ab, indem sie von ‘schlechteste[r] Theatralik’997 redete und darauf hinwies, daß die Anhängerschaft für diesen Dichter zu Recht auch in Flandern schmelze.998 Das Werk von Bergmann wurde damals ebenfalls kritisch beleuchtet. So mancher erkannte in ihm einen ‘Meister der Heimatkunst’999 und lobte seine ‘anmutige[n] Schilderungen des vlämischen Volkslebens’1000, aber gleichzeitig war auch von ‘Übergangskunst’1001 die Rede, der keine ‘ungewöhnliche eigene Wichtigkeit’1002 beizumessen war und deren Bedeutung, ähnlich der von Consciences Werk, zum größten Teil in der ‘Popularität’1003 des Dichters in Flandern und ‘in seinem geschichtlichen Wert für die Bewegung’1004 liege. Umstritten war sogar die Meinung über Vermeylen. Während auf der einen Seite, was Vermeylen anbelangte, Der ewige Jude als ‘ein genialischer Versuch, von der flämischen Heimat aus, [sic] die ganze Welt, die Hölle und den Himmel zu umfassen’1005, beschrieben wurde, kritisierte man auch den Mangel an ‘einfach zugreifendem Formungsvermögen’1006 und daß es in seinem Werk ‘zuviel Gewolltes und Gekünsteltes und zuwenig Ungestüm’1007 gebe. Zu Streuvels gab es schließlich ebenso kontroverse Ansichten. Einerseits wurde er neben Gezelle - der als den höchsten Gipfel, ‘den | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Flanderns dichterisches Schaffen bisher erreicht hat’1008, betrachtet wurde - als Meister, als der eindringlichste Künstler Flanderns mit einer ‘koniglich sichere[n]’1009 Hand gelobt; bemängelt wurden andererseits seine ‘verzwickte [...] Art’1010, die ihn für einfache Bauern weniger verständlich mache, daß ihm die ‘beispiellose Volkstümlichkeit Consciences’1011 fehle und daß das ‘schwach[e]’1012 Interesse für die Träger der Handlung und die ‘erstaunliche[n] Mängel der Erfindung’1013 seine Erzählungen manchmal sehr unwahrscheinlich erscheinen ließen.1014 Im Gegensatz zu den dreißiger Jahren begnügte man sich während des Ersten Weltkrieges also mit einem Traum, einer Vision von einer Literatur ‘im Ansteigen’1015, deren gute ‘Vorzeichen’1016 unübersehbar seien, oder, wie es Die Glocke äußerst rücksichtsvoll formulierte: eine Literatur, die von einem ‘noch manchmal in sich zusammenstürzende[n], aber hochbegabte[n] Wille[n] zum Künftigen’1017 geprägt sei. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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3.5.2 In den zwanziger JahrenDer Traum aus den Kriegsjahren war natürlich zu vage, um, als Flandern aus der politischen Diskussion verschwand, Bestand zu haben. Dementsprechend ging im deutschen Sprachraum das Interesse in den Zeitschriften für die niederländischsprachige Literatur aus Flandern nach 1918 schlagartig zurück.1018 So ausführlich, wie der Literarische Handweiser noch 1918 auf eine ganze Reihe von neu erschienener Literatur über die flämische Frage und auf Übersetzungen von flämischen Autoren hingewiesen hatte, wurde in den zwanziger Jahren in kaum einer deutschen Zeitschrift mehr über die Literatur aus Flandern berichtet.1019 Lediglich Das literarische Echo informierte regelmäßig über die niederländischsprachige Literatur aus Flandern. Der Korrespondent schrieb aus Den Haag und hieß nun nicht mehr Tony Kellen, sondern Friedrich Markus Huebner. Huebner hatte während des Ersten Weltkrieges die Literatur aus Flandern kennengelernt und war Mitglied der ‘Deutsch-Flämischen Gesellschaft’ gewesen. Seine ‘Belgischen Briefe’ standen in der Tradition der Flamenpolitik, und seine Perspektive auf Flandern blieb auch nach dem Ersten Weltkrieg politisch. Großes Gewicht erhielt dementsprechend die Kritik am Chauvinismus, mit dem die Machthaber in Belgien französisch wie niederländisch schreibenden Flamen begegneten, und die Tatsache, daß über die belgische ‘Académie Royale de langue et de littérature française’ die geistigen Bande zu Frankreich verstärkt wurden. Ferner wurde besonders die Arbeit der nationalistischen Flaminganten um die Zeitschrift Ter Waarheid (1921-1924) vom späteren Führer des ‘Verbond van Dietsche Nationaal Solidaristen’ (VERDINASO) Joris van Severen gewürdigt. Dies geschah nicht zuletzt deshalb, weil sich gerade diese Zeitschrift gegenüber ‘verwandte[n] Geisteserzeugnisse[n] Deutschlands’1020 aufgeschlossen zeigte. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Von den jüngsten Entwicklungen in der Literatur aus Flandern war Huebner enttäuscht, denn die ‘Betäubung und Leere’1021, die nach dem Krieg das literarische Leben in Belgien bestimmt hätten, hätten sich zwar verzogen, aber es sei keine neue ‘Figur ersten Ranges’1022 aufgestanden, keine ‘leitende [...], zum Tragen der Verantwortung hindrängende’1023 Persönlichkeit. Die Periode von Van Nu en Straks sei ‘endgültig vorüber’1024, und niemand scheine bereit zu sein, die weitere Verantwortung zu übernehmen. Die Jugend habe sich, so schrieb Huebner, von Vermeylen abgewandt, ohne sich aber einem Autor wie Streuvels zuzuwenden, dessen ‘von belgischer Seite viel geschmähtes Kriegstagebuch’1025 er als ‘Kennzeichen tröstlicher Charaktergeradheit und schriftstellerischer Objektivität’1026 herausstellte. Wie bei den französischsprachigen Schriftstellern, die Huebner in traditioneller Weise mit einbezog, und zu denen er feststellte, daß sie entweder tot oder ‘müde und ausgegeben’1027 seien oder daß sie sich wie M. Maeterlinck ‘auf die Seite der Staats- und Geldmacht geschlagen’1028 hätten, fehle der jungen Generation der ‘Bekenntniswille’1029 aus dem Ersten Weltkrieg. Zu Unrecht konzentriere man sich in Flandern auf einen Autor wie Van Ostaijen, der unausgereifte, dem Dadaismus nahe Lyrik liebe.1030 Zum Glück entdeckte Huebner auch eine Ausnahme: W. Moens. In dessen Celbrieven (1920, ‘Briefe aus der Zelle’) erkannte er die typische ‘Hochsinnigkeit’1031, mit der die flämischen Intellektuellen immer den ‘Kampf für die menschliche Hebung der Volksgenossen’1032 geführt hätten. Lobend erwähnt wurde auch Felix Timmermans. Dies wohl nicht nur, weil Huebner Werk von ihm übersetzt hatte, sondern auch wegen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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seiner Rolle im aktivistischen Abenteuer des Ersten Weltkrieges. Obwohl er im allgemeinen in der Literatur aus Flandern nur ‘Gleichgültigkeit’1033 feststellte, bescheinigte Huebner Timmermans fortsprudelnde ‘Erzählerkraft’1034. Huebner stand mit seiner politischen Perspektive auf die Literatur in Flandern Anfang der zwanziger Jahre nicht allein. Auch in den Mitteilungen aus dem Quickborn wurde - bezeichnenderweise wiederum ohne näher auf einzelne Werke flämischer Schriftsteller einzugehen - bedauert, daß viele flämische Autoren wegen ihrer politischen Haltung während des Krieges ihre Arbeit ‘jenseits der Grenze’1035 fortsetzen müßten, und 1922 publizierte J. Decroos im Niedersachsenbuch einen Beitrag, in dem er im altbekannten Stil die Geschichte des ‘Wiedererstarkens des flämischen Bewußtseins’1036 aufzeigte und Gezelle, De Clercq, Streuvels, Buysse, Verschaeve und Moens dem ‘Epigone[n] der französischen Dekadenten und Symbolisten’1037 K. van de Woestijne und P. van Ostaijen, ‘der seine unverkennbare Begabung an dadaistischem Unsinn vergeudet’1038, gegenüberstellte. Interessanterweise setzte sich diese Perspektive nicht sofort durch. Mitte der zwanziger Jahre zeichnete sich zunächst vielmehr das Gegenteil ab. In dieser Periode, wo, wie gesagt, die Beziehungen zum belgischen Staat langsam wieder besser wurden, verschwand sogar aus Huebners Beiträgen allmählich das flämisch-nationalistische Engagement. Damals beschränkte Huebner sich zunehmend auf die einfache Mitteilung von Preisverleihungen, Geburtstagen und Todesfällen und nutzte seine ‘Briefe’ nur noch, um die Bedeutung vergangener Größen wie H. Verriest und P. de Mont oder, was die französischsprachigen flämischen Schriftsteller betraf, z.B. von G. Eekhoud, herauszustellen. Der lange verschmähte Begriff Belgien und vor allen Dingen der Begriff ‘belgische Kultur’ kamen wieder auf. Bei Huebner geschah dies zwar nur in Form einer ‘Annäherung’1039 zwischen den Lagern der französisch und niederländisch schreibenden Schriftsteller in Belgien, aber Die Literatur schrieb 1927 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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immerhin, daß es zwar ‘kein einheitliches belgisches “Volk”’1040 gebe, aber sehr wohl eine ‘einheitliche belgische Kultur’1041. Bezeichnend für die neue Phase der Rezeption der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern um 1925 war auch, daß zum ersten Mal seit langem von verschiedener Seite auch der Anschluß der (jungen) flämischen Dichter an internationale Entwicklungen hervorgehoben wurde. So war im Hellweg zu lesen, daß es die jüngeren in Flandern seien, die wie Paul van Ostaijen, Victor Brunclair (1899-1944) und Wies Moens ‘ganz eigene Bahnen’1042 gegangen seien, indem sie, ohne ihre ‘völkische [...] Eigenart’1043 zu leugnen, den Anschluß an Entwicklungen in der ‘gesamten europäischen Dichtung’1044 gesucht und gefunden und so die Zukunft für die Literatur aus Flandern geöffnet hätten.1045 Es wurde damals zwar darauf hingewiesen, daß es noch eine Dichtergeneration gebe, die die ‘letzte Phase’1046 des flämischen Sprach- und Kulturkampfes verkörpere, daß in der ‘Mehrzahl’1047 der Nachkriegsprosa in Flandern der Bruch mit Van Nu en Straks noch nicht in gleicher Weise wie in der Poesie realisiert worden sei, aber gleichzeitig stellte man auch neue Hoffnungen heraus. Besonders gewürdigt wurde in diesem Zusammenhang Elsschot wegen seines sachlichen und kühlen Erzähltons, Timmermans, bei dem das Zukünftige in der Natürlichkeit und der Beschränkung zu liegen scheine, Thiry, dessen innige Hingabe und naive Gläubigkeit an alte Meister erinnere, und schließlich Claes, bei dem die Erschließung kindlicher Vorstellungswelt und die Einfühlung in die Phantasiewelt des Kindes bewundert wurden. Anders als Streuvels und Buysse, für die es, daran zweifelte man im Hellweg nicht, ‘kein Weiterhinaus mehr’1048 gebe, eröffneten diese Dichter mit ihrer ‘besondere[n] Eigenart’1049 neue Perspektiven. Der zweite Beitrag, der den Anschluß der Literatur aus Flandern an internationale Entwicklungen herausstellte, war der bereits erwähnte Aufsatz von Wies Moens im Gral.1050 Der ehemalige Aktivist und ex- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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pressionistische Dichter Moens präsentierte die Literatur aus Flandern dort an erster Stelle als ‘Spiegel’1051 der Zeit, aber der größte Teil seines Aufsatzes wurde nicht auf den Nachweis verwandt, daß sich in der rezenten Literatur aus Flandern der rebellische flämische Nationalismus aus der Kriegs- und Nachkriegszeit widerspiegelte. Moens legte auch dar, daß sich die jungen Dichter in Flandern nunmehr durch ihre ‘sozialpolitische Aktivität’1052 von den eher theoretisch auftretenden Van Nu en Straksern unterschieden, daß sie auf Basis ihrer ‘humanitäre[n] Beseelung’1053 mit der ‘Elfenbeinturmlyrik des 19. Jahrhunderts’1054 und dem alten Streben nach der ‘allerindividuellsten Emotion’1055 brachen und ähnlich wie in anderen Ländern versuchten, eine mehr demokratische und plastisch unmittelbare Poesie zu verwirklichen. Kennzeichnend für die Situation Mitte der zwanziger Jahre war schließlich, daß sich dem gestiegenen Interesse für die Niederlande entsprechend anders als im Ersten Weltkrieg, wo im Grunde genommen nur mit den ‘Holländischen Briefen’ von J.G. Talen im Literarischen Echo und durch einen Aufsatz von F. Dülberg über die Literatur aus den Niederlanden berichtet wurde, die Zahl der Beiträge über die Literatur in den Niederlanden erhöhte und daß in den Beiträgen zur niederländischen Literatur auffallend oft die Literatur aus den Niederlanden und Flandern gemeinsam behandelt wurde. Dabei spielten großniederländische Ideale, anders als vielleicht erwartet, kaum eine Rolle. Im Beitrag von Verhoeven und Moens für Das geistige Europa, das sich 1925 und 1926 im Rahmen seiner Suche nach Literatur, die ‘eine tiefere Einsicht in das Leben unserer Zeit’1056 vermittelte - gemeint war katholische Literatur oder zumindest Werk, aus dem ‘die ganze bunte Fülle des Lebens’1057 hervorging -, in zwei größeren Beiträgen der niederländischen Literatur widmete, war 1925 die gemeinsame Behandlung der Literatur aus den Niederlanden und Flandern selbstverständlich.1058 Den gleichen Eindruck vermittelte J.G. Talen, der im Literarischen Echo und in der Literatur auch in den zwanziger Jahren in bekannter Weise mit einer Flut von Informationen über das literarische Geschehen im niederländischen Sprachraum berichtete (von all den Beiträgen wurde wohl nur | |||||||||||||||||||||||||||||||
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behalten, daß ‘in der lyrischen Dichtung die Moderne den tiefsten und reinsten Ausdruck fand, während in der Epik mit wenigen Ausnahmen der alte Strom unentwegt weiter floß’1059), als er 1924 schrieb: ‘Es würde nur zu starrem Systemzwang führen, wollte man in holländischen Literaturberichten die vlämische Literatur völlig unbeachtet lassen: die politische Grenze ist nicht zugleich eine literarisch-kulturelle, gegenseitige Einwirkungen und Interessen stellen immerfort neue Beziehungen und Verbindungen zwischen Nord und Süd her.’1060 Ein wenig anders verhielt es sich bei F.M. Huebner, der 1925 die Lyrik aus Flandern gemeinsam mit der aus den Niederlanden behandelte, um die Vorreiterposition der flämischen Dichter herauszustellen. Bei ihm war zu lesen, daß die Lyrik in den Niederlanden von der Lyrik aus Flandern ‘mitgerissen’1061 werde und daß es flämische Lyriker seien, die innerhalb der niederländischen Verskunst ‘die Führung’ hätten.1062 Ein vergleichbares Motiv hatte W. Moens. In seinem bereits wiederholt zitierten Beitrag betonte auch er: ‘Unter dem Einfluß der katholischen Modernen in Flandern entstand in Holland die Bewegung der “Roomsche Jongeren”’1063. Schließlich ist an dieser Stelle noch Jan de Vries zu erwähnen, der 1923 schrieb: ‘ich werde doch nicht die flämischen Künstler stillschweigend übergehen können, aber welche werde ich wählen, um den Reichtum dieser Kunst erkennen zu lassen?’1064 Ihm ging es aber nicht so sehr um die Darstellung der Gemeinsamkeiten moderner Literatur aus den Niederlanden und Flandern, sondern er hoffte, die Bedeutung der Literatur aus den Niederlanden überzeugender darlegen zu können, indem er auf den gemeinsamen Ursprung der Literatur aus den Niederlanden und Flandern hinwies. Dem Ansatz aus der Mitte der zwanziger Jahre, die Entwicklungen der Literatur in Flandern und in den Niederlanden gemeinsam in einem mehr internationalen literarischen Rahmen zu sehen, war leider nur ein kurzes Leben beschieden. Das Blatt wendete sich im wesentlichen schon wieder um 1927. Zu dem Zeitpunkt gewann bei der Betrachtung der niederländischen Literatur die alte nationale, von antibelgischer und | |||||||||||||||||||||||||||||||
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antifranzösischer Stimmung geprägte Perspektive aus dem Ersten Weltkrieg wieder an Gewicht. Typisch für diese Wende waren die verschiedenen ‘Flandernhefte’, die, stimuliert von der niederdeutschen Bewegung und Leuten wie R.P. Oszwald, in dieser Periode in Zeitschriften wie Volk und Reich, in den Süddeutschen Monatsheften, im Deutschen Bursch und in der Deutschen Arbeit erschienen.1065 Darin besann man sich erstens wieder auf die alten Beziehungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts, zweitens auf den Einsatz der Deutschen für die flämische Bewegung während des Ersten Weltkrieges und die daraus entstandenen intensiven Kontakte zwischen Flandern - der ‘alte[n] Heimat der Lieder und des Sanges’1066 - und Deutschland, und schließlich erinnerte man daran, daß man wiederholt den Faden zu diesem ‘niederdeutschen Kulturgebiet’1067 hatte entgleiten lassen. Von einem gewissen Respekt für die Eigenstündigkeit und Selbständigkeit von Sprache und Literatur aus den Niederlanden und Flandern, so wie er noch Ende des Ersten Weltkrieges beobachtet werden konnte und er sich auch um 1925 zeigte, war kaum noch die Rede. Ausdrücklicher als je zuvor distanzierte man sich Ende der zwanziger Jahre von ‘zivilisierten Stadtpoeten’1068 wie Teirlinck und Van de Woestijne. Weder sie noch ‘exzentrische’1069 Dichter wie Van Ostaijen, dessen Verse ‘zum Preise von allem oft in extreme Verwirrungen’1070 geraten seien, wurden als ‘Schöpfer der flämischen Literatur von morgen’1071, als ‘Deuter einer neuen blühenden Zeit’1072 präsentiert, sondern nur noch Timmermans. | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Definitiv abgelehnt wurden nun auch die französisch schreibenden Flamen, deren Werke während des Ersten Weltkrieges noch ohne allzu große Bedenken gemeinsam mit denen ihrer niederländischsprachigen Kollegen betrachtet worden waren. Lediglich für De Coster wurde nach 1927 noch eine Ausnahme gemacht. Obwohl er nach Autoren wie Breyne ‘irrtümlicherweise’1073 wie Maeterlinck und Verhaeren zu den Flamen gerechnet wurde, wurde sein Ulenspiegel nicht nur in den Süddeutschen Monatsheften das ‘großartigste Prosabuch der Germanen’1074 genannt. | |||||||||||||||||||||||||||||||
3.5.3 In den dreißiger und vierziger JahrenBereits Ende der zwanziger Jahre wurde also das Fundament für die Betrachtung der niederländischen Literatur ‘auf de[m] Boden der volkstümlichen Charaktereigenschaften’1075, wie es J. de Vries 1923 gefordert hatte, definitiv gefestigt. Dennoch zeigten auch die größeren allgemeinen Beiträge zur niederländischen Literatur in deutschen Zeitschriften, daß es den Nationalsozialisten in den dreißiger Jahren nicht ohne weiteres gelang, das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum ganz auf die propagierte völkische Heimatliteratur zu reduzieren. Erstens dauerte es bis Ende der dreißiger Jahre, bis die während des nationalsozialistischen Regimes verpönte moderne niederländische Literatur, die 1930 durch die Publikation von Rudolf Lonnes' Anthologie Niederland, in der das Werk der jungen Generation in den Niederlanden und Flandern vorgestellt worden war, vollständig aus dem Bild, das man sich im deutschen Sprachraum von der niederländischen Literatur machte, eliminiert werden konnte. Anfang der dreißiger Jahre versuchten sogar völkisch orientierte Kritiker, die junge Generation noch so gut wie möglich zu integrieren. Die Sammlung von Lonnes erschien z.B. in der von C.H. Erkelenz mitherausgegebenen Reihe Dichtung deutscher Landschaften. In der Reihe desselben Erkelenz also, der im Gral betont hatte, daß das Intellektuelle in Flandern ‘ganz an Instinkt und Blut’1076 gebunden sei, und Theun de Vries als die Hoffnung der jungen niederländischen Dichtung herausgestellt hatte, weil aus seinem Werk eine ‘mythenbildende Substanz’1077 spreche, ‘geschmeidig und feinfühlig gemacht durch den | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Zustrom lockeren Blutes, Erbe aus altem entarteten Bauerngeschlecht’1078. Erkelenz war es auch, der gute, wenn auch für ihn bezeichnende Worte für expressionistische Avantgarde-Dichter wie Marsman und Burssens fand, indem er bei ersterem die dunkelblütige ‘Berauschung’1079, vermischt mit ‘hellhirniger Spiellust’1080, würdigte und beim letzteren die ‘verfeinerte Berechnung’1081 herausstellte, die sich von der ‘meist wuchernden Sorglosigkeit des Flamen’1082 unterscheide.1083 Eine vergleichbare Position, wenn auch weniger überzeugend, bezog in den dreißiger Jahren M.R. Breyne, indem er in den Nationalsozialistischen Monatsheften auf der einen Seite zu zeigen versuchte, wie eng Flanderns Geist mit der ‘Scholle’1084 verbunden sei, daß man von den Flamen als ‘einer der Kronen des niederländischen und somit des niederdeutschen Stammes’1085 reden könne und daß es sich bei ihrer Dichtung um ‘Volksdichtung in des Sinnes vollster Bedeutung’1086 handle, während er auf der anderen Seite versuchte, den jüngeren Dichtern zumindest insofern gerecht zu werden, als sie ‘mit beiden Füßen in der Nachkriegszeit’1087 ständen, ohne sich ganz vom Werk der ‘früheren Generation’1088 zu entfernen. Interessanter als diese ‘Integrationsversuche’ völkisch orientierter Kritiker waren in den dreißiger Jahren verschiedene Aufsätze, die sich ausdrücklich von der Heimatliteratur zugunsten der jungen Generation moderner Dichter distanzierten. In diesem Sinne gab sich der Übersetzer F. Augustin, der seinen Beitrag im Zeichen der Zeit mit der Feststellung begann, daß die Literatur gerade dort am wertvollsten sei, ‘wo am wenigsten die Bezeichnung literarisch angebracht’1089 erscheine, als ein aufrechter Bewunderer von P. van Ostaijen zu erkennen und bezeichnete den flämischen Dichter als den ‘Bahnbrecher der modernistischen Richtung’1090 und die ‘repräsentativste Persönlichkeit der flämischen Litera- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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tur während und unmittelbar nach der Kriegszeit’1091. In der Hilfe stellte Ottmar Kümmel das Werk der neuen Ethiker Moens, Gijsen, Van Ostaijen und Van den Oever weit über das von Timmermans, der, wie er schrieb, ‘über einen platten romantischen Realismus’1092 nicht hinauskomme. Bemerkenswert waren in diesem Zusammenhang vor allem die Beiträge von Lili Sertorius, die 1928 in Köln von Ernst Bertram über den Wandel des deutschen Hölderlinbildes promoviert wurde und die mit dem späteren Direktor des Deutsch-Niederländischen Instituts, F. von der Leyen, in Kontakt stand. In ihrer Studie Literarisches Schaffen und Volkstum in Flandern1093, die in der Reihe der Schriften des politischen Kollegs von Martin Spahn erschien, distanzierte sie sich recht eindeutig von dem von Kritikern wie Carl Hanns Erkelenz, Marcus Romeo Breyne und Bernhard Rang verbreiteten Bild der niederländischen Literatur. Auch sie wandte sich zwar der Literatur aus Flandern nicht ‘um ihrer selbst willen’1094, sondern ‘um des Volkes willen’1095 zu und wählte so eine völkische statt eine literarische Perspektive, aber trotzdem verfiel sie nicht in völkisch-germanische Einseitigkeit, sondern kritisierte bei allem Verständnis für den Erfolg der Heimatliteratur das deutsche Bild von der Literatur aus Flandern, weil es eben auf diesem Erfolg beruhte - ‘als ob Flandern nichts zu geben hätte als Bauerngeschichten und Schilderungen von Essen, Trinken und tollen Streichen’1096. Gleichzeitig betonte sie, daß die Literatur in Flandern sowohl germanischen als auch romanischen Einflüssen ausgesetzt sei und daß es nicht zuletzt deshalb in Flandern zwei literarische Strömungen gebe: eine bodenständige, heimatverbundene und eine eher europäische, die darauf abziele, ‘in einem weiteren Kulturraum mitzuleben’1097. Diese Einteilung ermöglichte Sertorius, ohne die Bedeutung der beiden Gruppen gegeneinander abwiegen zu müssen, erstens | |||||||||||||||||||||||||||||||
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die Leistung der flämischen Expressionisten und insbesondere der neokatholischen Dichter zu würdigen, die ihrer Meinung nach die Führung in der flämischen Literatur übernommen hatten, und zweitens die Bedeutung der französisch schreibenden Flamen und die Bedeutung einer französischsprachigen Zeitschrift wie La jeune Belgique für das Entstehen von Van Nu en Straks herauszustellen. Bezeichnend für das Werk von Sertorius war auch, daß sie hervorhob, daß die Van Nu en Strakser gerade dann die Kultur in Flandern auf das Niveau der europäischen heben wollten, ‘wo deren Geist so fern wie möglich von flämischem Wesen und flämischer Tradition war’1098, und daß sie sich nicht scheute, die ‘unflämisch[en]’1099 Züge von Charles de Coster, den sie als Halbwallonen bezeichnete, zu zeigen. Ferner relativierte sie die flämische Zuneigung zu Deutschland während des Ersten Weltkrieges - ‘Naturgemäß ging der Haß am leidenschaftlichsten gegen Deutschland’1100 - und ging sie ausdrücklich auf Distanz zu den ‘kleine[n] extreme[n] Gruppen’1101, die ein politisches Großniederland anstrebten, ohne die Bedeutung der großniederländischen Bewegung als kulturelles Bestreben zwischen Flandern und den Niederlanden, deren Verhältnis von gleichzeitiger ‘Anziehung und Abstoßung’1102 bestimmt sei, zu leugnen.1103 Obwohl L. Sertorius gegen Ende ihres Buches einen Rückzieher machte, indem sie betonte, daß sich gegen Ende der zwanziger Jahre die ‘Impulse des flämischen Geisteslebens’1104 immer mehr von der Literatur entfernt hätten und zu dem Zeitpunkt einen ‘sichtbaren Niedergang aller Literatur’1105 und eine literarische Führungslosigkeit in Flandern feststellte, die vielleicht durch den ‘national-sozialistische[n] Funke[n]’1106, der nach Flandern übergesprungen sei, und mit Moens als einem ‘leidenschaftlichen Führer’1107 beseitigt werden könne, waren ihre Ausführungen weit von denen von Peuckert entfernt, der in den dreißiger Jahren in den Nationalsozialistischen Monatsheften unaufhörlich | |||||||||||||||||||||||||||||||
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auf die ‘völkische Verwurzelung’1108 der niederländischen Literatur hinwies, Streuvels und Verschaeve (den er als Führer mit Adolf Hitler verglich) als Vorbild für deutsche Dichter herausstellte und immer wieder betonte, daß in der niederländischsprachigen Literatur, insbesondere in der aus Flandern, ‘Land und Volk [...] und nicht Welt und Menschheit [...] Ausgangspunkt und Ziel aller künstlerischer Bemühungen’1109 wären. Ein noch deutlicheres Zeichen des Widerstandes gegen die von den Nationalsozialisten propagierte Perspektive auf die niederländische Literatur als Lili Sertorius setzte der Emigrant und ‘heimatlose Kosmopolit’1110 Albert Vigoleis Thelen Anfang der dreißiger Jahre mit seinen Beiträgen für Die Literatur (vormals Das literarische Echo). Mit vergleichbarem Engagement, mit dem er sich in den Niederlanden für die deutsche Literatur, insbesondere für die der Emigranten eingesetzt hat, hat Thelen in drei ‘Holländischen Briefen’ versucht, trotz aufkommender völkischer Ideologie vorzugsweise die modernen niederländischsprachigen Dichter bekannt zu machen.1111 In den Briefen, die Thelen, der von 1925 bis 1928 in Köln Germanistik und Niederländisch studiert hatte, zunächst von den Niederlanden, später von Palma de Mallorca aus sandte, brach er unvermittelt mit der eher konservativen Haltung, die bis dahin die Perspektive auf die niederländische Literatur im Literarischen Echo bestimmt hatte, und widerlegte das von J.G. Talen und später auch von Simon Koster verbreitete Bild, daß die niederländische Literatur durch das Werk von den traditionell orientierten niederländischen Schriftstellerinnen, insbesondere von Jo van Ammers-Küller, repräsentativ vertreten sei: ‘Dieser Brief sei [...] mit der notwendigen und grundlegenden Feststellung begonnen, daß es für Deutschland eine holländische Literatur nicht gibt’1112. Lediglich Rudolf Lonnes hatte, so legte Thelen dar, mit seiner Anthologie im deutschen Sprachraum etwas vom augenblicklichen Stand | |||||||||||||||||||||||||||||||
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der Literatur in den Niederlanden, so wie er ihn in seinen Beiträgen präsentieren wollte, vermittelt.1113 Thelens Perspektive auf die niederländische Literatur ließ viel vom oppositionellen Einzelgänger, der er selbst war, erkennen. So stellte er bei den religiösen Dichtern aus den Niederlanden nicht nur heraus, daß sie ‘eine Erneuerung der katholischen Poesie’1114 anstrebten, sondern zugleich, daß sie sich zum Ziel gesetzt hätten, die niederländische Dichtung ‘aus der eingedeichten Enge literarischer Tradition zu europäisch-menschlicher Gültigkeit zu erhöhen’1115, und daß sie zudem ‘eine Erneuerung des katholischen Denkens überhaupt’1116 versuchten. Auf diese Art und Weise konnte er neben ‘Paganisten’1117 wie dem Redakteur der Vrije Bladen (1924-1949) Dirk Adrianus Michel Binnendijk (1902-1984) oder dem ‘Diktator der Jüngeren’1118 Hendrik Marsman auch religiös orientierte Dichter wie Albert Kuyle, Jan Engelman (1900-1972) und Albert Helman (o1903) als ‘Weltbürger ganz unniederländischer Diktion, spontan und von starker seelischer Vitalität’1119 präsentieren. Zugleich hob Thelen hervor, daß die Zukunft der Literatur aus den Niederlanden, zumindest was die Prosa anbelangte, bei den ‘heidnisch, neutral und vollständig ausländisch’1120 orientierten Traditionslosen, den ‘Ausgestoßenen’1121 liege, denn nur aus ihrer Grundhaltung heraus könne ‘einmal für die Niederlande die so sehnlich erwartete große Prosa europäischen Formats’1122 wachsen. Die Gründung der Zeitschrift Forum, von katholischer wie von protestantischer Seite ‘befehdet’1123, bezeichnete Thelen als ‘unbestritten das wichtigste Ereignis im literarischen Leben des Jahres 1932’1124. Ihren Redakteuren Edgar du Perron, der ‘Boa constrictor im brav-biederen Domineesland’1125, und Menno ter Braak, in den | |||||||||||||||||||||||||||||||
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vierziger Jahren als ‘Deutschenfresser und Kulturbolschewist’1126 beschimpft, aber für Thelen ‘einer der interessantesten und begabtesten Köpfe unter den Schriftstellern der jungen Generation’1127, und ihrem Werk widmete er sich sehr ausführlich. Ebenfalls zur Sprache kam der Fonrum-Redakteur Maurice Roelants. Dabei wurde ihm von Thelen ganz realistisch ‘wenig Einfluß auf die Gestaltung von Forum’1128 bescheinigt, ohne daß der Emigrant jedoch verschwieg, daß es Roelants war, der dafür gesorgt hat, daß immer wieder Arbeiten flämischer Autoren in die Zeitschrift aufgenommen wurden. In seinem dritten Brief kam Thelen auf Jan Jacob Slauerhoff zu sprechen, dessen Roman Das verbotene Reich er wohl auch übersetzte, weil er es seiner Meinung nach trotz ‘seitenlange[r] Schilderungen im Stil einer billigen Tagesjournalistik’1129 verdiente, ‘auch in Deutschland bekannt zu werden’1130. Wichtig war bei Thelen schließlich auch der Hinweis, daß es neben der Forum-Literatur, die sich nach 1934 zur ‘offiziellen’1131 gemausert habe, auch noch eine Reihe von Werken von liberal, religiös oder sozialistisch orientierten jüngeren Autoren gebe, die sich weiterhin gegen die ‘Diktatur des großen Publikums’1132 stellten und zeigten, daß die junge Literatur in den Niederlanden längst über das Niveau der ‘Fingerübungen’1133 hinausgekommen sei, obwohl sie nach wie vor von ‘Ratlosig- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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keit, Heimweh und de[m] nutzlose[n] Widerstand einer erschütterten Generation’1134, der er sich selbst zugehörig fühlte, bestimmt sei.1135 Thelen war der letzte deutschsprachige Kritiker, der in den dreißiger Jahren in einer deutschsprachigen literarischen Zeitschrift mit einer gewissen Regelmäßigkeit frei von völkischer Ideologie ausführlich über die modernen Entwicklungen in der niederländischen Literatur berichtete. Die moderne Literatur aus den Niederlanden und Flandern verschwand dennoch auch nach 1933 nicht völlig aus der deutschsprachigen Kritik. Vereinzelte an der Literatur aus dem niederländischen Sprachraum Interessierte versuchten, trotz nationalsozialistischer Ablehnung auch nach der Machtübernahme durch Hitler immer wieder auf die neuesten Entwicklungen hinzuweisen. Ausgerechnet in der Bücherkunde, dem Organ Rosenbergs, publizierte ein gewisser Van Uytvanck sogar einen Beitrag, in dem er De Coster in eine Reihe mit Maeterlinck, Verhaeren und Gevers stellte - weshalb er auch prompt von der Schriftleitung kritisiert wurde - und auch noch betonte, daß die Dichtung in Flandern nicht nur den Bauernroman umfasse, sondern auch ‘unendlich reich an ganz verschieden gearteten Künstlerpersönlichkeiten’1136 sei. Dabei wies er auf die Forum-Dichter Elsschot und Roelants hin. Eine markante Ausnahme zwischen 1933 und 1945 bildete auch der Beitrag von Heinz Graef, der 1939 in Hochland erschien und in dem neben Gezelle auch Van de Woestijne und die flämischen Expressionisten gewürdigt wurden und der wohl nur deshalb publiziert werden konnte, weil er mit einem, wenn auch durchaus distanzierten, Hinweis auf die Bedeutung Verschaeves abgeschlossen wurde. Ausführliche, literarisch orientierte Aufsätze bezüglich der Entwicklungen in der modernen Literatur im niederländischen Sprachraum erschienen nach 1933 darüber hinaus in zwei Büchern, an denen jeweils Mitarbeiter des Deutsch-Niederländischen Instituts in Köln beteiligt waren. Der erste wurde 1937 in De Goede Hoop: Berichte aus dem Deutschen und Dietschen Kulturraum publiziert und berichtete über die Gegenwartsströmungen des nordniederländischen Schrifttums.1137 Unmißverständ- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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lich wich J.H. Scholte in diesem Beitrag von der herrschenden völkischen Perspektive auf die niederländische Literatur ab, indem er sich für eine ausschließlich literarische Betrachtungsweise entschied und betonte, daß die niederländische Literatur seit der Revolution der Achtziger vor allem ‘hollandisch, landeseigen’1138 sein wollte - ‘keinesweges ausgesprochen französisch und noch weniger ausschließlich deutsch gerichtet’1139. Dabei umging er weitgehend das Werk von Autorinnen wie Jo van Ammers-Küller, weil sich die ‘bemerkenswerte Entfaltung der niederländischen Literatur seit der Jahrhundertwende’1140 zum größten Teil ‘abseits von der Romanversorgung der holländischen Leserwelt’1141 vollzogen habe, und konzentrierte sich vor allem auf die Poesie nach dem Ersten Weltkrieg und auf die Entwicklungen um Forum.1142 Etwas weniger kompromißlos berichteten Jettie Wichert und der Lektor des Deutsch-Niederländischen Instituts Willem G. Noordegraaf in der Gegenwartsdichtung der Europäischen Völker1143 über die niederländische Dichtung. Im Gegensatz zu Scholte sahen Wichert und Noordegraaf die niederländische Literatur im ‘“dietschen”’1144 Stammesverband und betonten die Bedeutung der ‘Volkstumslage’1145, des Kampfes gegen die ‘völkische Überfremdung’1146 und des ‘Ringens um völkische Anerkennung’1147; doch auch ihr Beitrag informierte nicht ausschließlich oder an erster Stelle über die Heimatkunst oder etwa über die kämpferische Dichtung von Cyriel Verschaeve, René de Clercq oder Ferdinand Vercnocke (o1906). In ihrem Aufsatz, der von Fotos von Felix Timmermans, Ernest Claes, Stijn Streuvels, Arthur van Schendel und Marie Gevers (einer Autorin, die in französischer Sprache geschrieben hat!) umrahmt wurde, präsentierten die Autoren auch die | |||||||||||||||||||||||||||||||
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expressionistischen Dichter um Ruimte (1920-1921), die Führer von Forum und schließlich auch die ‘Neue Sachlichkeit’, vertreten durch Ferdinand Bordewijk. Es ist den Nationalsozialisten in den dreißiger Jahren also nicht auf Anhieb gelungen, die rezente, nichtvölkische Entwicklung vollstöndig aus dem deutschen Bild der niederländischen Literatur herauszuhalten. Ebensowenig konnten sie bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ihr Ideal von der ‘Blutsgemeinschaft des großniederländischen Raumes’1148 durchsetzen. Abgesehen von den Beiträgen von Wies Moens und dem niederländischen Literaturhistoriker Gerard Knuvelder für das Werk Katholische Leistung in der Weltliteratur der Gegenwart1149, in denen nicht nur die katholischen Dichter als ‘Führer und Apostel’1150 für eine ‘wahrhaft christliche[...] Ordnung’1151, sondern auch ihre Bedeutung als ‘Kämpfer um die Eroberung des dietschen (groß-niederländischen) Staates’1152 herausgestellt wurden, war in den dreißiger Jahren eher selten von der Literatur ‘Groß-Hollands’1153 die Rede. Stattdessen neigten deutschsprachige Kritiker dazu, die Literatur aus den Niederlanden und Flandern ‘mehr als parallele denn als tief ineinandergreifende Erscheinung’1154 zu präsentieren, oder trennte man die Literatur aus den Niederlanden von der aus Flandern, indem man hervorhob, daß das Niederländische in den Niederlanden nicht nur die Sprache des Volkes, sondern auch der Nation sei, so daß dort ‘weltoffenere, allgemeinmenschliche und individuellere’1155 Literatur entstehen könne, während die flämischen Literaten, wenn dies von B. Rang auch eine ‘gewisse Übertreibung’1156 genannt wurde, ‘nichts anderes als das flämische Volk und das flämische Land’1157 zu besingen vermochten, weil das Wesen des flämischen | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Volkes ‘im Boden, im Blut, in der Verwurzelung in Heimat und Sitte, im religiösen Glauben’1158 liege. Trotz der lebendigen Kontakte zwischen der ‘dietschen’ Bewegung in Flandern und den Niederdeutschen sowie Beteuerungen, daß das neue Deutschland einem ‘dietsch sich erneuernden besonders flämisch aktiven Niederland’1159 Respekt erweisen würde und von einer Erneuerung der ‘fruchtlose[n] Geschichte alldeutsch-großniederländischer Versponnenheit’1160 keine Rede sein könne, setzte sich die während des nationalsozialistischen Regimes propagierte ‘gesamtniederdeutsche [...] Kultureinheit’1161 in den Beiträgen zur niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum nicht durch.1162 Die dritte und größte Schwachstelle beim nationalsozialistischen Versuch, die niederländische Literatur voll in ihr völkisches Programm der ‘nordischen Renaissance’ zu integrieren, lag darin, daß die Idylle im Werk von Autoren wie Timmermans und besonders die religiöse Orientierung im Werk von Timmermans, Claes, Coolen und Walschap trotz Peuckerts Theorien vom Janusgesicht Flanderns die Nationalsozialisten daran hinderten, die niederländische Literatur völlig zu assimilieren. Die katholische Rezeption der niederländischen Literatur bestätigt dies, wie gesagt, da die Katholiken hier eine Alternative zum nationalsozialistischen Literaturprogramm sahen. Bezeichnend waren in diesem Zusammenhang neben den Beiträgen im Gral und in Hochland und den Aufsätzen von W. Moens und G. Knuvelder in Katholische Leistung in der Weltliteratur der Gegenwart auch die Artikel des Bonner Professors Joseph Antz. Seine Darlegungen zur niederländischen Literatur standen zwar im Zeichen des neu erwachenden Gefühls der Verwandtschaft, ‘die uns in unserem volkhaften Sein mit Vlamen und Holländern verbindet’1163, und der Entdeckung der ‘gesun- | |||||||||||||||||||||||||||||||
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den und starken Kräfte im literarischen Leben des “dietschen” Sprachgebietes’1164, aber gleichzeitig rückte er in seinen Essays immer wieder die Bedeutung der religiösen Orientierung der von ihm vorgestellten Autoren in den Vordergrund. Noch 1940 konnte man bei Antz lesen, daß nicht die Rembrandtpreisträger von 1936, sondern Gerard Walschap - der einzige flämische Autor, der das Thema von Blut und Boden in religiöser Schau zu meistern strebe - und die anderen Autoren des christlichen Realismus ‘am reinsten’1165 die ‘Wirklichkeit des flandrischen Landes und des flandrischen Volkslebens’1166 widerspiegelten. Bis 1938 war das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum also durchaus differenziert. Erst danach setzten sich die Nationalsozialisten durch und hatten gemäßigte Studien wie die von Martha Hechtle zur Entwicklung der Dichtung in Flandern ab 1830 kaum noch eine Chance. Im Gegensatz zu Hechtle, die, obwohl sie ausging von einem starken ‘germanische[n] Volkstum’1167, von der Bedeutung der ‘Brückenstellung’1168 Flanderns zu Deutschland und einer ‘gesamtdeutschen Dichtungsgeschichte’1169, zum großen Verdruß von Peuckert De Coster erneut als ‘Ganz- oder Halbwallone[n]’1170 präsentierte und neben dem Werk von bevorzugten Autoren wie Timmermans, Streuvels und De Clercq auch Van Ostaijen und Van de Woestijne würdigte, ja sogar auf die Beziehungen zwischen Roelants und dem Kreis um Forum hinwies, waren die Beiträge zur niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum nach 1938 zumeist ausschließlich von den ‘volkheitlichen Grundlagen’1171, der ‘Erkenntnis von der Gleichheit des Blutes und der | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Rasse’1172 und dem Unterschied zwischen ‘wesenhaft flämischer [...] und zufällig “flämischer” Dichtung’1173 geprägt.1174 Dabei sollten nicht nur die niederländischsprachigen ‘“Landsleute”’1175, die durch ihr ‘Verwachsensein mit Volk und Heimat’1176 den Deutschen ein ‘besonderes Vorbild’1177 seien, endgültig in die ‘harmonische [...] Lebensgemeinschaft mit dem Deutschen Reich’1178 geführt werden, sondern sollte auch nachgewiesen werden, daß das Europäische einer Literatur nicht einfach in einer ‘kosmopolitisch[en] oder international[en]’1179 Orientierung liege, sondern, wie Hans Teske am Beispiel der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern darzulegen versuchte, im Bewußtsein des eigenen Ursprungs. Ein großer europäischer Dichter war nach Hans Teske, um hiermit abzuschließen, dann auch nicht C. Buysse, der unter ‘dem Einfluss der französischen Naturalisten, doch ohne die Mächtigkeit eines Zola’1180 | |||||||||||||||||||||||||||||||
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geschrieben habe und dem ‘Flandern [...] gewissermassen nur zur linken Hand angetraut’1181 sei, sondern S, Streuvels, weil er ‘nicht über sein Volk, sondern aus seinem Volke’1182 arbeite. Im Gegensatz zu anderen Dichtern respektiere Streuvels seine Begrenzung, sei also ‘voll europäisch, weil [...] ganz flämisch’1183. A. Vermeylen, der die ‘völkisch-rassische Wirklichkeit’1184 leider ‘erbittert’1185 bekämpft habe, habe dies richtig gesehen: In Flandern mußte man erst Flame werden, um Europäer werden zu können, was man, noch immer laut Teske, wiederum nicht ‘durch Lockerung und mehr oder minder umfassende Belesenheit’1186 erreichen könnte, sondern nur durch ‘Vertiefung, durch Bindung und neue Schöpfung’1187. Was die Literatur in Flandern betreffe, komme es also darauf an, sich den Fragen der Zeit in einer ‘bezeichnend flämischen Form’1188 zu stellen und ähnlich wie Timmermans und Claes der Provinz ‘ewige Weihe’1189 zu verleihen, indem man sie ‘über ihre einmalige Erscheinungsform’1190 heraushöbe, anstatt wie Van Ostaijen ‘Modedichtung’1191 zu schreiben. Nationalsozialistische Kritiker wie H. Teske lösten den von L. Sertorius in den dreißiger Jahren beschriebenen ‘literarischen Zwiespalt’1192 zwischen ‘nationale[r] | |||||||||||||||||||||||||||||||
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Eigenart, allgemeine[r] Menschlichkeit und Gegenwartssinn’1193 nicht wie Sertorius zugunsten der abendländischen Kultur, sondern zugunsten der völkischen Ideologie.1194 Dabei wurde ausdrücklich betont, daß die ‘Zeit phäakischen Daseins’1195 vorüber sei, daß es nun nicht mehr um Flanderns Stellung in Belgien, sondern ‘um seinen Anteil in Europa’1196 gehe. Deshalb mußte der Bauer, wie in Filip de Pillecijns Soldat Johan (1941, De soldaat Johan, 1939), zum Soldat werden und mußte sich Flandern ‘für die Gemeinschaft, die den Bauern zum Soldaten formt, der für ihre Werte kämpft, für den Boden, für das Land’1197 entscheiden. |
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