Moderne Niederländische Literatur im Deutschen Sprachraum 1830-1990
(1993)–Herbert van Uffelen– Auteursrechtelijk beschermd
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2. Der Zeitraum 1880-19142.1 Eine neue Perspektive auf Flandern und die Niederlande?Mit der zunehmenden politischen Schwächung und schließlich dem Rücktritt Otto von Bismarcks, dessen Politik, was seine Beziehungen zu Belgien und den Niederlanden betraf, auf die Erhaltung des Status quo gerichtet war, interessierte man sich in Deutschland wieder vermehrt aus politischen Gründen für die Geschehnisse im niederländischen Sprachraum.Ga naar voetnoot1 Bereits 1890 erschien in Leipzig Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher, ein Buch, das auf die Entwicklungen deutsch-niederländischer und deutsch-flämischer Beziehungen großen Einfluß ausgeübt hat.Ga naar voetnoot2 In seinem im fragmentarischen, feuilletonistischen Stil der Zeit geschriebenen und äußerst erfolgreichen Werk attackierte Langbehn die Kultur des Deutschen Reiches, weil sie ‘ihren entscheidenden Schwerpunkt nicht in sich selbst’Ga naar voetnoot3 bewahrt habe. Deshalb forderte er eine ‘geistige Achsenverschiebung’Ga naar voetnoot4 weg von den international orientierten Wissenschaften hin zur national orientierten Kunst, weil nur so die Deutschen zu sich selbst finden könnten.Ga naar voetnoot5 Dabei setzte Langbehn seine ganze Hoffnung auf Bodenständigkeit und Individualismus: ‘Künstler Bauer König stehen und fallen mit einander; sie stehen und fallen mit Dem [sic], was der Mensch Heimath nennt; und was ihm das Theuerste auf der Welt ist. [...] die Heimath ist das Ideal.’Ga naar voetnoot6 Langbehn strebte also nach Erneuerung auf Basis von alten Strukturen und völkischer Kultur und stellte das Land der Großstadt und die Kultur der Zivilisation gegenüber: Berlin sollte ‘nicht nur die Hauptstadt von Deutschland, sondern Deutschland auch die Heimath von Berlin sein’Ga naar voetnoot7. | |
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Interessant war das Buch von Langbehn im Zusammenhang mit den deutsch-niederländischen Beziehungen vor allem, weil der Autor den niederländischen Maler Rembrandt van Rijn wegen der ‘völligen Ungezwungenheit und Ueberindividualität’Ga naar voetnoot8 seiner Persönlichkeit als ‘ein wirksames Gegengift gegen das deutsche Schulmeisterthum, welches schon so viel Unheil anrichtete’Ga naar voetnoot9, in den Mittelpunkt stellte. Langbehn präsentierte Rembrandt als ‘Hauptvertreter des deutschen Geistes und [...] Haupterzieher des deutschen Volkes’Ga naar voetnoot10 und maß dadurch auf den ersten Blick den deutsch-niederländischen kulturellen Beziehungen (die deutsch-flämischen kamen bei ihm nicht zur Sprache) eine ungekannt große und im Gegensatz zur Vergangenheit auffallend positive Bedeutung bei. Ab sofort sollten die Niederlande Deutschland nicht nur al ‘nützlicher Wegweiser’Ga naar voetnoot11 dienen, sondern Langbehn sprach sogar davon, daß Deutschland, insbesondere Nord- und Niederdeutschland, zumindest in kultureller Hinsicht ‘eine Kolonie Hollands’Ga naar voetnoot12 werden sollte! Bei näherer Betrachtung bleibt von dieser neuen, scheinbar positiven Perspektive aber kaum etwas übrig. In Wirklichkeit war es wenig spezifisch Niederländisches, mit dem Langbehn die Bedeutung Rembrandts für die deutsche Kultur begründete. Der Holländer Rembrandt wurde in erster Linie als Inbegriff des lokalen Künstlers vorgestellt. Als ‘rechter Holländer’Ga naar voetnoot13 stamme seine Persönlichkeit aus ‘starke[m] Stammesgeist und [...] aus starkem Volksgeist’Ga naar voetnoot14, und ferner gehöre er ‘[...] jenen drei realidealen Ständen gleichmäßig an’Ga naar voetnoot15, denen des Künstlers, des Bauern und des Königs. So wurde Rembrandt den Deutschen, die das ‘edle Gefühl der Stammeseigenthümlichkeit [...] über ihrer politischen Zersetzung [...]’Ga naar voetnoot16 verloren hatten, als Beispiel vorgehalten. Der Verwendete Begriff des Holländers, Langbehn sprach nie vom Niederländer, war also im Grunde genommen inhaltslos. Rembrandt war für Langbehn nichts anderes als ein im Wesen deutscher Künstler. Rembrandt ‘ist als Maler der | |
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Repräsentant [sic] aber zugleich auch der Schilderer - Schilderer bedeutet im Holländischen: Maler - der deutschen Volksseele’Ga naar voetnoot17. Der niederländische Künstler fungiert in Rembrandt als Erzieher nicht nur als Hauptperson, um dem Ganzen ‘künstlerischen Nimbus’Ga naar voetnoot18 zu verleihen, sondern ist vor allem dazu da, damit Langbehn ihn - und mit ihm die niederländische Kultur - einverleiben konnte, wenn auch nicht immer so direkt wie im folgenden Zitat: ‘Er ist Rembrandt, er ist Holländer, ist Deutscher’Ga naar voetnoot19. Langbehn annektierte Rembrandt und mit ihm die niederländische Kultur über ‘künstlerische Kriterien’. Er erkannte in seinen Bildern das Adagio (‘das eigentlich deutsche Tempo der Musik’Ga naar voetnoot20), sprach von einer ‘niederdeutsche[n] Melancholie, die in seinen Bildern lebt’Ga naar voetnoot21, fühlte, daß sich Rembrandt Luther ‘nähert’Ga naar voetnoot22, und sah in Rembrandts Kunst ‘die höchste Leistung’Ga naar voetnoot23, die je in ‘der deutschen Art von Harmonie’Ga naar voetnoot24 erbracht wurde. Sogar ein Vergleich zwischen der Rembrandtschen Malerei und dem Plattdeutschen wurde angestrengt: ‘Das Plattdeutsche ist eine ausgemachte Bauernsprache. Der weiche verschmolzene “butterige” und dabei doch kräftige Charakter der Rembrandtschen Malerei stimmt durchaus mit ihr überein. Rembrandt malte plattdeutsch - wie er holländisch d.h. ein etwas breiteres und selbstbewußteres Plattdeutsch sprach. Man kann ihn einen Dialektmaler nennen.’Ga naar voetnoot25 Diesen Behauptungen lag natürlich die alte Überzeugung von der ‘ursprünglich geistig-kulturelle[n] Einheit’Ga naar voetnoot26 zwischen dem niederdeutschen und dem niederländischen Sprachraum zugrunde. Darüber hinaus darf man nicht außer acht lassen, daß Langbehn in Rembrandt doch an erster Stelle einen ‘Maler für die Deutschen sah, einen Maler für ein Volk, dem er abseits von den modernen Phänomenen der Zeit wieder seine | |
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ganze Individualität, seine Besonderheit und seine Eigentümlichkeit zurückgewinnen wollte’Ga naar voetnoot27. Aber Langbehn verzichtete keineswegs auf den deutschen Führungsanspruch!Ga naar voetnoot28 Rembrandt war nur eine ‘Station’Ga naar voetnoot29 bei der ‘Wiedergeburt Deutschlands im Rembrandt'schen Sinne’Ga naar voetnoot30. Es ging um die geistige Achsendrehung auf die niederdeutsche Nordsee, eine Achsendrehung, mit der im Gegensatz zu späteren alldeutschen Auffassungen direkt zwar keine politische einhergehen müsse - Deutschlands ‘symmetrische oder politische Achse muß wie bisher auf die Ostsee gerichtet bleiben’Ga naar voetnoot31 -, aber in den vereinigten Staaten von Europa, die so entstehen würden, darüber ließ Rembrandt als Erzieher keinen Zweifel, sei Deutschland ‘naturgemäß zum Vorsitz berufen’Ga naar voetnoot32. | |
2.1.1 Der Alldeutsche VerbandLangbehns Rembrandt als Erzieher war nicht nur Ausgangspunkt für Werke wie Adolf Bartels Geschichte der deutschen Literatur und Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts von Richard Wagners Schwiegersohn Houston Steward Chamberlain, ein Buch, das Alfred Rosenberg später wiederum zum Vorbild für seinen Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts nahm, es war wegen seines Plädoyers für die Heimatliteratur auch Wegbereiter für die späteren Erfolge der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum nach 1914 und prägte nicht zuletzt unmittelbar die alldeutsche Ideologie, die wie bei Langbehn von dem Gedanken der ‘Belebung der deutschnationalen Gesinnung, insbesondere Weckung und Pflege des Bewußtseins der rassenmäßigen und kulturellen Zusammengehörigkeit aller deutschen Volksteile’Ga naar voetnoot33 bestimmt wurde. Auch bei den Mitgliedern des 1891 gegründeten Alldeutschen Verbandes standen die Erhaltung des deutschen Volkstums in Europa, die Lösung von Bildungs- und Erziehungsfragen in diesem Sinne, der Streit | |
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gegen die Kräfte, die die nationale Entwicklung behinderten, und eine klare deutsche Interessenpolitik in der ganzen Welt im Mittelpunkt.Ga naar voetnoot34 In diesem Zusammenhang interessierten sich die Alldeutschen von Anfang an für die flämische Bewegung. Nur selten wurde mit gewaltsamer Annexion gedroht, aber dennoch äußerte man sich viel radikaler als in der vorigen Periode, indem man feststellte, daß das Niederdeutsche das ‘echteste, unvermischteste Deutsche’Ga naar voetnoot35 sei und daß Flamen und Niederländer nicht mehr als Ausländer zu betrachten seien.Ga naar voetnoot36 1896 schrieben die Alldeutschen Blätter: ‘Auch unsere Verbindungen mit den Vlämen [sic], jenen Deutschen in den Niederlanden, werden immer lebhafter, und wir versäumen keine Gelegenheit, ihnen zu zeigen, mit welcher Sympathie wir ihren erfolgreichen Kampf gegen das Welschtum verfolgen’Ga naar voetnoot37;und in der nächsten Nummer schrieb Kurd von Strantz: ‘[...] das Vlamentum wirbt endlich um das bethätigte Stammesgefühl in Deutschland zur Abwehr der welschen Knechtschaft. [...] Es gilt mit voller Kraft in die dargereichte Bruderhand einzuschlagen.’Ga naar voetnoot38. Einer der bedeutenden Alldeutschen, der sich besonders den Beziehungen Flanderns - er hatte ab 1896 regelmäßig Kontakt mit Mitgliedern des Brusseler Flamingantenkreises ‘De Distel’Ga naar voetnoot39 - sowie der Niederlande zu Deutschland gewidmet hat, war der Berliner Harold Graevell, der auch unter den Namen Harold Arjuna, Arjuna von Jostenoode und Graevell von Jostenoode publizierte. Auch Graevell war davon überzeugt, daß Flamen und Niederländer wie Preußen, Bayern und Österreicher zu einer großen | |
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deutschen Familie gehörten. Deshalb schlug er vor, daß sich alle germanischen Stämme in einem großen Bund vereinen sollten, wobei allerdings jedem einzelnen Stamm seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit garantiert werden müßten.Ga naar voetnoot40 Um das Band zwischen Niederländischsprachigen und Plattdeutschen zu verstärken, plädierte er einerseits dafür, daß die Norddeutschen auf der Schule Niederländisch lernen sollten, und andererseits dafür, daß Angehörige des niederländischen Sprachraums im Bewußtsein, daß Niederländisch eine Art Plattdeutsch sei, auch Deutsch lernen sollten.Ga naar voetnoot41 Selbstverständlich hoffte Graevell, daß man dies bald in der flämischen Akademie und bei den Sprachkongressen berücksichtigen würde. Was nach Graevells Meinung auf jeden Fall vermieden werden müßte, wäre eine Gleichstellung der beiden Landessprachen in Belgien oder, schlimmer, eine Trennung der beiden Landesteile, denn dann würden beide Teile wahrscheinlich nicht mehr Unterstützung bei einem anderen Partner - Flandern bei Deutschland und Wallonien bei Frankreich - suchen, sondern würde wohl eher eine für die deutsch-flämischen Beziehungen gefährliche Rivalität zwischen beiden entstehen. Deshalb spekulierte Graevell darauf, daß die Flamen irgendwann in Belgien ‘herrschen’Ga naar voetnoot42 | |
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und schließlich dafür sorgen würden, daß der belgische Staat ‘germanisch’Ga naar voetnoot43 würde, denn nochmals: dem ‘Germanismus gehört die Zukunft, auch in Belgien!’Ga naar voetnoot44 Selbstverständlich provozierten solche Äußerungen in Flandern heftige Reaktionen, u.a. von Alfons Prayon van Zuylen (1848-1916), der 1896 Charybdis en Scylla: Verfransching of verduitsching?Ga naar voetnoot45 publizierte, einen Aufsatz, in dem der Brusseler Anwalt und Vorkämpfer der flämischen Bewegung erklärte, daß die Flamen keine Deutschen seien, sie nicht in die Offensive gegen die Wallonen gehen und schon gar nicht durch das Erlernen des Deutschen - eine noch fremdere Sprache als das Französische - freiwillig eine dauerhafte Beziehung zum Reich eingehen würden: ‘De Belgische leus luide: niemands vijand, allemans vriend.
Holland's en Engeland's boezemvriend.
Geen onzer buren op ons boos gemaakt!
Geen onzer buren op ons verlekkerd gemaakt!
Wij gaan niet naar Parijs.
Wij gaan niet naar Berlijn.
Oost, west, t' huis best.’Ga naar voetnoot46
Doch erst im Jahr 1897 - nach dem Erscheinen von Großniederland in den Grenzboten und nach der Publikation der Broschüre Die vlämische Bewegung -Ga naar voetnoot47 bezog der Flämische Volksrat Stellung.Ga naar voetnoot48 In einem offenen Brief an den Alldeutschen Verband distanzierte sich der Rat von Graevells Vorschlägen und erklärte, um jedem weiteren Mißverständnis aus dem Wege zu gehen, daß die Versuche der ‘Alduitsche ijveraars’Ga naar voetnoot49, die flämische Bewegung in den Dienst des Pangermanismus zu stellen, ‘noch met de belangen van ons Vaderland, noch met den wil van ons volk’Ga naar voetnoot50 übereinstimmten. Ferner betonte der Volksrat, wie der niederländische Staatsmann Johan Rudolf Thorbecke es 1837 bereits für die Niederländer getan hatte, daß die Flamen | |
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‘wel Germanen, maar geen Duitschers zijn, dat zij de Duitschers wel voor stamverwanten, doch geenszins voor landgenooten houden, dat hunne taal het Nederlandsch, niet het Hoogduitsch is, en zij het Duitsche Rijk als eene bevriende, maar toch vreemde mogendheid moeten en zullen blijven beschouwen.’Ga naar voetnoot51 Damit war klar, daß auch der Alldeutsche Verband, insbesondere Graevell, keine Annäherung an Deutschland bewirkt, sondern vielmehr erneut einen Beitrag zur Annäherung Flanderns an die Niederlande geleistet hatte.Ga naar voetnoot52 Dies bedeutete nicht, daß die Unterzeichner des ‘Manifestes’ einen Bruch zwischen Flandern und Deutschland anstrebten. Nach wie vor fühlte man sich als germanisches Volk, bewunderte die deutsche Kultur und erklärte, mit dem Nachbarn im Osten in Frieden leben zu wollen. Man wollte also keineswegs die Kontakte zu Deutschland abreißen lassen. Aus diesem Grunde arbeiteten Leute wie Prayon van Zuylen auch bei der Zeitschrift Germania (1898-1905) mit, die vom Alldeutschen Adolf Johann Albert Baron von Ziegesar redigiert wurde und die, wie zu seiner Zeit De Broederhand oder Der Pangermane (1859-1862) von Wolf, den deutsch-flämischen und deutsch-niederländischen Kulturaustausch verbessern sollte. Auch Germania sollte dazu beitragen, daß die Kultur Flanderns (und der Niederlande) nicht hinter einer ‘Chineeschen muur’Ga naar voetnoot53 verkümmerte. Etwaige Bedenken versuchte man, wie folgt, auszuräumen: ‘Geen Vlaming, waardig van dien naam, denkt er aan zijne moederspraak tegen welke andere taal ook in te ruilen; geen Vlaming denkt er aan, 't is gelijk in welke mate, de onafhankelijkheid en de zelfstandigheid der Nederlanden prijs te geven. [...] geen redelijk mensch in Duitschland - en allerminst de hoofden en leiders van het Rijk - koestert verdachte inzichten tegen ons [= die Flamen, HVU]. De Duitschers stellen belang in onze zaak, omdat zij bewust zijn, dat wij hier de voorposten van het Germanendom tegen de verfranschers verdedigen; maar zij weten ook, dat de inpalming der Nederlanden voor het Duitsche Rijk eene wezenlijke verzwakking en in 't geheel niet eene vermeerdering van krachten zou blijken.’Ga naar voetnoot54 | |
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Leider zeigte sich schon bald, daß die Skeptiker recht behielten. Innerhalb kürzester Zeit wurde auch Germania zum typischen Medium ihrer alldeutschen Mitarbeiter, die - abgesehen von der rassistischen und antijüdischen Tendenz, die viele Beiträge zum europäischen Germanentum in Germania, insbesondere nach 1900, ebenfalls kennzeichnete - immer wieder betonten, daß sie die Beziehungen zu den Niederlanden und insbesondere zu Flandern im Rahmen de sogenannten niederdeutschen Politik, die auch ihre Politik gegenüber Südafrika bestimmte, als ‘deutsche’Ga naar voetnoot55 Angelegenheit betrachteten, und die, obwohl sie zumindest die ‘Scheidewand’Ga naar voetnoot56, die die niederländische Schriftsprache vom ‘Deutschtum’Ga naar voetnoot57 trennte, nicht leugneten, ununterbrochen die Überwindbarkeit dieser ihrer Meinung nach nur vordergründigen Trennung hervorhoben. Ebenso unmißverständlich wie in ihrem Vereinsblatt stellten die Alldeutschen und ihre Sympathisanten in Germania die geschichtliche und sprachliche Zugehörigkeit der Niederlande und Flanderns zu Deutschland heraus, machten in diesem Zusammenhang neue Vorschläge zur Vereinheitlichung der niederländischen und deutschen Rechtschreibung und betonten, wo es nur ging, die Notwendigkeit eines näheren (Zoll-, Post-, Verkehrs- oder sonstigen) Anschlusses der Niederlande an das Reich und die zu erwartende grundlegende Hinwendung Flanderns zu Deutschland, die wiederum ihrerseits fast automatisch eine Annäherung der Niederlande an Deutschland nach sich Ziehen würde.Ga naar voetnoot58 Erstaunlicherweise gab es in Germania kaum Beiträge, in denen gegen diese Entwicklung protestiert wurde, obwohl die Redaktion Gegendarstellungen durchaus ermöglichte. Nicht nur Pol de Mont (1857-1931) erwähnte in seinem ausführlichen Beitrag über die Geschichte der flämischen Bewegung mit keinem Wort van Problem der flämisch-deutschen bzw. niederländisch-deutschen Annäherung, sogar Prayon van Zuylen wehrte sich in der Zeitschrift nur einmal gegen Versuche, das Niederländische zum Niederdeutschen zu erklären und gegen Vorwürfe bezüglich des ungermanischen Deutschenhasses der Niederländer.Ga naar voetnoot59 Ohne daß er sich aus dem Mitarbeiterkreis der Germania zurückzog - auch in den Jahrgängen nach 1900 erschienen immer wieder ‘neutrale’ Berichte von Prayon van Zuylen zur Situation in Flandern -, überließ der Genter Anwalt | |
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das Feld Flamen wie Omer Wattez (1857-1935). Dieser propagierte in seinen Publikationen das alte germanische Kulturgut in der Hoffnung, so den französischen Einfluß in Flandern zurückzudrängen - ‘Al wat niet Vlaamsch, niet Germaansch is in onze Vlaamsche gewesten is smokkelwaar’Ga naar voetnoot60 -, und versuchte, der ‘Germaansche beschaving, die in Duitschland hare zwaartekracht heeft’Ga naar voetnoot61, in den Niederlanden und insbesondere in dem auf den Süden orientierten Flandern durch das Erlernen des Deutschen als zweite Fremdsprache zu größerem Einfluß zu verhelfen. Bei der Zurückhaltung von Flamen wie Prayon van Zuylen hat wahrscheinlich auch eine Rolle gespielt, daß der Erfolg von Germania sowohl in Flandern als auch in Deutschland äußerst bescheiden blieb. Die Auflage - sie ist auch ein Beleg für die tatsächliche Resonanz alldeutscher Gedanken in den Niederlanden, Flandern und Deutschland - erreichte gerade 150 Exemplare.Ga naar voetnoot62 Aber Hauptmotiv für die allgemeine Rücksicht gegenüber Germania in Flandern war neben der Tatsache, daß viele Flamen kein Deutsch lesen konnten (so wie die Mehrzahl der Deutschen kein Niederländisch), wohl die bereits im Editorial zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, mit einer Zeitschrift wie Germania der niederländischen Sprache sowie der niederländischen und flämischen Kultur in Europa mehr Gewicht verleihen zu können. Pangermanist wollte man nicht sein oder werden, die niederländische Eigenart sollte gewahrt bleiben, aber auf die Verbreitung niederländischer Literatur im deutschen Sprachraum - in der Zeitschrift erschienen neben Auszügen aus dem Werk flämischer und niederländischer Autoren (um die bedeutendsten zu nennen: Isidoor Teirlinck (1851-1934), Julius Sabbe (1846-1910), Raymond Stijns (1850-1905) und Virgenie Loveling (1836-1923)) auch einzelne Studien und Betrachtungen zur niederländischen Literatur - wollte man offenbar nicht verzichten. Am Ende vielleicht auch nicht zu Unrecht, denn Germania war nicht nur ein Forum für Tony Kellen und Heinrich Bischoff, Autoren, die sich, wie die Bibliographie zeigt, sehr für die Verbreitung der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum eingesetzt haben; in der Zeitschrift erschienen neben einigen Skizzen niederländischer Schriftsteller auch interessante Aufsätze zu Guido Gezelle (1830-1899), Nicolaas Beets und einige wichtige Beiträge zu den | |
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niederländischen Achtzigern, die alle, vielleicht weil sie teilweise aus anderen Zeitschriften übernommen wurden, nicht nur weitgehend von pangermanistischer Ideologie frei waren, sondern in denen man sich sogar ausdrücklich gegen die ‘irrigen Meinungen des Auslands, besonders Deutschlands, über die Unbedeutendheit der holländischen Literatur und die Hässlichkeit der Sprache’Ga naar voetnoot63 oder gegen die Oberflächlichkeit, mit der im deutschen Sprachraum die niederländische Literatur betrachtet wurde, wehrte.Ga naar voetnoot64 Was den pangermanistischen Unterton in den Beiträgen zur niederländischen Literatur betraf, gab es in Germania nur zwei Ausnahmen, und diese waren nicht etwa, wie vielleicht erwartet, Heinrich Bischoff oder Tony Kellen, sondern Otto Hauser, der Herausgeber der Niederländischen Lyrik von 1875-1900 (1901), der in Germania stärker als in anderen Beiträgen den ‘germanischen Charakter’ der niederländischen Dichtung in den Vordergrund stellte, und S.B. van Maarssen, der Verfasser einiger Skizzen niederländischer Schriftsteller, die in den letzten Jahrgängen der Zeitschrift erschienen.Ga naar voetnoot65 Wohl in der Hoffnung, so der Tendenz der Zeitschrift besser entsprechen zu können, stellte Van Maarssen in seinem Beitrag zu Multatuli heraus, daß dieser Autor gerade deshalb zu den bedeutendsten Schriftstellern der niederländischen Literatur des 19. Jahrhunderts gerechnet werden müsse, weil er sich der ‘Bewegung zum Kampfe gegen das französische Element in Belgien und Holland in Wort und Schrift’Ga naar voetnoot66 angeschlossen habe. | |
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2.1.2 Pol de MontGerade in alldeutschen Kreisen war der flämische Dichter und bedeutende Führer der flämischen Bewegung Pol de Mont, der eine wichtige Rolle bei den deutsch-flämischen Beziehungen und der Förderung der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum gespielt hat, gut bekannt.Ga naar voetnoot67 De Monts Interesse für die Alldeutschen resultierte aber nicht nur aus seinem festen Glauben an die Verbundenheit mit dem Osten.Ga naar voetnoot68 Der flämische Autor war ganz allgemein international orientiert und verfolgte deshalb aufmerksam die Entwicklungen in der neueren deutschen Literatur, genauso wie die in der niederdeutschen, über die er ab 1879 regelmäßig mit Klaus Groth korrespondierte.Ga naar voetnoot69 Ferner kennzeichnete ihn ein ausgesprochenes Engagement für die niederländische Literatur aus Flandern. Pol de Mont wollte die ‘chinesische Mauer’ um die flämische Literatur einreißen.Ga naar voetnoot70 Gerade deshalb hat er nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Deutschland viele Vorträge über die Literatur aus Flandern und die flämische Bewegung gehalten. Zugleich versuchte er, mit der Publikation einiger Anthologien das flämische Volk selbst mit seiner eigenen Literatur bekannt zu machen.Ga naar voetnoot71 Al einer der ersten hat er sich für die Erneuerung der niederländischen Literatur in Flandern eingesetzt.Ga naar voetnoot72 Dabei verlor er auch als Vorkämpfer der ‘L'art pour l'art- | |
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Bewegung’ sein Ziel der Emanzipation des flämischen Volkes nicht aus dem Auge: ‘Het zo vaak veroordeelde aristocratisme van de vormkunstenaars noemt hij [= De Mont, HVU] een drogreden om de echte tekorten van de Vlaamse dichtkunst te verdoezelen, namelijk “burgerlijkheid van opvatting” en “schaarsheid en banaliteit van vorm”. Daar liggen volgens hem de redenen voor de mediocriteit van de Vlaamse poëtische produktie in het Europese perspectief’Ga naar voetnoot73. 1896 erklärte De Mont öffentlich seine Sympathie für den Alldeutschen Verband. In seiner Rede hob er zunächst hervor, daß er als Privatperson sprach, betonte aber doch zugleich, daß gewiß viele Flamen ebenso wie er dächten. Daraufhin stellte er fest: ‘Wir haben die Überzeugung, daß eine Zeit kommen wird, da der herrliche Traum nicht nur aller zum Selbstbewußtsein gekommenen Vlamländer: nämlich die, wenn auch nicht politische, so doch nationale Einheit der alten Niederlande wiederhergestellt sein wird, und da das einig gewordene schöne Land am nordischen Meere, ohne nur ein tausendstes Teilchen seiner eigenen Institutionen zu verlieren, freiwillig eintreten wird in den [...] alldeutschen Völkerbund.’Ga naar voetnoot74 Bis dahin müßte aber aus seiner Sicht noch einiges unternommen werden. Vor allem sollte man sich im deutschen Sprachraum für die Verbreitung der flämischen Kultur einsetzen. | |
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Wie immer ging er mit gutem Beispiel voran. Auf dem Verbandstag von 1896 folgte De Mont der Bitte des Verbandes, in den einzelnen Ortsgruppen eine Rede über die flämische Bewegung zu halten. In seinem Vortrag vor der Leipziger Ortsgruppe sprach er von der ‘urgermanische[n]’Ga naar voetnoot75 flämischen Bewegung sowie dem urgermanischen Charakter der niederländischen Sprache und betonte zugleich, daß sie diesen Charakter nicht verloren habe, weil sie nun ‘mehr partikularistisch Niederländisch’ heiße und nicht mehr ‘Dietsch, d.h. Deutsch’Ga naar voetnoot76. Hier trat also der Kern des De Montschen Pangermanismus hervor: Der ‘Führer der pangermanistischen Bewegung in Belgien’Ga naar voetnoot77, wie O. Hauser ihn nannte, mochte sich nicht von Deutschland trennen, erhob für sich und den niederländischen Sprachraum allerdings den Anspruch, eine partikularistische Stellung einnehmen zu können. Daß P. de Mont kein Anhänger einer Annexion Flanderns durch Deutschland war, bewies neben seinen Beiträgen in der Zeitschrift Germania auch seine Haltung gegenüber Belgien. Er hat nie dem Föderalismus das Wort geredet, sondern im Gegenteil immer wieder die Existenzberechtigung des belgischen Staates verteidigt. Belgien sollte unbedingt nach innen stark bleiben.Ga naar voetnoot78 In diesem Sinne schrieb er 1903 bezüglich seiner Haltung gegenüber dem östlichen Nachbarn in einem Brief an J. van Rijswijck: ‘Ik ben pangermanist, indien men daardoor bedoelt 'het streven naar wetenschappelijke, esthetische, zelfs commerciële, niet echter politieke toenadering tussen Duitsers van alle Duitse staten en stammen en Hollanders en Vlamingen [...]’Ga naar voetnoot79. Dies bedeute aber nicht, so fuhr er fort, ‘dat ik België zou willen ingelijfd zien bij Pruisen’Ga naar voetnoot80. Obwohl De Monts Sympathien den durchschnittlichen Grad der Deutschfreundlichkeit in Flandern überstiegen, blieb sein Hauptanliegen also immer die Verbreitung der flämischen Kultur in Flandern sowie im Ausland. | |
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2.2 Niederländische Literatur im deutschen Sprachraum 1880-19142.2.1 Der Stammesbruder und sein Werk im deutschen SprachraumDie Beziehungen, die P. de Mont zu Deutschland und insbesondere zum Alldeutschen Verband hatte, lassen erwarten, daß gerade sein Werk im deutschen Sprachraum besondere Aufmerksamkeit errang. Dies war tatsächlich der Fall. Zwar blieb die Zahl der Übersetzungen seiner Werke eher bescheiden, aber man muß berücksichtigen, daß er vor allem Lyriker war. Neben dem ersten Sammelband von Heinrich Flemmich, der auch De Monts Drama Zanna (1889, ndl. 1887) übertrug, wurden noch eine weitere Sammlung mit dem Titel Zeiten und Zonen (1899) und De Monts Idyllen (1893) in Poesie und Prosa in einer Übersetzung von Albert Möser publiziert.Ga naar voetnoot81 Natürlich hat bei der Rezeption der Werke De Monts im deutschen Sprachraum sein Name als ‘Stammesbruder’Ga naar voetnoot82 und seine Rolle als Vorkämpfer der flämischen Bewegung eine Rolle gespielt. Bereits bei Flemmich stand die Rolle De Monts als liberaler Kämpfer für die flämische Bewegung im Vordergrund und wurde die Tatsache, daß De Mont sich von ‘ablenkenden romanischen Einflüssen’Ga naar voetnoot83 befreite, um entschieden eine ‘deutsche Richtung’Ga naar voetnoot84 einzuschlagen, ausdrücklich hervorgehoben. 1893 war bei Möser zu lesen: ‘Für Pol de Mont [...] würde jener Beifall nur der gebührende Dank sein, den ihm Deutschland für seine innige Teilnahme am deutschen Geistesleben schuldet [...] Und noch mehr: nicht nur der Dichter kämpft einen schweren Kampf [...], sondern das Gleiche gilt auch von den vlämischen Bewohnern Belgiens gegenüber dem immer dreister auftretenden Franzosentume. In diesem Kampfe zwischen romanischem und germanischem Geiste können die Vlamländer - von Holland abgesehen - nur an Deutschland eine Stütze finden. Nach Deutschland hin gravitieren sie denn auch naturgemäß, und würdige Werke des vlämischen Dichtergeistes als solche anerkennen und ihnen zu der verdienten Verbreitung verhelfen heißt zugleich den germanischen Geist in den betreffenden Gebieten gegen eine Unterdrückung durch das Franzosentum schützen’Ga naar voetnoot85. | |
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Dennoch ist es nicht so, daß der Erfolg De Monts ausschließlich auf sein Interesse für Deutschland oder gar auf seine Beziehungen zum Alldeutschen Verband zurückzuführen ist. Was letztere betrifft, möge der Hinweis genügen, daß die ersten Übersetzungen der Werke De Monts schon 1888, also vor der Gründung des Alldeutschen Verbandes 1891, im deutschen Sprachraum erschienen und daß der Verleger zahlreicher alldeutscher Werke, J. Lehmann, außer dem Löwen von Flandern nie niederländische Literatur verlegt hat, auch nicht das Werk des ‘Freundes der Alldeutschen’ Pol de Mont. Der Erfolg De Monts im deutschen Sprachraum beruhte ebenso auf einer Bewunderung der literarischen Qualitäten seines Werkes. Dabei fällt auf, wie sehr das Werk De Monts noch aus der alten, romantisch-idyllisch dörflichen Perspektive betrachtet wurde, so wie sie in der vorigen Periode von Autoren wie Conscience geprägt worden war. Nicht nur Flemmich betonte in seiner Einleitung ausdrücklich seine Vorliebe für romantisch idyllische Dichtung und überließ den Hinweis auf die modernistischen Züge De Monts Klaus Groth, den er ohne ein Wort der Erläuterung feststellen ließ, daß die Kraft De Monts in seiner ‘Begeisterung für Natur und Menschen’Ga naar voetnoot86 liege sowie in den ‘wechselnden Reimen und Rhythmen [...] im Wohlklang der Sprache [...] und immer neue[n] Bilder[n] und Formen’Ga naar voetnoot87. Auch Möser kam der damaligen Vorliebe für flämische Idylle und ländlichen Realismus entgegen, indem er Stimmungsbilder an den Schluß seiner Auswahl setzte, ‘bei denen man den Erdgeruch der Scholle nicht vermissen wird’Ga naar voetnoot88. Die von De Mont eingeleitete Erneuerung in der niederländischen Literatur blieb bei seiner Beurteilung im deutschen Sprachraum also im Hintergrund. Dies zeigte sich sehr deutlich bei der Besprechung des Bandes Zeiten und Zonen, der 1900 publiziert wurde. Der Band war dem Dichter Hermann Lingg gewidmet, aber Walter Bormann, dessen Rezension offensichtlich wie das besprochene Buch anläßlich des ‘herannahenden achtzigsten Geburtstage[s]’Ga naar voetnoot89 des Dichters Lingg erschien, setzte beide Formalisten nicht zueinander in Beziehung. Statt mit Lingg verglich Bormann De Mont mit Robert Hamerling und sprach von einer ‘sinnlichen Darstellungskunst’Ga naar voetnoot90, von ‘Bildern idyllischer Art’Ga naar voetnoot91 auf der einen und | |
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‘schlichteren Darstellungen’Ga naar voetnoot92 auf der anderen Seite. Auf diese Weise ordnete er De Mont ebenfalls - ganz dem Bild der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern um die Jahrhundertwende im deutschen Sprachraum entsprechend - als Autor von ‘Dorfgeschichte[n] in Versen’Ga naar voetnoot93 ein.Ga naar voetnoot94 Obwohl das Werk De Monts also durchaus aus ‘germanischer’ Perspektive betrachtet wurde und die Erneuerung, die De Mont in der Literatur in Flandern einleitete, im deutschen Sprachraum nur am Rande gewürdigt wurde, nicht zuletzt wohl, weil das Bild der niederländischsprachigen Literatur im deutschen Sprachraum weiterhin von Conscience geprägt war, hat der Einsatz von De Mont und die Übersetzung seines Werkes wesentlich dazu beigetragen, daß gerade, was die Perspektive auf die Literatur aus Flandern betraf, in dieser Periode eine Wende eingeleitet werden konnte. Zunächst muß in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, daß um die Jahrhundertwende ein leichtes Ansteigen des Interesses für die niederländischsprachige Literatur aus Flandern beobachtet werden kann. Dies ist zwar nicht das alleinige Verdienst Pol de Monts gewesen, auch bekannte Kritiker wie Heinrich Bischoff, Paul Raché und Otto Hauser haben daran einen wesentlichen Anteil gehabt, aber De Mont hat den Ausgangspunkt für diese Entwicklung gesichert, denn er war in der Periode 1870 bis 1900, von Conscience wieder einmal abgesehen, der einzige bedeutende Vertreter der niederländischen Literatur Flanderns im deutschen Sprachraum. Ferner ist darauf hinzuweisen, daß sowohl Flemmich als auch Möser anders als viele ihrer Zeitgenossen in der jeweiligen Einleitung zu ihren Übersetzungen von der Einheit der Literatur aus den | |
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Niederlanden und Flandern ausgingen.Ga naar voetnoot95 Daraus geht also hervor, daß De Mont trotz seiner Hinwendung zu den Brüdern im Osten zumindest bei seinen Übersetzern mit Erfolg die Zusammengehörigkeit der südlichen und nördlichen Niederlande in kultureller Hinsicht hervorgehoben und die Einheit der niederländischen Literatur der Zugehörigkeit zur ‘germanischen Völkerfamilie’ gegenübergestellt hat.Ga naar voetnoot96 Schließlich ist es drittens Pol de Monts großes Verdienst gewesen, nicht nur Otto Hauser zu seiner Anthologie über die niederländische Literatur der achtziger Jahre motiviert zu haben, sondern u.a. auch auf das Werk G. Gezelles aufmerksam gemacht und damit da beigetragen zu haben, die deutschsprachigen Leser mit dem großen Vorläufer der Erneuerung in der niederländischen Literatur in Flandern in den neunziger Jahren bekannt zu machen.Ga naar voetnoot97 Damit war trotz alldeutscher Tendenzen ein bescheidener, aber wichtiger Grundstein für eine neue Betrachtung der niederländischen Literatur gelegt. | |
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2.2.2 Guido GezelleWie die Prosa von Conscience stand auch die Dichtkunst des 1830 in Brugge geborenen und dort 1899 verstorbenen Priester-Dichters Guido Gezelle im Zeichen des Wiederauflebens der flämischen Kultur. Sie war Ausdruck der für die Literatur aus Flandern typischen (literarischen) Suche nach der eigenen Identität und einer eigenen Sprache, um diese Identität zum Ausdruck zu bringen. Gezelle war Individualist. Er glaubte an die Genialität des Künstlers, ohne dabei seine Überzeugung, daß die Kunst eine katholische Grundlage besitzen sollte und nie die Verbindung zu ihrem natürlichen und kulturellen Ursprung verlieren dürfe, zu verleugnen. Immer wieder hat er betont, daß die wahre Dichtung die Sprache des Volkes sprechen müßte. Deshalb wählte er für seine Poesie den westflämischen Dialekt seiner Heimat, der für ihn ein ‘vorzügliches Mittel zur Bewahrung des eigenen Charakters der westflämischen Gemeinschaft’Ga naar voetnoot98 darstellte. Die partikularistische Bewegung in Westflandern, die Gezelle damit um die Mitte des vorigen Jahrhunderts einleitete, wiederholte also noch einmal für die eigene Region, was die flämische literarische Bewegung von Anfang an gewollt hatte: die Sicherung der Existenz als christliches, ureigenes Volk, um es mit den Worten Guido Gezelles zu sagen.Ga naar voetnoot99 Zugleich eröffnete Gezelles Streben nach einer eigenen Sprache, mit der er sowohl seine Identität zum Ausdruck bringen als auch dieselbe dichterisch erforschen konnte, ihm den Weg zur internationalen Poesie. Auf Basis seines selbstbewußten Partikularismus wurde Gezelle zum Meister der impressionistischen Dichtkunst und der religiösen Poesie im niederländischen Sprachraum und erkundete quasi im Alleingang 20 Jahre vor der großen literarischen Erneuerungsbewegung in den Niederlanden die Möglichkeiten der ‘poésie pure’. Im deutschen Sprachraum blieb Gezelle bis zu seinem Tode so gut wie unbekannt. Erst 1900 erschien von De Mont der erste ausführliche Aufsatz über ihn in der deutschen Zeitschrift Der Türmer, deren | |
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Herausgeber ein Liebhaber der niederdeutschen und baltischen Literatur war.Ga naar voetnoot100 De Mont präsentierte Gezelle in erster Linie als einen religiösen Dichter, dessen Poesie eine ‘naive, natürliche Mystik’Ga naar voetnoot101 und ‘inniges Gottesvertrauen’Ga naar voetnoot102 ausstrahle.Ga naar voetnoot103 Zugleich zeigte er, daß sich Gezelles Naturdichtung, zu der der Dichter immer wieder finde, durch ‘eigene Sprache’Ga naar voetnoot104 und ‘eigenen Rhythmus’Ga naar voetnoot105 auszeichne und daß der Autor in seinen Gedichten ‘jeden Eindruck, jede Gefühlsnuance [...] in originellen, ursprünglichen Bildern’Ga naar voetnoot106 wiedergebe. Da war es fast überflüssig zu betonen, daß Gezelles Werk seiner Meinung nach zum ‘Vortrefflichsten’Ga naar voetnoot107 gehörte, was ‘in den Niederlanden überhaupt geschrieben wurde’Ga naar voetnoot108. Einen großen Teil seines Nachrufes widmete De Mont der Frage, warum Gezelle, ‘de größte vlämische Lyriker dieses Jahrhunderts’Ga naar voetnoot109, außerhalb seiner Heimat unbekannt geblieben war. Dafür fand er im wesentlichen drei Ursachen: Erstens die Tatsache, daß Gezelle vielleicht selbst ‘nicht wählerisch’Ga naar voetnoot110 genug gewesen sei, d.h. seine Dichtung nicht selbstkritisch genug betrachtet habe; wobei er zu Recht zugleich hervorhob, daß es gerade dieser Zug war, der Gezelle als ‘lebendigen Organismus’Ga naar voetnoot111, als Dichter, der gewachsen ist, zeigte. Zweitens stellte De Mont fest, daß Gezelle von seinen Bewunderern zum Teil übertrieben gelobt werde.Ga naar voetnoot112 Und schließlich war De Mont der Meinung, daß Gezelle in einer Zeit, die in literarischer Hinsicht durch bürgerlichen Realismus gekennzeichnet war, als ‘Sänger des Ichs’, ‘der alles, was er hört und sieht, unveränderlich zurückführt auf sein eigenstes, innerliches Erleben’Ga naar voetnoot113, unverstanden bleiben müsse.Ga naar voetnoot114 | |
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In diesem Kontext stellt sich, um auch einmal auf solche Erklärungsversuche einzugehen, die Frage, inwiefern diese wichtigen Erklärungen für die späte Anerkennung Gezelles im niederländischen Sprachraum auch auf die Rezeption im Ausland zutrafen. Die Tatsache, daß Gezelle als ‘Sänger des Ichs’ im Zeitalter des Realismus fehl am Platz war, dürfte tatsächlich die Rezeption Gezelles im Ausland behindert haben, aber bei De Monts Feststellung, daß Gezelle nicht selbstkritisch genug gewesen oder daß er von seinen Bewunderern zu sehr gelobt worden sei, kommen, was die Rezeption im deutschen Sprachraum betrifft, Zweifel auf. Schließlich kann ein Übersetzer oder ein Herausgeber, insbesondere bei der ersten Übersetzung, weitgehend selbst entscheiden, was übersetzt wird oder nicht. Wichtiger wäre da schon der Hinweis gewesen, daß man sich im deutschen Sprachraum, was die niederländische Literatur anging, bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts vor allem auf Unterhaltung konzentriert hatte und daß die literarischen Entwicklungen in der niederländischen Literatur, insbesondere die Erneuerungen in der Poesie (dies zeigt doch sehr deutlich die Reaktion auf das Werk De Monts), bei ihrer Rezeption im deutschen Sprachraum in diesem Zeitraum kaum eine Rolle gespielt hatten.Ga naar voetnoot115 Wie dem auch sei, die konkrete Wirkung des Beitrages von Pol de Mont blieb beschränkt. Von einigen Übersetzungen in Sammelwerken abgesehen - mit Ida von Düringsfeld als Vorreiterin, die bereits 1860 Poesie von Gezelle übersetzte -, fand das Werk von Gezelle erst 1917 mit Rudolf Alexander Schröder einen deutschen Übersetzer.Ga naar voetnoot116 Dieser konnte | |
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dann auch nicht anders, als in seinem Nachwort Gezelles weitgehende Unbekanntheit zutiefst zu bedauern: ‘Gezelle [teilt] mit solchem Schicksal das Los seiner übrigen flämischen Land- und Kunstgenossen, deren reiche Gaben und Schätze unter dem eigenen in Armut und Unwissendheit zurückgehaltenen Volk nur einen geringen Teil der ihnen innewohnenden befruchtenden Kräfte entfalten konnten, und deren Stimme kaum jemals außerhalb der engen Grenzen ihres eigenen Sprachgebietes den Widerhall gefunden hat, dessen sowohl der einzelne als auch eine ganze Literatur bedarf, um zu voller Freiheit und Blüte zu gelangen’Ga naar voetnoot117. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der Name Gezelle bis dahin völlig unerwähnt blieb. Angesichts der Tatsache, daß bis 1917 kein Werk Gezelles als selbständige Publikation auf deutsch erschien, wurde er nach dem ersten Beitrag von De Mont im deutschen Sprachraum vergleichsweise oft besprochen. Dabei bot, zur alten Perspektive auf die niederländischsprachige Literatur aus Flandern passend, aber anders als bei De Mont, wo das Idyllisch-Dörfliche in den Vordergrund rückte, offensichtlich die katholische Orientierung des flämischen Priester-Dichters einen guten Zugang. Dieser Aspekt, den schon De Mont hervorgehoben hatte, war der Ausgangspunkt von zwei größeren Beiträgen zu Gezelle im ersten Dezennium dieses Jahrhunderts. Einer der beiden Aufsätze von J. Andwein, die in der Wahrheit publiziert wurden, trug den Untertitel ‘ein westflämischer Dichter und Sprachforscher 1830-1899’. Er konzentrierte sich aber vor allem auf Gezelles Bedeutung als ‘Wohltäter um die Erhaltung des katholischen Glaubens’Ga naar voetnoot118, die auf Gezelles Förderung ‘des unverfälschten Volkstums, altflämischer Seelengröße’Ga naar voetnoot119 und insbesondere auf seinen Einsatz für das Westflämische, den ‘älteste[n], logistischste[n], melodischste[n] und bildungsfähigste[n] aller thioistischen Dialekte’Ga naar voetnoot120, zurückzuführen sei, dessen Schönheit wiederum dem ‘katholischen Volkscharakter’Ga naar voetnoot121 viel mehr als der ‘klassizistische[n] und gallizistische[n] Literaturbewegung’Ga naar voetnoot122 entspreche.Ga naar voetnoot123 Andwein betonte | |
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auch, daß Gezelles Poesie ‘wesentlich Lyrik’Ga naar voetnoot124 sei, ‘mystisch [..] überaus einfach, einfältig, natürlich, gleich fern von theologischer Belehrung wie weltabgewandtem Sinne, nicht feurig und hinreißend, sondern still wie in verhaltener Glut’Ga naar voetnoot125. Zugleich sei sie ‘bedächtig, schlicht wie das Wesen des vlämischen Landvolkes, dessen echter Sohn er’Ga naar voetnoot126 sei. Deshalb finde Gezelle als Naturdichter ‘schwerlich seinesgleichen’Ga naar voetnoot127. Ebenfalls von der Religiosität des Dichters ausgehend, aber in einem engeren Rahmen als im Beitrag in der Wahrheit, beurteilte die Wissenschaftliche Beilage zur Germania den flämischen Dichter. P. Paulin versuchte in seinem Aufsatz zu zeigen, daß mit der Literatur der Moderne ‘fast unbeachtet [...] katholische Poesie größeren Stils’Ga naar voetnoot128 einhergehe. Als Beispiel wurden Hermanus Schaepman (1844-1903) als eher objektiver Dichter und Gezelle als der typische subjektive Schriftsteller - ‘so subjektiv, wie es die Moderne nur verlangen kann’Ga naar voetnoot129 - präsentiert. Gezelle kenne aber nicht, so wurde zugleich einschränkend hinzugefügt, ‘die Leidenschaft der Moderne, das erotische Problem liegt ihm ferne, er kennt | |
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nur die eine große Liebe [...], die man Gottsfreundschaft nennt’Ga naar voetnoot130. In diesem Beitrag wurde Gezelle also an erster Stelle als Beweis dafür angeführt, ‘daß sich Katholizismus und Literatur nicht ausschließen’Ga naar voetnoot131. 1907 öffnete sich mit einem Aufsatz von K.F. Wiegand in der Neuen Zürcher Zeitung die Perspektive auf den flämischen Dichter. Der Beitragende, in Amsterdam durch einen Vortrag von Hugo Verriest (1840-1922), der 1905 ein größeres Essay über Gezelle in Germania publiziert hatte, auf Gezelle aufmerksam gemacht, zeigte sich darin nicht nur über die Rolle des Niederländischen in Flandern gut informiert, sondern auch über die flämische Bewegung, die Literatur in Flandern und den Niederlanden, und insbesondere über Gezelle. Die Bedeutung Gezelles als religiöser Dichter rückte bei Wiegand nicht völlig in den Hintergrund - zu Recht war die Rede von Gezelles Dichtung als ‘inbrünstige[m] Gebet’Ga naar voetnoot132 -, aber mit ebensoviel Nachdruck wurde nun hervorgehoben, daß das ‘Sprachgenie’Ga naar voetnoot133 Gezelle das Niederländische in Flandern wieder zum Leben erweckt hatte, wurden die Schwierigkeiten, die er als Lehrer mit der katholischen Obrigkeit hatte, ausführlich geschildert und wurde dargelegt, daß seine nicht mystische, sondern malerische Naturdichtung inzwischen in den Niederlanden und Flandern außerordentlich geschätzt werde und eine ganze Reihe von niederländischsprachigen Dichtern beeinflußt habe. Schon im gleichen Jahr wurde im Literarischen Echo der Aufsatz aus der Neuen Zürcher Zeitung wieder aufgegriffen. Allerdings wurde Gezelle jetzt an erster Stelle als bedeutender Dichter Belgiens präsentiert, der ‘engsten Anschluß an das Volkstum seiner Heimat’Ga naar voetnoot134 suchte und der ‘von Anfang an bodenständig [...] das Seine dazu [beitrug], dem vlämischen Volke seine lange verachtete Sprache wieder zu adeln und lieb zu machen’Ga naar voetnoot135. Darüber hinaus erkannte A. Keller in Gezelle den Sprachkünstler: ‘Die vlämische Sprache wurde nicht nur durch ihn erneuert, sondern auch gehoben durch einen unerschöpflichen Wortschatz, durch prachtvolle Neubildun- | |
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gen. Die gesamte niederländische Literatur spürt die Einwirkung dieses Sprachweckers’Ga naar voetnoot136. Erst 1910 schloß sich J. (Jozef?) de Cock, der offensichtlich wie K.P. Wiegand über H. Verriest mit Gezelle bekannt wurde, wieder voll der offenen Perspektive der Neuen Zürcher Zeitung an.Ga naar voetnoot137 Er betonte nicht nur, daß Gezelle anders als Conscience ‘nicht streitbar auftrat’Ga naar voetnoot138, wobei er hinzufügte, und hier klang die Stimme des Mentors Verriest durch: ‘Ist es ihm [= Gezelle, HVU] gleich nicht möglich gewesen, sich mitten ins Kampfgewühl zu stürzen, und er hat bloß gelegentlich ein kräftiges Wort mitsprechen können, so hat er doch sein Leben lang gedacht und gedichtet in bewußtem Gegensatz zum Franzosentum. Aus Haß gegen das Franzosentum hat er uns gelehrt, Flandern zu lieben’Ga naar voetnoot139. De Cock stellte in seinem Aufsatz darüber hinaus Gezelles Ursprünglichkeit, seine Wahl für den Dialekt seiner Heimat und die negativen Konsequenzen, die dies für seine Rezeption hatte, Gezelles Natürlichkeit, seine tiefe Religiosität sowie seine Bedeutung als Philologe heraus. Schließlich sprach De Cock von Gezelle als vom ‘größten Dichter niederdeutschen Stammes’Ga naar voetnoot140 nach Vondel und verglich sein Werk mit dem von Goethe.Ga naar voetnoot141 Obwohl es bis dahin keine selbständig erschienenen Übersetzungen von Gezelles Poesie gab, war um 1910 der von De Mont in den deutschen Sprachraum eingeführte Dichter zum Beispiel für die Wende in der niederländischsprachigen Literatur in Flandern geworden. Mit ihm wurde | |
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sogar der Erfolg der ‘geniale[n] Erzählungen’Ga naar voetnoot142 seines Neffen Stijn Streuvels (1871-1969) erklärt: ‘Zurzeit verspürt man den Hauch Gezelles in der gesamten niederländischen Literatur, am deutlichsten natürlich in der flämischen. Gerade die besten leben und weben in der Gezelleschen Atmosphäre und zeitigen eine urwüchsige, bodenständige, lebensfähige Dichtung’Ga naar voetnoot143. Während des Ersten Weltkrieges, um hierauf abschließend einzugehen, obwohl dies den Rahmen der jetzt zur Diskussion stehenden Periode eigentlich sprengt, rückte natürlich wieder mehr Gezelles Bedeutung für die Emanzipation des flämischen Brudervolkes in den Mittelpunkt. Die Tatsache, daß Gezelle wegen ‘seines Flamentums auf einen Strafposten’Ga naar voetnoot144 versetzt wurde, und Gezelles Bedeutung für die ‘Vertiefung des flämischen Volksbewußtseins’Ga naar voetnoot145 wurden damals verstärkt hervorgehoben. Trotz der unübersehbaren ‘Zuspitzung der deutschen Volkstumsideologie’Ga naar voetnoot146 nahm diese Perspektive aber nicht überhand. Auch in den Jahren nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges standen in den Beiträgen zu Gezelle die literarischen und religiösen Aspekte nicht im Hintergrund.Ga naar voetnoot147 Auch während des Ersten Weltkrieges betonte man, daß das Werk von Gezelle eine ‘ganz andere, mit Worten von vornherein oder nachträglich gar nicht zu bestimmende, völlig eigentümliche Einstellung’Ga naar voetnoot148 fordere. Von größter Bedeutung waren in diesem Zusammenhang die ausführlichen Würdigungen Gezelles vom Münsteraner Professor für Deutsche Sprache und Literatur Franz Jostes in der Internationalen Monatsschrift für Wissenschaft Kunst und Technik, die er später in seiner Übersicht über die flämische Literatur zusammengefaßt hat, und der Abschnitt ‘Von Rodenbach bis de Clercq’ aus der Studie von Theodor Frings, in dem auch dieser ausführlich auf Gezelle einging. | |
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Beide Autoren zeigten sich nicht nur davon überzeugt, sondern versuchten zum ersten Male auch ausführlich zu begründen, warum der ‘größte priesterliche Dichter nach Franz von Assisi’Ga naar voetnoot149 gerade als moderner Dichter der ‘Wahrheit, Einfachheit und Natürlichkeit’Ga naar voetnoot150 ‘seinen Platz unter den Besten der Weltliteratur’Ga naar voetnoot151 verdiene. Dabei setzten sie jeweils andere Akzente. Als einer der ersten im deutschen Sprachraum kennzeichnete Frings Gezelles Poesie als eine in ihrer Art einzigartige, individualistisch-realistische Romantik und stellte fest, daß die ‘alte Sprache’Ga naar voetnoot152 für die ‘neue Kunst in Flandern’Ga naar voetnoot153 nicht reiche, wobei er bezeichnenderweise Gezelle zugleich auch dafür dankte, daß er ‘das Flämische vor der Übertreibung und Manier’Ga naar voetnoot154 der französischen Naturalisten und deren Nachfolger bewahrt habe. Jostes, der Verfasser der in ihrer Art ebenfalls typischen Schrift Die Vlamen im Kampf um ihre Sprache und ihr Volkstum aus dem Jahr 1915, betonte erwartungsgemäß, daß Gezelle ‘ein Flamingant vom Scheitel bis zur Sohle’Ga naar voetnoot155 war, stellte aber auch deutlicher als Frings Gezelles Sprachpartikularismus als eines der Fundamente für seine Bedeutung als Dichter heraus.Ga naar voetnoot156 | |
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Hatte man sich bis dahin zumeist darauf beschränkt festzustellen, daß Gezelle nicht die niederländische Schriftsprache, ‘um deren Einigung so lange und so heiß gekämpft worden war’Ga naar voetnoot157, verwandte, wurde nun deutlich, daß es Gezelles Suche nach einer individuellen ursprünglichen Sprache war, die es ihm ermöglicht hat, der große Dichter zu werden, als der er heute allgemeine Anerkennung findet.Ga naar voetnoot158 Da aber bis dahin die neuere Literatur aus Flandern ‘fern’Ga naar voetnoot159 geblieben war und man im deutschen Sprachraum noch ‘nicht sehr viel’Ga naar voetnoot160 von der literarischen Revolution, die von Gezelle ausgelöst wurde, gespürt hatte, bedeuteten die ca. 15.000 Exemplare, die von der Übersetzung Schröders auf den Markt kamen, und die Darlegungen von Jostes dennoch zunächst nicht mehr als einen Tropfen auf den heißen Stein. | |
2.2.3 Multatuli, das eigenartige GenieWas Gezelle durch seine späte Rezeption nicht gelang, nämlich breite Aufmerksamkeit deutschsprachiger Leser auf die niederländische Literatur zu lenken, realisierte um die Jahrhundertwende der Individualist und eigenwillige Weltverbesserer Multatuli. Dieser 1820 in Amsterdam geborene und 1887 in Nieder-Ingelheim verstorbene Dichter, der in Wirklichkeit Eduard Douwes Dekker hieß, ging als Achtzehnjähriger mit seinem Vater nach Niederländisch-Indien und wurde später zum leitenden Kolonialbeamten des unruhigen Distriktes Lebak in der Provinz Bantam ernannt. Dort fand Eduard Douwes Dekker nicht nur in den Unterlagen seines Vorgängers verschiedene Hinweise auf die Unterdrückung der Bevölkerung durch den einheimischen Regenten, sondern auch die Einwohner selbst trugen ihm ihre Klagen vor. Der Regent mißbrauchte offenbar die Macht, die er im Auftrag der niederländischen Kolonialregierung ausübte. Dagegen versuchte Douwes Dekker anzugehen. Er wurde dabei aber nicht wie erwünscht von seinen Vorgesetzten unterstützt und schließlich sogar nach einer Meinungsverschiedenheit mit der Kolonialregierung entlassen. | |
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Zurück in Europa entschloß sich Douwes Dekker, seine Erfahrungen in Lebak zu einem Roman zu verarbeiten. Er zog sich in ein Hotelzimmer in Brussel zurück und schrieb unter dem Pseudonym Multatuli - ‘ich habe viel getragen’ - den Roman Max Havelaar. Das Buch, dessen Herausgabe er J. van Lennep anvertraute, erschien 1860 und machte ihn über Nacht berühmt. Multatulis Anklage schlug in den Niederlanden wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein. Dennoch blieb die politische Wirkung begrenzt. Der inzwischen pensionierte Generalgouverneur Duymaer van Twist verharrte in Schweigen, während die Regierung versuchte, die Wogen so schnell wie möglich zu glätten.Ga naar voetnoot161 Außerdem wurde der Verkauf des Buches gebremst. Der Preis für Max Havelaar war mit 4,00 Fl. (dem Wochenlohn eines Arbeiters) sehr hoch, und die beschränkte Auflage erlaubte es nur, ungefähr zehn Exemplare in die Kolonie zu versenden, obwohl gerade dort das Interesse für das Buch sehr groß war.Ga naar voetnoot162 Hinzu kam noch, daß Van Lennep lange Zeit eine zweite Auflage zu verhindern wußte. Es ist weniger die Verbitterung über diese Ereignisse als vielmehr Multatulis grundsätzlich ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit, das ihn sein ganzes Leben lang engagiert gegen die ungerechte Verteilung der Macht hat kämpfen lassen. Ununterbrochen suchte er nach dem ‘Kern des Bösen’, nicht zuletzt in seinen Bänden Ideen (1903, ndl. Ideeën, 1862-1877), einer Sammlung von Gedanken, Dokumentationen, Parabeln und polemischen Beiträgen, in der er mit dem ihm eigenen Witz und in scharfen Formulierungen u.a. das Zensuswahlrecht sowie ein verkehrt | |
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verstandenes Christentum angriff und sich für die Emanzipation der Frau einsetzte.Ga naar voetnoot163 Multatuli hat sein politisches, soziales und moralisches Engagement stets unterstrichen, indem er sich vehement gegen eine Beurteilung seiner Werke nach ausschließlich künstlerischen Kriterien gewehrt hat. Für ihn war es nicht von Bedeutung, gut zu schreiben, sondern er wollte ‘so schreiben, daß es gehört wurde’Ga naar voetnoot164. Wer ihn vorrangig als Künstler betrachtete, verhielt sich seiner Meinung nach wie jemand, der den Zuruf ‘Haltet den Dieb’ auf seinen künstlerischen Wert und nicht auf seinen unmittelbaren Aussagewert hin beurteilte. Dennoch ist es heutzutage unbestritten, daß Multatulis Werk, insbesondere Max Havelaar, von großem literarischem Wert ist. Mit Max Havelaar hat Multatuli nicht nur den ersten sozialpolitisch engagierten Roman in den Niederlanden geschrieben, sondern auch einen sehr ursprünglichen Angriff auf die ‘duffe, bekrompen, farizeïsche koopmanschap van het Holland uit de eerste helft van de negentiende eeuw’Ga naar voetnoot165 verfaßt. Vor allem in erzähltechnischer Hinsicht ist der Doppelroman bemerkenswert.Ga naar voetnoot166 Auf vier Erzählebenen, nämlich auf der des Kaffeemaklers Droogstoppel, der über das Entstehen seines Romans berichtet, auf der des Deutschen Stern, der das Buch anhand der Unterlagen des früheren Freundes von Droogstoppel, Sjaalman, verfaßt, auf der der im Roman aufgenommenen Parabel von Saïdja und Adinda und schließlich auf der des Autors selbst werden die Geschehnisse in Lebak aus einer doppelten Erzählperspektive dargestellt: zum einen aus der des kleinbürgerlichen Niederländers und zum anderen aus der des romantisch-idealisierenden jungen Stern. Durch das Spiel mit verschiedenen Perspektiven, Oppositionen und Analogien ermöglicht Multatuli eine Identifikation des Lesers mit Max Havelaar, versucht eine Antipathie gegen Droogstoppel zu wecken | |
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und beschwört zugleich aus den verschiedenen Figuren Sjaalman, Stern und Havelaar seine eigene Person herauf.Ga naar voetnoot167 Die Struktur des Max Havelaar als Doppelroman, die Ironie, die von Leidenschaft getriebene Persönlichkeit Havelaars, die integrierten Gedichte, die Person des Deutschen Stern und die Parabel von Saïdja und Adinda zeigen, wie sehr das Werk noch der romantischen Tradition verhaftet ist. Multatuli durchbrach diese aber mit seiner Objektivität und mit der weitgehenden Verschmelzung der einzelnen Strukturebenen und verfaßte so den ersten nichtbürgerlichen realistischen Roman in den Niederlanden.Ga naar voetnoot168 Multatuli war - wie Gezelle in Flandern -Ga naar voetnoot169 ein echter Vorläufer der poetischen Revolution in den achtziger Jahren. Etwa 20 Jahre vor der Gründung der Zeitschrift der jungen literarischen Generation in den Niederlanden, De Nieuwe Gids (1885-1943), verwirklichte Multatuli das Programm der sogenannten Achtziger, indem er seine höchst individuellen Empfindungen auf höchst individuelle Art zum Ausdruck brachte.Ga naar voetnoot170 | |
2.2.3.1 Multatuli im deutschen SprachraumDer Erfolg Multatulis im deutschen Sprachraum kam, wenn man die zunächst enttäuschende Rezeption seiner Werke in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Betracht zieht, eher unerwartet. Max Havelaar wurde zwar 15 Jahre nach seinem Erscheinen von Theodor Stromer ins Deutsche übersetzt, aber Stromer kürzte das Werk erheblich und gab so dem Roman den Charakter einer linearen Erzählung, ‘waarvan het ritme helemaal anders ligt dan bij het origineel’Ga naar voetnoot171, so daß | |
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höchstens von einer Bearbeitung gesprochen werden kann. Zu Recht schrieb Die Gegenwart 1890: ‘Und was aus der ergreifenden [...] Poesie des [...] Sittenromans [...] in der deutschen Uebersetzung geworden ist [...]. Wenn ein Uebersetzer es z.B. fertig bringt, eine religiöse Familie als “ein Haus, wo dem Herrn servirt wird” zu bezeichnen, wie soll man dann erwarten, daß derselbe eine Arbeit zu liefern im Stande wäre, die auch nur im entferntesten eine richtige Vorstellung des Originals geben könnte.’Ga naar voetnoot172 Darüber hinaus erschien vor der Jahrhundertwende eine deutsche Bearbeitung von Multatulis Jugenddrama Een bruid daarboven (1864), natürlich von A. Glaser, die zunächst unter dem Titel Infam cassirt in den Band Holländische Novellen aufgenommen wurde.Ga naar voetnoot173 Viel Resonanz fanden diese Werke nicht. Die Übersetzung Stromers wurde von der Kritik | |
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kaum wahrgenommen, und bei den Besprechungen der Bearbeitung Glasers blieb der Name des ursprünglichen Autors wie so oft ungenannt.Ga naar voetnoot174 Das Interesse für Multatuli wurde im deutschen Sprachraum erst wirklich geweckt, als sich 1899 der Autodidakt Wilhelm Spohr, der während einer politischen Haft Niederländisch gelernt hatte, Multatuli zuwandte. Nicht zu Unrecht nannte J.J. Oversteegen Spohr ‘de man die in Duitsland voor Multatuli presteerde wat in ons land iemand als Du Perron deed: hem voorgoed een plaats onder de groten geven’Ga naar voetnoot175. Spohr und sein progressiver Verleger hatten es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, Multatuli auf breitester Ebene im deutschen Sprachraum bekannt zu machen: ‘Um nach allen Kräften für das Bekanntwerden Multatulis in Deutschland zu wirken, haben Herausgeber und Verleger sich entschlossen, dem deutschen Publikum | |
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Biograph sagt von diesem Kämpfer: “Er vertrat unsere unsterbliche Sehnsucht nach Schrankenlosigkeit mit einer Vehemenz, die die Deckel seiner Bücher zu sprengen droht.”’Ga naar voetnoot176 Der erste Band der siebenteiligen Reihe war mit einer ausführlichen (über 130 Seiten langen!) begeisterten Einleitung des Herausgebers W. Spohr versehen, die die Rezeption Multatulis im deutschen Sprachraum entschieden geprägt hat. In dieser Einleitung stellte Spohr, so wie De Mont bei Gezelle, die Frage nach den Gründen, weshalb Multatuli im deutschen Sprachraum bislang ein Unbekannter geblieben war. Hierfür nannte er folgende Ursachen: Erstens, daß Übersetzen im deutschen Sprachraum eine ‘Berufsspezialität’ geworden sei; zweitens, daß die Hochdeutschen der niederländischen Kultur nur wenig Interesse entgegenbringen könnten, weil die niederländische Kultur zu verwandt-nachbarlich erscheine - Multatuli sei demzufolge nicht nur als Genie, sondern auch als Holländer verkehrt geboren -, und schließlich wies Spohr darauf hin, daß die niederländische Kritik Multatuli totgeschwiegen habe. Auch hierzu ist einiges anzumerken. Wenn man die Resultate der bisherigen Analyse in Betracht zieht, muß zunächst dem zweiten Argument Spohrs widersprochen werden. In der Praxis hat die Tatsache, daß man Niederländer war oder aus Flandern stammte, einer Übersetzung ins Deutsche im 19. Jahrhundert nicht im Wege gestanden. Deutschsprachige Verlage - und hier ist auch der Auffassung R. Vanrusselts zu widersprechen, daß es vor Multatuli lediglich einen literarischen Austausch vom deutschen in den niederländischen Sprachraum gegeben habe -Ga naar voetnoot177 haben im 19. Jahrhundert immer wieder den Weg zur niederländischen Literatur gefunden, die sich verkaufen ließ. Selbstverständlich wurde dieser Prozeß durch ‘Berufsspezialisten’ (man denke z.B. an Glaser) begünstigt. Die Einwände Spohrs bezüglich solcher Spezialisten können sich also wohl nur auf die Tatsache beziehen, daß auf den Markt orientierte Übersetzer und Verleger zumeist wenig Bereitschaft zum Experiment oder zur Erneuerung zeigen. Was die letzte und, wie Spohr meinte, wichtigste Erklärung für die späte Rezeption Multatulis im deutschen Sprachraum betrifft, nämlich daß man ihn in den Niederlanden tabuisiert habe, wodurch seine Rezeption im Ausland verzögert worden sei, so muß darauf hingewiesen werden, daß trotz dieses ‘Totschweigens’ bereits kurz nach der Publikation von Max Havelaar in englischer Übersetzung einige Artikel im deutschen | |
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Sprachraum erschienen, die auf Multatuli aufmerksam machten.Ga naar voetnoot178 Die Beiträge beschäftigten sich zwar in erster Linie mit der Problematik der niederländischen Kolonien und der sogenannten ‘Sache Max Havelaar’, aber Die deutschen Jahrbücher für Politik und Literatur, die Multatuli ‘trotz seines unbesonnenen Wesens’Ga naar voetnoot179 verteidigten, betonten auch, daß das Buch mehr als ‘Selbsterlebtes aus der Laufbahn eines indischen Beamten’Ga naar voetnoot180 sei: ‘Über den dichterischen Theil seines Werkes vermag der Leser zu urtheilen. Seine Unfähigkeit zu gebundener Dichtung verräth er deutlich, indem er Maß und Reim einen “Schnürleib” nennt. Aber das Idyllische zeichnet er mit feinen Zügen, und obgleich der orientalische Ton nicht durchgeführt ist, liegt doch in seiner Art zu erzählen viel gesunde Naturwahrheit und Sinnlichkeit. Allzulange Gespräche und Abschweifungen wirken störend, zumal da in den ersteren Havelaar die Unterhaltung monopolisiert; [...] Der humoristischen Figur des holländischen Maklers Batavus Droogstoppel, dem “Kaffee-König”, fehlt es nicht an grotesken Zügen; aber sie ist zu sehr Karrikatur. - Wir haben uns bei der Beurtheilung des literarischen Werthes dieses Buches aufgehalten, weil seit Marnix de St. Aldegonde in niederländischer Zunge wenig Bücher von so geschmackvoller, leicht beweglicher und anmuthiger Sprache, keines von so viel Leidenschaft des Herzens erschienen ist. Dem Ausländer freilich wird die kulturgeschichtliche Bedeutung und Wirkung bei weitem das Werthvollere sein.’Ga naar voetnoot181 Kein ungeteiltes Lob also, aber man wußte das Werk von Multatuli auch in literarischer Hinsicht durchaus zu würdigen. Nach den Beiträgen in den Deutschen Jahrbüchern für Politik und Literatur ist, abgesehen von einigen Nekrologen, einigen Beiträgen zur Kolonialpolitik der Niederlande und einigen Übersichtsartikeln zur niederländischen Literatur, die Multatuli erwähnen, lange nahezu nichts mehr zu diesem niederländischen Autor im deutschen Sprachraum erschienen, aber diese vereinzelten Belege widersprechen doch der Behauptung Spohrs, daß Multatuli unbekannt war.Ga naar voetnoot182 W. Spohr war nur mangelhaft über das Geschehen auf dem deutschen Buchmarkt bezüglich | |
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der niederländischen Literatur informiert.Ga naar voetnoot183 Natürlich ist damit nicht widerlegt, daß die relative Ruhe in der deutschen Presse auf das ‘Schweigen’ in den Niederlanden zurückzuführen war. Doch dies ist nicht wahrscheinlich, denn im Vergleich zu 1850 war der Informationsfluß bezüglich der niederländischen Literatur und ihrer rezenten Entwicklungen im deutschen Sprachraum zwar besser, aber immer noch bescheiden. Vielmehr ist zu vermuten, daß die Tatsache, daß man damals in den Niederlanden, noch weniger als heute, Anstalten machte, die Übersetzung der eigenen Literatur zu fördern, eine Rolle gespielt hat. Darüber hinaus hat die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum im 19. Jahrhundert, obwohl sie, wie gezeigt wurde, durchaus vertreten war, bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht den Status gehabt, der die Übersetzung des in literarischer Hinsicht ‘schwierigen’ Werkes von Multatuli selbstverständlich gemacht hätte. Und schließlich hat die ‘Sache Max Havelaar’, die Diskussion um das Recht oder das Unrecht des Max Havelaar, im deutschen Sprachraum trotz der wachsenden Bestrebungen zum Kolonialerwerb und der Einrichtung von Schutzgebieten ab 1884 nie jene Brisanz wie in den Niederlanden besessen.Ga naar voetnoot184 Die Übertragung des Max Havelaar lag also nicht auf der Hand. Als der erste Teil der Ausgewählten Werke im deutschen Sprachraum erschien, war Multatuli schon über zehn Jahre tot. Max Havelaar, der ihn in den Niederlanden berühmt gemacht hatte, war zu diesem Zeitpunkt fast 40 Jahre alt und hatte bereits einen wesentlichen Teil seiner Aktualität eingebüßt. Dennoch kam Spohrs Initiative noch zur rechten Zeit. | |
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Wie bereits R. Vanrusselt überzeugend dargelegt hat, war der Erfolg von Multatuli im deutschen Sprachraum das Resultat des Zusammentreffens verschiedener glücklicher Umstände. Erstens hat eine Rolle gespielt, daß sich die deutsche Literatur im Übergang zum sozial engagierten Naturalismus, zur antibürgerlichen, reformatorischen, individualistischen, teilweise sogar anarchistischen Literatur der Moderne befand, ein Übergang, der auch Veränderungen in der Gesellschaft implizierte und nach sich zog.Ga naar voetnoot185 Die Analyse im vorigen Teil der vorliegenden Studie hat gezeigt, wie schnell die Literatur aus dem Ausland in einer solchen Periode, auch in einem Land mit großer literarischer Tradition wie Deutschland, an Bedeutung gewinnen konnte, und dieses Phänomen wiederholte sich jetzt, nicht zuletzt, weil gerade Multatuli mit den bekannten Vertretern der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum abzurechnen schien. Zweitens setzte sich die bereits Ende der vorigen Periode eingeleitete Entwicklung fort und erschienen im deutschen Sprachraum zunehmend Beiträge zur niederländischen Literatur und Übersetzungen aus dem Niederländischen. Drittens gab es eine Spannung zwischen deutscher und ausländischer Literatur, die die Aufmerksamkeit mehr als sonst auf die Übersetzungen lenkte, vor allem, weil die Vorbilder des Naturalismus aus dem Ausland kamen und weil, wie sich zeigen wird, Autoren wie Multatuli und Frederik van Eeden (1860-1932) aus ‘sociologisch-politieke motieven en normen’Ga naar voetnoot186 übersetzt wurden, wobei ihre ‘literaire functie en kwaliteiten’Ga naar voetnoot187 oft von weniger Bedeutung zu sein schienen. Viertens setzte sich W. Spohr nicht umsonst so begeistert für das Genie, den Menschen, den Denker und Autor Multatuli ein, der, wie bereits in der programmatischen Ankündigung des ‘Multatuli-Unternehmens’ zum Ausdruck kam, sein Ideal vom mutigen, kräftigen Kämpfer für die Schrankenlosigkeit verkörperte. Multatuli fand nämlich über Spohr Aufnahme in fast allen renommierten deutschen Zeitschriften und über den Friedrichshagener Kreis, zu dem Spohr intensive Kontakte unterhielt, reges Interesse in sozialistisch-anarchistischen Milieus.Ga naar voetnoot188 Wie die Rezensionen und Beiträge zu Multatuli im deutschen Sprachraum immer wieder belegen, hat Multatuli offensichtlich fast prophetisch formuliert, was im deutschen Sprachraum um die Jahrhundertwende die Gemüter bewegte. | |
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Letzteres war sogar der Hauptgrund dafür, daß man es im deutschen Sprachraum schon bald als eine EhrenpflichtGa naar voetnoot189 betrachtete, Multatuli die Würdigung zuteil werden zu lassen, die er in seinem Geburtsland lange hatte vermissen müssen. Spohrs Begeisterung für die Person Multatulis wurde in einer solchen Weise von der Kritik übernommen, daß man manchmal von einer Art Pseudo-Kritik reden kann.Ga naar voetnoot190 Eine Reihe von Kritikern, wie u.a. der Sozialist Gustav Landauer, stürzte sich auf das von Spohr propagierte Bild von Multatuli als Ideal des ethisch-sozial orientierten Menschen und nannte ihn einen Löwen, ‘der die ewigen Rechte unserer Seele mit grimmiger Leidenschaft geschirmt und gefordert hat’Ga naar voetnoot191. Andere Rezensenten nahmen die Idee vom ‘Pionier der Kulturmenschheit’Ga naar voetnoot192 auf und betonten wie Spohr Multatulis ‘universale [...] Empfänglichkeit’Ga naar voetnoot193 oder die ästhetischen und moralischen Aspekte des Genies.Ga naar voetnoot194 Viele Kritiker hatten Spohrs Einleitung so sorgfältig und offenbar mit so viel Enthusiasmus gelesen, daß sie den Aufbau ihrer Besprechung der Einleitung Spohrs anglichen, ausführlich aus dem Werk Multatulis (selbstverständlich in der Übertragung von Spohr) sowie aus Spohrs Einleitung zitierten und teilweise nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Spohr-Zitaten, mit persönlichen Kommentaren versehen, präsentierten.Ga naar voetnoot195 Allen Kritikern gemeinsam war aber die Tatsache, daß, wie schon bei Spohr, weniger die ästhetischen Qualitäten des Werkes von Multatuli als seine ethischen im Mittelpunkt standen, daß zumeist der Mensch, das Genie Multatuli Kern der Gedanken war: ‘der Mensch an Multatuli ist das größte in seinem Dichten und in seiner Philosophie’Ga naar voetnoot196. Was die Würdigung seiner Dichtung betraf, hat sich Multatuli teilweise selbst im Wege gestanden. Seine ablehnende Haltung gegenüber jeglicher literarischer Würdigung seiner Werke wurde von der deutsch- | |
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sprachigen Kritik übernommen. Nicht nur Ernst Heilborn betonte, daß bei Multatuli die Kunstform, derer er sich bediente, ‘keine Rolle’Ga naar voetnoot197 spielte, weil er sie immer wieder durchbrach, um ‘sich ganz persönlich, ganz intim zu geben’Ga naar voetnoot198. Auch Gustav Landauer sprach einige Monate später davon, daß Multatuli ‘niemals den Trieb gehabt [habe], sich in den Rahmen des Kunstwerks, der für ihn ein Folterwerkzeug gewesen wäre, einspannen zu lassen’Ga naar voetnoot199, und die Deutsche Revue zitierte Multatuli, wo dieser sagte: ‘Stil ist keine Kunst oder ein Künstchen, er sprudelt allein aus dem Herzen heraus.’Ga naar voetnoot200 Da lag es fast auf der Hand - entsprechend der Feststellung der Gegenwart, daß Multatuli ‘selten über das Aphoristische und Fragmentarische’Ga naar voetnoot201 hinauskomme -, ihm einfach das Kompositionstalent abzusprechen. Dies soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß man dennoch von Anfang an versucht hat, Multatuli und insbesondere seinen Max Havelaar auch literarisch einzuordnen und zu würdigen. Urteile wie die folgenden sprechen für sich: ‘ein unvergleichliches, ein königliches Buch’Ga naar voetnoot202, ‘in seinem Inhalt und seiner Form, [...] gleich beispiellos [...]’Ga naar voetnoot203, um nur zwei positive Urteile zu Max Havelaar zu nennen, die von R. Vanrusselt zusammengetragen wurden. Aber nicht zuletzt die Polyinterpretabilität der Werke von Multatuli und die Tatsache, daß sie schwer zu klassifizieren waren, hat offenbar zugleich für die nötige Verwirrung gesorgt. Zumeist äußerte man sich auffallend positiv, vor allem was den Stil der Werke betraf, aber zugleich ausgesprochen vage. So sprach die Allgemeine Zeitung von einem ‘Markstein in der Geschichte der niederländischen Literatur’Ga naar voetnoot204, ohne daß dieser Begriff näher erläutert wurde, es sei denn durch die Feststellung, daß der Wert der Werke Multatulis sich nicht ‘im Lehrgehalt’Ga naar voetnoot205 erschöpfe und die niederländische Literatur mit Max | |
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Havelaar einen ‘Aufschwung’Ga naar voetnoot206 erlebe. Ebenso vage blieb der Rezensent des Kyffhäusers. Für ihn lag der hohe Wert in der ‘durch und durch originellen und individuellen Form’Ga naar voetnoot207 und in der ‘schlichte[n], aber gigantische[n] Größe’Ga naar voetnoot208. Hermann A. Krüger begnügte sich im Gegensatz zu anderen zwar nicht mit einem oberflächlichen Hinweis wie dem, daß bei Multatuli ‘Leben und Kunst [...] gleichwertig’Ga naar voetnoot209 seien und wurde etwas konkreter, indem er Multatuli ‘ein[en] ausgesprochen[en] Realist[en]’Ga naar voetnoot210 nannte und auf Multatulis scharfe Menschenbeobachtung und seinen guten niederländischen Humor verwies, während er ihn zugleich als einen der ‘volkstümlichsten und psychologisch tiefsten Naturalisten [...] ehe es eine solche Richtung eigentlich gab’Ga naar voetnoot211, bezeichnete, aber der einzige Kritiker, der sich wirklich von der Begeisterung des Multatuli-Apostels Spohr für den Menschen Multatuli loslöste und sich schon sehr früh ausdrücklich dem großen literarischen Talent des Schriftstellers zuwandte, war Stefan Großmann. Dieser stellte im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen fest, daß der ‘Lärm, den das Buch verursachte, [...] ein leerer’Ga naar voetnoot212 sei, daß das Pamphlet ‘für uns posthume und nicht holländische Leser [...] von geringerem Interesse’Ga naar voetnoot213 sei, und betonte, | |
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daß das Buch ‘literarisch genommen von einer instinktiven technischen Genialität’Ga naar voetnoot214 sei: ‘Für den modernen Leser ist der ‘Havelaar’ als Pamphlet nur noch ein Beweis der moralischen Lungenkraft Multatulis, seiner ethischen Agitationkraft [sic] [...] Die Einkleidung des Max Havelaar, die dem Dichter selbst am wenigsten am Herzen lag, wird für den ästhetisch gebildeten Leser das der Bewunderung Würdigste des Buches. Die Steigerung in der Darstellung - Droogstoppel - Stern - Multatuli - zeigt uns die stärkste Technik des Genres. Dabei hat sie nichts Konstruirtes, nichts kalt Gemachtes; sie erhärtet in ihrer umsichtigen Gruppirung der Gestalten ein späteres ästhetisches Bekenntniß Multatulis: ‘Dichter erschaffen nicht, sie ordnen neu’Ga naar voetnoot215. Großmanns Perspektive setzte sich aber nicht durch. Schon 1910 war das Hauptthema wieder ‘das Recht des Max Havelaar’Ga naar voetnoot216. Vergebens versuchte u.a. die wissenschaftliche Beilage von Germania, beide Positionen zu vereinen. Sie konzentrierte sich auf die Frage nach der Bedeutung Multatulis als Dichter, tendierte aber wegen der ‘Verachtung des künstlerischen Maßhaltens und der Gesetze der entsprechenden Kunstform’Ga naar voetnoot217 dazu, denjenigen Kritikern recht zu geben, die Multatuli nicht als Dichter betrachteten. Eher unentschlossen zeigte sich damals auch Ferdinand Wippermann, der einerseits in der Lese anläßlich des 100. Geburtstages des Dichters die Bedeutung Multatulis al einer der ersten in der ‘Reihe der großen Menschheitsapostel’Ga naar voetnoot218 hervorhob, während er andererseits in seinem Beitrag für Die Bücherwelt, der im gleichen Jahr erschien, den ‘durchaus revolutionär[en]’Ga naar voetnoot219 literarischen Charakter von Max Havelaar würdigte. Schwankend zeigte sich schließlich noch P. Endt in dem Kampf. Er stellte nicht nur fest, daß mit Multatuli ‘endlich ein Mensch das Wort ergriffen’Ga naar voetnoot220 hatte, sondern hob auch Multatulis literarische Qualitäten hervor, indem er bezeichnenderweise vage betonte, daß die ‘originelle, kapriziöse, fesselnde’Ga naar voetnoot221 Literatur Multatulis im ‘ruhigen, allzu ruhigen | |
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Fahrwasser der holländischen hausbackenen Belletristik und der Pfarrerdichtkunst von 1860 [...] einen Sturm’Ga naar voetnoot222 bedeutet habe.Ga naar voetnoot223 Auch mit seinen anderen Werken konnte Multatuli im deutschen Sprachraum das Interesse für seine Person und seine Ideen nicht wirklich auf die literarische Bedeutung seines Oeuvres verlagern. Die Reaktion auf Liebesbriefe (1900, ndl. Minnebrieven, 1861) war zwar tatsächlich ‘uitbundig’Ga naar voetnoot224, denn es war wiederum von unterschiedlicher Seite die Rede von ‘einer wundervollen Sprachgewalt’Ga naar voetnoot225 oder ‘einer herzerquickende[n] Frische und Ursprünglichkeit’Ga naar voetnoot226, aber man fragte sich zugleich, ob die Deutschen wirklich Spohrs ‘etwas verstiegene Begeisterung theilen’Ga naar voetnoot227 würden. Millionenstudien (1900, ndl. Millioenenstudiën, 1873) war ebenfalls umstritten. Während die Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart relativ negativ reagierte und das Werk als eine Mischung aus verwirrenden, aber dennoch zum Teil geistreichen und humoristischen Plaudereien ablehnteGa naar voetnoot228, äußerte sich Die Gegenwart im allgemeinen eher positiv. Die Kriterien, mit denen der Rezensent, der ungenannt blieb, seine Beurteilung der Millionenstudien als ‘merkwürdige[s]’Ga naar voetnoot229 und ‘höchst bedeutende[s]’Ga naar voetnoot230 Buch begründete, blieben aber erneut extrem vage und betrafen vor allem die Person Multatulis: | |
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‘Das Buch ist ein echter Multatuli, kraftvoll, eigenartig und packend in jedem Worte, voll Geist und Phantasie, voll überlegenen Scharfsinns, ein Buch, das auf jeder Seite Zeugniß von der originellen und kraftgenialischen Persönlichkeit seines Autors ablegt’Ga naar voetnoot231.In bezug auf Millionenstudien drückte das Literarische Centralblatt ebenfalls seinen Respekt vor Spohrs gewagtem Unternehmen aus, fand aber das Werk - ähnlich wie zu seiner Zeit Raché - etwas zu ausgeklügelt und zu wenig poetisch.Ga naar voetnoot232 Der Türmer ließ schließlich literarische Kriterien völlig beiseite und lehnte Multatulis Buch wegen seiner ‘hoffnungslos negativ[en]’Ga naar voetnoot233 Kritik als ‘das Bitterste’Ga naar voetnoot234 von ‘allem Bittern, was Multatuli geschrieben’Ga naar voetnoot235 habe, ab. Zumeist negative Kritik, insbesondere in künstlerischer Hinsicht, erntete Multatulis Drama Fürstenschule (1901, ndl. Vorstenschool, 1872), eine Art Leitfaden für Könige. Obwohl wegen der Spannungen zwischen Parlament und den (zumeist jungen) Königen in verschiedenen europäischen Ländern dem Stück eine gewisse Aktualität nicht abgesprochen werden konnte und Zeitschriften wie Die Gegenwart vorsichtig feststellten, daß Fürstenschule, ‘soweit sich dies beim Lesen beurtheilen läßt’Ga naar voetnoot236, offenbar der ‘dramatischen Wirksamkeit keinesfalls [entbehrt]’Ga naar voetnoot237, distanzierten sich die meisten Kritiker. Die Wage warnte anläßlich der Breslauer Premiere ausdrücklich vor der ‘kategorischen und unbedingten Bewunderung’Ga naar voetnoot238 Spohrs, denn Multatuli sei nicht mehr als ein ‘ganz unzulängliche[r]’Ga naar voetnoot239 Dramatiker, dessen Werk unter dem ‘Zwiespalt von poetischer und politischer Absicht’Ga naar voetnoot240 einfach untergehe. Der Rezensent im Literarischen Centralblatt vermißte seinerseits die dramatische Spannung in Fürstenschule und wunderte sich über den andauernden Erfolg dieses Stückes in den Niederlanden, was der Kritiker in der Wage damit | |
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zu erklären versuchte, daß das Publikum ‘Gesinnung und Pathos beständig mit Kunst verwechselt’Ga naar voetnoot241. Auch bei der Beurteilung der Ideen stand die literarische Bedeutung von Multatulis Werk nicht im Vordergrund. Als Paul Raché 1904 darauf hinwies, daß sich in Multatulis Ideen - die vom einen als ‘Fülle von Geist, Schönheit [...] und Bitterkeit’Ga naar voetnoot242 als ‘Offenbarungen eines Menschen [...] der sich getrost neben alles stehen [sic] kann, was gross war in Umwertungen, Geistestiefe, Herzensfülle, an Gewalt und Schönheit der Sprache’Ga naar voetnoot243, vom anderen jedoch als ‘oberflächlich’ empfunden wurdenGa naar voetnoot244 - vieles finde, das ‘ganze Dutzende von Broschüren über die moderne Frauenbewegung’Ga naar voetnoot245 aufwiege, und er es im weiteren als typisch für die ‘moderne Frauenbewegung’Ga naar voetnoot246 bezeichnete, ‘daß sie bisher völlig achtlos an dem Manne vorübergegangen ist, der für die gerechtere soziale Wertschätzung der Frau mehr gethan hat, als irgend einer zuvor’Ga naar voetnoot247, ahnte er außerdem wohl nicht, daß gerade die Auswahl Frauenbrevier (1905), in der W. Spohr Multatulis Aussagen zu Frauen und ihrer Emanzipation zusammengetragen hatte, insbesondere bei den Vertretern der Frauenbewegung kein gutes Wort finden würde. Nicht nur H. Dorn empfand Multatulis Gedanken als ‘triviaal’Ga naar voetnoot248, auch R. Mayreder fragte sich, obwohl sie in Multatuli einen Schriftsteller | |
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erkannte, der seiner Zeit weit voraus sei, was der niederländische Schriftsteller dem modernen Leser noch zu bieten habe: ‘Der moderne Leser kommt oft nur schwer über das Befremden oder selbst die Langeweile hinweg, die das Weitschweifige, Umständliche, unangemessen Prätentiöse erregt, womit Multatuli Dinge ausspricht, die seither umsoviel bündiger, treffender, einfacher gesagt wurden’Ga naar voetnoot249. Mayreder war der Meinung, daß W. Spohr in seinem Bemühen um die Verbreitung der Werke Multatulis des Guten zuviel getan habe, und legte, ohne die Bedeutung des Autors innerhalb der niederländischen Literatur herunterspielen zu wollen (was bezeichnenderweise wiederum nicht erläutert wurde!), dar: ‘[...] ein “Evangelist” ist er nicht; und welche Freiheit des Denkens er auch gegenüber dem weiblichen Geschlecht besessen hat, zu einem “Frauenbrevier” langt diese Blütenlese einschlägiger Aussprüche doch nicht.’Ga naar voetnoot250 Auch die Rezensentin im Literarischen Echo sprach von ‘nicht immer originellen Gedanken’Ga naar voetnoot251 und stellte sich die Frage, ob dieses Buch des ‘holländischen Gerechtigkeitsfanatikers’Ga naar voetnoot252 wirklich ‘“der ringenden Frau zum Troste, zur Erbauung, als Mutbringer, als Waffe im Kampfe”’Ga naar voetnoot253 dienen könne. Ihr zufolge verkörpere Multatuli dafür zu sehr den ‘volkstümlichen Aufwiegler’Ga naar voetnoot254, und sei ‘seine glänzende Beredsamkeit’Ga naar voetnoot255 dafür zu ‘aufreizend’Ga naar voetnoot256, seine Parteinahme zu ‘leidenschaftlich’Ga naar voetnoot257. Daher hielt sie das Buch trotz literarischer Qualitäten - sie sprach davon, daß Multatuli ‘fesselt’Ga naar voetnoot258 und nie ‘langweilt’Ga naar voetnoot259 und immer die ‘originellste Fassung’Ga naar voetnoot260 für seine Ideen finde - für ‘teils überflüssig, teils bedenklich’Ga naar voetnoot261 und war der Meinung, daß W. Spohr mit dieser Kompila- | |
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tion - ‘in allerbester Absicht’Ga naar voetnoot262 - dem Verfasser Unrecht angetan habe.Ga naar voetnoot263 Auf Multatulis Briefe (1906), die die Reihe der Spohr-Übersetzungen abschloß, gab es schließlich kaum nennenswerte Reaktionen, aber die Beiträge zu den Abenteuern des kleinen Walther (ndl. De geschiedenis van Woutertje Pieterse, 1862-1877), eine Geschichte, die ursprünglich auf verschiedene Ideen verteilt publiziert wurde und die 1901 im deutschen Sprachraum erschien, waren dafür nicht weniger typisch. Auf der einen Seite stimmte man darin überein, daß das Buch große stilistische Qualitäten besitze, wobei sowohl die ‘wundersam[e]’Ga naar voetnoot264 Schilderung des Milieus hervorgehoben wurde, die ‘ganz subjektiv, bedingend und nothwendig’Ga naar voetnoot265 sei, als auch die Tatsache, daß Multatuli sich mit dieser ‘Geschichte der Gefühlsfeinheiten’Ga naar voetnoot266 als ‘Vorläufer der Modernen’Ga naar voetnoot267 zeige. Gleichzeitig wurden der Unterhaltungs- und der pädagogische Wert des Romans gepriesen.Ga naar voetnoot268 Bedauert wurde andererseits jedoch, daß Multatuli seine Romanpersonen nicht freigebe, sondern daß sie ‘auf ihren Wegen die langen Ketten seines Räsonnements nach sich ziehen’Ga naar voetnoot269 müßten. Dies führte wieder dazu, daß Kritiker wie E. Heilborn es nicht recht wagten, ‘das Buch schlechthin eine Dichtung zu nennen’Ga naar voetnoot270. | |
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2.2.3.2 Philosoph, Reformator und BeunruhigerWährend die literarischen Qualitäten von Multatulis Werk bei seiner Rezeption im deutschen Sprachraum also etwas im Hintergrund blieben, wurde die ‘neue Weltanschauung’Ga naar voetnoot271, die man in seinem Werk erkannte, vielfach diskutiert. Dabei zeigte sich schon bald, daß man darunter nicht unbedingt eine eigene Philosophie verstand. Vielfach war man sogar der Meinung, daß Mutatuli als ‘positiver Denker [...] dem Gedankenvorrat der Zeit keinen Gedanken’Ga naar voetnoot272 hinzuzufügen habe und daß er ein ‘eclatant deficit’Ga naar voetnoot273 an philosophischem Durchblick habe. Die Begeisterung für den Philosophen Multatuli wurde vorwiegend von einer Bewunderung für seine neue, freimütige, autoritär anarchistische, individualistische Lebenshaltung bestimmt, die vor allem vom Glauben an die persönliche Verantwortung, insbesondere im sozialen Bereich, geprägt war. Dabei ließen Multatulis ‘Individualität’Ga naar voetnoot274, sein Pathos, der feuilletonistische Charakter seiner Werke und seine ‘Sehnsucht nach Schrankenlosigkeit’Ga naar voetnoot275 den Vergleich mit Friedrich Nietzsche zu einer ‘constante’Ga naar voetnoot276 in der deutschsprachigen Kritik zu Multatuli werden. Nicht nur Die Hilfe ging ausführlich auf die Berührungspunkte der ‘menschlichen Dokument[e]’Ga naar voetnoot277 des ‘Menschheitsapostel[s]’Ga naar voetnoot278, ‘Tendenzpoet[en]’Ga naar voetnoot279 und ‘Herrenmensch[en]’Ga naar voetnoot280 Multatuli mit dem deutschen Denker ein, indem sie als wichtigste gemeinsame Kennzeichen herausstellte: die Überzeugung von der ‘Unzulänglichkeit menschlicher Erkenntnis’Ga naar voetnoot281, ihre Ablehnung des ‘Schwindel[s]’Ga naar voetnoot282 der Dichter, die | |
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Feststellung, daß das Kind auch seine Eltern erziehe, und der ausgesprochene ‘Aristokratismus’Ga naar voetnoot283. Schließlich wurde hervorgehoben, daß gerade Multatuli durch seine Erzählungen seinen Gedanken ‘Fleisch und Blut zu verleihen’Ga naar voetnoot284 wisse. Obwohl sich auch die Vergleiche zwischen Multatuli und Nietzsche zumeist sehr oberflächlich gestalteten und mancher Kritiker der Meinung war, daß gerade Nietzsche dem rechten Verständnis von Multatuli im Wege stehe, hatte man im deutschen Sprachraum im allgemeinen keine großen Schwierigkeiten, Multatuli als den niederländischen Nietzsche zu betrachten. Von einigen Kritikern wurde sogar die Hypothese aufgestellt, daß Nietzsche von Multatuli beeinflußt würde.Ga naar voetnoot285 Deshalb war es keineswegs verwunderlich, daß die einzige deutsche Multatuli-Monographie von einem ‘Nietzsche-Verehrer’Ga naar voetnoot286, und zwar von Samuel Lublinski, verfaßt wurde. Auf dieses Werk muß hier etwas näher eingegangen werden, weil aus ihm in den niederländischen Beiträgen zur Rezeption Multatulis im deutschen Sprachraum immer wieder die lobenden Sätze zitiert werden, mit denen Lublinski seine Arbeit eröffnete: ‘Kaum erst drei Jahre sind es her, daß der Stern des großen Holländers Eduard Douwes Dekker, der sich selbst so bedeutungsvoll Multatuli nannte, hellstrahlend aufging’Ga naar voetnoot287.Auch den folgenden Abschnitt findet man immer wieder: ‘Kaum waren die vier ersten Multatuli-Bände [...] herausgekommen, so fühlte auch jeder Urteilsfähige, daß er vor einem litterarischen Ereignis stand. Die Besten des geistigen Deutschland beeinflußt dieser Holländer stärker von Tag zu Tag [...]’Ga naar voetnoot288. | |
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Dabei ist es nicht nur so, daß der eben erwähnte Einfluß Multatulis von Lublinski an keiner Stelle belegt wurde, es muß auch klargestellt werden, daß der Multatuli-Kenner Lublinski, anders als die meisten niederländischen Zitate aus seinem Werk suggerieren, im Verlauf seiner Darlegungen auch herbe Kritik an Multatuli äußerte. Lublinski begann schon mit der Widerlegung der ‘Legende’Ga naar voetnoot289, daß Multatuli nur geschrieben habe, um den Javanen zu helfen, wie der Autor selbst immer wieder hervorgehoben hatte. Dabei argumentierte er, daß dieser Sachverhalt ‘jeder inneren Wahrheit’Ga naar voetnoot290 entbehre und den ‘Grundthatsachen’Ga naar voetnoot291 des Lebens von Multatuli widerspreche. Seiner Meinung nach zeichnete sich Multatuli durch die Bewunderung für Heinrich Heine, seine Sehnsucht, seinen Wissensdurst, seine Hinwendung zum weiblichen Geschlecht, den ‘Drang zum Mittelpunkt und zur Einheit des Lebens’Ga naar voetnoot292 und dadurch, daß er die traditionelle Kunstform zertrümmerte und das Ich in den Mittelpunkt rückte, eher als ‘Vollromantiker’ aus: ‘Der einzige Vollromantiker der europäischen Litteratur, der in Wahrheit, im Leben und Schaffen die große Einheit erzielte, war der Holländer Eduard Douwes Dekker, genannt Multatuli.’Ga naar voetnoot293 Hier lag, und dies wird in den niederländischen Beiträgen zu Multatuli übersehen, laut Lublinski die Grenze der Kunst des niederländischen Autors. Multatuli habe sich zwar allen Kunstformen, auch der des Impressionismus und Symbolismus, zugewandt, aber ‘keine[n] dieser Bestandteile heraus[gelöst]’Ga naar voetnoot294. ‘Alles blieb in seinem Seelengrund fest verankert und mußte sich mit andersartigen Elementen gut- oder widerwillig zusammenfinden. Da er ein großer Mensch war, so erhielten diese fragmentarischen Einzelheiten seiner Kunst durch | |
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diese Seelengebundenheit freilich eine ganz gewaltige Resonanz von tiefster Wirkung. Dennoch lag hier die Grenze nicht nur seiner Kunst, sondern auch seines Wesens.’Ga naar voetnoot295 Nach Lublinski konnte Multatuli ‘das keimende und schwellende und gebärende Chaos’Ga naar voetnoot296 nicht zu einem komplexen Kunstwerk gestalten. Er empfand Multatulis Werk als oberflächlich. Genauer, es sei ‘Fläche mehr als Tiefe’Ga naar voetnoot297. Darin zeige sich, daß Multatuli als Künstler ‘nicht zu den ganz Großen’Ga naar voetnoot298 gehöre. Dann kam Lublinski wieder auf Nietzsche zurück und stellte fest, daß letzterer Multatuli überlegen sei. Während Nietzsche ‘selbstgeschaffene Mythologien’Ga naar voetnoot299 verwirklicht und das ‘Hinauf zur Natur’Ga naar voetnoot300 gepredigt habe, sei Multatuli nicht mehr als ein großer ‘visionärer Journalist’Ga naar voetnoot301 gewesen, der nie über das ‘Zurück zur Natur’Ga naar voetnoot302 hinausgekommen sei, der lediglich ‘liebliche Märchen [und] farbenprächtige Gedichte’Ga naar voetnoot303 hervorgebracht habe und dem es nicht gelungen sei, seine Werke stilistisch und formal als Kunstwerke erscheinen zu lassen. Bei Multatuli seien, im Gegensatz zu Nietzsche, ‘das Ich und das Ewige, das Chaos und die Form’Ga naar voetnoot304 nicht miteinander verschmolzen und nicht voneinander durchdrungen. Das positive Bild, das in den Niederlanden und Flandern bezüglich Lublinskis Meinung über Multatuli vermittelt wird, muß also relativiert werden. Lublinski war zwar ein Bewunderer Multatulis, aber er scheute auch keine Kritik. Er bezweifelte sogar, ob Multatulis Max Havelaar und die Liebesbriefe, seine besten Werke, zu den ‘ewigen Büchern’Ga naar voetnoot305 gerechnet werden könnten. | |
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So groß die Begeisterung für den Revolutionär, Agitator und geistreichen Populärphilosophen Multatuli, insbesondere auf seiten mancher Nietzsche-Anhänger und des Friedrichshagener Kreises auch war, so schroff, dies muß im Zusammenhang mit einer Beurteilung der Rolle Multatulis als Philosoph abschließend hervorgehoben werden, war die Ablehnung von religiöser Seite. Für Die Christliche Welt war Multatuli nicht mehr als ein ‘Beunruhiger’Ga naar voetnoot306, denn zu ‘einem Reformator [...] gehört mehr als Dekker besaß’Ga naar voetnoot307. Multatuli wurde in dieser Zeitschrift als zu oberflächlich, zu negativ und zu wenig belesen angesehen und wegen seiner ‘tiefste[n] sittliche[n] Verworrenheit’Ga naar voetnoot308 als eine ‘dämonische Natur’Ga naar voetnoot309 abgelehnt.Ga naar voetnoot310 Aus vergleichbaren Gründen beschäftigte sich die Zeitschrift Glauben und Wissen mit den Ideen Multatulis. Sie versuchte, sie einzeln zu widerlegen in der Hoffnung, so Multatulis Anhängerschaft davon überzeugen zu können, daß im Christentum ‘doch noch ein wenig mehr ist, als das, was in positiven Lehrsätzen formuliert, in den Katechismen von Heidelberg und Dortrecht [sic] aufgezeichnet ist’Ga naar voetnoot311. | |
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2.2.3.3 Zur Bedeutung des Erfolges von Multatuli im deutschen Sprachraum und zur Aktualität des Max HavelaarQuantitativ war Multatuli um die Jahrhundertwende unumstritten der meistbeachtete niederländische Autor im deutschen Sprachraum, und auch qualitativ brauchte er sich seiner Rezeption nicht zu schämen. Insbesondere in der Periode 1890-1910 war die Rezeption Multatulis im deutschen Sprachraum auch im Vergleich zu seiner Rezeption in den Niederlanden und in Flandern, hier muß man erneut R. Vanrusselt beipflichten, ‘voortreffelijk’Ga naar voetnoot312. Dennoch scheint der Autor des eben genannten Beitrages zur Philosophie Multatulis in Glauben und Wissen zu Unrecht Angst vor einer zu großen Gemeinde Multatulis gehabt zu haben. Obwohl sich insbesondere die Werke von Spohr gut verkauften (bis 1903 waren bereits über 15.000 ‘Gemäße dieser geistigen Münze’Ga naar voetnoot313 abgesetzt), das Werk Multatulis in fast allen führenden Zeitschriften vertreten und die Anzahl der Neuauflagen und Volksausgaben beträchtlich war, war der niederländische Autor dennoch noch längst nicht in aller Munde. 1901 stellte Die Frau fest, daß in ‘einer deutschen Stadt, die für die “Modernen” ein starkes Absatzgebiet darstellt, [...] nach der Versicherung einer Buchhandlung Multatuli keinen Anklang’Ga naar voetnoot314 finde; 1902 las man bei P. Raché, daß Multatuli noch immer nicht ‘zum geistigen Besitzstand der “literarisch Gebildeten”’Ga naar voetnoot315 gehöre, und 1903 hoffte der Rezensent im Hamburgischen Correspondenten lediglich, daß Multatuli ‘heutzutage Eigentum eines Jeden, der überhaupt für Literatur ein Interesse hegt’Ga naar voetnoot316, geworden war. Erst 1904 schien Multatuli ‘in den Kreisen, die für literarische Dinge Zeit haben’Ga naar voetnoot317, bekannt zu sein, und 1906 vermehrte sich | |
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die Zahl seiner Bewunderer ‘von Jahr zu Jahr’Ga naar voetnoot318, jedoch 1908 wurde wiederum festgestellt, daß Multatulis Werk trotz aller Erfolge, wenn überhaupt, nur ‘langsam’Ga naar voetnoot319 zum Durchschnittsleser vordringe. Bei diesem Phänomen hat natürlich eine Rolle gespielt, daß Multatulis Werk nicht zur Unterhaltungsliteratur gerechnet werden konnte und daß die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum im 19. Jahrhundert zwar gut vertreten war, aber eben vor allem als Unterhaltungsliteratur. Als solche hatte sie einen relativ bescheidenen Status.Ga naar voetnoot320 Obwohl Multatuli mit Sicherheit auch vom Kontrast zwischen seinem Werk und der bekannten Literatur aus den Niederlanden und Flandern profitiert hat, haben die noch herrschenden (Vor)Urteile gegenüber der niederländischen Literatur und das geringe Ansehen der meisten Autoren und Werke aus den Niederlanden und Flandern im deutschen Sprachraum einer größeren Breitenwirkung im Wege gestanden. Hinzu kam, daß Multatulis Werk relativ spät übersetzt wurde und daß so seine herausragende, einzigartige Stellung innerhalb der Literatur in der Mitte des 19. Jahrhunderts weniger offensichtlich war. Multatuli mußte zum Zeitpunkt seines Erfolges im deutschen Sprachraum nicht mehr nur mit Romantikern, sondern auch mit Realisten und Naturalisten konkurrieren. Und schließlich hat die Diskussion um das Recht oder das Unrecht der Hauptperson in Multatulis | |
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bekanntestem Buch Max Havelaar in Deutschland, das zwar Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls einige Kolonien bzw. Schutzgebiete besaß, nicht die gleiche Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie in den Niederlanden. Obwohl die ersten Rezeptionsbelege zu Multatuli auf den ersten Blick eine solche Rezeption vorzuprogrammieren schienen, fühlte man sich im deutschen Sprachraum, wie schon Worthmann prophezeite, zu keiner Zeit wirklich persönlich betroffen.Ga naar voetnoot321 Dadurch konnte auch der von A. Sötemann beschriebene Prozeß der ‘authentificatie’Ga naar voetnoot322, wie er das Hinführen des Lesers von der Romanwirklichkeit zur Wahrheit in Max Havelaar nannte, bei der Rezeption Multatulis im deutschen Sprachraum nicht die gleiche Rolle spielen wie im niederländischen. Die außergewöhnliche und literarisch sehr interessante Struktur, die den Erfolg des Max Havelaar in den Niederlanden begünstigt hat, zwang den deutschsprachigen Leser im 19. Jahrhundert bei fehlendem Realitäts- und vor allem Aktualitätsbezug nicht zu einer Stellungnahme. Das Wechselspiel von Subjektivität und Objektivität in diesem Roman bewirkte beim deutschsprachigen Leser nicht dasselbe Schwanken zwischen Lüge und Wahrheit wie bei seinem niederländischen Zeitgenossen. So verwandelte sich der Effekt der Authentifikation teilweise ins Gegenteil: Anstatt daß die Heterogenität des Romans durch die Authentifizierung aufgehoben wurde, hinterließen Pathos und Fragmentarisierung, die mehrfache Retardierung des Geschehens und die vielen Kommentare, die das Werk von Multatuli im allgemeinen und Max Havelaar im besonderen kennzeichnen, öfters den Eindruck des Unvermittelten und Gewollten. Dies wurde in den deutschsprachigen Kritiken immer wieder hervorgehoben und bemängelt. Auch beim heutigen Leser, der über viele geschichtliche Hintergrund-informationen verfügt, stellt sich manchmal ein mit dem des Lesers aus dem 19. Jahrhundert vergleichbarer Eindruck ein, obwohl auch heute noch die ‘existentiële waarachtigheid’Ga naar voetnoot323, die der Autor anstrebte - ein Aspekt, der unmittelbar mit dem Protestcharakter des Romans verbunden ist -, Multatulis Beziehung zu Wahrheit und Dichtung und seine ambivalente Haltung gegenüber seinem Dasein als Autor, seine Abscheu vor ‘pronkerig mooischrijven’Ga naar voetnoot324, die ‘zakelijke nuchterheid’Ga naar voetnoot325 und die Struktur des Romans, die in moderner Terminologie als ‘schrijven- | |
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over-het-schrijven’Ga naar voetnoot326 bezeichnet werden kann, gerade diesen Roman aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts attraktiv machen. Technisch gesehen ist Max Havelaar auch heute noch immer besonders aktuell. Aber Technik allein überzeugt den Leser nicht. Dem heutigen Leser fällt es trotz Parallelen zwischen der Situation in der niederländischen Kolonie im 19. Jahrhundert und den etwaigen heutigen neokolonialen Strukturen vielfach schwer, sich in die Geschichte hineinzuversetzen. So war es nicht verwunderlich, daß die Aufmerksamkeit für die neuen Multatuli-Ausgaben, die vorwiegend auf ihre ‘politieke bruikbaarheid’Ga naar voetnoot327 zurückzuführen waren, bald wieder abriß.Ga naar voetnoot328 Das Interesse für Multatuli war erloschen.Ga naar voetnoot329 Daran konnte auch keine billige Neuauflage, auf die Oversteegen noch seine Hoffnung gesetzt hatte, etwas ändern.Ga naar voetnoot330 | |
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2.2.4 Die Achtziger im deutschen SprachraumDer Durchbruch bezüglich der Anerkennung der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum um die Jahrhundertwende beruhte nicht ausschließlich auf dem Erfolg von Multatuli. Ebenso wichtig für den Wandel im Urteil über die niederländische Literatur war die Tatsache, daß zur selben Zeit auch die Achtziger, wie die Dichter um die Zeitschrift De Nieuwe Gids (1885-1943) genannt werden, ins Deutsche übersetzt wurden. Neu war bei den Achtzigern, über die W. Cordan 1941 schrieb, daß mit ihnen ‘einige Jahre’Ga naar voetnoot331 früher als in Deutschland ‘die Bewegung zugunsten der wieder erwachten und verinnerlichten Kunst’Ga naar voetnoot332 begann, daß ihre Zeitschrift De Nieuwe Gids kein Führer mehr sein wollte wie der 1837 gegründete alte Gids, sondern vielmehr ein Forum, in dem man sich zur vielseitigen literarischen und gesellschaftlichen Problematik, die die letzten Dezennia des 19. Jahrhunderts kennzeichnete, äußern konnte.Ga naar voetnoot333 In der ersten Nummer der Zeitschrift fehlte dann auch ein ‘Manifest’. Einig waren sich die Achtziger jedoch in ihrer Ablehnung von leerer Rhetorik, Schönschreiberei und unpersönlicher Metrik. Auch verabscheuten sie alle das Geeichte, das Gebräuchliche und das vom Verstand Bedachte. Miteinander gemein hatten sie ferner, daß sie die Phantasie zum Grund, Mittel und Wesen aller Poesie erklärten, Stimmung und Emotionen in spontan entstandene Bilder und Rhythmen faßten und daß Selbsterfahrungen, die Tiefen des eigenen Wesens, der état d'âme, der Seelenzustand des Dichters, in ihrem literarischen Schaffen eine besondere Rolle einnahmen. In der Praxis vertraten die einzelnen Autoren aus der Bewegung um achtzig dennoch, und dies bestimmte wesentlich ihre revolutionäre Kraft, die unterschiedlichsten Positionen: Jacques Perk (1859-1881) erklärte seine Liebe zum Ideal aller Schönheit, Lodewijk van Deyssel (1864-1952) erhob die Passion zur Kunst, Frederik van Eeden verteidigte ethische und Frank van der Goes (1859-1939) atheistisch-rationalistische und, im Gegensatz zu Willem Kloos (1859-1938), anti-individualistische Standpunkte. | |
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Die Kunst der Achtziger war, wie J. und A. Romein hervorgehoben haben, spätes Resultat des kulturellen Liberalismus des 19. Jahrhunderts.Ga naar voetnoot334 Sie stand ganz im Zeichen des Individualismus, was ihr zum Teil einen ausgesprochen elitären Charakter verlieh, nicht zuletzt im Falle von Kloos, der sich selbst als einen Gott im tiefsten Inneren seiner Gedanken bezeichnete. Solch elitärer ästhetischer Individualismus stand aber in schroffem Kontrast zu dem Kollektivismus, für den andere Achtziger, die sich von der Anbetung der Schönheit abwandten und ihre ganze Hoffnung auf den Sozialismus richteten, ab 1890 eintraten. Nicht zuletzt wegen dieser Heterogenität trennt man die literarische Bewegung der Achtziger, die den Ästhetizismus propagierte, gerne von der Bewegung der Achtziger, die sich nicht nur alternativen literarischen Richtungen zuwandte, sondern auch die gesellschaftlichen und religiösen Probleme der Zeit thematisierte.Ga naar voetnoot335 Dabei entfernt man aber leider nicht nur etwa Willem Kloos von dem sozial engagierten Frank van der Goes, sondern auch Jacques Perk von Herman Gorter (1864-1927), obwohl doch gerade letzterer, bevor er zur niederländischen sozialistischen Arbeiterpartei übertrat, die Poesie geschrieben hat, die Van Deyssel als sensitiv bezeichnete und die Kloos mit dem für die Poesie der Achtziger so typischen Prädikat ‘allerindividuellste Expression allerindividuellster Gefühle’ versah. Die Anerkennung für die Achtziger im deutschen Sprachraum gründet nicht zuletzt darauf, daß in den Beiträgen zur niederländischen Literatur in dieser Periode, anders als von U. Kloos an Hand des Bildes der deutschen Germanistik von der älteren niederländischen Literatur dargestellt, das alte deutsche Autoimage von Deutschheit und deutschem Wesen ein immer geringeres Gewicht erhielt.Ga naar voetnoot336 Schon bei der Analyse der Rezeption der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern in dieser Periode, insbesondere des Werkes von Pol de Mont und Guido Gezelle, hat sich gezeigt, daß die Perspektive ‘Blut von unserm Blut’Ga naar voetnoot337 nicht alles bestimmend war und daß schon gar nicht großdeutsche Äußerungen wie die vom Alldeutschen Graevell von Jostenoode, der nicht aufhörte zu beteuern, daß ‘reichsdeutscher Einfluß das beste Gegengewicht bildet gegen die Überwucherung französischen Wesens, das so lange auf der Entwicklung Vlamlands gelastet hat’Ga naar voetnoot338, die Beiträge zur modernen | |
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niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum kennzeichneten.Ga naar voetnoot339 Wie sich im folgenden zeigen wird, prägte, was das Werk niederländischer Autoren betraf, gerade die Überzeugung von der wachsenden literarischen Bedeutung der niederländischen Literatur das Interesse im deutschen Sprachraum. Dies, und nicht etwa die ‘Neigung’Ga naar voetnoot340 gewisser Autoren für Deutschland oder die Überzeugung von der germanischen Sprachverwandtschaft, die in verschiedenen Schriften von Otto Hauser ebenfalls zum Ausdruck kam, war die wirkliche Basis für Publikationen wie Die niederländische Lyrik 1875-1900 von Otto Hauser, die 1901 in Grossenhain erschien, und z.B. für die im Vergleich zu den Übertragungen Gezelles auffallend frühe Ausgabe von Gorters Mai (1909, ndl. Mei, 1889).Ga naar voetnoot341 Selbstverständlich hat in diesem Zusammenhang auch die Begegnung zwischen Albert Verwey und Stefan George Mitte der neunziger Jahre eine wichtige Rolle gespielt. | |
2.2.4.1 Albert Verwey und Stefan GeorgeAuf der Suche nach Dichtern, die wie er und die anderen Achtziger ‘de groote menselijke vraagstukken niet meer denken, maar ze in fantasievolle woordmuziek openbaren’Ga naar voetnoot342, entdeckte der Achtziger Verwey 1894 Die Blätter für die Kunst. Er schrieb an die Redaktion und erhielt Georges Pilgerfahrten und Algabal, Werke, die ihn davon überzeugten, den deutschen Vertreter der neuen europäischen Dichtkunst von modernem Charakter gefunden zu haben. Daraufhin rezensierte Verwey 1895 das Werk von George in der Mai-Ausgabe seiner Tweemaandelijksch Tijdschrift (1894-1902). George wiederum, der sich zu der Zeit in Belgien aufhielt, las die Besprechung und nahm Kontakt mit Verwey auf. Dies führte zu einer ersten Begegnung am 11. September 1895 in Noordwijk und schließlich zur Freundschaft und gegenseitigen Bewunderung.Ga naar voetnoot343 | |
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Für ihre persönliche Entwicklung als Dichter und als Mensch war die Freundschaft zwischen Verwey und George von größter Bedeutung. Verwey fühlte sich durch die Feststellung, daß es in Deutschland gleichgesinnte Dichter gab, in seiner Überzeugung bestärkt, daß die Bewegung von Achtzig eine europäische war, daß die moderne niederländische und die deutsche Literatur eng miteinander verbunden waren, und George wurde von Verwey, der ihn als ‘zwerverling’Ga naar voetnoot344 empfand, mit Erfolg dazu stimuliert, sich zu einem echten deutschen Dichter zu entwickeln. Dennoch war die spätere Trennung vorprogrammiert. Je mehr sich George zu einem ‘dichterische[n] Priester’Ga naar voetnoot345 entwickelte, desto fremder wurde er Verwey. Schon 1897 stellte Verwey fest, daß die ‘strenge voornaamheid, waarmede hij [= George, HVU] de dingen op een afstand hield’Ga naar voetnoot346, die für ihn das ‘Leben’ verkörperten, einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen ihnen war. Wie George war zwar auch Verwey davon überzeugt, daß der Dichter ein geistiger Führer sein sollte, aber die Auffassungen Verweys und Georges bezüglich dieser Führerschaft klafften schon bald auseinander. 1900 erkannte Verwey, warum eine Zusammenarbeit zwischen ihm und George auf Dauer unmöglich war: ‘Ik begreep dat waar in hem hoe langer hoe meer de Duitscher zich ontwikkeld had, de Hollander die ik was, en die ik nu ertegenover stelde, misschien niet geheel passen zou in zijn vaderlandsche werkingskring. Twee bedoelingen werden in mijn stuk wel heel scherp tegen elkaar afgewogen: de Nederlandsche die gericht was op verheerlijking van de werkelijkheid, de Duitsche (in aansluiting aan de Italiaansche renaissance) die de majesteit van de Persoonlijkheid wenschte uit te drukken. Een diepliggend verschil was daarmee uitgesproken’Ga naar voetnoot347. Stefan George seinerseits empfand den wachsenden Abstand zwischen ihm und Verwey als einen Rückfall Hollands in die Begrenztheit, aus der es vorübergehend von Deutschland befreit worden war.Ga naar voetnoot348 | |
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Bis es dazu kam, hat sich George, der 1896 die niederländische moderne Dichtung zum ersten Mal im deutschen Sprachraum vorstellte, indem er für die Blätter einige Gedichte von Verwey und Kloos sowie ein Fragment aus Gorters Mai übersetzte, aktiv für die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum eingesetzt.Ga naar voetnoot349 Im Zusammenhang mit der Kunst der Achtziger sprach George von einer ‘ruhmvollen für uns vorbildlichen kunsterhebung der 80er jahre’Ga naar voetnoot350. Deshalb wollte er die niederländische Literatur in Deutschland als ‘nächste und glorreichste schwester der deutschen dichtung bald so einheimisch [machen,] dass sie unmittelbar zu verstehen uns allen als pflicht erscheint’Ga naar voetnoot351. Georges Glaube an die niederländische Literatur ging sogar so weit, daß er bei der Übersetzung der Poesie der Achtziger das Kriterium, daß ein übersetztes Gedicht auch ein gutes deutsches Gedicht sein soll, nicht beachtete und sich mit ‘“umschreibungen ins hochdeutsche”’Ga naar voetnoot352 begnügte, ‘“da die annäherung an die urworte sogar in unklingender und unbeholfenerer form einem vollständigen umguss vorgezogen werden muss.”’Ga naar voetnoot353 | |
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Für die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum bedeutete Georges Interesse und das seiner Freunde also einen Neubeginn. In dieser Periode spielte sie zum ersten Mal seit Desiderius Erasmus und Daniël Heinsius wieder eine bedeutende Rolle für die deutsche Literatur. Die Hoffnung aber, daß man bald (wieder) die niederländische Literatur lesen würde wie in den Niederlanden die deutsche, hat sich nicht erfüllt. Nicht nur, weil der Wirkungskreis von George ziemlich beschränkt war, sondern auch, weil die Poesie der Achtziger außerhalb des George-Kreises auf wenig Begeisterung stieß.Ga naar voetnoot354 Auf jeden Fall wurde weder zu Herman Gorters Mai noch zur Übertragung von Gorters erstem Versuch, seine sozialistische Überzeugung in einem epischen Gedicht darzustellen (Ein kleines Heldengedicht (1909, ndl. Een klein heldendicht, 1906)), ein Beitrag gefunden und fanden Georges Übersetzungen der Gedichte von Kloos außer bei einigen Spezialisten keine Resonanz.Ga naar voetnoot355 Sogar im Falle von Albert Verwey blieb man zurückhaltend. Noch 1920, als Das literarische Echo schrieb, daß ‘Albert Verwey [...] heute längst einer der anerkannten Führer des geistigen Lebens in Holland’Ga naar voetnoot356 sei, blieb die Aufmerksamkeit für den niederländischen Dichter auf den ‘relativ kleinen’Ga naar voetnoot357, wenn auch bedeutungsvollen Kreis von Stefan George beschränkt.Ga naar voetnoot358 | |
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Die Bedeutung der Kontakte, die durch die Beziehung zwischen Verwey und George entstanden sind, und insbesondere die Bedeutung, die diese Kontakte für die Verbreitung der niederländischen Literatur in dieser Periode hatten, darf also nicht überschätzt werden. Nicht Verwey, sondern Multatuli, Louis Couperus (1863-1923) und Frederik van Eeden prägten die Erneuerung des Bildes der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum um die Jahrhundertwende. Durch die Freundschaft zwischen Verwey und George verfügte die niederländische Literatur zwar wieder über einen ‘Brückenkopf’Ga naar voetnoot359 im deutschen Sprachraum, wurde sie sogar zum Vorbild eines deutschen Dichters, aber ansonsten waren die Kontakte zwischen Verwey und George nicht mehr als ein kleines, wenn auch bemerkenswertes Steinchen im Mosaik der Ereignisse, die in der Periode von 1880 bis 1914 eine Wende in der Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum ermöglichten. | |
2.2.4.2 Frederik van EedenGrößere Aufmerksamkeit als Verwey konnte Frederik van Eeden auf sich ziehen. Er stieg schon bald nach Multatuli zum meistbeachteten Autor im deutschen Sprachraum auf. Dabei fand sein gesellschaftskritisches Märchen Der kleine Johannes (1892, ndl. De kleine Johannes, 1887) zunächst kaum Beachtung.Ga naar voetnoot360 Anerkennung erreichte Van Eeden erst, nachdem sich Pol de Mont auch für ihn einsetzte, und ihn als Dichter der neuen Richtung präsentierte. Damals hob De Mont hervor, daß Van Eeden unter den Achtzigern, und an dieser Stelle nannte er sowohl Herman Gorter, Albert Verwey, Willem Kloos, Hélène Swarth (1859-1941), Lodewijk van Deyssel, Louis Couperus als auch Jacobus van Looy (1855-1930) und Frans Erens (1857-1935), zweifellos der bekannteste, am | |
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meisten gelesene und der beliebteste, ‘auch beim großen Publikum’Ga naar voetnoot361, sei. Daraufhin stellte De Mont verschiedene Werke Van Eedens vor. Natürlich zunächst den Kleinen Johannes, danach aber auch Ellen, ein Lied vom Schmerz (1905, ndl. Ellen, een lied van smart, 1891), De broeders (1894, ‘Die Brüder’), das ‘durch und durch deutsch[e]’Ga naar voetnoot362 Drama Lioba (1912, ndl. 1897) und Johannes den Wanderer (1908, ndl. Johannes Viator, 1892), ein Buch - und hier distanzierte sich De Mont von der Meinung vieler seiner Zeitgenossen -, das seiner Meinung nach ‘bloß mit den allerschönsten unserer Zeit’Ga naar voetnoot363 zu vergleichen war. Am Ende seines Beitrages widmete De Mont schließlich den Werken Het lied van schijn en weezen (1895, ‘Lied von Schein und Wesen’) und Enkele verzen (1898, ‘Einzelne Verse’) einige Zeilen und zitierte in diesem Zusammenhang Kloos, der geschrieben hatte: ‘Dichter ist nur der, für wen [wie für Van Eeden, HVU] die Dichtkunst nicht blos ein leeres Wortgespiel, sondern die zur Musik gewordene Empfindung seiner Seele ist...’Ga naar voetnoot364 Für De Mont war alles, was Van Eeden schrieb, ‘Offenbarung’.Ga naar voetnoot365 Van Eedens Werke gehörten seiner Meinung nach zum ‘Höchsten und Edelsten in der heutigen holländischen Litteratur’Ga naar voetnoot366: ‘Wo van Deyssel den Durchschnittsleser oft abstößt durch seine krassen Beschreibungen der Realität, Kloos durch eine gewisse Schwere im Versbau und im Ton, Helene Swarth durch übergroße Verfeinerung und eine gewisse Einförmigkeit in der Aeußerung ihrer Gefühle, rührt er, verführt er durch seine liebliche Einfachheit, durch die Klarheit der Ideen, durch den kindlichen Sinn, wozu sich die meist erhabene Tiefe der Gedanken gesellt.’Ga naar voetnoot367 | |
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Einige Zeit später griff Otto Hauser dessen Ansätze auf.Ga naar voetnoot368 In seinem ‘Charakterbild aus der niederländischen Litteratur der Gegenwart’ fand auch er nur gute Worte für die Literatur des Nachbarn im Westen - ‘Die holländische Litteratur hat im letzten Vierteljahrhundert einen ganz unerwarteten Aufschwung genommen; sie, die eine der letzten war, ist eine der ersten geworden’Ga naar voetnoot369 -, ganz besonders für das Werk Frederik van Eedens und dabei natürlich, wie bei diesem Kenner der niederländischen Poesie der Achtziger zu erwarten, vor allem für dessen Poesie. Hauser verglich die ‘feine Naturbeseelung’Ga naar voetnoot370 im Kleinen Johannes mit dem Werk von Hans Christian Andersen und Jens Jacobsen, nannte Ellen, ein Lied von Schmerz nicht nur Van Eedens ‘Hauptwerk’Ga naar voetnoot371, sondern auch ‘die bedeutendste religiöse Dichtung seit Paul Verlaines Sagesse’Ga naar voetnoot372, und zog sogar William Shakespeare und Johann Wolfgang | |
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von Goethe hinzu, um die ‘innere Wahrheit’Ga naar voetnoot373 im Werk von Van Eeden zu veranschaulichen.Ga naar voetnoot374 Damit war der Durchbruch für Van Eeden im deutschen Sprachraum geschafft. Der positiven Darstellung Otto Hausers setzten die Rezensenten der zweiten Übertragung des Kleinen Johannes von Van Eeden nichts mehr entgegen. Neben der Tatsache, daß sie alle die Übersetzung von Else Otten, der bedeutendsten Übersetzerin aus dem Niederländischen in der Periode von 1880-1914, lobend hervorhoben, war Van Eeden - insbesondere seine ‘poetische und ergreifende Geschichte des kleinen Johannes’Ga naar voetnoot375 - die Entdeckung der niederländischen Literatur des angehenden 20. Jahrhunderts. Das Werk war ‘vollendet gebaut’Ga naar voetnoot376. Dementsprechend war nicht nur in der Nation die Begeisterung für das ‘erquickliche [...] Buch’Ga naar voetnoot377 von dem ‘echten Sänger’Ga naar voetnoot378 lyrisch: ‘Und gerade, wenn ich etwas Wertvolles, Schönes unter dem Schwall herausfinde, dann gerade verwünsche ich die aufdringlichen Piepser und die lärmenden Krächzer, die Spottdrosseln dazu, die nicht einmal Eigenes können. Wären alle sie nicht, dann würde Frederik van Eedens Buch schon längst in aller Lesenden Händen sein, jeder würde herandrängen und schöpfen aus diesem Wasser, das bald murmelt und springt wie ein Waldbach, bald reißend dahinstürzt wie ein Strom und bald tief und groß daliegt wie ein See, der die Sonne widermalt.’Ga naar voetnoot379 Bezeichnenderweise beruhte der Erfolg Van Eedens nicht unmittelbar auf dem von Verwey und George, De Mont und Hauser geweckten | |
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Interesse für die niederländischen Achtziger.Ga naar voetnoot380 Man stellte zwar fest, daß das, was von Van Eeden nicht nur ‘erzählt oder beschrieben’Ga naar voetnoot381, sondern ‘ausgeweint und ausgejubelt’Ga naar voetnoot382 werde, aus ‘rein künstlerischen Motiven’Ga naar voetnoot383 entstanden sei und daß die Wiedergabe des ‘eignen Schönheitsempfindens’Ga naar voetnoot384, der Schönheit, ‘die die innerliche und hohe Bedeutung der Tatsachen ist’Ga naar voetnoot385, im Werk von Van Eeden im Mittelpunkt stehe. Man erkannte also typische Ideale der Achtziger. Dennoch war man der Meinung, daß das Werk von Van Eeden, insbesondere natürlich sein erfolgreicher Kleiner Johannes, ‘nicht charakteristisch’Ga naar voetnoot386 für die Achtziger sei, das, was Van Eeden künstlerisch nenne, an erster Stelle ‘auf das genaueste’Ga naar voetnoot387 mit seinen religiösen und sozialen Überzeugungen zusammenfalle. Van Eeden, der ‘Tolstoi Hollands’Ga naar voetnoot388, wurde also ähnlich wie zur gleichen Zeit Multatuli an erster Stelle als ‘hervorragende Individualität’Ga naar voetnoot389, als ‘theoretische[r] Sozialist[...] und praktische[r] Sozialreformer’Ga naar voetnoot390 geschätzt. Der Name seines Vorläufers fiel nur selten, aber alle Rezensionen zum ‘poetisch-ethischen’Ga naar voetnoot391 Werk Van Eedens zeigen deutlich, daß Van Eeden, ebenso wie Multatuli, insbesondere als ‘Faktor der Zeit’ gewürdigt | |
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wurde.Ga naar voetnoot392 Sogar Walter von Molo, der in seinen verschiedenen Beiträgen doch immer wieder versuchte, Van Eeden als den vielseitigen Dichter zu präsentieren, der er war - ‘Ein Arzt, der dichtet; ein Dichter, der sozialer Organisator ist, der Gärtner, Bauer, Fabrikant, Ladenbesitzer und Kaufmann gewesen ist, der eine psychotherapeutische Klinik leitete; ein vermöglicher Mann, der eine kommunistische Kolonie gründete; ein Ästhet, der politische Vortragsreisen unternimmt, ein Künstler, der ein fanatischer Sozialreformer und selbstlos egoistischer Unternehmer ist, ein Demokrat mit anarchistisch-aristokratischer Gesinnung, ein provinzialer Holländer, der Weltbürger ist, ein Lyriker, Kritiker, Dramatiker, Essayist und Romancier, das ist Frederik van Eeden. Für ein Halbtalent genügte einer der aufgezählten Widersprüche, um es wohltätig zu knicken; der in Eeden menschgewordenen Urkraft ist die Vielfältigkeit der im Gleichgewicht verklammerten Widersprüche erst die Einheit!’Ga naar voetnoot393 -, ließ deutlich erkennen, daß für ihn die besondere Bedeutung Van Eedens in dem lag, was er die ‘künstlerische Tendenz’Ga naar voetnoot394 nannte, nämlich in der Tatsache, daß Van Eeden ‘Prediger oder Wissenschaftler [...] mitten im Dichtertum’Ga naar voetnoot395 sein wollte.Ga naar voetnoot396 In vergleichbarer Weise | |
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würdigte schließlich Stefan Zweig in seinem Beitrag für das Liber Amicorum, das zum siebzigsten Geburtstag des Dichters erschien, weniger die ‘dichterische Verhüllung’Ga naar voetnoot397 als vielmehr die Tatsache, daß Van Eeden zu den ‘grossen moralischen Genies unserer Epoche’Ga naar voetnoot398 gerechnet werden müßte. Begünstigt wurde dieses Phänomen durch die vielen Stellungnahmen Van Eedens zum deutschen Militarismus und durch die verschiedenen politisch orientierten Lesungen, die er im Ausland, nicht zuletzt im deutschen Sprachraum, gehalten hat.Ga naar voetnoot399 Eine nicht zu unterschätzende Rolle hat in diesem Zusammenhang auch gespielt, daß man über die Biographie Van Eedens, wie es im Falle von Multatuli durch die Einleitung Spohrs geschehen war, dank eines ‘Propagandaheftchen[s]’Ga naar voetnoot400 sehr gut informiert war. So wurde immer wieder Van Eedens Experiment mit der Kolonie ‘Walden’ erwähnt und dabei interessanterweise gerade das Scheitern dieses Experimentes im deutschen Sprachraum mit Freude aufgenommen. Nicht nur Das literarische Echo wies in seinem Beitrag zum Erscheinen des Kleinen Johannes darauf hin, daß sich Van Eeden, als er das Buch schrieb, zwar ‘noch nicht von der Sozialdemokratie abgewandt [hatte], in der er eine der Mächte zum Guten erblickte’Ga naar voetnoot401, er nun aber (glücklicherweise) den Marxismus ‘als “die stärkste aller Reaktionen, die gefährlichste und entsetzlichste Degeneration des Sozialismus”’Ga naar voetnoot402 bekämpfe. Auch in der Deutschen Volksstimme fühlte man sich bestätigt und wurde herausgestellt, daß das Ziel Van Eedens nicht der ‘gemeinschaftliche [...] Grundbesitz’Ga naar voetnoot403 gewesen sei, daß er vielmehr ‘gemeinschaftlichen Allgemeinbesitz erreichen [wolle] ohne “Grund”’Ga naar voetnoot404 | |
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mit Produktionsstätten wie einer Bäckerei und einer Schokoladenfabrik und daß eine kommunistische Unternehmung wie Walden, ‘selbst wenn die Teilnehmer hochstehende Personen sind, und wenn die Leitung in den Händen eines selbstlosen, opferungsfähigen Menschen ruht, eine Unmöglichkeit’Ga naar voetnoot405 sei. Es blieb außerdem nicht bei einer dankbaren Feststellung des Scheiterns von Van Eedens Experimenten. Während Intellektuelle wie Gustav Landauer, Walther Rathenau und Martin Buber Van Eedens Traum von einer Welt unter Führung einiger auserwählter Persönlichkeiten bewunderten, wurde insbesondere nach dem Erscheinen von Glückliche Menschheit (1909, ndl. De blijde wereld, 1903) mit der, wie Der Kunstwart feststellte, ‘bemerkenswerten, ex-utopistischen’Ga naar voetnoot406 Einleitung von Franz Oppenheimer und nach Veröffentlichung seines Werkes Welt-Eroberung durch HeldenliebeGa naar voetnoot407 auch Van Eedens Traum von einer neuen Welt auf Basis der ‘Geltung genialer Menschen’Ga naar voetnoot408 und sein ‘Edelanarchismus’Ga naar voetnoot409, den er dem Sozialismus gegenüberstellte, kritisiert. Anders als Multatuli fand Van Eeden demnach nicht an erster Stelle, und schon gar nicht ausschließlich, in reformatorischen, sozialistischen oder anarchistischen Kreisen Anklang. Unabhängig von seiner Kritik am Kommunismus wurde das Interesse an dem ‘tief eindringenden Erörterer gesellschaftlicher Grundfragen’Ga naar voetnoot410 in eher traditionell denkenden Kreisen durch Van Eedens religiöse | |
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Orientierung, insbesondere in seinen späteren Werken, verstärkt.Ga naar voetnoot411 Während in der Arbeiter-Zeitung Van Eedens Forderung nach einer neuen Religion kritisiert wurde - ‘[...] keine Religion hat die wirtschaftliche Ordnung der Menschheit geändert’Ga naar voetnoot412; im Gegenteil, was die Menschheit brauche, sei die Befreiung von einem ‘Druck [...] Alles andere kommt nachher’Ga naar voetnoot413 -, betonten andere Kritiker gerade Van Eedens ‘gleichmäßig anhaltende dreifaltige Liebe zu Gott, zu den Menschen und zu der Kunst’Ga naar voetnoot414 sowie die Tatsache, daß z.B. Der kleine Johannes einen ‘antikirchlichen, doch tiefreligiösen’Ga naar voetnoot415 Charakter hatte. Religion und Geisteskultur widmete dem Thema der Religion bei Frederik van Eeden sogar einen ganzen Aufsatz.Ga naar voetnoot416 Im Mittelpunkt dieses Beitrages stand der Nachweis, daß sich Van Eeden im Unterschied zu den übrigen Achtzigern, die in der ‘Anbetung der Schönheit aufgingen’Ga naar voetnoot417, dieser ‘Schönheitsvergötterung’Ga naar voetnoot418 widersetzt hat und daß er, wenn auch mit der nötigen Skepsis, ständig nach der Religion gesucht hat.Ga naar voetnoot419 Zum Erfolg von Van Eeden im deutschen Sprachraum haben also drei Elemente beigetragen: Erstens die Tatsache, daß er nicht nur durch | |
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seinen Edelanarchismus faszinierte, sondern zugleich auch Konservative anzog, die in ihm den antimarxistischen Sozialreformer erkannten; zweitens der religiöse Hintergrund, insbesondere seiner späteren Werke, und schließlich natürlich die Tatsache, daß Van Eeden als einer der ersten niederländischen Dichter im deutschen Sprachraum von folgenden Faktoren profitierte: vom fast gleichzeitigen Erfolg Multatulis, vom steigenden Informationsstand bezüglich der niederländischen Literatur und von der Anerkennung, die die niederländischsprachigen Autoren seiner Generation inzwischen im deutschen Sprachraum fanden, so daß er nicht mehr grundsätzlich gegen ein von vornherein eher negatives Bild der niederländischen Literatur kämpfen mußte. | |
2.2.4.3 Der Naturalismus2.2.4.3.1 Marcellus Emants und Lodewijk van DeysselDie Analyse der Rezeption der Werke von De Mont, Gezelle, Multatuli, Verwey und Van Eeden hat gezeigt, daß im letzten Dezennium des vorigen Jahrhunderts zum ersten Mal seit 1830 die Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum von einem breiteren Interesse für die niederländische Literatur selbst geprägt war. Natürlich spielten alte Faktoren wie die ‘germanische’ Perspektive oder, wie sich bei der Rezeption von Gezelle und Van Eeden gezeigt hat, der religiöse Charakter der niederländischen Literatur weiter eine wichtige Rolle, aber mehr und mehr rückte im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert die literarische Bedeutung der rezipierten Werke in den Mittelpunkt und stieg das allgemeine Ansehen der niederländischen Literatur. Dies allerdings nicht in dem Maße, daß die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum in dieser Periode etwa den Status errang, daß nicht nur aus ihr selbstverständlich übersetzt wurde, sondern daß man sich auch an ihr orientierte, wie dies z.B. mit der skandinavischen Literatur geschah. Dafür war ihre Rezeption zu sehr mit der Persönlichkeit der jeweils rezipierten Dichter verbunden. Dies führte dazu, daß literarische Erneuerungen oder Anregungen aus dem niederländischen Sprachraum, abgesehen von einigen Ausnahmen - hier sei noch einmal auf den George-Kreis hingewiesen -, kaum als solche gewürdigt oder gar aufgenommen wurden. Hierunter hatten insbesondere die niederländischen Naturalisten zu leiden. Gerade sie haben kaum von den Erfolgen der Achtziger und der Begeisterung für Multatuli und Van Eeden profitiert. Dies nicht zuletzt, weil der niederländische Naturalismus für deutsche Verhältnisse zu spät kam. Obwohl er im Vergleich zum deutschen nur mit einiger Verzögerung aufkam - Marcellus Emants (1848-1923), dessen Vorbild nicht Zola, | |
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sondern Turgenjew war, erklärte schon 1877 die Wahrheit zum Wesen aller Kunst und bezeichnete sich bereits 1879 als Naturalist -Ga naar voetnoot420, setzte er sich erst mit der Gründung des Nieuwe Gids durch. Dies war einer der Gründe dafür, daß zwar Jan ten Brinks Zola-Studie ins Deutsche übertragen wurde, nicht aber Van Deyssels Roman Een liefde (1887, ‘Eine Liebe’), in dem dieser Autor mit dem von ihm entwickelten Sensitivismus den Rahmen der typischen naturalistischen Erzählung sprengte. Gerade Van Deyssels Hoffnung, daß sein Sensitivismus, der das Werk einiger niederländischer Naturalisten kennzeichnet, auch in europäischer Hinsicht eine Chance für ihn selbst und die niederländische Literatur bieten würde, hat sich also nicht erfüllt.Ga naar voetnoot421 Naturalistische Maßstäbe setzten deutsche oder französische, jedoch nicht niederländische oder flämische Autoren. Werke wie Lilith (1879, dt. 1895), Götterdämmerung (1892, ndl. Godenschemering, 1884), Monte Carlo (1897, ndl. Monaco, 1878), Wahn (1908, ndl. Waan, 1905) und der Novellenband Tot (1894, ndl. Dood, 1892) vom ‘Vorläufer’Ga naar voetnoot422 der Achtziger, Marcellus Emants, wurden zwar übersetzt, aber sie fanden wenig Resonanz in der Kritik. Obwohl Paul Raché schon 1898 über Een nagelaten bekentenis (1894, dt. Bekenntnisse eines Dekadenten, 1906) - ‘einer der ersten Ich-Romane mit einem negativen, sogar pathologischen Helden in der westeuropäischen Literatur’ -Ga naar voetnoot423 vom ‘litterarisch tiefsten und wuchtigsten Roman [...], den das holländische Schrifttum im letzten | |
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Jahrzehnt überhaupt hervorgebracht’Ga naar voetnoot424 hatte, sprach und Das literarische Echo dem Roman einen ‘besonderen Wert’Ga naar voetnoot425 bescheinigte und von ‘gereifte[r] Kunst’Ga naar voetnoot426 redete, begnügte man sich an anderer Stelle mit der Feststellung, daß es von den ‘fleißige[n] und bedeutende[n]’Ga naar voetnoot427 Vertretern der realistisch-naturalistischen Richtung, Marcellus Emants und Frits Lapidoth (1861-1932), ‘eine ganze Reihe stofflich interessanter und packend geschriebener Romane und Novellen’Ga naar voetnoot428 gebe, ‘die zum Teil auch bereits in deutscher Sprache erschienen’Ga naar voetnoot429 seien.Ga naar voetnoot430 Ebenso typisch war in diesem Zusammenhang, daß der Hinweis auf das naturalistische Werk von Emants bei der Rezension von Götterdämmerung - einem Werk, das auschließlich unter dem Gesichtspunkt der Nibelungendichtung betrachtet wurde - fehlte und daß der von Raché schon 1898 gepriesene Roman Een nagelaten bekentenis erst 1906 unter dem Titel Bekenntnisse eines Dekadenten in Deutschland herauskam, wobei das Buch, wie es der Titel schon sagt, nicht mehr der naturalistischen, sondern der dekadenten Strömung zugeordnet wurde.Ga naar voetnoot431 | |
2.2.4.3.2 Louis CouperusDie deutschsprachige Rezeption von Louis Couperus begann mit Paul Raché. Im Gegensatz zu Otto Hauser, der vor allem die Poesie bevorzugte, war dieser Kritiker und Übersetzer, obwohl auch er davon überzeugt war, daß die Poesie der Achtziger eine Stellung einnehme, die den ‘Vergleich mit keiner anderen Lyrik’Ga naar voetnoot432 zu fürchten brauche, der Meinung, daß der wirklich moderne Charakter der niederländischen | |
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Literatur ‘weniger in der Lyrik, als im Roman zur Geltung’Ga naar voetnoot433 komme. Dabei galt die Hoffnung dieses Kritikers, der auch Multatuli übersetzt hat, insbesondere Couperus. Als einer der ersten im deutschen Sprachraum präsentierte er Couperus, wie später das Magazin für Litteratur schreiben würde, als ‘neuste[n] star [sic]’Ga naar voetnoot434. Couperus schien Raché ‘mehr als viele andere geeignet [...], im Auslande Interesse für das holländische Schrifttum zu erwecken’Ga naar voetnoot435: ‘Von all' den Schriftstellern aber, die in neuerer Zeit in Holland aufgetreten sind, hat keiner einen solch nachhaltigen Erfolg zu verzeichnen gehabt, wie Louis Couperus, sicherlich die hervorragendste und zukunftreichste Erscheinung der gegenwärtigen holländischen [sic] Literatur. Couperus steht noch nicht in der Vollkraft seiner Entwickelung, die höchste Höhe des literarischen Könnens liegt noch vor ihm, aber sein letzter Roman Majestät, der soeben in einer deutschen Uebersetzung erschienen ist [...], beweist, daß er diese Höhe nahezu erreicht hat.’Ga naar voetnoot436 Raché stellte aber ebenfalls klar, daß ihn bei Couperus, den er das ‘Haupt der Sensitivisten’Ga naar voetnoot437 nannte und als dessen Vorläufer er Emile Zola, die Gebrüder Edmont und Jules de Goncourt und Joris-Karl Huysmans und bezeichnenderweise nicht etwa Marcellus Emants oder Lodewijk van Deyssel erwähnte, der Sensitivismus störe, der zu ‘etwas krankhafte[r] [...] Originalitätssucht’Ga naar voetnoot438 führe. Schon in diesem frühen Aufsatz zeigt sich also, woran auch das naturalistische Werk von Couperus im deutschen Sprachraum scheiterte: an seinem eher statischen, malerischen, eben sensitivistischen, Charakter. Deshalb fanden Eline Vere (1889) und Couperus' zweiter Roman Noodlot (1891, dt. Schicksal, 1892) sowie das ausgesprochen sensitivistische Werk Ekstase (1894, ndl. Extase, 1892) bei der deutschsprachigen Kritik kaum Würdigung. Die mehr individuell-subjektive Art des niederländischen Naturalismus, wie sie sich schon bei Emants in der Wahl der Ich-Per- | |
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spektive und später dann bei Van Deyssel und Couperus zeigte, fand im deutschen Sprachraum keine Gegenliebe.Ga naar voetnoot439 Ebenso deutlich wie bei Raché wurde dies in der Kritik im Magazin für Litteratur. Sie stammte von K. Busse, einem Rezensenten, der sich wie Raché über das Geschehen in der niederländischen Literatur um 1880 gut informiert zeigte. Er verglich nicht nur De Nieuwe Gids mit der Gesellschaft, weil beide ‘der bisherigen Litteratur frisch und fröhlich den Krieg erklärte[n]’Ga naar voetnoot440, sondern betonte darüber hinaus zu Recht, daß es in beiden Ländern in der Folgezeit von ‘einem Extrem [...] ins andre’Ga naar voetnoot441 ging, und wußte die Position von Couperus innerhalb der Literatur seiner Zeit sehr genau zu bestimmen: ‘Louis Couperus, der vielleicht bedeutendste, sicher aber bekannteste Vertreter dieses jüngsten Hollands, hat dieses Taumeln von Extrem zu Extrem wie kein andrer mitgemacht. Was sich in seinen Lyrikbänden schon verfolgen ließ, tritt noch stärker und gröber in seinen Romanen auf. Er stellt eine seltsame Mischung von Naturalismus und Fantastik dar und mag so als Haupt jener Dichter gelten, die für Holland den “Sensitivismus” proklamirten, jenen Sensitivismus, der “eine Fortentwicklung des Impressionismus” ist, dessen Gefühlsfeinheit er mit der rohen Kraft und Exaktheit des Naturalismus zu verbinden trachtet.’Ga naar voetnoot442 Dann kam der Kritiker aber zur Sache. Von diesem Sensitivismus hielt er nichts. Van Deyssels Weiterentwicklung des Naturalismus war für ihn nicht mehr als ein hochtrabendes Schlagwort - ‘[...] im Grunde verlangt dieser Sensitivismus nichts andres, als eine harmonische Verbindung von Wirklichkeitssinn und Fantasie’Ga naar voetnoot443 - und Couperus' deka- | |
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denter Sensitivismus nicht mehr als eine bloße Flucht in die wirklichkeitsleere Ästhetik: ‘Eline Vere ist noch ein Roman wie viele andre; etwas naturalistisch; etwas Photographie der Wirklichkeit im allgemeinen und des haager [sic] modernen Gesellschaftslebens im besonderen. Schicksal zeigt schon eine verfeinerte Kunst; noch wird die Lichtsehnsucht nicht befriedigt, denn der londoner [sic] Nebel drückt und verfinstert noch alles, aber die Menschen sind schon zarter angefaßt, und es kommt hier und da die stille Raffinirtheit zum Vorschein, die Couperus bald vergröbern sollte. In Ekstase wird der feste Boden unsrer Erde schon mehr verloren. Die Menschen darin werden uns fremder, werden ätherischer, scheinen alle visionär zu sein. Ihr Tun und Lassen ist schwer verständlich, das Weib wird Madonna, und die Ekstase des Mannes stellt sie mit weißem Engelsgewand in die silberne Unendlichkeit. Und dann kommt der Sprung zu Majestät, worin die letzten beengenden Schranken der Wirklichkeit fallen gelassen werden.’Ga naar voetnoot444 Die Tatsache, daß der ‘Untergangsdenker’Ga naar voetnoot445 Couperus zu minutiösen Wirklichkeitsbeschreibungen oder Kunstprosa griff, um die psychische Verfassung und Affektivität seiner Romanfiguren besser zum Ausdruck zu bringen, wurde nicht gewürdigt; im Gegenteil, es wurde kritisiert, daß Couperus seine Hauptpersonen nur deshalb der Wirklichkeit entrücke, um besser die ‘Farbenglut in der Schilderung’Ga naar voetnoot446 entfalten zu können. Was bleibe, sei ein mittelmäßiger ‘Dichter der Farben’Ga naar voetnoot447, der in einem ‘Farbenrausch’Ga naar voetnoot448 schwelge. Vor seinem ‘schreienden Prunk’Ga naar voetnoot449 und der ermüdenden ‘Eintönigkeit’Ga naar voetnoot450 des ‘schwachen Charakteristiker[s]’Ga naar voetnoot451 mußte gewarnt werden. Es sei viel zuviel ‘Mache’Ga naar voetnoot452 in Couperus' Werken. Gerade bei der eben zitierten Beurteilung des Magazins für Litteratur spielte die Tatsache, daß die Kunst Couperus' als zu französisch und damit als unholländisch und ungermanisch (‘Die jungen Holländer sollen nicht vergessen, daß sie Germanen sind’Ga naar voetnoot453) betrachtet wurde, auch eine | |
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Rolle, aber dadurch wurde die Kritik an Couperus' frühen Werken wegen des zu großen Aufwandes, der fehlenden inneren Stichhaltigkeit und der Vorliebe für allzu weitschweifige Entwürfe nicht weniger typisch. Erst mit dem Durchbruch von Couperus' historischen Romanen - aus deutscher Sicht wegen der negativen Rezeption seiner naturalistischen Werke das ‘Hauptgebiet’Ga naar voetnoot454 des Schaffens dieses Dichters - änderte sich das Urteil über Couperus in der deutschsprachigen Kritik. Das ‘malerische, das bildnerische Element’Ga naar voetnoot455 von Couperus, dessen Werk von Hermann Hesse ‘ein buntes, schönes Bilderbuch, überreich an zarten und üppigen Bildern’Ga naar voetnoot456 genannt wurde, paßte in den Augen der deutschsprachigen Kritiker besser zum historischen Roman oder zur Kulturschilderung als zum Naturalismus.Ga naar voetnoot457 Das erste Buch von Couperus, das wirklich begeisterte Aufmerksamkeit auf sich lenkte, war Majestät (1895, ndl. Majesteit, 1893), die Geschichte des Prinzen Othomar, Sohn des Kaisers von Liparien, der sich für ungeeignet hielt, die Regierung zu übernehmen.Ga naar voetnoot458 Dabei wurde die positive Resonanz auf das Buch dadurch verstärkt, daß Weltfrieden (ndl. Wereldvrede, 1895), der im gleichen Jahr erschien, obwohl Couperus - im Gegensatz zu Xerxes oder Der Hochmut ([1919], ndl. Xerxes of De hoogmoed, 1919), in dessen Hauptperson man zu Recht Wilhelm II. erkannte -Ga naar voetnoot459 mit Weltfrieden nichts anderes ‘als ein Kunstwerk, ein | |
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reines Kunstwerk’Ga naar voetnoot460 hatte schaffen wollen, von den zeitgenössischen Lesern als Couperus' literarische Stellungnahme zur aktuellen Weltpolitik interpretiert wurde. Man bewunderte nun, was früher kritisiert worden war: die ‘effektvoll[e]’Ga naar voetnoot461 Gestaltung von Couperus' Romanen, den Zauber, die ‘aufwühlende Freskomalerei’Ga naar voetnoot462, die ‘blühende Üppigkeit der Schilderung’Ga naar voetnoot463 und die ‘leidenschaftlich beschwingte, anmutig verschlungene Handlung’Ga naar voetnoot464, mit der Couperus das ‘heilige Land des klassischen Altertums’Ga naar voetnoot465 beschreibe. Besonders geschätzt wurde jetzt ferner die schlichte Art und Weise, mit der Couperus immer wieder ‘die Hineinstellung in das rasch vertraut werdende Leben und Treiben einer sonst dem Durchschnittsleser ferner liegenden Zeit und Welt’Ga naar voetnoot466 verwirkliche und die ‘peinliche Genauigkeit’Ga naar voetnoot467, ohne daß er mit ‘kulturgeschichtlicher Gelehrsamkeit’Ga naar voetnoot468 oder ‘Kenntnis-Protzerei’Ga naar voetnoot469 prunke oder absichtlich | |
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belehren wolle.Ga naar voetnoot470 Mal hob man nun die meisterhafte Gestaltung hervor,Ga naar voetnoot471 mal nannte man Couperus ‘die ursprünglichste, die elementarste, die vollsaftigste Erzählerbegabung’Ga naar voetnoot472. Sogar der in der ersten Phase der Couperus-Rezeption im deutschen Sprachraum besonders kritisierte Farbenrausch wurde jetzt gepriesen. Nicht nur Die schöne Literatur würdigte die ‘lebendig-farbigen Bilder’Ga naar voetnoot473, auch anderenorts wurde neben den satirischen und humoristischen Zügen im Werk von Couperus die ‘berauschende [...] Farbenstimmung’Ga naar voetnoot474 begrüßt.Ga naar voetnoot475 Obwohl also Das Magazin für Litteratur schon im Jahre 1898 festgestellt hatte, daß der Name Couperus ‘auch weit über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus schon einen guten Klang’Ga naar voetnoot476 habe, und 1903 L. Grapperhaus nicht nur bestätigte, daß die Niederlande ‘seit einigen zwanzig Jahren in der Lyrik, im Roman und in der Novelle sehr Beachtenswertes’Ga naar voetnoot477 hervorgebracht hätten, sondern auch betonte, daß ein Artikel wie der seine ‘seit Jahren’Ga naar voetnoot478 mit Couperus beginnen müsse, ließ | |
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die breite Anerkennung für Louis Couperus im deutschen Sprachraum also bis in den zwanziger Jahren auf sich warten. Und dann war bezeichnenderweise die erste Phase der Couperus-Rezeption so gut wie vergessen. So liest man mit einigem Erstaunen in Beiträgen aus dieser Periode: ‘[...] verhältnismäßig spät war sein Name [= Couperus, HVU] deutschen Lesern bekannt geworden und erst das letzte Jahrfünft hatte ihn - zugleich mit einer Fülle von Werken - bekannt gemacht und so die Versäumnis früherer Zeiten ausgeglichen’Ga naar voetnoot479. Natürlich wurde auch in den zwanziger Jahren Kritik geübt. So mancher Rezensent fand die Prosa von Couperus etwas zu oberflächlich, vermißte die ‘innerliche Kraft’Ga naar voetnoot480 oder meinte, daß es zu sehr bei einer ‘glänzend zusammengestrichelten Kleinmalerei’Ga naar voetnoot481 bleibe. Als störend wurden ferner die ‘umständliche Art zu erzählen und die allzuhäufigen [sic] Wiederholungen’Ga naar voetnoot482, die ‘geradezu ärgerlich behäbige [...] Trockenheit’Ga naar voetnoot483, das ‘Postkutschentempo’Ga naar voetnoot484, die zum Teil ‘zu dürftige Romanhandlung’Ga naar voetnoot485 und die manchmal zu ‘stark aufgetragen[e]’Ga naar voetnoot486 Naivität empfunden.Ga naar voetnoot487 Weiter gab es skeptische Äußerungen beim | |
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Vergleich vom Werk Couperus' mit dem von Gustave Flaubert, dessen ‘Muster’Ga naar voetnoot488 man völlig zu Recht bei ihm entdeckte.Ga naar voetnoot489 Hinter dem französischen Autor bleibe Couperus, so war zu lesen, doch ‘weit zurück’Ga naar voetnoot490. Was Werken wie Salammbô zu hohem Rang verhelfe, scheine Couperus zu fehlen: ‘Stil, Rhythmus, Melodie, vor allem [...] das Herz des Dichters selbst’Ga naar voetnoot491. Schließlich wurde noch die realistische Darstellung der ‘Psychopathia sexualis auf dem römischen Kaiserthron’Ga naar voetnoot492 beanstandet und fragte man sich, ‘ob die “androgyne Form”, die homosexuellen “Ehen” des Kaisers und andere Laster eine solche Mühe verlohnen’Ga naar voetnoot493. Diese Kritik stand einem Erfolg aber nicht mehr im Wege. Nicht nur daß viele Leser mit dem Werk von Couperus ‘auf [...] unbeschwerliche[m] und sehr unterhaltsame[m] Wege ihre kulturgeschichtlichen Kenntnisse vermehren’Ga naar voetnoot494 konnten, Couperus' historische Romane, die Zeit der Antike, in der sie spielten, und ihre dekadente, manchmal verlogene Stimmung entsprachen perfekt dem bedrückenden Zeitempfinden vieler Menschen im Deutschland der zwanziger Jahre.Ga naar voetnoot495 | |
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Trotz eines schwierigen Startes wurde Couperus also doch einer der erfolgreichsten niederländischen Autoren im deutschen Sprachraum, allerdings nicht als Autor naturalistischer Romane oder als Verfasser der im niederländischen Sprachraum sehr beliebten Haagener Romane, sondern als Autor historisierender Werke.Ga naar voetnoot496 Auch Couperus konnte also nicht davon überzeugen, daß die Achtziger, auch was den Naturalismus betraf, wie es Van Deyssel erhofft hatte, den Niederländischsprachigen ‘eine der zeitgenössischen Literatur in anderen Ländern ebenbürtige Literatur’Ga naar voetnoot497 gegeben hatten. | |
2.2.4.3.3 Herman HeijermansEin weiterer niederländischsprachiger Autor, der um die Jahrhundertwende im deutschen Sprachraum überdurchschnittlich große Aufmerksamkeit erregte, war der Dramatiker, Prosaautor und Journalist Herman Heijermans (1864-1924). Er kann zwar nicht unmittelbar der Gruppe der Achtziger zugerechnet werden und wurde im deutschen Sprachraum an erster Stelle als Dramatiker bekannt, wird aber dennoch an dieser Stelle besprochen, weil mit ihm der niederländische Naturalismus doch ‘zu internationalem Ruhm’Ga naar voetnoot498 gelang. Stücke wie Die Hoffnung auf Segen (1901, ndl. Op hoop van zegen, 1900) wurden in Deutschland etwa viermal so oft wie in den Niederlanden aufgeführt, und Heijermans ist wegen seines Erfolges im deutschen Sprachraum 1907 sogar nach Berlin gezogen.Ga naar voetnoot499 | |
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Dies heißt aber nicht, daß Heijermans' Naturalismus, anders als etwa der von Couperus, im deutschen Sprachraum unumstritten war. Das Gegenteil war vielmehr der Fall. Dazu beigetragen hat u.a., daß sich Heijermans gegenüber den deutschen Dramatikern und Theaterproduzenten als ‘gestrenger Kritiker, verroht und ungerecht’Ga naar voetnoot500 gezeigt hat. Dementsprechend hat man es ihm mit gleicher Münze heimgezahlt und war in der Neuen Rundschau zu lesen: ‘[...] und wenn die Aufnahme nicht ganz nach Wunsch abläuft, so strafen seine Invektiven die deutsche Bühne, der die holländische sehr überlegen sein soll’Ga naar voetnoot501 sowie in der Gegenwart: ‘Kettenglieder [...] nach zu urtheilen, muß der Dichter Heyermans vom Recensenten Heyermans zu den Deutschen gerechnet werden’Ga naar voetnoot502. Wichtiger als dieser Streit unter Kollegen war aber, daß die Werke von Heijermans erst nach Deutschland kamen, als dort der Höhepunkt des Naturalismus bereits überschritten war. Das literarische Echo sprach bezüglich Ghetto (1903, ndl. 1898) zwar noch von einem ‘der besten naturalistischen Stücke, die nach Ibsen und Strindberg über die Bühne gegangen sind’Ga naar voetnoot503, und offensichtlich gefielen dem breiten Publikum die Stücke von Heijermans nach wie vor, aber auf die meisten deutschsprachigen Kritiker wirkte die ungeschminkte Wirklichkeit von Heijermans, die Tatsache, daß er ‘schonungslos [...] die äußere und innere Faulheit’Ga naar voetnoot504 in der von ihm beschriebenen Gesellschaft aufdeckte, inzwischen ‘ermüdend’Ga naar voetnoot505 und überholt. Nicht nur bei G. Zieler war zu lesen: | |
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‘Der Naturalismus als Kunstideal, verständlicher ausgedrückt, die Mode des Naturalismus, ist [...] begraben - abgelöst durch andere “Kunstideale”. Das hindert aber nicht, daß ein mit allen Finessen der naturalistischen Technik ausgeführtes Bühnenstück auch heute noch stark unmittelbar auf die breite Masse des Publikums wirkt. Der Naturalismus als Technik giebt die rechte Speise für den Geschmack der breiten Masse’Ga naar voetnoot506. Über Ora et Labora (1904, ndl. 1901) schrieb auch Die Gegenwart, daß diese Arbeit aus den ‘längst verlassenen Schulstuben des allzu consequenten Naturalismus’Ga naar voetnoot507 zu stammen scheine, und in bezug auf Die Hoffnung auf Segen wurde gesagt: ‘Vor wenigen Jahren noch hätte Heyermans mit seiner Hoffnung Sensation gemacht. Heute kräht kein Hahn mehr danach. Und doch ist sie ein Musterstück der naturalistischen Methode. [...] Alles ist wahr und lebensecht, geschickt componirt, und Heyermans poetische Begabung verräth sich packend in der Kunst, unheimliche Stimmungen auf die Bühne zu bannen. Aber gerade diese Unheimlichkeit, dies beklemmende Grauen, das von den Menschen und ihren Reden ausging, stieß die Menge ab, und der Schluß des Dramas begegnete einer im Deutschen Theater selten zu Worte kommenden Opposition. Der Naturalismus pfeift auf dem allerletzten Loche’Ga naar voetnoot508. Unmißverständlich äußerte sich schließlich der ‘berühmt-berüchtigte’Ga naar voetnoot509 Kritiker Alfred Kerr, der meinte, ‘diese Art Erschütterungen schon zu oft gehabt’Ga naar voetnoot510 zu haben. Für ihn war Heijermans nicht mehr als ‘ein Nachzügler kleinen Formats’Ga naar voetnoot511. Wie bei Couperus behinderte darüber hinaus der sensitivistisch-statische Charakter seines Naturalismus einen erfolgreichen Empfang bei der deutschsprachigen Kritik. Erneut war es Paul Raché, der diesbezüglich bereits sehr früh die Sache auf den Punkt brachte. Wie viele nach ihm bewunderte der Kritiker und Übersetzer Raché, der schon 1894 im Magazin für Litteratur eine Übersetzung von Heijermans' Erstling Ahasver (1904, ndl. Ahasverus, 1893)Ga naar voetnoot512 publizierte, auf der einen Seite die ‘meisterhafte Detailmale- | |
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rei’Ga naar voetnoot513 im Werk des niederländischen Dramatikers, kritisierte sie aber auch zugleich, weil sie seinem Werk eine ‘schiefe Stellung’Ga naar voetnoot514 verleihe. Vergleichbare Äußerungen wurden schon bald zum Leitmotiv in der deutschsprachigen Kritik zu Heijermans. Immer wieder lobte man auf der einen Seite die ‘Meisterhand’Ga naar voetnoot515, mit der Heijermans seine Szenen zeichnete, bescheinigte man ihm ein ‘scharfes Auge für die Schwächen des Spießbürgers, eine geschickte Hand für die Darstellung dieser Schwächen’Ga naar voetnoot516, ‘reiche [...] Gestaltungskraft’Ga naar voetnoot517, ‘anschauliche [...] Schilderungen’Ga naar voetnoot518 - sogar der ansonsten sehr kritische Arthur Eloesser gestand dem niederländischen Autor eine ‘gewisse Fertigkeit im Farbenmischen, die den guten Mustern wenigstens das Handwerk abgesehen’Ga naar voetnoot519 habe, zu -, aber als funktionell für sein Werk wurde dies nicht erfahren. Alles bleibe irgendwie ‘äußerlich’Ga naar voetnoot520, ohne das ‘eigentlich künstlerische Gestaltungsvermögen’Ga naar voetnoot521: ‘Heijermans entrollt zunächst sicher und redlich und kühl bis ans Herz hinan ein Stück alltäglichen Lebens seiner Heimat mit niederländischer Gemächlichkeit, | |
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die sich im Lauf der Arbeit nicht zu Temperament, wohl aber zu Hartnäckigkeit steigert. Dieser Dramatiker verliebt sich in seine Beobachtungsgabe. Es gibt hundert Züge, die den Geschehnissen in keiner Weise helfen, bloß weil er sie in der Wirklichkeit gesehen hat.’Ga naar voetnoot522 Gerade die Tatsache also, daß Heijermans seine Technik sensitivistisch-statisch bewußt auf Sphäre und Stimmung richtete, daß er seinen Dramen bewußt den Charakter einer ‘geschickt dialogisierte[n] Novelle’Ga naar voetnoot523 verlieh, fand im deutschen Sprachraum wenig Anklang.Ga naar voetnoot524 Nur in Einzelfällen würdigte man Heijermans als ‘dramatische[n] Stimmungsmaler ersten Ranges’Ga naar voetnoot525. Im allgemeinen empfand man seinen Naturalismus als nicht dogmatisch genug, stellte man fest, daß Heijermans kein Gefühl für das ‘Notwendige’Ga naar voetnoot526 besitze, warf man seinem Naturalismus ‘Mangel an Hervorragendem’Ga naar voetnoot527 vor und bedauerte man, daß der niederländische Dramatiker sich ‘mit einer fast souveränen Verachtung’Ga naar voetnoot528 über alle (naturalistischen) dramatischen Kunstgesetze hinwegsetze.Ga naar voetnoot529 Von der Kritik an der sensitivistischen Detailmalerei waren auch die Beiträge zu Heijermans' Prosa gekennzeichnet. In den Niederlanden von Van Deyssel hoch gelobt, wurde sie im deutschen Sprachraum nur als ‘Kunstprobe und nicht Kunstwerk’Ga naar voetnoot530 empfunden, oder mit den Worten der Schönen Literatur: ‘[...] so fehlt diesem Naturalismus doch der Aufbau einer geschlossenen Handlung. Es bleibt bei einer eintönig gegliederten Kette von Episoden. Der zwingende, diktatorische Zug Zolas fehlt diesem Naturalismus [...] Jedoch H. umgeht immerhin die bedenkliche Nüchternheit, indem er die beschriebenen Situationen auf den malerischen Effekt hin zu zeichnen versucht. Selbst die vorübergehende | |
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Darstellung seelischer Prozesse wird gewissermaßen in eine Schilderung von Licht- und Farbenwirkung umgesetzt’Ga naar voetnoot531. Jochen Neuhaus ist also recht zu geben, wenn er in seinem Aufsatz zur Erinnerung an Herman Heijermans feststellt, daß der ‘holländische [...] Gerhart Hauptmann’Ga naar voetnoot532 es nicht geschafft hat, ‘sich gegen die dominierenden Dramatiker [seiner] Zeit, allen voran Ibsen, Strindberg und Hauptmann, abzusetzen und als selbständiges Talent mit unverwechselbarer Handschrift begriffen zu werden’Ga naar voetnoot533. Sensitivistisch-statische Aspekte wie die ‘reichhaltige Zeichensprache’Ga naar voetnoot534 und die ‘poetische Psychologie’Ga naar voetnoot535 wurden von Heijermans' Zeitgenossen im deutschen Sprachraum nicht gewürdigt. Wenn der Naturalismus von Heijermans lobend erwähnt wurde, dann geschah dies - und dies erinnert an die Rezeption von Van Eeden und Multatuli - zumeist ausdrücklich im Kontext der humanitären Perspektive, die Heijermans' Werk kennzeichnete, also in bezug auf die, wie Raché sie nannte, ‘Apotheose des neuen Menschenglaubens’Ga naar voetnoot536. So schrieb Die Hilfe: ‘Gewiß ist es berechtigt, bei Heijermans von einem “Naturalismus” zu sprechen. Aber der Naturalismus ist diesem Dichter - obwohl es auf den ersten Blick so scheinen mag - niemals Selbstzweck. Der Naturalismus ist ihm Technik, Ausdrucksform, nicht Inhalt und Kunstideal. Das unterscheidet ihn und stellt ihn in weite Entfernung von den Naturalisten der Deutschen Schule aus den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, denen die absolute Wirklichkeitstreue Wesen und Inhalt der Kunst war’Ga naar voetnoot537 Dementsprechend betonte der Autor dieses Beitrages, daß Heijermans keine ‘Milieudramen’Ga naar voetnoot538, sondern ‘Ideendramen’Ga naar voetnoot539 geschrieben habe, | |
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und wies darauf hin, daß man erst aufhören werde, Heijermans als ‘Abschreckungsdramatiker mit materialistischer Belastung und berechnender Brutalität’Ga naar voetnoot540 zu schildern, wenn man erkenne, daß sich hinter allem ‘ein einziger, aus tiefster Seele kommender Ruf nach Freiheit’Ga naar voetnoot541 verberge. Vergleichbares las man auch bei Georg Hermann im Literarischen Echo. Auch er war der Meinung, daß erst Heijermans' ‘Gesichtspunkt’Ga naar voetnoot542, seine humanitäre Einstellung sein Werk ‘wärmer, inniger, anteilvoller’Ga naar voetnoot543 machten. Und schließlich war in der Frauenbewegung zu lesen: ‘So tief ergreifend, ja so deprimierend, fast hoffnungslos die Darstellungen wirken, so wird Heyermanns [sic] doch niemals gemein oder brutal. Der Roman [= Diamantstadt, HVU] ist ein hohes Kunstwerk; trotz aller Realistik fühlt man den tiefen Idealismus des Verfassers und ohne im geringsten tendenziös zu sein, wird er doch zu einer furchtbaren Anklage der modernen Zivilisation im allgemeinen und zum Verhalten des Judentums im besonderen. So konnte nur ein Jude schreiben, dem seine Rasse lieb und wert ist.’Ga naar voetnoot544 Heijermans' politisches Engagement machte sein Werk insbesondere bei seinen sozialdemokratischen Parteigenossen beliebt. So wußte man nicht nur in der Neuen Zeit zu schätzen, daß Heijermans ‘praktisch erwiesen hat, daß es sehr gut möglich ist, das Theater in den Dienst der Agitation zu stellen’Ga naar voetnoot545. Auch in der Wiener Zeit war zu lesen, daß man den Naturalismus, und damit auch Heijermans, für tot erklärt habe, weil er ‘unbequem’Ga naar voetnoot546 sei, weil er seinem Publikum ins Gesicht schlage und ‘gerade das vor Augen [führe], vor dem man die Augen verschließen | |
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möchte’Ga naar voetnoot547, und daß Heijermans' Naturalismus nur deshalb ‘echter’Ga naar voetnoot548 sei, weil er sozialistisch sei.Ga naar voetnoot549 Wenn nicht sozialdemokratisch orientierte Kritiker das Engagement von Heijermans zur Sprache brachten, rückte ebenfalls die Tendenz in den Vordergrund. Nicht nur Raché bezweifelte diesbezüglich offen, ob es dem ‘sozialdemokratische[n] Dichter’Ga naar voetnoot550 wohl gelungen sei, seinen Glauben an die neue Menschheit überzeugend darzustellen. Auch Ernst Heilborn bemängelte, daß bei Heijermans manchmal der Sozialreformer den Dichter überflügele und darüber hinaus, daß es Heijermans an ‘selbstbewußtem, aufrechtem Menschentum’Ga naar voetnoot551 fehle. Die Gegenwart meinte in diesem Kontext: Heijermans sei kein ‘Befreier, der hinter den trüben und scheußlichen Begebenheiten des Alltags das große Menschheitsstreben’Ga naar voetnoot552 sehe. Gerade die ‘warmherzige [...] Humanität’Ga naar voetnoot553, von der manche Kritiker so ausdrücklich schwärmten, komme nämlich, so schrieb die Zeitschrift, nicht zum Vorschein. Dafür nähmen die Personen ihr Schicksal zu ‘dumpf und theilnahmslos’Ga naar voetnoot554 hin.Ga naar voetnoot555 Lapidar bemerkte Die Schaubühne, daß Heijermans ‘einfach, als wäre er die Gartenlaube, Bieder und Verwerflich | |
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einander gegenübergestellt [habe] und [...] doch, als wäre er Zola, Verwerflich triumphieren und Bieder unterliegen’Ga naar voetnoot556 lasse, und Die schöne Literatur hob bei der Rezension von Nummer Achtzig (1905, ndl. Nummer tachtig) schließlich hervor, daß Heijermans sein Werk vollends ‘um jeden künstlerischen Reiz’Ga naar voetnoot557 bringe, indem er neben seinen Helden ‘karikirte Personen’Ga naar voetnoot558 stelle, ‘also zu dem billigsten Mittel’Ga naar voetnoot559 greife, ‘um eine halbwahre Tendenz in den Augen einer leicht betrüglichen Menge als richtig zu erweisen’Ga naar voetnoot560. Völlig umstritten war das Engagement Heijermans', besonders im Falie von Ghetto, bei den jüdischen Kritikern. Sie kritisierten die ‘ungleiche Verteilung von Licht und Schatten’Ga naar voetnoot561, warfen Heijermans ‘Gleichsetzung von Ghetto und Judenheit’Ga naar voetnoot562 vor und stellten fest, daß er ‘ohne innere Beziehungen zur Vergangenheit, zur Gegenwart und Zukunft des jüdischen Stammes’Ga naar voetnoot563 schreibe. Heijermans fehle offensichtlich ‘jegliche Liebe zum Judentum’Ga naar voetnoot564. Er wurde zwar als ein Vertreter der westlichen Ghettoliteratur anerkannt, die es sich nicht nur zur Aufgabe gemacht habe, ‘in künstlerischer Form bewußt oder unbewußt Stellung zu einer Sonderfrage [= zur Judenfrage, HVU] zu nehmen’Ga naar voetnoot565, sondern die auch ‘strenge Selbstkritik’Ga naar voetnoot566 betreibe, aber er verstehe zu wenig ‘den Geist und den Sinn des Ghettos’Ga naar voetnoot567. Für manchen dieser Kritiker blieb da nur eins: ‘[...] fort mit dieser “Tragödie”. Nicht zuletzt zum Wohle und Besten des Dichters selbst’Ga naar voetnoot568. | |
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Unter Druck derartiger Proteste hat Heijermans 1905 eine zweite Fassung von Ghetto ausgearbeitet, die im gleichen Jahr im Kleinen Theater in Berlin zum ersten Mal aufgeführt wurde.Ga naar voetnoot569 Das Stück erhielt einen neuen Schluß, in dem die Geliebte der Hauptperson Rafael nun nicht mehr in den Tod ging, sondern auf Drängen der Verwandtschaft zum jüdischen Glauben übertrat. Aber auch dies brachte Heijermans schließlich nicht den erhofften breiten Zuspruch der Kritik. Auch nach 1905 hat der niederländische Schriftsteller im deutschen Sprachraum weiterhin weitgehend vergebens um wirkliche Anerkennung gekämpft.Ga naar voetnoot570 | |
2.2.5 Weitere niederländische und flämische Autoren in der Periode 1880-1914Obwohl bei der Analyse der Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum in dieser Periode das Werk von De Mont, Gezelle, Multatuli, Verwey, Van Eeden, Couperus und Heijermans im Mittelpunkt stand, weil es eben im Vergleich zu dem der anderen Autoren, die in dieser Periode übersetzt wurden, die meiste Beachtung bei der deutschsprachigen Kritik fand, ist es nicht so, daß diese Autoren den Markt der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum beherrschten. Noch nicht einmal das Gros der Übersetzungen aus dem Nieder- | |
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Abb. 2 Niederländische Literatur im deutschen Sprachraum 1880-1914
ländischen ins Deutsche stammte von ihren Werken. Wiederum war es H. Conscience, der in dieser Periode quantitativ das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum bestimmte, und neben ihm Autoren wie J.J. Cremer, die Gebrüder Snieders, J. van Lennep und A.L.G. Bosboom-Toussaint, Autoren von historischen und realistischen Werken also, die bereits in der vergangenen Periode im deutschen Sprachraum sehr erfolgreich waren. Neu hinzu kamen, was flämische Autoren betraf, Siebold Ulfers (1852-1930) mit Dorfgeschichten und der ‘Limburger Conscience’ Peter Ecrevisse (1804-1879) mit populären Erzählungen. Was die niederländische Seite betraf, ergänzten Johannes Romboldus van der Lans (1855-1928), Adèle Wallis (1857-1925) und Louwrens Penning (1854-1927) mit historischer und Johannes van 't Lindenhout (1836-1918) mit realistischer Literatur das Bild der niederländischen Literatur in dieser Periode. Insbesondere was Flandern betraf, gab es keine schlagartige Wende. Auch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts stand, wie gesagt, das Bild der niederländischen Literatur ‘im Zeichen von Hendrik Conscience’Ga naar voetnoot571. Obwohl es konkret in dieser Periode, von einigen Nekrologen abgesehen, so gut wie gar keine Beiträge mehr zu ihm und seinem Werk gab, verzögerte sein nicht abreißender Erfolg den Durchbruch neuerer Werke. So blieben nicht nur die Anthologie jungvlämischer Dichtung (1885) von Gustav Dannehl, die Sammlung Epik und Lyrik aus Flandern, die Pol de Mont 1888 herausgab, und das realistische Werk von Lode Baekelmans (1879-1965), sondern auch die Skizzen von Anton Bergmann (1835-1874) | |
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Ernst Staes, Advokat (1902, ndl. Ernest Staas, advocaat, 1874) und das deutsche Debüt mit dem bezeichnenden Titel Holländische Dorfgeschichten (1909) des flämischen Naturalisten Cyriel Buysse (1859-1932) weitgehend unbeachtet von der Kritik. Das Bild der Literatur aus den Niederlanden differenzierte sich dagegen schneller. Dazu führte fast automatisch der gleichzeitige Durchbruch von Multatuli, Van Eeden, Verwey, Couperus und Heijermans. Darüber hinaus erschien auch sozial engagiertes Werk im Stil von Heijermans, wie die Reportagen von Alexander Bernard Canter (1870-1956) und die Skizzen von Gerard van Hulzen (1860-1940). Ferner setzte man mit Übersetzungen des Werkes von F. de Sinclair (1874-1953) und vor allem mit den Übersetzungen der Beschreibungen des Amsterdamer Volkslebens von Justus van Maurik (1846-1905) im deutschen Sprachraum die Tradition von Hildebrand fort.Ga naar voetnoot572 Ein gewisses Interesse für koloniale Literatur führte schließlich auch zur Übersetzung von Akbar (1877, ndl. 1872) von Petrus Limburg-Brouwer (1829-1873), zum Erscheinen der Indischen Skizzen (1887-1890, ndl. Historisch-indische schetsen, 1873) von Willem Adriaan van Rees (1820-1898) und zu den erfolgreichen Übertragungen einiger Werke von Augusta de Wit (1864-1939), die mit Orpheus in de Dessa (1902, dt. Orpheus in der Dessa, 1905) einen Roman vorlegte, in dem sie nicht nur zeigte, wie der westliche Mensch in den Bann des Ostens gezogen wurde, sondern durch den sie auch ihre Solidarität mit den Eingeborenen zum Ausdruck brachte, was in der Zeit, in der man in den Niederlanden zu einer mehr ethisch orientierten Kolonialpolitik überging, bei der Leserschaft großen Anklang fand.Ga naar voetnoot573 Trotz der Erfolge einiger Achtziger und des sich schnell differenzierenden Bildes der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum gab es allerdings keine radikale Wende zum Neuen. Neben den Übersetzungen von Verwey und Gorter sowie von Henri Borel (1869-1933), dem Ehemann von Hélène Swarth Fritz Lapidoth, vom Vorbild der | |
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Achtziger Carel Vosmaer (1826-1888) und von dem Kritiker Johan de Meester (1860-1931) erschien einerseits weiterhin typische ‘Domineepoesie’ von Jan Jakob ten Kate, während andererseits das Werk der niederländischen Neoromantiker Aart van der Leeuw (1876-1931) und Arthur van Schendel (1874-1946) unübersetzt blieb, obwohl in der nachnaturalistischen Periode auch im deutschen Sprachraum das Motiv des Bohemien als Antibürger aufkam.Ga naar voetnoot574 Außerdem konzentrierte sich das Interesse für die Literatur aus den Niederlanden erwartungsgemäß nach wie vor zu einem beachtlichen Teil auf die Unterhaltungsliteratur. Anklang fanden von 1880 bis 1914 nicht nur Anna de Savornin Lohman (1868-1930) und die in Dordrecht geborene Anthonetta van Rhijn-Naeff (1878-1953), für die sich Else Otten, die Übersetzerin von Van Maurik und Couperus, engagiert hat. Ebenfalls erfolgreich wurde damals die niederländische Schriftstellerin Cécile de Jong van Beek en Donk (1866-1941) von Otten im deutschen Sprachraum betreut. Ihr Roman Frauen, die den Ruf vernommen (1906, ndl. Hilda van Suylenburg, 1897) war eine Art ‘anti-Eline Vere’Ga naar voetnoot575, der sich insofern von Couperus' Werk unterschied, als die Autorin im Gegensatz zu Couperus die Lösung zu kennen schien, die lautete: Arbeiten ‘het eenige remedie voor al de kwaaltjes van wuftheid en wanhoop en verveling en zenuwachtigheid, die de vrouwenwereld verwoesten’Ga naar voetnoot576. Frauen, die den Ruf vernommen und Es kommt der Tag (1907, ndl. Lilia, 1907) wurden mehrfach aufgelegt und schienen, obwohl sie sich mit einer Problematik beschäftigten, die nach Meinung mancher Kritiker in Deutschland längst gelöst sei, doch ‘eine [...] wertvolle Ergänzung unserer deutschen Erzählungsliteratur’Ga naar voetnoot577 zu bieten, u.a. weil die Holländer(innen) zu sagen ‘wag[t]en’Ga naar voetnoot578, was sich in Deutschland keiner zu sagen traute.Ga naar voetnoot579 Zu- | |
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sammen mit der Übersetzung von Suze la Chapelle-Roobols (1855-1923) Mädchenroman Trotzkopf als Großmutter (1905, ndl. Stijfkopje als grootmoeder, 1904) und den Übertragungen der Werke der niederländischen Spezialistin der ‘romantische huiskamer-novellistiek’Ga naar voetnoot580 Melati van Java, die 1883 im deutschen Sprachraum mit ihrer Novelle Annunciata (1883, ndl. Anonciade, [1876]) in einer Übertragung von Emma Goessen-Hüffer, der Frau des Direktors des Aschendorff-Verlages, debütierte und deren Werke größtenteils in Unterhaltungsserien erschienen, wurde der Grundstein für den überragenden Erfolg niederländischer Schriftstellerinnen im deutschen Sprachraum in der nächsten Periode gelegt und, unabhängig vom steigenden Interesse für die niederländische Literatur in dieser Periode, ein bedeutender Beitrag zur breiteren Rezeption der niederländischen Literatur beim deutschsprachigen Publikum geleistet.Ga naar voetnoot581 Wie schon im ersten untersuchten Zeitabschnitt fand schließlich auch in dieser Periode die niederländische Unterhaltungsliteratur eine erstaunlich große Resonanz in religiös orientierten Kreisen. Dies wird nicht nur dadurch belegt, daß gerade Leo Tepe van Heemstede, der Herausgeber der Katholischen Unterhaltungsbibliothek, der versuchte, das katholische Volk aus der literarischen Gleichgültigkeit zu holen, Werk von Hendricus Adriaan Banning, Josephus Albertus Alberdingk Thijm, Johannes Cornelius Antonius Hezenmans (1833-1909), den Gebrüdern Snieders und den Großteil der durchaus flott erzählten, aber etwas oberflächlichen Romane und Erzählungen von Melati van Java übersetzte.Ga naar voetnoot582 Ebenso bezeichnend ist, daß in dieser Periode neben dem Werk von Nicolaas Beets auch Werk des weniger bekannten Leo Ballet (1878-1965), von A. Buis (1855-1921) und von den Prädikanten Jan de Liefde, Petrus de Génestet (1829-1861), George Frans Haspels (1864-1916) und Cornelis Eliza van Koetsveld (1807-1893) übertragen wurde. Erfolg hatte allerdings | |
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nur letzterer mit seinen Skizzen aus dem Pfarrhause im Mastland (1896, ndl. Schetsen uit de pastorij te Mastland, 1843). Diese Erzählungen wurden wegen der ‘Meisterschaft in der Darstellungskunst’Ga naar voetnoot583, ihrer ‘individuell geprägte[n] Bilder’Ga naar voetnoot584 sowie wegen des ‘heilige[n] Ernst[es]’Ga naar voetnoot585, des Humors und der ‘warme[n] Liebe zu den Menschen’Ga naar voetnoot586 gepriesen und den Pastoren wärmstens empfohlen, was darauf hindeutet, daß Van Koetsvelds Werk in Deutschland wie in den Niederlanden vor allem aufgrund seiner Bedeutung für die pastorale Arbeit verlegt und gelesen wurde.Ga naar voetnoot587 | |
2.3 Niederländische Literatur in Zeitschriften: II2.3.1 Die Gegenwart: Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben2.3.1.1 1872-1880Im Vergleich zu anderen politisch-kulturellen Zeitschriften hat sich Die Gegenwart (1872-1931) relativ oft den Geschehnissen in den Niederlanden und Flandern zugewandt.Ga naar voetnoot588 Dies entsprach dem Ziel des Blattes, ‘alle wichtigen Erscheinungen auf dem Gebiete des öffentlichen Lebens und geistigen Schaffens vom freisinnigen Standpunkt aus [...] bespre- | |
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chen’Ga naar voetnoot589 zu wollen. Die Gegenwart, die sich als Organ für den neu gegründeten deutschen Staat verstand, war mit einer Anfangsauflage von 3000 Exemplaren (7000 im Jahr 1877) eine recht weit verbreitete Zeitschrift. Als Zielpublikum wurde die ‘gebildete Minderheit’Ga naar voetnoot590 angesprochen. In der Gegenwart lag der Akzent trotz der eingangs erwähnten Zielsetzung, was die Niederlande und Flandern betraf, vor allem auf politisch-ökonomischen Themen. Dabei wurde der Leser der Zeitschrift in erster Linie über die Entwicklungen in Belgien informiert, denn Belgien war, wie immer wieder betont wurde, als Pufferstaat, als Bollwerk gegen Frankreich von besonderer Bedeutung.Ga naar voetnoot591 Interessanterweise kennzeichnet dabei eine gewisse Unentschiedenheit, ein Zögern, viele Beiträge. So wurde trotz des Bewußtseins der Stammesverwandtschaft zwischen den Niederdeutschen in Flandern und denen in Deutschland - ‘Die Mehrheit des belgischen Volkes [ist] also niederdeutsch’Ga naar voetnoot592; ihre Sprache ‘steht [...] dem Hochdeutschen nicht ferner, als manche andere Mundart in Süd und Nord unseres Vaterlandes’Ga naar voetnoot593 - die sprachliche Zugehörigkeit Flanderns zu den Niederlanden, mit denen ‘thatsächlich bereits eine Sprachgemeinschaft’Ga naar voetnoot594 bestand, betont, und wurden Annexionsabsichten bestritten: ‘Belgien ist ein Zwischenland zwischen Frankreich und Deutschland; und der natürliche Rückhalt nicht blos seiner niederdeutsch sprechenden Bevölkerung, sondern des Landes im allgemeinen, ist das deutsche Volk, das keine Eroberungs- | |
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absichten hat, dagegen in naher Stammesverwandschaft zu der Mehrheit der Belgier steht [...]’Ga naar voetnoot595. Darüber hinaus zweifelte man zwar nicht an der ‘geistigen Erzeugungsfähigkeit des flämischen Stammes’Ga naar voetnoot596, deren ‘Maler’Ga naar voetnoot597 eine ‘künstlerische Revolution’Ga naar voetnoot598 angeregt hatten, aber dennoch teilte man nicht die Hoffnung von Prutz und den Grenzboten, daß sich die Flamen ‘den Segen deutscher Geistescultur’Ga naar voetnoot599 aneignen könnten. Man ging im Gegenteil auf Distanz und stellte fest, daß die Flamen durch ihren ‘echtgermanischen Particularismus’Ga naar voetnoot600 für die deutsche Kultur untauglich geworden seien. Wohl deshalb erschien bis 1880 kein wesentlicher Beitrag zur Literatur aus Flandern in der Zeitschrift. Aus vergleichbaren Gründen wie den eben genannten war man auch von der Literatur aus den Niederlanden nicht recht überzeugt. Auch sie biete, obwohl sie ‘eher auf eigenen Füßen stehen’Ga naar voetnoot601 könnte, nur einen ‘ungenügenden Ersatz’Ga naar voetnoot602 für die deutsche Geisteskultur und leide ‘an demselben Grundgebrechen’Ga naar voetnoot603 wie die Literatur in Flandern. Daß man sich ihr in dieser Periode in der Gegenwart trotzdem zuwandte, war auf die antiklerikale und anti-ultramontanistische Perspektive der Zeitschrift zurückzuführen. Ebenso wie in den Grenzboten wurde in der Gegenwart gegen das Pfaffentum gewettert, das ‘durch die giftigsten Mittel des Glaubenshasses’Ga naar voetnoot604 die Beziehungen zwischen den Niederlanden und Flandern zu zerstören suchte, und warnte man vor Jesuiten und Bischöfen, die als ‘erbittertste [...]’Ga naar voetnoot605 Feinde jeglicher liberaler Verfassung die Kulturfreiheit in eine absolute ‘Priesterherrschaft’Ga naar voetnoot606 umwandeln | |
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wollten. Dies rückte schließlich auch die Literatur im ‘Eldorado’Ga naar voetnoot607 für ‘Pfaffen- und Bonzenthum’Ga naar voetnoot608 ins Blickfeld des Interesses. Bezeichnend war in diesem Zusammenhang nicht nur der Titel des ersten Beitrages zur niederländischen Literatur in der Gegenwart: Das Pfaffenthum in der neuern holländischen Dichtkunst.Ga naar voetnoot609 Es war tatsächlich ein vernichtender Beitrag über das Werk von Isaac da Costa, Cornelis Eliza van Koetsveld, Jan Jacob ten Kate, Pierre de Genestet, Hermanus Schaepman und Bernard ter Haar (1806-1880). Sogar Busken-Huet, Beets, Gorter und Alberdingk Thijm wurden in diesem Beitrag wegen ihrer (früheren) Zugehörigkeit zur Kirche abgelehnt. Zwei Jahre nach dem oben genannten Beitrag - in der Zwischenzeit war man auf die niederländische Literatur bis auf eine beiläufige, wenn auch eher positive, Erwähnung von Nicolaas Beets nicht mehr eingegangen -Ga naar voetnoot610 erschien allerdings ein Beitrag von A. Glaser, in dem dieser Übersetzer die in bezug auf die niederländische Literatur anti-ultramontane und antiklerikale Haltung durchbrach. In einem weiteren Aufsatz ging W. van Helten daraufhin sogar so weit, gerade religiös engagierte niederländische Autoren wie Da Costa, Schaepman und De Genestet hervorzuheben.Ga naar voetnoot611 Also gerade die Autoren, die einige Jahre vorher verrissen worden waren. Sozusagen als Ausgleich dafür fand Van Helten zugleich auch lobende Worte für Van Lennep, Beets, Keller und Cremer. Ob Van Heltens Essay allerdings damit wirklich, wie beabsichtigt, ‘das geistige Band, das Holland und Deutschland vereinigt und vereinigen muß’Ga naar voetnoot612, bei den Lesern der anti-ultramontanen Zeitschrift enger geknüpft hat, ist jedoch zu bezweifeln. | |
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2.3.1.2 1880-1914Die Gegenwart war eine der wenigen kulturpolitischen Zeitschriften, die sich sowohl in dieser als auch in der vorigen Periode für das politische und kulturelle Geschehen in Belgien und den Niederlanden interessiert hat. Im Zeitraum 1880-1914 stand, mehr noch vielleicht als im vorigen, die Sorge um das politische Geschehen in Belgien, insbesondere um die Überlebensfähigkeit Belgiens als Schutz gegen Frankreich, im Mittelpunkt.Ga naar voetnoot613 Obwohl man sich realisierte, wie ‘wildfremd’Ga naar voetnoot614 sich Belgier und Niederländer geworden waren, fragte dabei so mancher erneut, ob die Trennung von den Niederlanden und Belgien ‘wohlgethan’Ga naar voetnoot615 sei, ob man Belgien nun eine Nation oder einen Staat nennen solle.Ga naar voetnoot616 Schließlich trage das Land den Titel Staat doch nicht aus ‘eigene[r] Kraft und Wehrhaftigkeit’Ga naar voetnoot617 und beruhe seine Existenz doch nur auf ‘papiernen Urkunden und Verträgen, deren Ewigkeit so lange währt, als die Interessen und Mittel irgend eines selbstsüchtigen Nachbarn das erlauben’Ga naar voetnoot618. Und dann gab es noch den Sprachenstreit, der eine Spaltung des Landes nach sich zu ziehen drohte, und die Gefahr von Klerus und Jesuiten: ‘Die Wahl und Anwendung der Sprachen war also “frei”. Aber es ging mit dieser Freiheit ungefähr wie mit andern Freiheitssätzen der belgischen Verfassung auch: die Dinge gestalteten sich sehr einseitig. Die Vereinsfreiheit ist z.B. gewährleistet, allein die Hauptfolge war eine Überzahl von Klöstern und Jesuitenhäusern; die Unterrichtsfreiheit ist gewährleistet, das Ergebnis war, daß fast das ganze Unterrichtswesen in die Hände der Geistlichkeit kam; die Freiheit der Presse ist gewährleistet, aber der einflußreichste Theil der öffentlichen Blätter erscheint in den meisten Landestheilen unter fremder Leitung und in fremder Zunge. Und | |
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ebenso steht die Anwendung “der Sprachen” jedem frei, allein alle öffentlichen Behörden bedienen sich vorzugsweise des Französischen.’Ga naar voetnoot619 Bei all dieser Sorge lag es auf der Hand, daß Die Gegenwart gerade in dieser Periode ein Medium der Alldeutschen werden würde. Aber die Zeitschrift wahrte, so wie es ihrer anfänglich gewählten Einstellung entsprach, Distanz. Obwohl in der Gegenwart mit Freude festgestellt wurde, daß die Flamen 1870 den deutschen Sieg über Frankreich bejubelten, zeigte man sich nach wie vor der Tatsache bewußt, daß sie auf der Suche nach verständnisvoller Unterstützung für ihren Streit die Blicke schon längst nach Norden gewandt hatten, lehnte man einen Anschluß Flanderns an Deutschland nicht nur in politischer, sondern auch in sprachlicher Hinsicht ab und betrachtete es als vernünftig, daß die Flamen nicht auf einem anderen ‘als dem von [ihnen] gewählten Terrain’Ga naar voetnoot620 siegen wollten. Sogar der Beitrag vom eingefleischten Alldeutschen Harald Graevell von Jostenoode war von Zurückhaltung gekennzeichnet.Ga naar voetnoot621 Graevell, der sich als Korrespondent aus Brussel präsentierte, gab eine Übersicht über den Stand und die Geschichte der flämischen Bewegung und vertrat seine bekannten Positionen: Der Sprachenstreit sei ein Kampf zwischen Rassen und ein Kampf um das Deutschtum, die Flamen seien Germanen, und der Alldeutsche Verband, der wie die flämische Bewegung eine Annäherung an die Holländer und Buren in Südafrika bewirken wolle, eröffne für Flandern und für die ‘aldietsche’ Bewegung, die er großniederdeutsch nannte, neue Zukunftsperspektiven. Aber alles blieb erstaunlich vage. Graevell beschränkte sich mehr oder weniger auf ein Andeuten der Auffassungen, die er 1897 in seiner Broschüre Die vlämische Bewegung vom alldeutschen Standpunkte aus dargestellt niedergelegt hatte, und verzichtele in der Gegenwart offensichtlich bewußt darauf, ein radikales ‘Programm der Zukunft’Ga naar voetnoot622 zu entfalten.Ga naar voetnoot623 Darüber hinaus stellte H. | |
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Bischoff einige Zeit später Verschiedenes klar. Bischoff, der sich in diesem Beitrag vor allem mit der Position der Deutschen in Belgien beschäftigte, nutzte die Gelegenheit, um die Leser auch darüber zu informieren, daß die Flamen jeden Versuch, die Position der Deutschen in Flandern zu verbessern, eher ablehnen als unterstützen würden. Unmißverständlich stellte er heraus: an einen ‘Anschluß der deutschen Bewegung an die vlämische ist nicht zu denken’Ga naar voetnoot624. Bischoff relativierte damit nicht nur die Bedeutung der alldeutschen Bewegung für Flandern, die Graevell besonders hervorgehoben hatte, er wies auch ausdrücklich auf die seiner Meinung nach schroffe Ablehnung jeder Kooperation von Flamen und Alldeutschen durch den Flämischen Volksrat hin.Ga naar voetnoot625 Damit waren die Fronten geklärt, die Zweifel beseitigt und die politische Diskussion um das Thema Belgien in der Gegenwart abgeschlossen. Parallel zu dieser Entwicklung verlagerte sich das Interesse der Gegenwart in bezug auf die Niederlande und Flandern auf die Kultur und erschienen zunehmend mehr Beiträge über niederländische und belgische Kunst. Die Literatur blieb jedoch weiter im Hintergrund.Ga naar voetnoot626 Die drei Beiträge, die in dieser Periode in der Gegenwart zur niederländischen Literatur erschienen, waren dafür aber durchaus bemerkenswert und teilweise auch sehr typisch für die untersuchte Periode. Der erste Beitrag stammt von T. Wenzelburger, der 1874 ausführlich gegen das Pfaffentum gewettert hatte.Ga naar voetnoot627 Offenbar differenzierte der Beitragende sehr genau zwischen Pfaffentum und Protestanten, denn er schrieb anläßlich des siebzigsten Geburtstages von A.L.G. Bosboom-Toussaint und des Erscheinens verschiedener Romane und Erzählungen dieser Réveil-Autorin einen sehr lobenden Beitrag über die ‘große [...] Romanschriftstellerin’Ga naar voetnoot628 und die ‘gottbegnadete Frau’Ga naar voetnoot629, und stellte zu Recht fest, daß sie damals ‘neben Jacob van Lennep unbestritten die glänzendste Repräsentantin der niederländischen Literatur’Ga naar voetnoot630 sei. | |
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Auf andere Werke oder niederländischsprachige Autoren ging Wenzelburger bei dieser Gelegenheit nicht ein. Dies übernahm P. Raché. Im Zusammenhang mit dem Thema Achtziger und Louis Couperus betonte er damals auch in der Gegenwart den ‘frische[n], belebende[n]’Ga naar voetnoot631 Zug in der neueren niederländischen Literatur seit den achtziger Jahren und stellte in der für ihn typischen Weise heraus, daß dieser Zug ‘weniger in der Lyrik, als im Roman’Ga naar voetnoot632 zur Geltung komme. Der Kritiker und Übersetzer, von dem auch die erste in Buchform erschienene deutsche Übersetzung von Couperus stammte, konzentrierte sich daraufhin auf Couperus und nannte den Autor ‘die hervorragendste und zukunftreichste Erscheinung der gegenwärtigen holländischen Literatur’Ga naar voetnoot633, von der noch vieles zu erwarten sei, denn, obwohl Couperus' Erfolge schon für sich sprächen, stehe dieser Autor noch nicht ‘in der Vollkraft seiner Entwickelung’Ga naar voetnoot634. Die Gegenwart war schließlich auch eine der ersten Zeitschriften, die auf das Erscheinen des Auswahlbandes von Multatuli reagierte. In typischer Weise wurde Multatulis Bedeutung als Mensch hervorgehoben und war von einem ‘Tendenzpoet[en]’Ga naar voetnoot635 die Rede, der schrieb, um zu beweisen. Bemerkenswerterweise stellte M.A. Geselschap in seinem Beitrag Multatuli auch in eine Reihe mit Größen wie Laurence Sterne, Jean Paul, Heinrich Heine und Claude Tillier, Autoren, die er als ‘Humoristen’Ga naar voetnoot636 betrachtete, deren Werk ebenfalls ‘wenig Compositionstalent’Ga naar voetnoot637 aufweise. Nach dem Beitrag von Geselschap verfolgte Die Gegenwart in ihren Notizen noch mit einem gewissen Interesse die weiteren Übertragungen von Spohr und berichtete weiter ziemlich regelmäßig über die neuen Aufführungen der Stücke von Heijermans, aber ab 1901, also kurze Zeit nach der Klarstellung von Bischoff, erschienen in der Gegenwart im wesentlichen nur noch Beiträge zur plastischen Kunst aus den Niederlanden und Flandern, Städteberichte und Beiträge zu den Entwicklungen | |
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in Belgisch-Kongo. Das Interesse der Zeitschrift für die niederländische Literatur war also nicht von Dauer. Es wurde zwar noch eine Erzählung von Justus van Maurik veröffentlicht, aber das Erscheinen des Romans Stille Kraft (1902, ndl. Stille kracht, 1900) von Louis Couperus, der doch in der Gegenwart mit einem ausführlichen Aufsatz und mit einigen Übertragungen vorgestellt worden war, blieb unkommentiert. Festzuhalten bleibt also, daß das Bild der Literatur aus den Niederlanden und Flandern in der Gegenwart den allgemeinen Feststellungen bezüglich des Einflusses alldeutscher Ideologie auf die Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum entsprechend in dieser Periode nicht von großdeutschem Gedankengut durchzogen war. Die Gegenwart interessierte sich für die moderne niederländische Literatur, über deren neueste Entwicklungen sie verhältnismäßig früh wichtige Aufklärungsarbeit leistete, und bemühte sich offensichtlich, Abstand zu wahren, womit sie sich erfreulicherweise von Abhandlungen in den damaligen Handbüchern zur allgemeinen Literaturgeschichte, von den Darlegungen zur niederländischen Literatur von Germanisten wie Heinrich Rückert, Friedrich Kluge und Otto Behaghel oden von Otto Hausers rassistisch orientiertem Spätwerk Weltgeschichte der Literatur distanzierte.Ga naar voetnoot638 | |
2.3.2 Literarisches Zentralblatt für Deutschland und Die schöne Literatur: Beilage zum Literarischen ZentralblattDas Ziel des Literarischen Zentralblattes für Deutschland (1850-1944) bestand darin, ‘eine vollständige und schnelle Übersicht über die gesamte literarische Thätigkeit Deutschlands’ zu liefern.Ga naar voetnoot639 Dies beinhaltete sowohl die Anzeige aller in Deutschland erscheinenden und von deutschen Buchhändlern vertriebenen Bücher als auch eine Übersicht der wichtigsten wissenschaftlichen Zeitschriften. Auch die ausländische Literatur in deutscher Übersetzung sollte angezeigt und besprochen werden, was für die niederländische Literatur ab 1900 vornehmlich in der Beilage Die schöne Literatur (1900-1924) geschah. Das Literarische Zentralblatt erschien 1862 in einer Auflage von 800 Exemplaren und war somit hinsichtlich der Verbreitung vergleichbar mit der Gegenwart. 1911 erreichte das Repertorium immerhin die beachtliche Auflage von 1900 Exemplaren. | |
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Angesichts des enzyklopädischen Anspruchs des Literarischen Zentralblattes ist es erstaunlich, daß die Redaktion der niederländischen Literatur relativ viel Aufmerksamkeit widmen konnte. Einschließlich der Beiträge in der Beilage kam die niederländische Literatur in der untersuchten Periode im Literarischen Zentralblatt insgesamt 43mal zur Sprache. Dabei erschien bis zum Ende des 19. Jahrhunderts allerdings nur ein Beitrag zur niederländischen Literatur, und zwar zu den Studien von J. ten Brink über Heinsius und Zola. Dies bestätigt nicht nur die Feststellung Schlawes, daß das Blatt trotz des Anspruches, ‘die gesamte literarische Tätigkeit Deutschlands’ zu vermitteln, hauptsächlich wissenschaftlich ausgerichtet war, sondern auch, daß der Literatur aus den Niederlanden und Flandern erst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts mit dem Durchbruch von Van Eeden, Couperus und Multatuli und Heijermans im deutschen Sprachraum größeres Gewicht beigemessen wurde.Ga naar voetnoot640 Es sind dann auch genau diese Autoren, die im Literarischen Zentralblatt und in der Schönen Literatur am meisten besprochen oder erwähnt wurden. In dem Hauptblatt beschränkte sich die Auswahl dabei im wesentlichen auf Multatuli. Dadurch wurde diesem Autor im Literarischen Zentralblatt eine besondere Bedeutung beigemessen, was nicht unbedingt auf die Bewunderung des Blattes für Multatuli zurückgeführt werden muß. Multatuli wurde im Literarischen Zentralblatt und in der Schönen Literatur vergleichsweise weniger beachtet als Heijermans. Von Bedeutung war wahrscheinlich vor allem, daß Multatuli, wie auch Willem Paap (1856-1923), der zweite niederländische Schriftsteller, der im Literarischen Zentralblatt rezensiert wurde, vom bekannten progressiven Verleger Bruns in Minden verlegt wurde.Ga naar voetnoot641 Die Rezension, die 1900 zur Auswahl aus den Werken von Multatuli von W. Spohr erschien, war jedoch in mehrfacher Hinsicht charakteristisch für das Blatt und seine Haltung zur niederländischen Literatur. Erstens bestätigte die Tatsache, daß der Rezensent H.A. Krüger vor allem | |
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die ausführliche biographische Einleitung von W. Spohr hervorhob, nicht nur erneut den Impact dieser Einleitung auf die Rezeption Multatulis im deutschen Sprachraum, sondern auch die wissenschaftliche Perspektive, die dem Literarischen Zentralblatt eigen war. Zweitens entsprach Krügers Feststellung, daß Multatuli ‘einer der volkstümlichsten und psychologisch tiefsten Naturalisten war, ehe es eine solche Richtung eigentlich gab’Ga naar voetnoot642, und daß er ein ‘echter Künstler’Ga naar voetnoot643 geblieben sei, weil er, der doch durch den ‘Schmutz des Lebens geschritten’Ga naar voetnoot644 sei, diesen Schmutz nie wie die ‘modernen Naturalisten’Ga naar voetnoot645 zur ‘Hauptsache’Ga naar voetnoot646 gemacht habe, der ‘Abneigung gegen den Naturalismus’Ga naar voetnoot647, die die Zeitschrift ebenfalls kennzeichnete.Ga naar voetnoot648 Und schließlich fehlte in der Besprechung Krügers, wie in den meisten Beiträgen zur niederländischen Literatur im Literarischen Zentralblatt der allgemeine Bezug zur Situation der niederländischen Literatur im allgemeinen und in deutscher Übersetzung im besonderen. Das Literarische Zentralblatt blieb, was die niederländische Literatur betraf, immer ein Blatt für Spezialisten. Die Zeitschrift berichtete wohl, wie sie es sich zum Ziel gesetzt hatte, über die literarischen Ereignisse in den Niederlanden und Flandern, aber setzte zugleich, wie bei den Berichten über die anderen ausländischen Literaturen, ein bestimmtes Grundwissen voraus. Bei den meisten Lesern des Literarischen Zentralblattes mag dies für die großen Literaturen vorhanden gewesen sein, aber, was die niederländische Literatur betraf, muß dies bezweifelt werden. Es ist dann auch die Frage, ob die vielen Beiträge in der Rubrik ‘Holländische Dichtung bzw. Literatur’, oder später ‘niederländische Literatur’, die von J. Brouwer für Die schöne Literatur verfaßt wurden, wirklich fruchtbar gewesen sind. Die meisten der Autoren und Werke, die Brouwer in seiner Rubrik vorstellte, dürften dem Durchschnittsleser des Literarischen Zentralblattes und ihrer Beilage kaum bekannt gewesen sein. Zumeist lag von den vorgestellten Autoren kein Werk in deutscher | |
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Übersetzung vor, und wenn dies der Fall war, hat Brouwer nicht darauf hingewiesen.Ga naar voetnoot649 Darüber hinaus stand Brouwer offensichtlich mit den im deutschen Sprachraum schon eher bekannten Größen der niederländischsprachigen Literatur auf Kriegsfuß. Geradezu mit Freude sah er die ‘Ganz- und Halbgötter’Ga naar voetnoot650 von ihren ‘Altären’Ga naar voetnoot651 stürzen. So kamen wie selbstverständlich nicht diese, sondern im deutschen Sprachraum zumeist noch weniger bekannte oder völlig unbekannte Autoren in Brouwers Rubrik zur Sprache. Schon der Titel von Brouwers Rubrik ‘Holländische Literatur’ - die Überschrift ‘Niederländische Literatur’ taucht nur einmal auf - zeigt außerdem, daß Brouwer, für den die niederländischsprachige Literatur aus Flandern nicht mehr als ein ‘Beitrag zur Sitten- und Charakterschilderung des vlämischen Volkes’Ga naar voetnoot652 war, gar nicht über den ganzen niederländischen Sprachraum berichten wollte. Das, was überhaupt von der niederländischen Literatur aus Flandern berichtet wurde, betraf nur solche Autoren, die auch bei niederländischen Verlegern publizierten, insbesondere Cyriel Buysse, der zwar Flame war, ‘aber einer, der ganz zum Holländer geworden ist. Seine Sprache, sein Stil, seine Ausdrucksweise machen ihn zu einem Nord-Niederländer’Ga naar voetnoot653. Da außer den Beiträgen von Brouwer in der Schönen Literatur und außer regelmäßigen Beiträgen zum niederländischen Drama in deutscher Übersetzung nur vereinzelt Beiträge zur niederländischen Literatur im Literarischen Zentralblatt erschienen, entstand am Ende in dieser Zeitschrift sowie in ihrer Beilage also ein ziemlich verzerrtes Bild der niederländischen Literatur. Es war dann auch kein Zufall, daß man den Novellen aus Sommerland (1906) von Stijn Streuvels, den Brouwer in seiner typischen Art als einen der ‘besten Volksschilderer aus dem | |
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vlämisch schreibenden Belgien’Ga naar voetnoot654 präsentiert hatte, später ‘beim besten Willen weder Interesse noch Geschmack abgewinnen’Ga naar voetnoot655 konnte und daß der Rezensent von Frühling ([1908], ndl. Lenteleven, 1899) Streuvels einen Holländer nannte.Ga naar voetnoot656 Andererseits war es Brouwers Verdienst, das Interesse des Literarischen Zentralblattes an der niederländischen Literatur am Leben gehalten zu haben, denn als 1910 Brouwers letzter Beitrag in der Beilage erschien, wurde es schlagartig ruhig um die niederländische Literatur in dieser Zeitschrift. Dies änderte sich erst mit dem Ersten Weltkrieg, als der Insel Verlag die Flamen wieder in den Mittelpunkt des deutschen Interesses rückte. Damals folgten plötzlich wieder Besprechungen von Consciences Werk, das ‘deutsche Tapferkeit und Zähigkeit im hellsten Lichte’Ga naar voetnoot657 erstrahlen lasse, und betonte Die schöne Literatur dem Zeitgeist entsprechend ganz allgemein: ‘Verdient es doch die flämische Literatur ebenso wie das flämische Volk eben jetzt, da auf Flanderns Boden weltgeschichtliche Kämpfe sich abspielen, bei unserm eigenen Volke bekannter zu werden, als es bisher der Fall war’Ga naar voetnoot658. | |
2.3.3 Das literarische EchoDas literarische Echo (1898-1942) war im untersuchten Zeitabschnitt die ‘führende literarische Informationszeitschrift’Ga naar voetnoot659 und ist wegen ihrer Fülle an Material eine hervorragende Quelle für Untersuchungen. Zu Anfang war die Auflage mit 800 Exemplaren zwar noch relativ gering; doch 1904 hatte die Zeitschrift bereits eine Auflage von 3500 Exemplaren erreicht. Somit war das zwar nicht ganz preiswerte, aber gut aufgemachte Literarische Echo weit verbreitet. Neben zahlreich erscheinenden Briefen aus den Niederlanden (Holland) und Belgien fanden sich im Literarischen Echo vergleichsweise viele Rezensionen zur niederländischen Literatur. Bis 1914 erschienen 48 Kritiken zu Werken niederländischsprachiger Autoren, davon allein 14 | |
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zu Heijermans, acht zu Multatuli und sechs zu Van Eeden. Die restlichen Besprechungen betrafen das Werk von Guido Gezelle, Cécile Goekoop de Jong van Beek en Donk, Pol de Mont, Albert Verwey, Nico van Suchtelen (1878-1949), Gerard van Hulzen, Anna de Savornin Lohman und Stijn Streuvels. Darüber hinaus erschienen im Literarischen Echo auch einige bedeutsame allgemeine Beiträge zur niederländischen Literatur. Das literarische Echo zeigte von Anfang an ein ausgesprochenes Interesse für die niederländische Literatur. Gleich bei ihrem Erscheinen wurde Multatulis Auswahl aus seinen Werken, herausgegeben von W. Spohr, besprochen.Ga naar voetnoot660 In dieser frühen Rezension zum Werk von Multatuli im deutschen Sprachraum hob Paul Raché die ‘eigenartige’Ga naar voetnoot661 Größe des ‘genialen holländischen Schriftstellers’ hervor und bedauerte, daß die Übersetzung von Stromer am ‘mangelnden Verständnis und Interesse für die Verhältnisse in Niederländisch-Indien in Deutschland’Ga naar voetnoot662 gescheitert sei, so daß das ‘Unternehmen’Ga naar voetnoot663 Spohrs in Wirklichkeit schon zum zweiten Mal habe gestartet werden müssen.Ga naar voetnoot664 Der nächste Autor, der neben Herman Heijermans - von dem nicht nur die dramatischen Arbeiten, sondern auch die Prosa viel Beachtung fanden - ebenfalls sehr früh und auch in der Folgezeit relativ regelmäßig besprochen wurde, war Frederik van Eeden. Auch was diesen Autor betraf, übernahm die Zeitschrift eine Vorreiterfunktion. Bereits im ersten Jahrgang des Literarischen Echos erschien, wie bereits erwähnt, ein Aufsatz über ihn von P. de Mont, ferner auch ein Auszug aus dem Kleinen Johannes.Ga naar voetnoot665 Die erste Ausgabe des Kleinen Johannes wurde im Literarischen Echo zwar nicht gesondert besprochen, aber dafür beurteilte die | |
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Zeitschrift 1906 die zweite Übersetzung sehr positiv.Ga naar voetnoot666 Ebenfalls eingehend kommentiert wurde schließlich die Übersetzung von Wie Stürme segnen (1907, ndl. Van de koele meren des doods, 1900). Dann gab es aber eine kurze Pause, bis 1913 wieder ein Beitrag zum Werk von Van Eeden im Literarischen Echo erschien.Ga naar voetnoot667 Er stammt vom bekannten W. von Molo aus Wien und war einer der lobendsten Aufsätze, die je im deutschen Sprachraum zu Van Eeden veröffentlicht wurden. Von Molo beschrieb Van Eeden als großen Autor, ‘der wohltätig aus “Neuklassikern” und “Modernen” hervorragt’Ga naar voetnoot668, stellte die bedeutendsten seiner Werke vor und hob abschließend hervor, daß diese technisch ‘meist vollendet gebaut’Ga naar voetnoot669 seien und daß es ‘ein schönes Zeichen des geistigen Deutschlands [sei,] diesem Holländer Gastfreundschaft zu gewähren’Ga naar voetnoot670. Das literarische Echo informierte nicht nur über Autoren, die im deutschen Sprachraum bereits einen Verlag gefunden hatten oder sogar schon aufgrund ihrer großen Bekanntheit das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum bestimmten. Mit dem relativ umfangreichen Beitrag über Guido Gezelle aus dem Jahre 1907 und mit dem 1908 erschienenen Aufsatz von Ilse Frapan-Akunian über Nico van Suchtelen, Gerard van Hulzen, Anna de Savornin Lohman, Cécile Goekoop de Jong van Beek en Donk und Kare Ben Heik berichtete die Zeitschrift auch ausführlich über im deutschen Sprachraum noch weniger bekannte Schriftsteller. Als einzige der in dieser Periode untersuchten Zeitschriften hat Das literarische Echo also wirklich aktiv versucht, das ‘Mißtrauen gegen das holländische Schrifttum’Ga naar voetnoot671 zu bekämpfen. | |
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Was über die Berichterstattung bezüglich der im deutschen Sprachraum bereits bekannten und zum Teil auch sehr erfolgreichen Autoren hinausging, wurde zumeist in den Briefen aus Belgien und den Niederlanden (Holland) behandelt. Diese Briefe erschienen von Anfang an regelmäßig. Zu Beginn berichtete Das literarische Echo getrennt über die literarischen Zeitschriften in den Niederlanden und Belgien, das Geschehen an den niederländischen (Amsterdam) und belgischen (Brussel) Bühnen und über die Entwicklungen in der niederländischen Literatur. Schon bald wurde jedoch diese Thematik in den Briefen aus den Niederlanden und Belgien zusammengefaßt. Dadurch waren die Berichterstatter (im wesentlichen A. Ruhemann und H. Bischoff für Belgien; M. Conrat und J.G. Talen für die Niederlande) gezwungen, in einem relativ kurzen Beitrag sowohl ausführlich aus den niederländischen und belgischen (flämischen) Zeitschriften zu referieren, als auch über die aktuellen Strömungen und Tendenzen in der niederländischen Literatur und im niederländischen Drama zu berichten. Viele der Briefe hatten demnach den gleichen Charakter wie die von J. Brouwer in der Schönen Literatur: Sie konfrontierten die Leser mit einer Flut von Informationen, die sie mit Sicherheit nicht ohne weiteres verarbeiten konnten. Denn, wem sagten im deutschen Sprachraum damals Namen von Zeitschriften wie De Gids, Dietsche Warande & Belfort (1900-) oder Vlaanderen (1903-1907) etwas? Und wer kannte damals auch nur einen Bruchteil der Autoren, die in den jeweiligen Briefen genannt wurden? Demgegenüber hat die Selbstverständlichkeit, mit der Das literarische Echo, insbesondere in den Briefen, über das Geschehen in den niederländischen Zeitschriften berichtete und darlegte, was diese Zeitschriften über die deutsche und ausländische Literatur schrieben und wie sie das literarische und dramatische Geschehen in den Niederlanden und Flandern beurteilten und analysierten, wohl eher als die Art der Berichterstattung im Literarischen Zentralblatt zu einer Aufwertung des Status der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum beigetragen. Von besonderer Bedeutung war diesbezüglich, daß sich die Autoren der Briefe nicht nur distanziert auf das Urteil anderer niederländischer Kritiker beriefen, sondern immer auch ihre persönliche Meinung kundtaten. Das bedeutete selbstverständlich nicht, daß sie sich immer positiv äußerten, im Gegenteil, aber ihre persönliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Werken und Autoren deutete darauf hin, daß sie die Literatur, über die sie berichteten, grundsätzlich zu schätzen wußten. Zu einer Gegenüberstellung des Bildes der niederländischen Literatur, so wie es die Rezensenten im Literarischen Echo durch eigene Lektüre gewonnen hatten, mit dem Bild oder der Rolle der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum kam es im Literarischen Echo nur | |
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selten. Die Hinweise auf den Austausch zwischen niederländischer und deutscher Literatur beschränkten sich weitgehend auf Anmerkungen über die Bedeutung Deutschlands und über die der deutschen Literatur für die Niederlande. Einmal kam es allerdings zu einem Eklat, und zwar, als die Redaktion der Zeitschrift auf einen Absatz aus einem Brief von M. Conrat reagierte, in dem dieser schrieb: ‘Herm. Heijermans jr. entwickelt die Ansicht, daß das Gelingen von Werken, die für die Bühne bestimmt sind, einen Hochstand der Novellen- und Romanlitteratur voraussetze, bei der der dramatische Autor in die Schule gehen müsse: denn Schauspiel und Erzählung gingen ein gut Stück zusammen. (De XX. Eeuw, Juni). Bei dem Tiefstande der deutschen Erzählungslitteratur, die sich zum holländischen wie grobe Rhetorik zu bewußter Einfalt verhalte, könne nur ein Scheindrama gedeihen [...]’Ga naar voetnoot672 Hierauf antwortete die Redaktion in einer Fußnote wie folgt: ‘Herr Heijermans thäte vielleicht im eigenen Interesse besser, seine hochnäsigen Bemerkungen über die deutsche Litteratur und ihren “Tiefstand” für sich zu behalten. Er beweist damit höchstens, daß er sie nur sehr oberflächlich kennt. Derartige Schimpfereien wirken besonders erquicklich, wenn man sich sagt, daß Herr Heijermans es ausschließlich dem Interesse und der Förderung deutscher Kritiker, Übersetzer, Direktoren, Verleger und Leser dankt, daß er nicht bloß eine kleine holländische Provinzberühmtheit geblieben ist.’Ga naar voetnoot673 Trotz des frühen und breiten Interesses des Literarischen Echos für die Literatur aus Flandern und den Niederlanden und obwohl M. Conrat schon 1901 feststellte, daß sich ‘eine scharfe Grenze zwischen der holländischen und der vlämischen, oder, wie es eigentlich heißen müßte, der nord- und der südniederländischen Litteraturbewegung gar nicht ziehen’Ga naar voetnoot674 ließ, wurde auch in dieser Zeitschrift ausführlicher über die Literatur aus den Niederlanden als über die niederländischsprachige Literatur aus Flandern informiert. Dies lag wohl vor allem daran, daß in den Briefen einmal über ‘Holland’, zum anderen über Belgien berichtet werden mußte, daß also auch die französischsprachige Literatur Belgiens zur Sprache kommen mußte, so daß die niederländischsprachige Literatur aus Flandern bei manchem einfach ausgeklammert wurde: ‘Wenn ich nachfolgende Zeilen nicht mit einem Geständnis beginnen würde, könnte man meinen, daß ich parteiisch, wenn nicht gar ein Abtrünniger sei. [...] So gestehe ich denn lieber von vornherein, daß ich die vlämische Bewegung sowohl in der Politik wie in der Litteratur für durchaus berechtigt halte. Ich | |
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müßte also in einen Aufsatz über belgische Prosa-Litteratur neben den Schriftstellern französischer Zunge auch die vlämischen Erzähler mit einbegreifen [...]. Da mich aber eine gemeinsame Behandlung beider Litteraturen viel zu weit über die mir hier gezogenen Grenzen führen würde, so ziehe ich es vor, in eine Trennung zu willigen, und so soll heute nur von einer belgischen Prosa-Litteratur in französischer Sprache die Rede sein. [...] Ich werde aber auch Gelegenheit finden von der vlämischen Litteratur besonders zu sprechen, weil ich wünsche, daß sie in Deutschland besser bekannt wird und durch sich selbst darthut, daß sie der unsrigen stammverwandt ist.’Ga naar voetnoot675 Die Einlösung solcher Versprechen fiel hinterher offensichtlich schwer. Conrat und Talen berücksichtigten die niederländischsprachige Literatur aus Flandern, obwohl sie, wie gesagt, von der Zusammengehörigkeit beider Literaturen überzeugt waren, nur in Ausnahmefällen, und die Rezensenten der belgischen Literatur sahen sich mit dem Problem konfrontiert, daß sie die niederländischsprachige Literatur aus Flandern zu vergleichen hätten mit Werk von inzwischen berühmten Flamen wie Maurice Maeterlinck, George Eekhoud, Emile Verhaeren, Georges Rodenbach und Camille Lemonnier, die in der ‘Kultursprache Belgiens’Ga naar voetnoot676, dem Französischen, schrieben, und daß sie gerade, was die Entwicklungen in der niederländischen Literatur aus Flandern betraf, aus Belgien kaum Anregungen erhielten, denn dort war ‘die Pflege der nationalen Litteratur das letzte Rad am Karren’Ga naar voetnoot677. Verständlich, daß man sich letztendlich doch auf die Darstellung des flämischen Charakters der französischsprachigen Literatur Belgiens beschränkte. Erst der Nachfolger von Ruhemann im Literarischen Echo, H. Bischoff, der sich auch besonders für das kulturelle Leben des dritten ‘Volksstamm[s]’Ga naar voetnoot678 Belgiens, der deutschsprachigen Minderheit, interessierte und der gut über die Entwicklungen in der niederländischen | |
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Literatur in Flandern informiert war, hat regelmäßig über die niederländischsprachige Literatur Flanderns berichtet.Ga naar voetnoot679 Auch Bischoff zeigte sich jedoch auffallend skeptisch. Er wies zwar auf bedeutende literarische Ereignisse in Flandern hin und besprach, um nur die wichtigsten zu nennen, August Vermeylen, Herman Teirlinck (1879-1967), Cyriel Buysse, Stijn Streuvels, Virginie Loveling, Domien Sleeckx und August Snieders, aber zugleich betonte er immer wieder, wie spärlich seine Ausbeute insgesamt war. Deshalb berief er sich wohl auf die amtlichen Berichte bezüglich der Literaturpreisverleihungen, wobei er besonders dem Urteil aus den Niederlanden großes Gewicht beimaß, u.a. bei der Verleihung des niederländischen Literaturpreises an den Flamen Stijn Streuvels: ‘Die vlämische Literatur kann es sich hoch zur Ehre anrechnen, daß ein holländischer Ausschuß von auserlesenen Kunstverständigen, den die Zeitschrift Nieuwe Gids gelegentlich ihres silbernen Jubiläums mit der Verteilung eines allgemein niederländischen Literaturpreises beauftragte, den Vlamen Styns [sic] Streuvels auszeichnete.’Ga naar voetnoot680 Das Gros der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern erhob sich laut Bischoff nicht ‘über das Mittelmaß’Ga naar voetnoot681. Es gab nur wenige Talente unter den Autoren der ‘Dorfdichtung’Ga naar voetnoot682, auf die sich die Literatur in Flandern seiner Meinung nach konzentrierte. Im wesentlichen be- | |
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schränkte sich die Auswahl auf Stijn Streuvels und Hugo Verriest als würdige Nachfolger von Conscience und Loveling.Ga naar voetnoot683 1909 freute Bischoff sich mit dem Erscheinen von H. Teirlincks Elfenbeinäffchen (1927, ndl. Het ivoren aapje, 1909) zwar über die Hinwendung zum Stadtroman, die er parallel zur Wendung der französischen Dichtung Belgiens zum geschichtlichen Roman beobachtete. Da sich diese Entwicklung aber nicht etablieren konnte, hielt die Freude nicht lange vor. Bereits einige Jahre später stellte er schon wieder mit Bedauern fest, daß es doch wieder die flämische Dorfdichtung sei, die ‘üppige Blüten’Ga naar voetnoot684 treibe. Große literarische Linien und Entwicklungen konnten die Briefe aus den Niederlanden und Belgien natürlich nicht zeigen. Dafür waren sie zu sehr auf Aktualität ausgerichtet. Um so bedeutender waren deshalb auch die verschiedenen allgemeinen Beiträge zur niederländischen Literatur, die im Gegensatz zum Literarischen Zentralblatt im Literarischen Echo sehr wohl erschienen und L. Grapperhaus und P. Raché anvertraut wurden. Schon kurze Zeit nach der Gründung der Zeitschrift berichtete P. Raché im Literarischen Echo ausführlich über die neuesten Entwicklungen in der niederländischen Literatur. Ausdrücklich bedauerte er damals, daß es ‘kaum ein Land in Europa [gibt], das so wenig von sich reden macht, wie Holland’Ga naar voetnoot685 und daß es kaum eine Literatur gebe, ‘die trotz ihrer geistigen Regsamkeit und einer erstaunlichen Produktivität so wenig bekannt’Ga naar voetnoot686 sei. Wie er darlegte, stellte man sich in Deutschland zu Unrecht Holland als ein Land vor, das sich ‘im Glanze seiner Vergangenheit sonnt’Ga naar voetnoot687, denn Holland stehe mitten im ‘wirtschaftlichen | |
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und geistigen Zusammenstreben der modernen Zeit’Ga naar voetnoot688 und sei überhaupt nicht so ‘weltfremd und zurückgeblieben’Ga naar voetnoot689, wie man vielfach meine. Die Schuld an dieser Fehleinschätzung war aber Raché zufolge - dies legte er in seinen Beiträgen immer wieder dar - nicht nur der deutschen, sondern auch der niederländischen Seite zuzuschreiben: ‘Der Holländer hat das Recht, stolz zu sein auf seine Vergangenheit, aber er hat nicht das Recht, diesen Stolz so übertrieben zum Ausdruck zu bringen, wie er es thatsächlich thut. Der Holländer erwartet, daß Europa zu ihm kommt, und Europa thut ihm natürlich diesen Gefallen nicht. Der holländische Charakter ist nicht jedermanns Sache. Das Steife, Zugeknöpfte, ungemein Vornehme an ihm wirkt ernüchternd und der Gast, der auf einen liebenswürdigen, warmen Empfang gerechnet hat, zieht sich enttäuscht zurück und kehrt dem ungastlichen Lande den Rücken, ohne sich die Mühe zu geben, den Charakter näher zu ergründen. Und schnell ist man fertig mit seinem Urteil über das Land.’Ga naar voetnoot690 Dieser Sachverhalt hatte dazu beigetragen, daß es die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum so schwer hatte und daß sogar ‘epochemachende Erscheinungen’Ga naar voetnoot691 wie Multatuli, ‘dessen Max Havelaar in Deutschland zwar viel genannt wird, aber so gut wie gar nicht bekannt ist’Ga naar voetnoot692, sich nicht durchsetzen konnten. Wie kaum ein anderer hat Raché um die Jahrhundertwende versucht, diese Situation zu verändern. Bezeichnend war dabei, daß er die Bedeutung der Achtziger, die mit dem alten ‘Schlendrian’Ga naar voetnoot693 abgerechnet und der Literatur einen ‘kosmopolitische[n]’Ga naar voetnoot694 Zug verliehen, ja sie sogar zum ‘Schrecken der Philister’Ga naar voetnoot695 gemacht hätten, weniger in ihren literarischen Leistungen sah als in den Entwicklungen, die sie ausgelöst hatten. Der Poesie der Achtziger schenkte Raché nur am Rande Aufmerksamkeit, und was einige ihrer Prosaautoren anbelangte, stellte er fest: ‘Vergessen sind heute die “Studien nach dem nackten Modell”, einer Reihe realistischer Novellen von Frans Netscher, vergessen der realistische Roman “Liebe”, mit dem Lodewijk van Deyssel kraftgenialisch debutierte [sic] und von all denen, die um die Mitte der achtziger Jahre so lautrufend in die litterarische Arena traten, hat nicht einer gehalten, was er versprach.’Ga naar voetnoot696 | |
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Literarisch hervorragend fand Raché dennoch nicht nur Van Eedens Kleinen Johannes, obwohl dieses Werk ‘nichts Modernes’Ga naar voetnoot697 an sich habe; zu schätzen wußte er auch Louis Couperus - den ‘selbständigste[n] und künstlerisch hervorragendste[n]’Ga naar voetnoot698 -, Vosmeer de Spie (1859-1944), dessen Roman Eine Leidenschaft (1895, ndl. Een passie, 1893) seiner Meinung nach zu ‘dem Besten’’Ga naar voetnoot699 gehörte, und den Vorläufer der Achtziger, Marcellus Emants, für ihn ‘eine Nummer Eins unter den holländischen Schriftstellern der Gegenwart’Ga naar voetnoot700. Für Raché war das Kapitel ‘Achtziger’ schon 1896 abgeschlossen.Ga naar voetnoot701 Lediglich Otto Hausers Anthologie Die niederländische Lyrik von 1875 bis 1900 bewegte ihn noch einmal dazu, sich zum Werk der Dichter um De Nieuwe Gids zu äußern. Schließlich sei Hausers Anthologie ein besonders zeitgemäßes Buch; zeitgemäß ‘in Anbetracht des größeren Interesses, das man gegenwärtig der holländischen Litteratur entgegenbringt’Ga naar voetnoot702, und weil diese Gedichtsammlung nun beweise, welche ‘staunenswerte Entwicklung’Ga naar voetnoot703 die Literatur in den Niederlanden von 1885 bis 1895 erlebt habe. In seinem Beitrag aus dem Jahr 1899 konzentrierte sich Raché - und hiermit zeigte er erneut sein Gespür für die Werke, die sich im deutschen Sprachraum tatsächlich durchsetzen konnten - auf die ‘beachtenswerte Rolle’Ga naar voetnoot704 der niederländischen Frauen im modernen Schrifttum, nicht zuletzt weil er der Überzeugung war, daß es in Europa ‘wohl kaum ein anderes Land’Ga naar voetnoot705 gebe, in dem so viel Frauenbewegung ‘gemacht’Ga naar voetnoot706 | |
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werde. Sehr lobend sprach er in diesem Zusammenhang von Anna de Savornin Lohmann, Cecile Goekoop de Jong van Beek en Donk und Anna van Goch-Kaulbach (1869-1960) und hob Barthold Meryan (1897) von Cornélie Huygens (1848-1902) als einen Roman hervor, der seiner Meinung nach, wenn er ‘in englischer anstatt in holländischer Sprache erschienen [wäre], [...] ein internationales litterarisches Ereignis’Ga naar voetnoot707 geworden wäre.Ga naar voetnoot708 Der zweite Autor größerer Beiträge zur niederländischen Literatur im Literarischen Echo war L. Grapperhaus. Auch er war der Meinung, daß ‘Holland [...] nicht, wie so manche noch immer meinen, in litterarischer Beziehung das Reich der Blinden [sei], deren König bekanntlich der Einäugige’Ga naar voetnoot709 sei, und stellte in diesem Zusammenhang wie Raché besonders Couperus heraus. Seine Romane verdienten nach Grapperhaus ‘das Prädikat “große Kunst”’Ga naar voetnoot710. Darüber hinaus erwähnte Grapperhaus Borel, zu dem er sich besonders hingezogen fühlte, obwohl er in den Niederlanden einer der ‘am meisten angefochtenen’Ga naar voetnoot711 Autoren sei und er auch anmerkte, daß er seine ‘übersensitive Kunst an sich nicht immer bewundere’Ga naar voetnoot712, sowie eine ganze Reihe weiterer Autoren und Werke und ergänzte so, wie schon Raché, in vorzüglicher Weise die Briefe im Literarischen Echo. Auffallend bei Grapperhaus war die Tatsache, daß er die Autoren, die er vorstellte, sehr kritisch beleuchtete. Längst nicht alle Werke, auch nicht die seiner Lieblinge, fanden seine volle Zustimmung. Im Gegensatz zu Raché stand Grapperhaus dabei den Autorinnen aus den Niederlanden ablehnend gegenüber. Insbesondere die Romane von C.A. de Savornin Lohman und A. van Goch-Kaulbach seien nicht mehr als ‘Machwer- | |
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ke’Ga naar voetnoot713, ‘Unterhaltungsware’Ga naar voetnoot714. Lediglich für das ‘erzählende [...] Talent’Ga naar voetnoot715 Jeanne Reyneke van Stuwe (1874-1951), die ‘Märchendichterin’Ga naar voetnoot716 Marie Marx-Koning (1864-1926), Ina Boudier-Bakker (1875-1966), Augusta de Wit und Margo Scharten-Antink (1868-1957) meinte Grapperhaus, eine Ausnahme machen zu müssen.Ga naar voetnoot717 In seinem ietzten Beitrag beschäftigte sich Grapperhaus auch eingehender mit der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern, die er in seinem ersten Aufsatz aus Platzmangel ausgeklammert hatte. Diesbezüglich teilte Grapperhaus durchaus die Meinung von Bischoff und von Brouwer im Literarischen Zentralblatt. Er war ebenfalls der Auffassung, daß die niederländischsprachige Literatur aus Flandern ‘zur holländischen’Ga naar voetnoot718 gehöre. Dies allerdings im wörtlichen Sinne, denn er stand ihr nicht nur skeptisch gegenüber, er war sogar der Überzeugung, daß ihr das Rückgrat fehle, so daß sie in der Literatur der Niederlande aufzugehen drohe, wenn sie überhaupt überleben würde. In diesem Zusammenhang bedauerte Grapperhaus vor allem, daß es gerade in Flandern keine literarische Kultur gebe. Nicht nur, daß ‘die berufenen Führer’Ga naar voetnoot719 der Flamen sich der Übermacht des Französischen ergäben, viele flämische Autoren sähen sich auch dazu gezwungen, mit ihren Büchern zu nordniederländischen Verlagen zu gehen, ‘weil das eigene Volk sie nicht zu würdigen’Ga naar voetnoot720 vermöge. Deshalb falle es schwer, an einen nachhaltigen Erfolg der niederländischsprachigen Literatur in Flandern zu glauben, sogar im Falle von Stijn Streuvels, dessen ‘wunderbar bodenständige [...], markige [...], frische [...] Prosa’Ga naar voetnoot721 Grapperhaus | |
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hervorhob, oder im Falle von Teirlinck, der nach Grapperhaus mehr Phantasie als Streuvels zeige, dafür aber zu Weitschweifigkeit und übertriebener Romantik neige.Ga naar voetnoot722 Für die niederländischsprachige Literatur aus Flandern also insgesamt eine traurige Bilanz. Positiv war im Grunde nur die Tatsache, daß Grapperhaus mit diesem halben Dutzend Absätzen im Literarischen Echo eine der ausführlichsten Würdigungen der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern in dieser Periode im deutschen Sprachraum publizierte.Ga naar voetnoot723 | |
2.4 Niederländische Literatur in Einzeldarstellungen: IIDie bisherige Analyse der Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum hat gezeigt, daß sich die Perspektive auf die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum in dieser Periode trotz der aufkommenden Alldeutschen Bewegung, zumindest bei denen, die sich ausdrücklich mit der modernen niederländischen Literatur beschäftigten, zunehmend von ihrer politisch-ideologischen Komponente löste. Durch das Bekanntwerden der Achtziger und die Erfolge niederländischer Autoren wie Multatuli, Van Eeden, Couperus und Heijermans wuchs gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die literarische Anerkennung für die Literatur aus den Niederlanden rapide. Zu dieser Entwicklung hat auch beigetragen, daß das Vertrauen in die kulturellen Fähigkeiten Flanderns schwand, daß Conscience weiter das Bild der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern im deutschen Sprachraum beherrschte, man den Eindruck gewann, daß in Flandern zunehmend französischsprachige Autoren das literarische Geschenen bestimmten und daß die meisten flämischen Autoren, die in niederländischer Sprache publizierten, in den Niederlanden verlegt wurden, so daß die niederländische Literatur aus | |
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Flandern stets mehr an Eigenständigkeit verlor und zunehmend mit der ‘holländischen’ eins wurde. Das Fundament für das wachsende Ansehen der niederländischen Literatur als Literatur wurde aber durch das Engagement einzelner Publizisten in literarischen Zeitschriften und durch einige wichtige selbständige Publikationen zur Geschichte der niederländischen Literatur in den achtziger Jahren gelegt. Eine dieser Publikationen war der weniger bekannte Grundriss der Geschichte der niederländischen LitteraturGa naar voetnoot724 von Albert Schmidt, der 1885 in Leipzig erschien. Das Werk beruhte in groben Zügen auf der Literaturgeschichte von W. Jonckbloet, die bereits in den siebziger Jahren in deutscher Sprache übertragen wurde. Schmidt hat aber auch die Geschichte der NiederlandeGa naar voetnoot725 vom wiederholt erwähnten T. Wenzelburger hinzugezogen. Seine Studie ist dann auch reich an Details. Schmidts Ausführungen waren zwar vom deutsch-französischen Antagonismus geprägt, so betonte er, wie auch U. Kloos hervorhob, in typischer Weise, daß die ‘germanischen Sprachen an Tiefe und Ernst den romanischen überlegen’Ga naar voetnoot726 und daß die ‘“Wärme”, “Originalität” und “welthistorische Bedeutung”’Ga naar voetnoot727 der niederländischen Literatur ‘abhängig vom deutschen und englischen Einfluß’Ga naar voetnoot728 seien, aber gleichzeitig stellte er heraus, daß die niederländische Sprache als ‘nahe Schwester unserer deutschen’Ga naar voetnoot729 zu betrachten sei, daß sie ‘eine selbständige’Ga naar voetnoot730 sei und zudem dieselbe, die man in Belgien als ‘vlämisch’Ga naar voetnoot731 bezeichnete. Er hoffte also nicht, ‘daß Jakob Grimms Prophezeiung eines “Übertritts der Niederländer zur hochdeutschen Sprache”’Ga naar voetnoot732 eintreten würde. Hiermit wurde eine wichtige Grundvoraussetzung für eine neue Perspektive auf die niederländische Literatur gelegt. Dies hielt Schmidt jedoch nicht davon ab, bezüglich der Eigenständigkeit der Literatur aus den Niederlanden - die aus Flandern wurde weitgehend ausgeklammert - Zweifel anzumelden. Schließlich habe es dieser Literatur ‘zu allen Zeiten’Ga naar voetnoot733 an Originalität gefehlt und könne | |
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sich ihre spezifisch nationale Eigenart erst entwickeln, seitdem es ein ‘wirklich [...] holländisches Vaterland, ein einiges und festes Königreich Holland’Ga naar voetnoot734 gebe.Ga naar voetnoot735 Ob die positiven Entwicklungen, die sich in der niederländischen Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abzuzeichnen schienen, wirklich von Dauer seien, müsse sich erst noch zeigen: ‘[...] ob Wärme in die niederländischen Verse dringen, originelles Leben in ihnen erstehen, ob Werke von welthistorischer Bedeutung, die man allenthalben, wie Goethes Faust, wie Byrons Dichtungen, wie Walter Scotts Werke, lesen wird, entstehen, hat die Zukunft zu zeigen. Zu erwarten steht es nach den bisherigen litterarischen Produktionen der niederländischen Litteratur kaum.’Ga naar voetnoot736 Man sollte aber, so meinte Schmidt, die literarischen Entwicklungen aufmerksam verfolgen. Deshalb beschloß er seine Studie mit dem Hinweis, daß sich der Deutsche allzu oft mit einem oberflächlichen Verständnis der niederländischen Literatur begnüge, so daß zu Unrecht die Literatur der nächsten Nachbarn fremder als die entfernterer Nationen bleibe. Wie Schmidt versuchte zwei Jahre später auch Lina Schneider, ‘in Deutschland das Interesse für die verwandte Literatur zu erwecken’Ga naar voetnoot737, und mit Erfolg, denn ihr Buch war schon bald sehr bekannt. Sie erhielt wegen ihrer Verdienste um die niederländische Literatur sogar die große goldene Verdienstmedaille der niederländischen Regierung, nachdem sie bereits 1872 von der Leidener Gesellschaft für niederländische Literaturkunde zu ihrem Mitglied ernannt worden war. Nach ihrer Heirat im Jahr 1852 war Lina Schneider mit ihrem Mann nach Rotterdam gezogen, wo sie sich sowohl mit dem deutschen Schrifttum als auch mit der niederländischen, indischen und malayischen Literatur befaßte. Ihr erster großer Beitrag für die niederländische Literatur im | |
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deutschen Sprachraum war die Übersetzung der Geschichte der niederländischen Literatur von W. Jonckbloet, die 1870 in Leipzig erschien.Ga naar voetnoot738 Diese Übersetzung war, wie sie im Vorwort erläuterte, aus dem Bewußtsein entstanden, daß die Geschichte der niederländischen Literatur ‘in der grossen Kette der Literarhistorien aller Völker germanischen Stammes in Deutschland bis jetzt fehlt’Ga naar voetnoot739. Ein weiterer Anreiz für die nähere Beschäftigung mit der niederländischen Literatur war für Lina Schneider die Verwandtschaft der beiden Sprachen. Während sich W.A.J. Jonckbloet in seiner Literaturgeschichte noch bemüht hatte, den Nachweis dafür zu erbringen, daß das Niederländische eine eigene Sprache sei ‘und nicht, wie bei unseren überrheinischen Nachbarn oft behauptet wird, eine der vielen Dialektsprachen des Plattdeutschen’Ga naar voetnoot740, war dies für L. Schneider - wie auch bereits für Schmidt - eine Selbstverständlichkeit. In ihrer Geschichte der niederländischen Litteratur schrieb sie 1887: ‘Die niederländische Sprache ist unter allen germanischen Sprachen der unseren am nächsten verwandt. Der tief in den Boden uralter Vergangenheit wurzelnde, aus der alten Runensprache erstandene Stamm treibt bei beiden Sprachen unserer sogenannten hochdeutschen, und der niederländischen, die der Volkseigentümlichkeit entsprechende Zweige, aber der Stamm, der allen gemeinsame Mutterstamm ist unverändert derselbe geblieben.’Ga naar voetnoot741 Schneider teilte jedoch Schmidts Skepsis bezüglich der Beständigkeit der neueren Entwicklungen in der niederländischen Literatur. Immer wieder betonte sie die große Abhängigkeit der niederländischen Literatur, insbesondere von der deutschen. Nicht nur die Überschrift des ersten Kapitels des Abschnittes Neuere Zeit, ‘Nachahmung der Deutschen’, deutete darauf hin, auch im Schlußwort kam ihr Zögern zum Ausdruck: ‘In Zukunft wird die niederländische Poesie auch von dem Schönheitssinn der Nation zu sprechen haben, und muss sie selbst auch notwendigerweise noch durch verschiedene Entwicklungsphasen gehen, doch wird einst die Zeit kommen, in der sie auch von einer ausgebreiteteren Herrschaft der Phantasie und des schöpferischen Talentes der niederländischen Dichter spricht. Bis jetzt war die Geschichte der holländischen Litteratur meistens eine Reihe von Perioden der Nachahmung, selbst die klassische ist im eigentlichen Sinne des Wortes eine solche.’Ga naar voetnoot742 | |
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Trotz der sie kennzeichnenden Skepsis bedeuteten Schmidts Grundriss der Geschichte der niederländischen Litteratur und Schneiders Geschichte der niederländischen Litteratur aber eine Wende in der Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum. Sie belegten, daß sich die niederländische Literatur in deutschen Augen langsam über die Unterhaltungsliteratur erhob und legten, nicht zuletzt, weil Lina Schneider ausführlich über die vorliegenden Übersetzungen niederländischer Literatur in deutscher Sprache informierte und weil sie die Literatur aus den Niederlanden und Flandern zwar gemeinsam, aber nicht als eine Einheit, sondern, wie es sich auch De Mont gewünscht hätte, als eine Einheit in Verschiedenheit behandelte, den Grundstein für eine tiefergehende Beschäftigung mit der niederländischen Literatur um die Jahrhundertwende.Ga naar voetnoot743 Interessanterweise hat man sich dabei nicht, wie z.B. im George-Kreis, auf die Dichter aus der Achtziger-Bewegung konzentriert. Das Gegenteil war vielmehr der Fall, was sich auch schon bei den Einzelanalysen gezeigt hat. Lediglich die Prosaschriftsteller aus den beiden Dezennien vor der Jahrhundertwende fanden auf breiter Front Anerkennung. Dies hing mit Sicherheit nicht nur damit zusammen, daß der Markt für die Prosa größer war, sondern auch damit, daß Anerkennung für die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum bis dahin fast ausschließlich auf Übersetzungen niederländischer Prosa beruhte. Außerdem gab es auch eine Reihe durchaus negativer Stimmen zur Poesie der Achtziger. So betonte R. Candiani 1897, daß die Achtziger, wenn möglich, noch mehr als ihre Vorgänger imitierten.Ga naar voetnoot744 Konkret wies er diesbezüglich darauf hin, daß der Naturalismus von A. Cooplandt (1860-1922) und Frans Netcher schon 15 Jahre tot sei, daß sich der niederländische Symbolismus von Jacques Perk zu sehr an Dante Gabriel Rosetti anlehne und daß Pol de Mont zu dicht bei Percy Bysshe Shelley und Jacob Winkler Prins (1849-1904) zu nah bei Stéphane Mallarmé bleibe.Ga naar voetnoot745 | |
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Sogar bei Van Eeden entdeckte er zu viel Tolstoi ‘à la sauce batave’Ga naar voetnoot746. Candianis Urteil zu den neuesten Entwicklungen in der niederländischen Literatur war also alles andere als milde und wäre absolut vernichtend gewesen - ‘Une énumération de noms et d'oeuvres, c'est vraiment tout ce que l'on peut tenter pour la littérature néerlandaise contemporaine’Ga naar voetnoot747 -, wenn es nicht vier Autoren gegeben hätte, die er trotz aller Skepsis besonders herausstellte: Lodewijk van Deyssel (‘un fougueux et un caustique, mais il abuse de la grandiloquence’Ga naar voetnoot748), Marcellus Emants (seine Crépuscule des Dieux ‘frôle parfois le sublime’Ga naar voetnoot749), Albert Verwey (obwohl dieser ‘le poème kilométrique’Ga naar voetnoot750 kultiviere) und vor allem Louis Couperus, mit dem die Niederlande vielleicht den ‘rénovateur’Ga naar voetnoot751 gefunden hätten, den sie so sehr nötig hätten. Außer Candiani gab es noch Raché, der, wie gesagt, die Poesie der Achtziger bereits ad acta gelegt hatte, bevor sie eigentlich richtig vorgestellt worden war. Raché gab zwar zu, daß es sich bei der literarischen Revolution der Achtziger um eine seltsame, unbegreifliche Entwicklung, ‘ohne Beispiel dastehend in der Weltlitteratur’Ga naar voetnoot752 handelte, aber er betonte gleichzeitig immer wieder, daß die Lyrik der Achtziger schnell ihren Höhepunkt überschritten hätte und wies in diesem Zusammenhang u.a. darauf hin, daß er die ‘hochangesehene Stellung’Ga naar voetnoot753 Verweys in der niederländischsprachigen Kritik nie habe verstehen können.Ga naar voetnoot754 | |
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Sogar im Falle von Frederik van Eeden, den er immerhin im Literarischen Echo noch besonders hervorgehoben hatte und zu dessen Erstling im deutschen Sprachraum er die Einleitung geschrieben hatte, betonte Raché, daß dieser Autor den ‘poetischen Glanz’Ga naar voetnoot755 seines Jugendwerks nie mehr erreicht habe. Vergleichbares gelte schließlich auch für H. Gorter, in dessen späteren Gedichten die ‘ungewöhnlichen Sprachschönheiten’Ga naar voetnoot756 seines Mais nicht mehr zu finden seien.Ga naar voetnoot757 Nur Willem Kloos erkannte Raché als originelle Gestalt, ‘gleich groß als Ästhetiker der neuen Schule wie als schaffender Dichter’Ga naar voetnoot758, ohne weitere Einschränkung an. Wie Candiani war Raché bezüglich der Bedeutung der Achtziger also skeptisch. Auch er betonte, daß die Entwicklung der modernen Poesie in den Niederlanden ‘sehr viel an hypermodernen Thorheiten’Ga naar voetnoot759 aufweise, und glaubte nicht an eine sogenannte ‘“Nachblüte”’Ga naar voetnoot760. Vielmehr zeige sich ein ‘Zug ins Perverse’Ga naar voetnoot761, der wohl eher auf ein ‘Absterben’Ga naar voetnoot762 als auf ‘ein neues Aufblühen’Ga naar voetnoot763 hinweise. Keinen leichten Stand hatte demnach Otto Hauser, als er Anfang dieses Jahrhunderts als einer der einzigen versuchte, die deutschsprachige Kritik doch von der Bedeutung der Achtziger und ihrer Dichtung zu überzeugen. Hauser nannte zwar nirgendwo den Namen von P. Raché, aber seine einleitenden Worte zeigen deutlich, wen er zu widerlegen versuchte: ‘Obwohl die niederländische Dichtung im letzten Vierteljahrhundert einen ganz unerwarteten Aufschwung genommen und gegenwärtig eine Höhe erreicht hat, die man im Rückblick auf die bisherige Entwicklung als klassisch bezeichnen muß [...] sind doch von den sieben Leuchten der niederländischen Literatur nur zwei in Deutschland einigermaßen bekannt geworden, Pol de Mont und Frederik van | |
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Eeden. Auch von diesen erschienen nur wenige Werke in Verdeutschungen und durchaus nicht die bedeutendsten. So erklärt es sich, daß wohl der größte Teil der deutschen Literaturfreunde kaum eine Ahnung hat von dem reichen Liedersommer, der in dem Nachbarlande blüht. Während die stammverwandten belgischen Dichter, Maeterlinck, Verhaeren, van Lerberghe und andere, die französisch schreiben, zugleich mit der französischen Literatur bei uns Eingang fanden und finden, achteten selbst die des Holländischen Kundigen der neu erwachten niederländischen Literatur nur wenig’Ga naar voetnoot764. In seiner anschließenden fünfteiligen Studie besprach Otto Hauser nun, ausführlicher als in der Einleitung seiner Anthologie, die Lyrik von J. Perk, P. de Mont - den nicht nur er als einen Vorläufer der Achtziger betrachtete -, H. Swarth, W. Kloos, A. Verwey, F. van Eeden und H. Gorter, sieben Dichter, die, wie er meinte, eine ‘herrlichere Plejade [sind] als jene, deren hellster Stern Ronsard war’Ga naar voetnoot765. Um zu zeigen, daß die positiven Entwicklungen, die die Dichter um De Nieuwe Gids eingeleitet hatten, nicht folgenlos geblieben waren, ging Hauser ausführlich auf die jungen Talente, die ‘Schule’, ein. Dabei präsentierte er zum Teil weniger bekannte Dichter wie Hein Boeken (1861-1933), ‘als Kritiker hervorragender denn als Dichter’Ga naar voetnoot766, Gerrit Cornelis van 't Hoog (1869-), den er ‘weit über Gorter’Ga naar voetnoot767 einstufte, Lucie Broedelet (1875-1969) und Joannes Reddingius (1873-1944) neben dem bedeutenden Pieter Boutens (1870-1943). Überdies wies Hauser darauf hin, daß auch die ältere Generation nicht von den Modernen unberührt geblieben sei, deren günstiger Einfluß besonders beim Werk von Fiore della Neve (Martinus van Loghem) (1849-1934) zu spüren sei.Ga naar voetnoot768 Schließlich führte er auch noch die Gedichte von Louis Couperus an, obwohl diese, wie er selbst zugab, ‘ungleichmäßig’Ga naar voetnoot769 seien, um an ihnen zu zeigen, daß die niederländische Literatur in der Lyrik ‘an | |
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Reichtum - an Fülle wie an Wert - zweifellos jede der anderen “klassischen” [Literaturen]’Ga naar voetnoot770 übertreffe. Die Erfolge blieben aber ein weiteres Mal aus. Hauser versuchte zwar im darauffolgenden Jahr, mit einer Studie im Hamburgischen Correspondenten erneut die deutschsprachigen Leser davon zu überzeugen, daß ‘die holländische Sonettenlyrik unserer Zeit in der Tat bedeutend genug ist, um eine besondere Würdigung zu verdienen’Ga naar voetnoot771, aber am Ende blieb nur die Resignation. Im letzten Aufsatz, der von Hauser vorliegt, relativierte er seine Aussagen aus der Literarischen Warte und sprach nun selbst davon, daß ‘die grosse Periode der holländischen Lyrik für abgeschlossen’Ga naar voetnoot772 betrachtet werden müsse. Jetzt war zu lesen: ‘[...] in der Lyrik erreichte keiner wieder die Bedeutung eines Perk, einer Helene Swarth, eines Kloos, Frederik van Eeden und Gorter, so viel Anerkennung auch einem H.J. Boeken, einem P.C. Boutens, einer Lucie Broedelet und Henriette Roland Holst van der Schalk zu teil geworden ist.’Ga naar voetnoot773 Es gelang Hauser zwar, interessante Übersetzungen niederländischer Lyrik auf den deutschsprachigen literarischen Markt zu bringen - man denke hierbei an Ellen, ein Lied von Schmerz und die Mystischen Gesänge (1920, ndl. Van de passielooze lelie, 1901) von Frederik van Eeden und die Sonette (1914) von Hélène Swarth -, aber er konnte nicht verhindern, daß das Interesse im deutschen Sprachraum für die niederländische Poesie im allgemeinen und die der Achtziger im besonderen rasch zurückging.Ga naar voetnoot774 |
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