Moderne Niederländische Literatur im Deutschen Sprachraum 1830-1990
(1993)–Herbert van Uffelen– Auteursrechtelijk beschermd
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1. Der Zeitraum 1830-18801.1 Die Niederländer: ‘ein dekadentes Handelsvolk ohne Poesie’Nicht immer hat man im deutschen Sprachraum so herabwürdigend über die Niederländer geurteilt wie Johann Gottfried von Herder in dieser Überschrift.Ga naar voetnoot1 Insbesondere nicht im 17. Jahrhundert, als die Niederlande, durch den Westfälischen Frieden unabhängig geworden, ökonomischen und kulturellen Weltrang erreicht hatten. In dem Zeitalter, wo durch die politische Trennung von Nord und Süd und die massenhafte Einwanderung aus den südlichen, katholischen Niederlanden unter spanischer Herrschaft das kulturelle Ende des alten Flandern besiegelt wurde, begann für die Generalstaaten das sogenannte Goldene Zeitalter und zogen viele Deutsche nach Amsterdam und nach Leiden, ins Zentrum der Wissenschaft. Erst als die Niederländer im 18. Jahrhundert ihre Vormachtstellung verloren, sie sich sozusagen auf ihrem Wohlstand aus vergangenen Zeiten ausruhten und in eine Art ‘Versteinerung’Ga naar voetnoot2 verfielen, schlug in Deutschland, wo man im Gegensatz zu den Niederlanden unabhängig von der wirtschaftlichen Lage eine ganze Reihe kultureller Glanzleistungen vorweisen konnte, die Bewunderung für die Niederländer und ihre Kultur in Kritik um.Ga naar voetnoot3 Das Bild des reichen Holländers wurde durch das des satten Holländers, des Philisters, ersetzt. Im 19. Jahrhundert war Deutschland eindeutig nicht mehr der empfangende, sondern der gebende Teil. Nicht nur in Belgien, sondern auch in den Niederlanden, wo die innere Stabilisierung durch die 1815 vom Wiener Kongress erzwungene Wiedervereinigung mit dem ursprünglichen südlichen, aber völlig entfremdeten Teil verzögert worden war und | |
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sich nach der Belgischen Revolution eine ‘Malaise-Stimmung’Ga naar voetnoot4 breitgemacht hatte, avancierte ‘Germania docet’ für viele zu einer ‘fast selbstverständlichen Lösung’Ga naar voetnoot5. Darüber hinaus begnügte man sich nicht mehr mit der Feststellung, daß die Holländer und ihre Kultur ‘steif und kalt [...] exotisch und veraltet’Ga naar voetnoot6, daß sie die Chinesen von Europa seien. ‘Holland’, das aufgrund einer eigenwilligen Interpretation der Bestimmungen des Wiener Kongresses die Durchfuhr im Rheindelta mit Zöllen belegte, wurde zur direkten ‘Zielscheibe des Spottes’Ga naar voetnoot7. | |
1.1.1 Trotz negativer Vorzeichen: wachsendes Interesse für die Niederlande und FlandernDas deutsche Verhältnis zu Belgien und den Niederlanden blieb dennoch im 19. Jahrhundert nicht nur von negativen Vorzeichen bestimmt, sondern wandelte sich dauernd. Dafür sorgten der Nationalismus, der mit romantischen Ideen über Volk und Volksart vermischt war, das Gefühl der ständigen Bedrohung durch Frankreich, das Aufkommen liberaler Ideen, die Belgische Revolution und die damit einhergehende Angst bzw. Bewunderung für liberales, revolutionäres Gedankengut, die Perspektiven neuer Handelsbeziehungen zu Belgien, insbesondere im Hinblick auf die umstrittenen Rheinschiffahrtsrechte, die religiösen Beziehungen zwischen | |
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einerseits dem protestantischen Preußen und dem katholischen Rheinland sowie andererseits den Niederlanden und Belgien, der Anti-Ultramontanismus, von dem deutsch-nationales Gedankengut begleitet war, und schließlich die nicht zu leugnende Bewunderung für den demokratischen Charakter der Niederlande im allgemeinen.Ga naar voetnoot8 Kennzeichnend für die meisten Stellungnahmen zur Beziehung zwischen den Niederlanden und Belgien auf der einen und den deutschen Staaten auf der anderen Seite blieb aber immer die Auffassung, daß der niederländische Sprachraum sein Heil bei Deutschland zu suchen hätte.Ga naar voetnoot9 Die hierfür wohl bekanntesten Zeugnisse sind die Schriften von Ernst Moritz Arndt, der davon überzeugt war, daß alles, was germanisch sei, zu Deutschland gehöre, und sich wie viele seiner Zeitgenossen nicht vorstellen konnte, daß Völker, die so nah miteinander verwandt waren, verschiedene Sprachen haben könnten. Arndt betrachtete die niederländische Sprache als einen ‘Zweig der Niederdeutschen oder Plattdeutschen’Ga naar voetnoot10. Auf Basis dieser Vorstellung einer gemeinsamen Sprache begründete er seine Forderung nach einer gemeinsamen Nation bzw. einem deutsch-germanischen Bundesstaat. Zugleich war Arndt davon überzeugt, daß ‘die Niederlande, wenn sie dem tiefsten Zug ihres Innern folgten, über kurz oder lang in die größere Gemeinschaft mit Deutschland zurückkehren müßten’Ga naar voetnoot11, daß also eine Zeit kommen würde, zu der Holland in Not geraten und dort wieder unweigerlich hineinfallen würde, wo es hingehörte, nämlich ‘in den Schoß des großen Germaniens’Ga naar voetnoot12, und | |
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daß Deutschland erst ‘abgerundet und sicher’Ga naar voetnoot13 wäre, wenn sich die Niederlande (und die Schweiz) angeschlossen hätten.Ga naar voetnoot14 Da Belgien nach Arndts Ansicht als das beste und sicherste ‘Bollwerk gegen die wälsche Ländergier’Ga naar voetnoot15 eine herausragende Rolle beim Schutz der Freiheit der deutsch-germanischen Völker spielte, setzte er die Zugehörigkeit Belgiens zum zukünftigen deutsch-germanischen Bundesstaat als selbstverständlich voraus: ‘Gott hatte es so bestimmt, daß dieses uraltgermanische Land echt germanisch werden und künftig deutsch sein und heißen solle’Ga naar voetnoot16! Damit hatte Arndt in diesem Zusammenhang aber auch sein wichtigstes Argument gebracht. Wie schon von der Dunk hervorhob, stand nämlich nicht nur seine Bewunderung für den flämischen (belgischen) Partikularismus im Widerspruch zu seinen Einheitsvorstellungen; Arndt, der Belgien nur aus seinen Reisen nach Wallonien und Brussel kannte, schloß auch zu Unrecht aus der Tatsache, daß das exportbedürftige Wallonien für einen Anschluß an Deutschland plädierte, daß auch das flämische Volk einen solchen Anschluß befürwortete.Ga naar voetnoot17 Nicht nur, daß es zum Zeitpunkt Arndts ein solches ‘flämisches Volk’ faktisch nicht gab; Begeisterung für die aus den deutschen Ländern gereichte Bruderhand gab es im wesentlichen nur in Kreisen der flämischen Bewegung.Ga naar voetnoot18 Auch die flämische Industrie, zu dem Zeitpunkt im wesentlichen Leinwandindustrie, zeigte für den deutschen Markt kaum Interesse, sondern fürchtete eher die Konkurrenz aus deutschen Ländern und war deshalb vor allem nach Frankreich orientiert. Auffassungen wie die von Arndt waren alles andere als frei von pangermanistischem Expansionsdrang, aber dennoch wäre es verkehrt, | |
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im Hinblick auf das Entstehen späteren großdeutschen Gedankengutes Arndts Äußerungen und vergleichbare Stellungnahmen radikal abzuwerten. Erstens gab es einen großen Unterschied zwischen dem romantischen Pangermanismus Arndts und dem späteren großdeutschen Annexionismus im mächtigen Deutschen Reich nach 1870. Man kann Arndt wegen seiner Sehnsüchte nach einem großgermanischen Deutschland zwar als einen Vorläufer des späteren alldeutschen und großdeutschen Imperialismus betrachten, aber die Situation, in der Arndts Gedanken entstanden, unterschied sich, wie von der Dunk zu Recht feststellt, sehr von der nach 1870. Im Gegensatz zur alldeutschen Phase nach 1870 glaubten die Pangermanisten Anfang des 19. Jahrhunderts noch an die Möglichkeit eines Zusammenschlusses zwischen Skandinaviern, Angelsachsen und Deutschen, einen Zusammenschluß, den die Alldeutschen unter Hinweis auf die Interessenkonflikte zwischen Deutschland auf der einen und England und Amerika auf der anderen Seite als Illusion entlarvten. Ferner waren die alldeutschen Vorstellungen nicht wie die von Pangermanisten wie Arndt von einem idealistischen Glauben ‘an die Befreiung und Emanzipation des Bürgertums und der Völker aus rückständigen absolutistischen und feudalen Fesseln’Ga naar voetnoot19 gekennzeichnet sowie nicht von der aufklärerischen Überzeugung geprägt, daß das ‘“Natürliche” auch das “Gute” sei und umgekehrt’Ga naar voetnoot20. Darüber hinaus, und dies ist in diesem Zusammenhang wohl der wesentlichste Unterschied zu der Phase nach 1870, gab es zum Zeitpunkt der Entstehung von Arndts Schriften kein einiges, starkes und zentralisiertes Deutschland, sondern Realität war vielmehr, daß die französische Armee gerade erst zurückgedrängt worden war und daß die einzelnen deutschen Staaten ‘halb-feudal regierte agrarische Länder’Ga naar voetnoot21 waren. Zweitens muß man bei der Beurteilung von Arndt berücksichtigen, daß er sich, eben weil er die Niederlande und Belgien als germanisch betrachtete, im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen durchaus positiv und respektvoll über die Niederlande und Belgien geäußert hat. Das kann als eine zu der Zeit seltene ‘good-will-Kampagne’Ga naar voetnoot22 betrachtet werden. | |
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Drittens muß darauf hingewiesen werden, daß es bei den Beziehungen zwischen dem deutschen und dem niederländischen Sprachraum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gegenseitige Abhängigkeit auf der einen und eine gegenseitige Verstärkung der nationalen Selbstfindung auf der anderen Seite gab. So wie die flämische Bewegung, wie von der Dunk es ausdrückte, zunächst Wasser auf die Mühle der germanisch-deutschen Nationalisten war, später aber mit dem steigenden nationalen Selbstbewußtsein in Deutschland wie selbstverständlich wieder an Bedeutung verlor, hat die Anteilnahme des großen Bruders aus dem Osten die flämische Identitätsfindung unterstützt, zugleich aber auch die Weichen für die Hinwendung zu den Niederlanden gestellt und damit also auf Dauer in Richtung einer Distanzierung von Deutschland. Weil sich Flamen wie Niederländer bei der Suche nach einer eigenen nationalen Identität nicht nur von der bereits erwähnten allgemeinen Bewunderung für Deutschland, sondern auch von einem breiten Bewußtsein von der engen Verwandtschaft von Niederländischsprachigen und Deutschen freimachen mußten, haben provozierende nationalistische sowie pangermanistisch expansionistische Reichsschwärmereien von bekannten Publizisten wie Ernst Moritz Arndt oder Historikern wie Heinrich Leo eine wichtige emanzipierende Funktion gehabt.Ga naar voetnoot23 Schließlich nährten gerade sie nicht nur die Angst, die das bekannte Bismarck-Wort, ‘Holland wird sich schon selbst annektieren lassen’Ga naar voetnoot24, begründete, sondern sie förderten auf Dauer auch die Neigung zu Distanz nach dem Motto: ‘Wir sind Niederländer, keine Deutsche’! Die Bedeutung der Beiträge Arndts und anderer ‘germanisch’ denkender Publizisten für die deutsch-niederländischen bzw. die deutsch-flämischen Beziehungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts liegt also nicht nur darin, daß sie den Grundstein für späteres alldeutsches und großdeutsches Gedankengut gelegt haben. Ebenso wichtig war, daß sie zugleich, wenn auch eher indirekt, die Entwicklung des nationalen Selbstbewußtseins im niederländischen Sprachraum gefördert und so eine wesentliche Voraussetzung für einen zwar kritischen, aber zunehmend gegenseitigen und respektvollen Kulturaustausch zwischen Deutschland auf der einen und Flandern und den Niederlanden auf der anderen Seite geschaffen haben. | |
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Einen konkreten Beitrag haben diesbezüglich vor allem Gelehrte wie Jacob Grimm, Ludwig Uhland und August Heinrich Hoffmann von Fallersleben geliefert. Sie waren es, die bekanntlich das niederländische und flämische Kulturgut wiederentdeckten, und dies teilweise eher als die Wissenschaftler in den Niederlanden und Flandern. Auch bei ihnen spielte die deutsche (germanische) Perspektive eine wichtige Rolle - sie war, wie sich zeigen wird, ähnlich wie bei Arndt sogar das eigentliche Motiv ihrer Arbeit -, aber durch ihre Erforschung der Beziehung des Niederländischen und Niederdeutschen zum Deutschen bzw. durch ihr Studium der niederländischen Literatur haben sie viel direkter als etwa Arndt die niederländische Sprache und ihre Literatur im deutschen Sprachraum bekannt gemacht, das Aufkommen des niederländischen kulturellen Selbstverständnisses gefördert und so auf Dauer eine echte Beziehung zwischen dem niederländischen und flämischen Kulturraum einerseits und dem deutschen andererseits ermöglicht. | |
1.1.1.1 Jacob Grimm und Ludwig UhlandJacob Grimm war der erste der oben genannten Philologen, der sich um einen Überblick über die mittelniederländische Dichtung bemühte und mittelniederländische Volksbücher und -lieder sammelte.Ga naar voetnoot25 Mit seinem Interesse für die mittelniederländische Literatur war er der Philologie in den Niederlanden und Flandern weit voraus, denn im Gegensatz zu Grimm betrachteten damals die niederländischen Gelehrten als aufgeklärte Rationalisten die Beschäftigung mit dem Mittelalter als einen Rückschritt. Nicht unberechtigt war also Grimms Kritik, als er seine niederländischen Kollegen als ‘langsam und pedantisch’Ga naar voetnoot26 bezeichnete und den Flamen vorwarf, daß es bei ihnen niemanden gebe, der sich um die ‘denkmäler | |
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vaterländischer poesie [sic]’Ga naar voetnoot27 kümmere, geschweige denn Ahnung davon habe.Ga naar voetnoot28 Grimms Motiv für seine Forschungen im Bereich der mittelniederländischen Literatur lag in dem Bewußtsein, daß in der Vergangenheit der niederländische und der deutsche Sprachraum miteinander verbunden waren und deshalb eine verwandte Sprache und Literatur aufweisen müßten. Nicht zuletzt deshalb war er von der Trennung zwischen Belgien und den Niederlanden nach 1830 enttäuscht.Ga naar voetnoot29 Der deutsche Gelehrte, der in seiner Deutschen Grammatik das Niederländische vom Hochdeutschen getrennt hatte, begrüßte dennoch zugleich die nationalen Interessen, die in Belgien und den Niederlanden auflebten, denn er sah in der belgischen und der niederländischen Suche nach einer nationalen Identität auch eine Chance für die Belebung des vaterländischen Geistes und verknüpfte damit die Hoffnung, daß sie zusammen mit dem Interesse an der eigenen Sprache zu linguistischen Untersuchungen, zur Sammlung und Veröffentlichung mittelniederländischer Texte und Herausgabe eines flämischen Idiotikons führen würden.Ga naar voetnoot30 Auf den Spuren Grimms begab sich 1844 auch Ludwig Uhland auf die Reise durch die belgischen Bibliotheken.Ga naar voetnoot31 So, wie Grimm in den mittelniederländischen Texten die deutsche Vergangenheit gesucht hatte, suchte Uhland im Volkslied deutsches Gemeingut, was in niederländischen Handschriften seiner Meinung nach teilweise besser überliefert war als in deutschen Aufzeichnungen. Für Uhland war Flandern ebenfalls ein ehemaliges ‘Glied des Reiches’Ga naar voetnoot32. Den flämischen Kampf um die Erhaltung der Volkssprache | |
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betrachtete er als Sieg des in Flandern ‘wieder neu sich fühlenden deutschen Elementes’Ga naar voetnoot33. Trotzdem leistete auch er mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten, die für das Studium der älteren niederländischen Literatur von besonderer Bedeutung waren, einen wichtigen Beitrag zur Förderung des kulturellen Selbstverständnisses in den Niederlanden und zur Verbesserung der deutschen Kenntnisse über die niederländische Sprache und Literatur. Darüber hinaus hat er über sein Interesse für das Lied, das er als Brücke zwischen Schelde und Rhein betrachtete, die Weichen für einen intensiven Kulturaustausch gestellt, der 1844 in der Gründung des Deutsch-Vlämischen Sängerbundes gipfelte.Ga naar voetnoot34 | |
1.1.1.2 Intermezzo: der Deutsch-Vlämische SängerbundDie bislang beschriebenen Versuche einer Annäherung zwischen dem deutschen und dem niederländischen Sprachraum gingen zumeist von Deutschland aus. Ein wenig anders verhielt es sich bei der Gründung des Deutsch-Vlämischen Sängerbundes. Zwar war auch dieses Ereignis eine typische ‘Frucht der Romantik’Ga naar voetnoot35, denn es war einerseits indirekt zurückzuführen auf die Arbeiten von Grimm, Uhland und Hoffmann von Fallersleben sowie auf die große Bewunderung, die im 19. Jahrhundert im niederländischen Sprachraum für die deutsche Musik gehegt wurde. Andererseits ging es direkt auf den Einsatz des Kölner Philologen Johann Wilhelm Wolf zurück, ohne dessen Zutun die Initiative mit Sicherheit nicht Wirklichkeit geworden wäre. Aber diesmal kam der Impuls aus Flandern.Ga naar voetnoot36 Nachdem 1841 der Aachener Gesangverein in Gent zu Gast gewesen war und 1844 der Kölner Männergesangverein in Brussel einen Wettbewerb gewonnen hatte, ergriffen die ‘Förderer germanischer Verbrüde- | |
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rung’Ga naar voetnoot37, der Genter ‘voorstander van culturele samenwerking met Duitsland’Ga naar voetnoot38 Prudens van Duyse (1804-1859) und sein ‘tegenpool voor de Duitse afdeling’Ga naar voetnoot39 J.W. Wolf, der sich zu der Zeit in Belgien aufhielt, die Initiative und kündigten die Gründung des Deutsch-Vlämischen Sängerbundes an.Ga naar voetnoot40 Die ‘Privatinitiative’Ga naar voetnoot41 von Van Duyse und Wolf wurde von vielen Seiten begrüßt, insbesondere vom Organ der flämischen Bewegung Vlaemsch België (1844), das glaubte, daß man gerade mit dem Deutsch-Vlämischen Sängerbund die flämische Kultur im deutschen Sprachraum verbreiten könnte. Französische Kreise warnten zwar vor einer Herausforderung der Franzosen, aber die belgische Regierung war bereit, den Sängerbund finanziell zu unterstützen, obwohl auch sie den pangermanistischen Unterton, der die Gründung begleitete, mit Skepsis betrachtete. Für die deutsche Seite war folgender Kommentar aus der Kölnischen Zeitung bezeichnend: | |
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[...] mit der Ausbreitung des Bundes in Deutschland [wird] auch die Stimme der niederdeutschen Dichter weiterklingen [...] und der niederdeutschen Literatur bis ins Herz Deutschlands den Weg bahnen’Ga naar voetnoot42.Auch die weitere Argumentation war typisch: ‘Die Zwecke des Sängerbundes sind [...] die, daß die Grenze zwischen Nieder- und Oberdeutschland zergehe, er zermalme jede geistige Grenze, die noch zwischen den Brudervölkern besteht, und sei das erste Glied einer Kette, die beider Herzen durch Bruderliebe verbindet; in ihm erstehe ein gemeinsames Bollwerk gegen allen verderblichen fremden Einfluß von draußen.’Ga naar voetnoot43 In den darauffolgenden Jahren steigerten sich die Kontakte zwischen den flämischen und den deutschen Gesangvereinen zu einem Höhepunkt. Die erste große Veranstaltung fand 1846 in Köln statt. An ihr beteiligten sich 27 Gesangvereine aus Flandern und 97 aus Deutschland, insgesamt 2500 Sänger. Auch Hendrik Conscience reiste nach Köln, während Ferdinand August Snellaert (1809-1872), Jan Frans Willems (1793-1846) und Philip Marie Blommaert (1808-1871), die ebenfalls erwartet wurden, wegen interner Auseinandersetzungen in der flämischen Leitung dem Geschehen fernblieben. Es folgte ein Gegenveranstaltung in Brussel und schließlich ein großes Fest vom 26. bis zum 28. Juni 1847 in Gent. Damit war der Höhepunkt der deutsch-flämischen Beziehungen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts schon wieder überschritten. Die für 1848 geplante Zusammenkunft in Frankfurt konnte wegen der Revolutionsunruhen schon nicht mehr stattfinden. Wahrscheinlich wäre es jedoch auch ohne dieses Ereignis bald zu einer Auflösung des Deutsch-Vlämischen Sängerbundes gekommen, denn bereits bei der Veranstaltung in Gent hatte sich die neue, nach Frankreich orientierte belgische Regierung Rogier mit ihrer Unterstützung zurückgehalten. | |
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Der intensive Kulturaustausch zwischen den deutschen und flämischen Gesangvereinen wurde also nach wenigen Jahren beendet, aber man hatte einiges erreicht. Mehrere persönliche Kontakte waren geknüpft oder intensiviert worden - nicht zuletzt muß in diesem Kontext auf den Einsatz von Prudenz van Duyse beim Kölner Dombau hingewiesen werden -Ga naar voetnoot44, eine Reihe Deutscher war auf die kulturelle Existenz Flanderns aufmerksam geworden, und die Flamen hatten eine tiefgehende Bekanntschaft mit dem deutschen Lied gemacht, eine Bekanntschaft, die tatsächlich ‘von Dauer’Ga naar voetnoot45 war. | |
1.1.1.3 August Heinrich Hoffmann von FallerslebenAuch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der zunächst Theologie und klassische Philologie studierte und der sich, ermuntert von Jacob Grimm, dem Studium des Gotischen, des Alt-, Mittel- und Neuhochdeutschen mit allen Mundarten des letzteren sowie des Altsächsischen, des Niederdeutschen und des Niederländischen zuwandte, hat durch sein Interesse für die niederländische Sprache und Literatur die Bekanntheit der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum gefördert. Ähnlich wie Uhland betrachtete Hoffmann von Fallersleben die niederländische Literatur als einen ‘Zweig des deutsch-germanischen Volks- und Geisteslebens’Ga naar voetnoot46. Dementsprechend richtete sich sein Interesse vor allem auf das, was in den Niederlanden deutsch war, mehr noch, gerade Hoffmann von Fallersleben kam einfach alles, was ‘undeutsch’ | |
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war, fremd vor.Ga naar voetnoot47 In diesem Sinne betrachtete er den flämischen Kampf für die eigene Sprache und das Bemühen ihrer Führer, sich mit der Literatur aus dem Mittelalter zu beschäftigen, als deutsch. Andererseits wußte er aber auch, wie Arndt die Suche der Flamen nach einer eigenen Identität, nach einem eigenen Nationalitätsgefühl zu würdigen. Nie hat er sich wie Herder oder August Wilhelm Schlegel zu mitleidigen Äußerungen oder Spott über die niederländische Kultur verleiten lassen.Ga naar voetnoot48 Seine Überzeugung von der zu erwartenden Herrschaft des Hochdeutschen hat allerdings auch dazu beigetragen - dies führt uns zu den niederländisch-flämisch-niederdeutschen Beziehungen, die beim Kulturaustausch zwischen den Niederlanden und Flandern auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite nicht nur im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt haben -, daß er sich, obwohl er in Niederdeutschland geboren wurde, viele niederdeutsche Texte herausgegeben hat und er sich auch als Niederdeutscher fühlte, nie der Bewegung angeschlossen hat, die sich für das Plattdeutsche als Kultursprache oder gar für eine niederdeutsche Sprache von Dünkirchen bis Königsberg einsetzte.Ga naar voetnoot49 Stattdessen hat er, wie bereits Johann Wilhelm Loebell vor ihm, in seiner Einleitung zum sechsten Teil seiner Horae Belgicae sogar vorgeschlagen, in Flandern das Hochdeutsche als Kultursprache einzuführen: ‘Das Flamändische ist eine niederdeutsche Sprache und vermittelt so gut wie das Plattdeutsche die Kenntniss und Erlernung des Hochdeutschen. Wollte das deutsche Belgien seine eigene Sprache und Litteratur aufgeben, so hätte auf das aufgegebene Gebiet die hochdeutsche Sprache einen natürlicheren und somit gerechteren Anspruch als jede nicht-deutsche (also auch die französische) Sprache, und wenn je einst der gebildetere Theil des deutschen Belgiens Hochdeutsch spräche und schriebe und einen verhältnissmäßigen Antheil am litterarischen Producieren im Deutschen nähme, so wäre dies kein größeres Wunder als dass seit dem 16. Jahrh. bis auf den heutigen Tag die Niederdeutschen im deutschen Norden (Niederrhein, Westphalen, Niedersachsen) und an den diesseitigen Küsten der Ostsee Hochdeutsch sprechen und schreiben, und zu der deutschen Litteratur ebenso geistig mitwirken als alle Bewohner jener Länder oberdeutscher Zunge, obschon in jenen Gegenden bis auf den heutigen Tag das Niederdeutsche Muttersprache geblieben ist.’Ga naar voetnoot50 | |
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Hoffmann von Fallersleben täuschte sich hier aber nicht nur bezüglich des ‘deutschen’ Charakters des jungen Belgien, sondern er unterschätzte auch das Selbstwertgefühl der Flamen, die sich zwar nach einer Zugehörigkeit zu einem größeren Sprach- und Kulturraum sehnten, dafür aber ihre eigene Sprach- und Kulturidentität nicht aufgeben wollten. Sogar bei J.F. Willems, der lange vom Gedanken der Einheit von ‘twee en half millioenen Belgen, drie millioenen Hollanders en zes of zeven millioenen Duitschers’Ga naar voetnoot51 fasziniert war, fand Hoffmann von Fallersleben kein Verständnis für seine Vorschläge. Willems hat sich nie dafür eingesetzt, daß die Flamen ihre Sprache aufgeben oder, wie es am Ende des Jahrhunderts im deutschen Sprachraum geschah, gar vorgeschlagen, daß sich Niederländer, Flamen und Niederdeutsche zu einer Nation zusammenfinden sollten. | |
1.1.1.4 Niederländisch - NiederdeutschWichtig im Zusammenhang mit den deutsch-niederländischen bzw. deutsch-flämischen Beziehungen von 1830-1880 bleibt, um noch einmal diesen wichtigen Aspekt zu betonen, die Feststellung, daß in dieser Periode das Gefühl, daß Flandern, die Niederlande und Deutschland zueinander gehörten, nicht nur auf deutscher Seite bestand. Es ist ein interessantes Phänomen, daß trotz der ablehnenden Haltung führender Persönlichkeiten der flämischen Bewegung und trotz der Tatsache, daß schon bald klar war, daß man sich nach Norden und nicht | |
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nach Osten orientieren wollte, die Anziehungskraft von Publikationen, die für eine Annäherung oder gar für die Zugehörigkeit des niederländischen zum niederdeutschen Sprachraum plädierten, in Flandern - vor allem bei ‘jeugdige geesten’Ga naar voetnoot52 - das ganze 19. Jahrhundert hindurch erhalten blieb. Dies galt besonders für La langue flamande, son passé et son avenir von Victor-Hubert Delecourt, eine Schrift, die 1844 unter dem Pseudonym H. Vandenhoven publiziert wurde und mit der Delecourt wie Willems versuchte, das Niederländische in einem größeren Rahmen zu sehen und somit den Status der Sprache aufzuwerten. In La langue flamande schlug Delecourt vor, die Rechtschreibung des Niederländischen der des Mittelniederländischen anzunähern, um so das Niederländische dem Niederdeutschen anzugleichen. So sollte eine uniforme Schriftsprache ‘depuis Dunkerque jusqu'à Koningsberg’ entstehen und würde, so hoffte Delecourt, das Niederländische in Flandern nicht nur die Sprache des einfachen Volkes bleiben, sondern auch als Literatursprache zur Geltung kommen. ‘A ces conditions, une littérature flamande est possible. Unie étroitement à la littérature allemande, elle se développerait sous son égide, sans cesser cependant d'être belge; et nous verrions nos productions nationales connues et appréciées non-seulement au-delà du Moerdyk, mais encore sur les bords de l'Elbe et de l'Oder.’Ga naar voetnoot53 Der in Mons geborene Wallone Delecourt, der in den Schulen Willems I. zur Zeit des Vereinigten Königreichs sehr früh mit dem Niederländischen in Kontakt gekommen war, war also der Meinung, daß die Flamen Konzessionen machen sollten. Soweit wollte man in Flandern, wie gesagt, jedoch nicht gehen. Der Blick blieb auf den Norden gerichtet.Ga naar voetnoot54 Parallel dazu blieb der Traum von einem großniederdeutschen Sprachraum aber erhalten. Er verlor erst dann endgültig an Faszination, als die Alldeutschen ‘door de compromitterende | |
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avances’Ga naar voetnoot55 von u.a. Hermann von Pfister-Schwaighusen, Fritz Bley und Harold Graevell den Prozeß der flämischen Identitätsfindung nicht mehr vorantrieben, sondern direkt bedrohten.Ga naar voetnoot56 So konnten am Ende Delecourts Gedanken mit Constant Jacob Hansen doch noch eine kleine Renaissance erleben. In den sechziger Jahren schlug der in Vlissingen geborene, aber in Antwerpen aufgewachsene Hansen dem flämischen Führer Johan Michel Dautzenberg (1808-1869) erneut vor, in seiner Zeitschrift De toekomst (1857-1898) - wie schon der Kölner Germanist J.W. Wolf in De Broederhand (1845-1847) - die Delecourtsche Orthographie zu verwenden: ‘Ik heb de “Broederhand” voor my liggen. Als ik dat boek doorblader, dan gevoel ik de gansche uitgestrektheid des verliezes welk wy door vdhoves dood geleden hebben... Später entwickelte Hansen in seinen Reisbrieven uit Dietschland en Denemark, die 1860 in Gent erschienen, in Anlehnung an die Vorschläge von Delecourt eine eigene ‘aldietsche’ Rechtschreibung und transkribierte verschiedene Gedichte aus Klaus Groths Quickborn aus dem Niederdeutschen ins ‘Aldietsche’, in der Hoffnung, mit dieser Transkription ein größeres Publikum zu erreichen und den Dichter, der die niederdeutsche Literatur wieder zum Leben erweckt hatte, davon zu überzeugen, in Zukunft auch sein Werk in ‘aldietscher’ Rechtschreibung zu verfassen.Ga naar voetnoot58 Wirklich gefruchtet hat auch dieser Einsatz nicht. Einerseits hat Klaus Groth nie wirkliche Zugeständnisse an die Bewegung gemacht - er hatte ‘blijkbaar niets van een Vlaams-Nederduitse toenadering verwacht, | |
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behalve de mogelijkheid tot verspreiding van zijn eigen literair werk’Ga naar voetnoot59 -, und andererseits blieb Hansen in Flandern immer ein Einzelgänger. Obwohl er noch 1864 seine Studie Dietsche Letterkunde publizierte, für die er auf eigenen Antrag 1868 von der Universität Rostock das Ehrendoktorat erhielt, Jozef Albert Alberdingk Thijm (1820-1889) seine Reisbrieven gepriesen hat und sogar Matthijs de Vries (1820-1892), der 1851 jeden Gedanken an ein großniederdeutsches Wörterbuch weit von sich gewiesen hatte, 1865 auf dem Kongress in Rotterdam ein Plädoyer hielt ‘voor een betere kennis van de Platduitse dialecten’Ga naar voetnoot60: die ‘aldietsche’ Bewegung paßte nicht mehr zu den kulturpolitischen Bestrebungen, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts definitiv auf die Niederlande richteten. | |
1.2 Niederländische Literatur im deutschen Sprachraum im 19. Jahrhundert1.2.1 Vom historischen Roman zur Dorfnovelle und zum sozialen RealismusDurch die Arbeiten deutscher Gelehrter, durch die Brücke, die vom Lied zwischen Schelde und Rhein geschlagen wurde, und durch die flämisch-niederländisch-(nieder)deutschen Kontakte wurde die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum zunehmend bekannter. Dabei war es einerseits unbestritten so, daß deutsche Germanisten niederländische Literatur nur dann behandelten, wenn es, wie Ulrike Kloos in ihrer Dissertation überzeugend dargelegt hat, ‘um “deutsche Fragen”, um eine erneute Bestimmung “deutschen Wesens”’Ga naar voetnoot61 ging. Die niederländische und flämische Kultur wurden nur allzu gerne in ‘romantischer Rück- | |
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schau’Ga naar voetnoot62 für das deutsche Staats- und Kulturgebiet reklamiert. Andererseits darf man nicht übersehen, daß parallel zu dieser Entwicklung die wachsende Distanz zwischen Deutschland und den Niederlanden und Flandern auf Grund des zunehmenden kulturellen Selbstbewußtseins von Flamen und Niederländern und der Tatsache, daß auch die deutsche Seite an erster Stelle mit der eigenen Identitätsfindung in einem sich schnell ändernden politischen Umfeld beschäftigt war, verhinderte, daß das Gefühl der Stamm- und Sprachverwandtschaft zu einer Annexion der niederländischen Sprache und des niederländischen und flämischen Kulturgutes im deutschen Sprachraum führte.Ga naar voetnoot63 Hiermit war eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen, daß der Erfolg der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum im 19. Jahrhundert, anders als von U. Kloos suggeriert, nicht von pangermanistischer Ideologie, sondern von den Gesetzen des damaligen Buchmarktes bestimmt werden konnte. Natürlich, die direkten Kontakte zwischen den Niederlanden und Flandern auf der einen und (Nieder-)Deutschland auf der anderen Seite haben die Übersetzung der niederländischen Literatur ins Deutsche und deren Rezeption im deutschen Sprachraum gefördert. Man denke in diesem Zusammenhang nur an die Entdeckung Consciences im deutschen Sprachraum, an Werke wie Knospen und Blumen (1842), einen Lieder- und Gedichtband von P. Blommaert und Von Vogt, der das Resultat der engen flämisch-niederdeutschen Beziehungen war, ferner an den Deutsch-Vlämischen Sängerbund, dessen Existenz und Wirken zu Sammlungen wie Das deutsche Lied - Het Vlaamsche lied (1847) von J.M. Dautzenberg führte, und schließlich an die Kontakte nach Flandern von bedeutenden Übersetzern wie Johann Wilhelm Wolf, der das Werk von Hendrik Conscience, Anna Louisa Geertruida Bosboom-Toussaint (1812-1886), Jan Frederik Oltmans (1806-1854) und vielleicht auch das von Pieter Frans van Kerckhoven (1818-1857) nach Deutschland vermittelt hat.Ga naar voetnoot64 Erwäh- | |
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nenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Übersetzung von Het grote Dietsche vaderland (1857) des Literaten und Polemikers Jan Karel Nolet de Brauwere van Steelandt (1815-1888), die trotz des bezeichnenden Titels als kritische Reaktion auf die weit verbreitete pangermanistische Perspektive auf die Niederlande und Flandern zu betrachten ist. Rechten Schwung bekam das Übersetzen aus dem Niederländischen im vorigen Jahrhundert aber erst dadurch, daß in der Anfangsphase der hier untersuchten Periode auf dem deutschsprachigen Buchmarkt ein sehr großer Bedarf an historischen (Ritter- und Schauer-) Romanen bestand, den man offensichtlich auch mit Übersetzungen aus dem Niederländischen zu decken versuchte. Kontinuität erhielt diese Entwicklung, als sich der eben genannte Bedarf später auch bezüglich der Dorfromane und Sittengemälde fortsetzte.Ga naar voetnoot65 Es war also nicht unmittelbar die wachsende Anerkennung für die niederländische Literatur als solche, die ihren Erfolg im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum sicherte. Im Gegenteil, wie U. Kloos ebenfalls richtig betont hat, hatte in der deutschen Germanistik bezüglich der niederländischen Literatur vor allem der Begriff ‘nieder’ ‘Signalwirkung’Ga naar voetnoot66. Die wachsende Nachfrage führte dazu, daß Jacob van Lennep (1802-1868), Jan Frederik Oltmans, Jan de Vries (1819-1885), Pieter Frans van Kerckhoven, Anna Louisa Geertruida Bosboom-Toussaint, Jan de Liefde (1814-1869), August Snieders (1825-1904) und natürlich Hendrik Conscience im deutschen Sprachraum bekannt wurden, bevor sie von Spezialisten wie Ferdinand van Hellwald und Lina Schneider gegen Ende der Periode 1830-1880 ‘entdeckt’ wurden.Ga naar voetnoot67 Das Übersetzen aus dem Niederländischen wurde so recht bald zu einer Selbstverständlichkeit. In den vierziger Jahren wurde bei einigen | |
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Autoren sogar Vollständigkeit angestrebt. Nicht nur das gesammelte Werk von J.F. Oltmans wurde unter seinem Pseudonym J. van den Hage in einer Übersetzung von Oskar Ludwig Bernhard Wolff herausgegeben; der Verlag Mayer in Aachen brachte damals unter dem Titel Holland's romantische Geschichte auch die Werke von J. van Lennep auf den Markt, und bald erschienen auch die ersten Teile des gesammelten Werkes von H. Conscience in deutscher Übersetzung.
Abb. 1 Niederländische Literatur im deutschen Sprachraum 1830-1880
Letzterer bestimmte, wie man Abbildung 1 entnehmen kann, das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum, und er war es auch, der, nachdem er zunächst mit historischen Romanen Erfolg gehabt hatte, mit seinen Dorfgeschichten und Sittengemälden für die niederländische Literatur im deutschen Sprachraum den Übergang zum Realismus einleitete.Ga naar voetnoot68 Nach 185O erschienen zwar noch einige historische Romane, im wesentlichen von Hendrikus Adriaan Banning (1818-1909), Pieter Frans van Kerckhoven, Jan Frederik Oltmans, Anna Louise Bos- | |
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boom-Toussaint und dem, wie Lina Schneider ihn nennt, ‘fruchtbaren’Ga naar voetnoot69 Jan de Vries, aber im Grunde genommen verlor der niederländische historische Roman ab Mitte des 19. Jahrhunderts, abgesehen von einer kurzen Renaissance im Rahmen des breiteren Interesses für sogenannte Professorenromane in den siebziger Jahren, kontinuierlich an Terrain. Weitere wichtige niederländischsprachige Autoren von realistischen Erzählungen aus Flandern waren neben Hendrik Conscience Jan Reinier Snieders (1812-1888), der eher konservative Erzählungen über das Leben kempischer Bauern verfaßte, und sein Bruder August Snieders, der von dem Conscience-Übersetzer Carl Arenz im deutschen Sprachraum mit Bilder aus dem Leben (1852/1853, ndl. Beelden uit ons leven, 1851) introduziert wurde. Anderen in diesem Zeitabschnitt erschienenen Übersetzungen realistischer Romane und Erzählungen flämischer Autoren sind im Vergleich zu den oben genannten, mit Ausnahme von der Erzählung Eine merkwürdige Bettlerin (1855, ndl. Eene zonderlinge bedelares, 1851) von Eugeen Zetternam (1826-1855), kaum noch Bedeutung beizumessen. Dies gilt sowohl für den übersetzten Sittenroman von Désiré Delcroix (1823-1887), einem Autor, der eher als Führer der flämischen Bewegung und als Theaterautor von Bedeutung ist, als auch für das Werk von Joanna Desideria Courtmans-Berchmans (1811-1890), deren Geschenk des Jägers (ndl. Het geschenk van den jager, 1864) 1866 übertragen wurde. Wichtiger als diese Übersetzungen wäre da schon eine Übersetzung des Kleinstadtromans Tybaerts en Cie (1867, ‘Tybaerts und Co’) oder der Dorfgeschichte De plannen van Peerjan (1868, ‘Die Pläne von Peerjan’) vom Antwerpener Domien Sleeckx (1818-1901) gewesen, mit denen der realistische Roman in Flandern ‘endgültig’Ga naar voetnoot70 Fuß gefaßt hatte.Ga naar voetnoot71 Einer der ersten niederländischsprachigen Autoren von Dorfgeschichten, der im deutschen Sprachraum neben Hendrik Conscience bekannt wurde, war der Niederländer Cornelis van Schaick (1808-1874). Großen | |
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Erfolg hatte dieser Autor aber nicht. Es blieb bei dem Erzählband Niederländische Dorfgeschichten (1850, ndl. Taferelen uit het Drentsche dorpsleven, 1848). Ein besseres Schicksal widerfuhr Jacobus Jan Cremer (1827-1880). Cremer debütierte zwar auch mit einem historischen Roman, wandte sich aber bald dem Leben der Landbevölkerung zu und verfaßte zum Teil im Dialekt seiner Heimat die ersten Dorfnovellen in den Niederlanden. Bezeichnend für Cremer waren der krasse Realismus und das soziale Engagement, die nicht nur aus Fabriekskinderen (1863, ‘Fabrikkinder’) sprachen - ein Buch, das zum Verbot der Kinderarbeit in den Niederlanden beigetragen hat -, sondern auch Werke wie Von der Bretterwelt (1882, ndl. Toneelspelers, 1866) bestimmten. Cremers sozial engagierter Realismus, bei dem sich der Einfluß von Charles Dickens bemerkbar macht, fand, obwohl damals auch in den Niederlanden nicht gerade neu - vor allem durch die Anziehungskraft, die Cremer als Vortragender besaß -,Ga naar voetnoot72 viele Nachfolger, u.a. in seinem Freund Gerard Keller (1829-1899), von dessen Werk ebenfalls drei Titel von A. Glaser in deutscher Sprache nacherzählt wurden.Ga naar voetnoot73 Obwohl der Erfolg von J.J. | |
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Cremer nicht mit dem von Conscience verglichen werden kann, avancierte dieser Niederländer im Deutschland des 19. Jahrhunderts als einer der wenigen niederländischsprachigen Autoren zu einem bekannten und geschätzten Schriftsteller.Ga naar voetnoot74 Die Tatsache, daß die Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum in der Periode 1830-1880 vor allem von der Nachfrage nach Unterhaltungsliteratur bestimmt war, hatte unmittelbare Konsequenzen für die Übersetzung der Werke von bedeutenden niederländischsprachigen Autoren wie den Redakteuren der Zeitschrift De Gids (1837-), die die Entwicklungen in der niederländischen Literatur von 1837 bis 1885 wesentlich bestimmten.Ga naar voetnoot75 Weder von Everhardus Potgieter (1808-1875) noch von Reinier Cornelis Bakhuizen van den Brink (1810-1865) erschien eine selbständige Publikation in deutscher Sprache. Lediglich Conrad Busken-Huets (1826-1886) Lideweide (1874, ndl. Lidewijde, 1868) und das Werk des Amsterdamer Arztes und De Gids-Mitarbeiters Jan Pieter Heije (1809-1876) - bei letzterem betraf es bezeichnenderweise Märchen und Kindererzählungen - fanden einen Verleger. Wenig Interesse brachte man auch den Vertretern der niederländischen Réveil-Bewegung entgegen, die als Gegner des Rationalismus, der Aufklärung und des Zeitgeistes, der den Fortschritt, die Freiheit und die Gleichheit verkündete, den Atheismus bekämpften und in ihrer Literatur die deutsche romantische Schule ins Niederländisch-Protestantische übertrugen. 1840 erschien zwar eine Übersetzung von Hermingard van de Eikenterpen (1832, dt. Hermingard von Eikenterpen) vom frühen Réveil-Vertreter Aernout Drost (1810-1834), dessen historisches Interesse von seiner Liebe für das protestantische Christentum geprägt war, aber es gibt keinerlei Hinweise darauf, daß der Grund für diese Übersetzung in dem Versuch des Autors zu suchen ist, seine Leser mit den Prinzipien des Christentums zu konfrontieren und die Existenz eines himmlischen Vaterlandes vor Augen zu führen. Auch im Falle von Drost hat wohl die Tatsache, daß es einen historischen Roman von einem Autor betraf, der, wie L. Schneider hervorgehoben hat, ‘ganz im Banne’Ga naar voetnoot76 des Engländers Scott stand, zur Übersetzung geführt. Ähnlich verhielt es sich bei den Übersetzungen von einer der niederländischen Meisterinnen der Charakterzeichnung, A.L.G. Bosboom-Toussaint, der L. Schneider in ihrer Literaturgeschichte ein ‘grosses, schönes, ernstes Talent’Ga naar voetnoot77 bescheinigte.Ga naar voetnoot78 Obwohl gerade Bosboom- | |
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Toussaint z.B. im Haus Lauernesse (1847, ndl. Het huis Lauernesse, 1840) die Geschichte als eine Art Heilsgeschichte präsentierte, konnten auch in den Beiträgen zu ihrem Werk keine Hinweise darauf gefunden werden, daß ihr Durchbruch im deutschen Sprachraum anders als mit dem allgemeinen Interesse für historische Romane begründet werden müßte.Ga naar voetnoot79 Es hat im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum zwar ein grundsätzliches Interesse für eine christlich orientierte Literatur gegeben - die Reihen, in denen das Werk von Jan de Liefde, Hendrik Conscience, Herman Jacques Constant van Nouhuys (1821-1853), Hendricus Adriaan Banning, August Snieders und Eugeen Zetternam erschienen sind, belegen dies -, aber die Unterhaltung blieb erste Priorität. So erklärt sich, daß, obwohl die niederländische Réveil-Bewegung durchaus Ähnlichkeiten mit der Erweckungsbewegung in Deutschland aufwies und obwohl die deutsche Erweckungsbewegung keinen ‘Dichter großen Stils hatte, der das Epos des Christentums sang wie da Costa’Ga naar voetnoot80, von den typischen Réveil-Autoren Isaac da Costa (1798-1860) und Willem de Clercq (1795-1844) sowie von den wichtigsten Vertretern der katholischen Emanzipationsbewegung, der Gegenbewegung zum Réveil, wie Joachim Le Sage ten Broek (1775-1847) und Cornelis Broere (1803-1860) mit Ausnahme von einigen theoretischen Werken keine selbständige Publikation in deutscher Sprache vorliegtGa naar voetnoot81. Das Thema des Réveils kam in den | |
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deutschen Beiträgen zur niederländischen Literatur erst Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts auf.Ga naar voetnoot82 Vielleicht erklärt dies auch, um hiermit diese allgemeine Übersicht über die Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum in der Periode 1830-1880 abzuschließen und zur exemplarischen Analyse der Rezeption von Hendrik Conscience überzugehen, das geringe Interesse im deutschen Sprachraum für Die Familie Kegge (1875, ndl. Camera obscura, 1839), das für die Entwicklung der niederländischen Literatur so bedeutsame humoristisch-realistische Prosawerk des Réveil-Autors Nicolaas Beets (1814-1903), das erst 1875 - und mit relativ wenig Erfolg - übersetzt wurde, obwohl in den Niederlanden bis 1871 schon sieben Auflagen erschienen waren. | |
1.2.2 Hendrik ConscienceSo wie J.F. Willems der Vater der flämischen Bewegung ist, so ist Hendrik Conscience der Vater der modernen niederländischen Literatur in Flandern und, wenn man seine Übersetzungen ins Deutsche in Betracht zieht, der Vater der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum. Neben den sich intensivierenden deutsch-flämischen bzw. deutsch-niederländischen Kontakten und der großen Nachfrage nach Unterhaltungsliteratur vom historischen und realistischen Genre war der überragende Erfolg von Conscience im deutschen Sprachraum die dritte Säule, die die spätere Zukunft der modernen niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum gesichert hat. Das, was Felix Timmermans (1886-1947) für das zwanzigste Jahrhundert war, war Conscience für das neunzehnte. Das Werk von Conscience war ein typisches Produkt seiner Zeit. Im Zeichen des aufkommenden Nationalismus wollte Conscience mit seinen Romanen einen Beitrag zur Erweckung und Stärkung des flämischen Nationalbewußtseins liefern.Ga naar voetnoot83 Dabei hatte der flämische Autor mehr als | |
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etwa die Autoren aus den Niederlanden ein ‘verstard literair geslacht’Ga naar voetnoot84 zu überwinden. Das flämische Nationalbewußtsein war nicht wie im Norden des niederländischen Sprachraums eingeschlafen, sondern erst im Entstehen begriffen. Nicht anders verhielt es sich mit der niederländischen Literatur in Flandern. Dies alles hat Conscience, der einem französischen Milieu, ‘den untersten Schichten’Ga naar voetnoot85 und literarisch der ‘Sphäre der [französischen, HVU] Blaubücher und des Puppenspiels’Ga naar voetnoot86 entstammte, sich also auch von sich selbst emanzipieren mußte, nicht davon abgehalten, gleich mit seinem ersten Werk Das Wunderjahr (1846, ndl. In 't wonderjaer (1566), 1837) die moderne (französische) Form des Erzählens, den Roman, in Flandern einzuführen. Zugleich blieb er allerdings, das war wohl auch sein Erfolgsrezept, immer ein Volksdichter. Er wollte keine Romane schreiben wie die Franzosen ‘[...] waerin Godsdienst en eer aen een' staek gebonden, en door de vrye ondeugd gebrandmerkt worden: waerin moord en egtbraek verschooning vinden. Neen zoo niet [...]’Ga naar voetnoot87,sondern reine Gefühle in seinem Werk verewigen. Conscience gab seiner Literatur bewußt einen ‘roosverwigen’Ga naar voetnoot88, idyllischen Charakter. Nie, auch nicht in seinen Dorfnovellen, wurde er zum Problemdichter, zum sozial engagierten Realisten, zum Naturalisten! Nicht daß Conscience die dunklen Seiten des Menschen nicht beschrieben hat. Im Gegenteil, sowohl Geiz als auch Trunksucht, Armut und die Dekadenz der jungen Reichen | |
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kamen zur Sprache, aber es blieb bei idyllischen Erzählungen.Ga naar voetnoot89 Conscience zeigte, daß er die Realität kannte, strebte aber nicht nach Veränderung, sondern nach Ruhe: Stabilität, Frieden, Toleranz, Status quo.Ga naar voetnoot90 Die Lösungen, die Conscience in seinem Werk anbot, waren diejenigen, die er für sein eigenes Leben entdeckt hatte: Überwindung der Probleme durch verantwortlichen Gebrauch der Freiheit, Distanzierung von gefährlichen Leidenschaften, Arbeit und Talent. Dies alles verlieh dem Werk Consciences weniger einen sozialkritischen als einen didaktischen Zug, was aber seinem Erfolg im niederländischen und im deutschen Sprachraum nicht im Wege gestanden hat.Ga naar voetnoot91 Consciences Erfolg im deutschen Sprachraum war die Basis für seine Verbreitung in ganz Europa, denn die deutschen Übersetzungen wurden vielfach als Vorlage für Übersetzungen in andere Sprachen benutzt.Ga naar voetnoot92 Fast das gesamte Werk Consciences wurde ins Deutsche übertragen. Neben dem Wunderjahr erschienen im deutschen Sprachraum weitere historische Romane wie Der Löwe von Flandern (1846, ndl. De leeuw van Vlaenderen, 1838), Geschichte de Grafen Hugo von Craenhove und seines Freundes Abulfaragus (1846, ndl. De geschiedenis van graef Hugo van Craenhove en van zijnen vriend Abulfaragus, 1845), Der Bauernkrieg (1853, ndl. De boerenkrijg (1798), 1853) und Der Bürgermeister von Lüttich (1867, ndl. De burgemeester van Luik, 1866) sowie Sittenromane | |
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wie Siska van Roosemael (in Familien-Bilder, 1846, ndl. Siska van Roosemael, 1844), Der Geizhals (1853, ndl. De gierigaerd, 1852), Die Dorf-Plage (1855, ndl. De plaeg der dorpen, 1855), Der Geldteufel (1857, ndl. De geldduivel, 1856) und Dorfgeschichten wie Baes Gansendonck (1850, ndl. Baes Gansendonck, 1850), Die hölzerne Clara (1851, ndl. Houten Clara, 1850), Der Rekrut (1850, ndl. De loteling, 185O) und Der arme Edelmann (1853, ndl. De arme edelman, 1851).Ga naar voetnoot93 Einige dieser Bücher kamen in der Periode 1830-1880 über zehnmal in verschiedenen Auflagen oder Ausführungen auf den Markt. In Flandern hat man wiederholt voller Stolz auf diesen Erfolg hingewiesen, nicht erst nach Consciences Tod, sondern bereits zu seinen Lebzeiten.Ga naar voetnoot94 Mit der unbestreitbaren Beliebtheit Consciences im Ausland - auch in England und Frankreich war er erfolgreich - konnte viel Kritik wettgemacht werden, die bezüglich der mangelnden Niederländischkenntnisse - man hat sogar gesagt, daß man, um den wirklichen literarischen Wert Consciences kennenzulernen, besser eine französische Übersetzung lesen sollte -,Ga naar voetnoot95 der schwachen Struktur und des idealistischen, sentimentalen und einfachen Charakters seines Werkes immer wieder geäußert wurde. Sie hat aber nicht verhindern können, daß die Popularität, die der flämische Autor zu Lebzeiten genoß, für die jüngere Generation schon bald nur noch eine Legende war. Nicht zuletzt deshalb blieb eine tiefgehende Analyse der Conscience-Rezeption im Ausland, wenn auch seit | |
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kurzem einige Teilanalysen vorliegen, die diese Studie um den Aspekt des deutschen Sprachraums ergänzt, lange ein Desiderat.Ga naar voetnoot96 Bei der Bekanntheit, die Conscience bis vor einigen Jahrzehnten auch noch im deutschen Sprachraum genoß - bis 1921, als er von Timmermans abgelöst wurde, stand er auf der Liste der am meisten aus dem Niederländischen übersetzten Autoren an erster Stelle -, fällt zunächst auf, wie wenig über ihn geschrieben wurde. Die Internationale Bibliographie der deutschen Zeitschriftenliteratur führt bis 1880 nur zwei Aufsätze auf, die sich mit Conscience befassen. Erst als die Beiträge hinzugezogen wurden, in denen Conscience im Rahmen einer breiteren Analyse zur Sprache kommt, und nachdem in Zeitschriften wie in der Gegenwart, den Grenzboten, den Blättern für literarische Unterhaltung und im Nordischen Telegraphen eine Reihe von Rezensionen und Beiträge über Conscience und sein Werk gefunden wurden, gab es ausreichend Rezeptionsbelege für eine exemplarische Analyse. Die vorliegenden Beiträge zeigen erwartungsgemäß deutlich, daß bei der Entdeckung der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern, insbesondere des Werkes von Conscience, das deutsche Interesse für die Entwicklungen in Belgien und das Aufkommen der flämischen Bewegung eine sehr große Rolle gespielt haben. Nicht zufällig waren es Leute wie der sprachgewandte, 1822 in Stuttgart geborene Edmund [von] Zoller, der seine Conscience-Übersetzungen zum Teil in der Hallbergerschen Verlagsbuchhandlung (später Deutsche Verlagsanstalt) seines Vetters publizierte und der als Herausgeber und Mitarbeiter bei verschiedenen (literarischen) illustrierten Zeitschriften Beiträge über Flandern und die flämische Sache verfaßte, die sich Conscience zuwandten.Ga naar voetnoot97 Auch in dem 1844 in der großen und repräsentativen, liberal nationalen Augsburger Allgemeinen Zeitung erschienenen Aufsatz von F.A. Snellaert, der am Anfang der kritischen Rezeption Consciences im deutschen Sprachraum stand, war die flämische Bewegung im Mittelpunkt. Snellaert präsentierte in seinem Beitrag zur flämischen Literatur und zu ihren Schriftstellern zunächst nicht Conscience, sondern J.F. Willems | |
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als einen Philologen von ‘europäischem Ruf [und] ächtgermanischer Gestalt’Ga naar voetnoot98, um erst dann darzulegen, daß es, obwohl Willems im allgemeinen als ‘Leiter der flämischen Bewegung’Ga naar voetnoot99 gelte, neben dem Vater dieser Bewegung noch Leute gebe, ‘besonder hinsichtlich der jüngeren Litteraten’Ga naar voetnoot100, die so manches in die Wege leiteten, ohne daß Willems davon Kenntnis erhalte. Als Beispiele dafür nannte er den Priester und Historiker Jan Baptist David, den Philologen Jan Hendrik Bormans und dann erst den Schriftsteller Hendrik Conscience, den er zuerst in die flämische Bewegung einreihte, bevor er zu seiner Rolle als Schriftsteller überging und feststellte, daß er sich mit dem Löwen von Flandern ‘die Krone aufs Haupt setzte’Ga naar voetnoot101. Beim Lesen der danach folgenden Zeilen über Consciences Skizzen aus dem alltäglichen Leben, die Snellaert ‘meisterhaft’Ga naar voetnoot102 nannte und über die er notierte, daß sie nicht ‘ausverkauft’Ga naar voetnoot103, sondern ‘ausgefochten’Ga naar voetnoot104 würden, um hinterher hinzuzufügen, daß ‘ein unerklärbarer Zauber’Ga naar voetnoot105 an Consciences Feder hänge, versteht man, daß Melchior von Diepenbrock, der wie sein Bruder Konrad Joseph von Diepenbrock zunächst Offizier war, sich aber dann der Theologie zuwandte und 1823 zum Priester geweiht wurde, nach Lektüre dieses Beitrages motiviert war, sich mit Was eine Mutter leiden kann (ndl. Wat eene moeder lijden kan, 1844), Wie man Maler wird (ndl. Hoe men schilder wordt, 1843) und Siska von Rosemael zu befassen und sie unter dem Titel Flämisches Stilleben in drei kleinen Erzählungen (1845) herauszugeben.Ga naar voetnoot106 Der Erfolg von von Diepenbrocks Bändchen schien vorprogrammiert. Bereits 1846 berichtete J.W. Wolf in seinem Vorwort zum ersten Band Ausgewählte Werke (1846) von Conscience bei Marcus in Bonn, daß über 14.000 Exemplare der Übersetzung von Diepenbrocks, wobei übrigens der Erlös den Armen zugekommen sein soll, verkauft werden konnten.Ga naar voetnoot107 Aber die Begeisterung für Conscience entsprach überhaupt nicht dem Bild in der Kritik! | |
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Uneingeschränkt positive Kritik zum Werk Consciences gab es kaum.Ga naar voetnoot108 Zu schätzen wußte man neben den ‘decorativen Schilderungen’Ga naar voetnoot109, der ‘Detailmalerei’Ga naar voetnoot110 und der ‘Darstellung von Kämpfen und bewegten Scenen’Ga naar voetnoot111 zwar die wahren Leidenschaften - ‘es sind wirkliche Menschen, die wir [...] kennenlernen’Ga naar voetnoot112 -, die ‘unverwüstliche [...] Naivetät [sic]’Ga naar voetnoot113, die Naturbilder, die als ‘gradezu unübertroffen’Ga naar voetnoot114 erfahren wurden, ‘die Tiefe und Innigkeit seines Gefühls’Ga naar voetnoot115, die ‘strenggläubige, echtkatholische Gesinnung’Ga naar voetnoot116 und den volkstümlichen Charakter der Werke Consciences.Ga naar voetnoot117 Zur gleichen Zeit bemängelte man aber die Anspruchslosigkeit der Novellen, die Tatsache, daß der Dichter den ‘tiefern Verwicklungen, zu denen [...] die Keime in den Charakteren schlummern, aus dem Wege gegangen’Ga naar voetnoot118 sei, den ‘harmlosen Zu- | |
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schnitt’Ga naar voetnoot119 des Humors, die übertriebene Religiosität, die madonnenhaften ‘morgentauartigen’Ga naar voetnoot120 Frauen, die ‘schäfermäßigen’Ga naar voetnoot121 Liebesgeschichten und das ‘Gräßliche in realistischer [grausamer, gruseliger, HVU] Darstellung’Ga naar voetnoot122. Ferner war man der Meinung, daß Conscience zu ‘großen geschichtlichen Überblicken [...] die Klarheit eines allgemein überschauenden Geistes’Ga naar voetnoot123 fehle, und hob man hervor, daß sein Werk ‘trotz des gepriesenen Namens seines Verfassers’Ga naar voetnoot124 keine Übersetzung verdiene. Äußerst kritisch wurde es, wenn das Werk Consciences mit deutscher Literatur verglichen wurde. Was bereits 1845 von Johann Firmenich (oder J.W. Wolf?) befürchtet worden war, trat ein: Conscience hielt weder einem Vergleich mit Berthold Auerbach noch einem mit Gustav Freytag, Joseph Victor von Scheffel, Felix Dahn oder Fritz Reuter stand.Ga naar voetnoot125 Daß Conscience trotz dieser Kritik im vergangenen Jahrhundert zum erfolgreichsten niederländischsprachigen Schriftsteller aufsteigen konnte, ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Natürlich an erster Stelle auf das unbestreitbare Interesse vieler deutschsprachiger Leser für die Entwicklungen in Belgien, die Emanzipation Flanderns und die flämische | |
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Bewegung. Vor allem am Anfang war dies, wie gesagt, für die Rezeption Consciences maßgebend. Das Interesse für Flandern hat aber den Erfolg Consciences im deutschen Sprachraum nicht auf Dauer bestimmt. Dies belegt nicht nur die Tatsache, daß der Zweifel am ‘echtgermaansch karakter van Vlaamland’Ga naar voetnoot126 im Laufe der Jahre rasch zunahm und daß wegen der Orientierung Flanderns auf die Niederlande die Distanz zwischen Flandern und dem deutschen Sprachraum immer größer wurde, sondern zeigen konkret auch die Beziehungen Consciences zu seinen wichtigsten Übersetzern.Ga naar voetnoot127 Bei einer Vielzahl Übersetzungen Consciences wurde der Übersetzer nicht genannt und von einer ganzen Reihe Conscience-Übersetzer ist so gut wie nichts bekannt. So weiß man über einen Übersetzer wie Rudolph Müldener nur, daß er sich in Belgien aufgehalten hat, oder kann man der Bibliographie der sekundären Literatur im Teil II der vorliegenden Studie lediglich entnehmen, daß er für verschiedene deutsche literarische Zeitschriften und Zeitungen geschrieben hat. Über Leute wie Heinrich Bauer, der seine theologische Ausbildung abbrach, um Soldat zu werden, und den reisenden Roman- und Kriegsschriftsteller und Journalisten Hans Wachenhusen können außerdem nur Vermutungen angestellt werden, daß sie mit Personen identisch sind, die als Übersetzer in einigen Werken Consciences genannt werden.Ga naar voetnoot128 Aber die Beziehungen von Conscience zu anderen Übersetzern zeigen eindeutig, wie vergänglich das deutsche Interesse für die flämische Bewegung als Motiv für die Übersetzung Consciences war. Schon die erste Übersetzung Consciences - eine anonyme Übersetzung von Was eine Mutter leiden kann -Ga naar voetnoot129 erschien 1842 in den | |
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‘Blättern für Deutschland und Belgien’, den Grenzboten, ohne daß dieses Interesse für die niederländische Literatur in Flandern und für ‘die größte literarische Berühmtheit der Flamänder’Ga naar voetnoot130 kontinuiert wurde.Ga naar voetnoot131 Vergleichbar kurzfristig war auch das Engagement von Karl Andree. Der liberale Andree befürwortete als Nationalist eine auswärtige Politik, die die nationale Einigung fördern sollte.Ga naar voetnoot132 Nicht zuletzt deshalb hatte er großes Interesse an der flämischen Bewegung, die seiner Meinung nach geeignet schien, die Position der Deutschen im Ausland zu stärken.Ga naar voetnoot133 Wie er selbst 1844 an seinen Kollegen Johan Alfried de Laet (1815-1891) schrieb, lernte er ‘binnen drei Wochen so gut vlaemsch’Ga naar voetnoot134, daß er es ‘wie hochdeutsch’Ga naar voetnoot135 las. Er reiste nach Belgien, um die Problematik dort zu studieren, knüpfte Kontakte mit Conscience, De Laet und anderen Führern der flämischen Bewegung und empfand es als ‘Genugthuung’Ga naar voetnoot136, im deutschen Sprachraum der erste gewesen zu sein, der ‘die flamändischen Bestrebungen in unserer Presse unterstützte’Ga naar voetnoot137. Daß dies auch die Literatur betraf, zeigt die Ankündigung der Grenzboten | |
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aus dem Jahr 1842, in der mitgeteilt wurde, daß Der Löwe von Flandern ‘so eben’Ga naar voetnoot138 von Dr. Karl Andree ins Deutsche übersetzt worden war und ‘in wenigen Tagen’Ga naar voetnoot139 in Leipzig die Presse verlassen würde. Diese Übersetzung ist aber nie erschienen. Andree schrieb zwar noch 1844, also zwei Jahre nach der Ankündigung in den Grenzboten, an J.A. de Laet: ‘Ich übersende später Ihres trefflichen Conscience “Löwen von Flandern”, wovon zwei Bände handschriftlich in Leipzig liegen, während der Buchhändler auf den dritten harrt, zu dessen Übertragung ich noch keine Zeit gefunden...’Ga naar voetnoot140 Aber vergebens drängte Conscience auf die Fertigstellung: ‘Gy, Mynheer, hebt eertyds myn werk uwer aendacht genoeg weerdig geacht om er een gedeelte van over te zetten; doch uwe werkzaemheden hebben u dien vriendschappelyken arbeid doen staken. Onnoodig zal het zyn U te zeggen hoe zeer my dit bedroeft, daer uwe byzondere kennis onzer moedertael my eene zoo schoone vertaling beloofde! Dan, nu koom ik U bidden (indien het u toch niet mogelyk is den Leeuw van Vlaenderen geheel over te zetten) het afgemaekte deel aen den hr Buschmann wel te willen afstaen.’Ga naar voetnoot141 Über den Grund, warum Andree seine Übersetzung nie abgeschlossen hat, können teilweise nur Vermutungen angestellt werden. Es ist aber anzunehmen, daß erstens eine Rolle gespielt hat, daß die Weltersche Buchhandlung in Köln, die in Brusse] eine Übersetzung des Löwen von Flandern in Auftrag gegeben hatte, inzwischen mit Consciences Verleger einen Vertrag geschlossen hatte, daß Original und Übersetzung ab sofort zur gleichen Zeit erscheinen sollten, immer noch vorhatte, den Löwen von Flandern zu verlegen.Ga naar voetnoot142 Von Bedeutung war zweitens wahrscheinlich auch, daß der Aschendorff-Verlag in Münster unter Leitung von Eduard Hüffer, der selbst mit der Übersetzung der Geschichte des Grafen Hugo von Craenhove und seines Freundes Abulfaragus angefangen hatte und der beim Lyriker, Kenner der altdeutschen Literatur und Archivar in Wertheim Alexander Kaufmann die Übersetzung vom Wunderjahr in Auftrag gegeben hatte, trotz des Vertrages mit de Welterschen Buchhand- | |
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lung eine große Sammlung ausgewählter Schriften von Conscience plante.Ga naar voetnoot143 Aber den Durchschlag hat wohl die Tatsache gegeben, daß nach 1844 die Gegensätze innerhalb der flämischen Bewegung zwischen den Klerikalen, zu denen Conscience und De Laet gerechnet werden müssen, und den Liberalen immer größer wurden, was schließlich auch zu Spannungen mit liberalen Deutschen wie Andree führte. Auf jeden Fall kam es 1847, als Conscience und De Laet den Liberalen definitiv den Kampf angesagt hatten, zu einem Bruch zwischen dem Flamenführer und dem deutschen Redakteur, nachdem De Laet, der auch an Andrees Bremer Zeitung mitgearbeitet hatte, Andree in einem Brief vorgeworfen hatte, nur das zu berichten, was für die Liberalen günstig sei, und das, was für die Katholiken spräche, zu verschweigen.Ga naar voetnoot144 Wie bei Andree wurde auch das Verhältnis zwischen H. Conscience und J.W. Wolf, der sich zusammen mit seiner Frau, der Tochter von Louise von Ploennies, rasch zu einem der engagiertesten Übersetzer Consciences im deutschen Sprachraum entwickelt hatte, bald von Spannungen zwischen dem Übersetzer und den Führern der flämischen Bewegung getrübt. Wolf, der sich nach dem Vorbild Grimms der Welt der niederländischen und der deutschen Sagen zugewandt hatte und zur Vorbereitung seiner Studien 1840 nach Belgien gezogen war, wo er Vorlesungen gehalten, bei Vlaemsch België mitgearbeitet und die Zeitschriften Grootmoederken (1842), Wodana (1843) und De Broederhand herausgegeben hatte, stand zu Anfang mit vielen Führern der flämischen Bewegung in Kontakt. Sehr schnell auch mit Hendrik Conscience, denn Wolf und Conscience waren nicht nur bei der Organisation der Sängerfeste des Deutsch-Vlämischen Sängerbundes und bei der Redaktion von Vlaemsch België involviert, Wolf war seit 1845 auch Mitglied in der von Conscience geführten, geheimnisumwitterten Vereinigung ‘De toekomst’, | |
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die auf Wolfs Anregung den Namen ‘Heilig Verbond’ und logeartige Züge erhielt.Ga naar voetnoot145 Interessanterweise verwies Wolf noch 1847, wohl in der Hoffnung, seinen Übersetzungen damit mehr Gewicht verleihen zu können, auf intensive Kontakte zu Conscience. Aber Conscience beurteilte die Lage damals schon anders. In einem Brief an M. von Diepenbrock brachte er sofort sein Bedauern zum Ausdruck: ‘J'ai publié il y a environ un mois l'esquisse de moeurs intitulée Lambrecht Hensmans. Le premier exemplaire en a été adressé à V.E., mais comme j'emploie la voie de libraire, il se peut que cet exemplaire ne soit pas encore arrivé à Breslau. Il en a déjà paru une traduction allemande chez Marcus à Bonn; cette édition se ressent de la hâte que l'on y a mise, car elle me semble pleine de fautes typographiques. Il est dit sur la couverture: Unter mitwirkung des verfassers [sic], quoique cela ne soit pas le moins du monde; mias [sic] comme le traducteur, qui demeure à Bruxelles, rend de services à notre cause flamande, je ne pense pas qu'il convienne que je me brouille avec lui pour si peu de chose et que j'ouvre peut-être avec lui une polémique désagréable.’Ga naar voetnoot146 Allzu herzlich waren die Beziehungen von Conscience zu Wolf zu dem Zeitpunkt also schon nicht mehr. Wolf, der nach Flandern gekommen war, um die ‘germanischen Wurzeln des vlämisch-niederländischen Volksgeistes’Ga naar voetnoot147 nachzuweisen, und die Flamen ‘nicht ohne Hülfe lassen’Ga naar voetnoot148 wollte, hatte zwar durch seine Vorträge, die Herausgabe verschiedener Zeitschriften und der niederländischen Sagen und nicht zuletzt auch durch seine Initiative bei der Gründung des Deutsch-Vlämischen Sängerbundes der flämischen Sache große Dienste erwiesen, aber zugleich durch sein unverkennbares Streben nach engerem Anschluß zwischen Flandern und Deutschland, das sich unter anderem darin äußerte, daß De Broederhand in einer Delecourtschen Rechtschreibung erschien und daß | |
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Wolf darin, wie Ignaz Kuranda von den Grenzboten, die Auffassung vertrat, daß die flämische Literatur nur unter deutscher Führung zu retten sei, in Flandern eine ‘Welle der Kritik’Ga naar voetnoot149 ausgelöst. Hierdurch wurde die Freundschaft zwischen ihm und Conscience überschattet.Ga naar voetnoot150 Und nicht nur das: Obwohl Wolf nicht direkt den realen oder politischen Anschluß an Deutschland vorbereiten wollte, war man in Flandern der Meinung, daß die von ihm angestrebte kulturelle Einheit doch nichts anderes als ein erster Schritt in diese Richtung sei! Nach 1845 war das ‘bis dahin gute Verhältnis’Ga naar voetnoot151 Wolfs zur flämischen Bewegung dann auch ‘zerstört’Ga naar voetnoot152. Wolf verlegte daraufhin die Redaktion seiner Zeitschrift nach Köln und verließ 1847, als ‘Germaniljon’Ga naar voetnoot153 verschrien, das Land. Weiter reagierte er offenbar wie Andree, denn nach 1847 ist weder von ihm noch von seiner Frau erneut eine Übersetzung moderner niederländischer Literatur im deutschen Sprachraum erschienen. Der deutsch-französische Antagonismus und das davon geprägte Interesse für die Geschehnisse in Flandern haben zwar das Bild von Flandern und seiner Literatur im deutschen Sprachraum entschieden bestimmt, für die Rezeption des erfolgreichsten flämischen Schriftstellers des 19. Jahrhunderts waren sie aber auf längere Sicht von zunehmend geringerer Bedeutung. Auf Dauer wichtiger für den anhaltenden Erfolg Consciences im deutschen Sprachraum war erstens, daß sein Werk in einem selbstverständlichen, festen Glauben und einem, zumindest für flämische Verhältnisse, liberalen Katholizismus wurzelte. Daß Conscience vom Fürstbischof von Diepenbrock gefördert wurde, öffnete seinem Werk in katholischen Kreisen, die sowieso die Entwicklungen in Belgien, wo sich die katholische Kirche frei von Staatsaufsicht entfalten konnte, mit großem Interesse | |
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verfolgten, definitiv Tür und Tor und trug dazu bei, daß sich u.a. Priester wie Bernhard Martin Giese als Übersetzer dem Werk Consciences zuwandten. Der religiöse Charakter in Consciences Werken begründete auch ihre Aufnahme in Reihen wie ‘Lehrreiche Unterhaltungsschriften von katholischen Verfassern mit Rücksicht auf Sittenreinheit und gute Gesinnung ausgewählt’ und vereinfachte so eine große Verbreitung. Zweitens war wichtig, daß Autoren wie H. Conscience und A.L.G. Bosboom-Toussaint und sogar J. Courtmans-Berchmans in bekannten Reihen wie dem Belletristischen Ausland neben Alexandre Dumas, Eugène Sue, George Sand, Alphonse de Lamartine, Charles Dickens und Alessandro Manzoni und weiteren Größen der Literatur erschienen, wodurch ihr Werk unabhängig vom eigentlichen literarischen Wert und dem tatsächlichen Urteil der deutschsprachigen Kritik für den Leser den Status von Weltliteratur erhielt. Drittens paßte das historische Werk Consciences wie das von Van Lennep und Oltmans ausgezeichnet zu den Ritter- und Räuberromanen, die sich als Ausläufer der Romantik auf dem Markt der Unterhaltungsliteratur behaupteten. Viertens fügten sich auch Consciences Dorfnovellen und Sittengemälde perfekt in die nur schwer zu bestimmende Übergangszeit zwischen ‘Realidealismus’ der Biedermeierzeit, aktualitätsgebundenem Realismus der Jungdeutschen und ‘Idealrealismus’, denn sie waren geprägt vom Glauben an die Bedeutung der Pflichterfüllung und die Selbstgenügsamkeit, von der Verherrlichung von Arbeit, Staat, Heimat, Volk und dem persönlichen Einsatz sowie von Idealisierung, Liebe zur Natur, Melancholie und einem Harmonisierungsstreben über alle bedrückende Realität hinweg.Ga naar voetnoot154 Fünftens entsprach das Werk von Conscience der Forderung der deutschsprachigen Kritik aus den vierziger Jahren, sich ‘der Reflexion [zu] entschlagen und die unterhaltenden Stoffe wieder auf[zu]greifen, um ein breiteres Publikum zu finden’Ga naar voetnoot155, eine Forderung nach Volkstümlichkeit also, die mit der realistischen Weiterentwicklung der Dorfnovelle durch Gottfried Keller, Otto Ludwig und Berthold Auerbach in der deutschsprachigen Literatur auch umgesetzt wurde.Ga naar voetnoot156 | |
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Man darf also annehmen, daß viele deutschsprachige Leser das Werk von Conscience unabhängig vom allgemeinen Urteil der Kritik der ‘gehobenen’ Literatur zurechneten, womit ebenfalls ein bedeutender Teil des Fundaments für den anhaltenden Erfolg des ‘beste[n]’Ga naar voetnoot157 unter den Schriftstellern aus Flandern bis weit über 1880 hinaus gelegt wurde. Bestimmend für den überdurchschnittlichen Erfolg Consciences im deutschen Sprachraum war schließlich, wie schon bei der allgemeinen Analyse der Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum während der Periode 1830-1880 angedeutet wurde, die Tatsache, daß Conscience wie kaum ein anderer niederländischsprachiger Autor von der veränderten und sich rapide verändernden Situation im deutschen Bücher- und Verlagswesen im untersuchten Zeitabschnitt profitiert hat. Consciences Erfolg im deutschen Sprachraum beruhte zu einem beträchtlichen Teil darauf, daß die technischen Innovationen die Produktion von Büchern vereinfacht und dazu beigetragen hatten, daß Bücher stets einfacher ‘jedermann’ zugänglich wurden, und darauf, daß ein großer Teil des literarischen Bedürfnisses aus dem Ausland gedeckt werden mußte und konnte, denn für Übersetzungen mußten bis zum internationalen Urheberrechtsabkommen von Bern 1886 zumeist keine Urheber- oder Lizenzhonorare gezahlt werden. Dies ermöglichte preiswerte Reihen wie die Kabinettsbibliothek der classischen Romane aller Nationen: Das belletristische Ausland (hrsg. von Carl Spindler), die 3618 Titel umfaßteGa naar voetnoot158, darunter viele von Conscience, und für die ihre Verleger gut 15.000 Subskribenten fanden. | |
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Eine wichtige Funktion bei der großen Verbreitung der Werke Consciences im deutschen Sprachraum hatten auch die Leihbibliotheken, deren Zahl ab Mitte der vierziger Jahre sprunghaft zunahm, bis schließlich jahrzehntelang ungefähr ‘90% des literarischen Publikums’Ga naar voetnoot159 über diese Bibliotheken seine Literatur bezog. Anfangs hatten in den Leihbibliotheken vor allem die historischen Romane, insbesondere die, die der Schauerromantik zugerechnet werden konnten, großen Erfolg. Schon bald gab es aber auch Leihbibliotheken, die sich an ein spezielles Publikum richteten. Es entstanden Jugendbibliotheken, Bibliotheken der Arbeitervereine und auch religiös orientierte Bibliotheken, wobei sich die letztgenannten wiederum besonders für Conscience interessiert haben.Ga naar voetnoot160 Da im deutschen Sprachraum ‘ein spezifisches Publikum für anspruchsvollere belletristische Neuerscheinungen fehlte’Ga naar voetnoot161 und man, wie Reinhard Wittmann betonte, davon ausgehen muß, daß die Leser im 19. Jahrhundert dem ‘Traditionell-Epigonalen den Vorzug gaben’Ga naar voetnoot162 und ‘in ganz Deutschland nicht hundert Privatpersonen’Ga naar voetnoot163 einen neuen Roman kauften, wurde in vielen Fällen direkt für die Leihbibliotheken produziert.Ga naar voetnoot164 Dennoch überstieg die Auflagenhöhe vieler deutscher Prosawerke im allgemeinen nicht 700-800 Exemplare.Ga naar voetnoot165 Conscience - dessen Übersetzungen, um den Verdienst der Bibliotheken zu erhöhen, wie üblich in mehrere Bände aufgeteilt wurden - brauchte sich also über seine Auflagen von 2.000 bis 2.500 Exemplaren überhaupt nicht zu schämen. Damit diesem Glück, das ihm auch im eigenen Land zu Ansehen verhalf - zu Recht schrieb Conscience an von Diepenbrock: ‘Votre bonté m'a acquis une place exceptionelle dans la littérature de mon pays’Ga naar voetnoot166 -, | |
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auch nichts in den Weg gestellt wurde, wich Conscience nicht nur soweit wie möglich öffentlichen Konflikten mit seinen Übersetzern aus, er zeigte sich auch gerne bereit, sein Werk dem Geschmack seines Publikums anzupassen. Dies belegt u.a. die Korrespondenz mit dem Übersetzer Carl Arenz, der die niederländische Literatur während seiner Tätigkeit als Lehrer der deutschen Sprache und der Handelswissenschaften am Königlichen Niederländischen Athenäum in Maastricht (1849-1854) kennengelernt hatte, in Kontakt mit Johann Firmenich stand, das Werk von August Snieders erstmalig ins Deutsche übersetzte und schon bald zu einem Vertrauten Consciences aufstieg. Bezüglich des Geldteufels schrieb ihm Conscience: ‘Noch in dieser Woche werden Ihnen drei oder vier Bogen zugesendet werden. Wenn Sie in diesem Werke etwas finden, was allzu hart oder verletzend für die Geldleute erscheint, so bitte ich, verändern Sie es oder lassen Sie es ganz weg. Die Verhältnisse mögen in dieser Hinsicht in Deutschland wohl anders als in Belgien sein.’Ga naar voetnoot167 Vergleichbares liest man auch in dem Briefwechsel mit C.B. Lorck, dem Verleger von O.L.B. Wolff, einem der ersten Übersetzer aus dem Niederländischen in dieser Periode:Ga naar voetnoot168 ‘De hr Wolf [[sic], gemeint ist nämlich Wolff, HVU] kan de aenteekeningen, welke hy voor Duitschland overbodig oordelt [sic], geheel weglaten of verkorten of zich bepalen by het aenhalen der auteurs en hunne werken. Zoo kandele [sic] hy insgelyks met den tekst. Mogt die iets bevatten dat, voor duitsche lezers, aenstootelyk kan zyn, hy hebbe de goedheid het te veranderen of weg te laten.’Ga naar voetnoot169 | |
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Offensichtlich setzte Conscience, wie er dies schon in Belgien nach der Kritik der katholischen Kirche am Wunderjahr getan hatte, auch im deutschen Sprachraum seine Politik der ‘Selbstzensur’ fort. Ob dies allerdings ausschließlich geschah, weil er dem Erfolg seiner Übersetzungen im deutschen Sprachraum nichts in den Weg stellen wollte oder einfach aus Unsicherheit - immerhin informierte er sich beim Verleger der Geschichte Belgiens vorher auch über das Urteil des Übersetzers -Ga naar voetnoot170 oder, wie es aus Frankreich bekannt ist, aus finanziellen Erwägungen, konnte nicht endgültig geklärt werden, nicht zuletzt weil keine finanziellen Abrechnungen mit Conscience mehr vorhanden sind.Ga naar voetnoot171 | |
1.3 Niederländische Literatur in Zeitschriften: IBezüglich der Periode 1830-1880 ist die Zahl der Rezeptionsbelege zur niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum relativ gering. Um so vielversprechender erschien für diesen Teil der Studie die eingehende Analyse führender literarischer Zeitschriften. Hierfür wurden die Blätter für literarische Unterhaltung ausgewählt, weil sie sich, wie der Titel schon sagt, auf die Literatur für das breite Publikum konzentrierten, sowie Die Grenzboten wegen ihrer prinzipiellen Funktion als kulturelle Brücke zwischen Belgien und Deutschland. | |
1.3.1 Blätter für literarische UnterhaltungDie Blätter für literarische Unterhaltung (1820-1898), die in den ersten sechs Jahren unter dem Titel Literarisches Konversationsblatt erschienen, gehörten zu den wichtigsten Literatur- und Konversationsblättern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Konversations- und Literaturblätter wandten sich nicht an ein wissenschaftlich interessiertes Publikum, sondern ‘diskutierten die Literaturinteressen eines allgemeine Orientierung wünschenden Publikums’Ga naar voetnoot172. Wie die literarischen Unterhaltungszeitschriften waren nach S. Obenaus auch die Konversations- und Literaturblätter, insbesondere die Blätter für literarische Unterhaltung, eng mit den Interessen der sie herausgebenden Verlage verbunden.Ga naar voetnoot173 | |
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Als eine der wenigen Rezensionszeitschriften haben die Blätter für literarische Unterhaltung ihr Erscheinen nicht bis 1848 eingestellt, sondern ihr Überleben gesichert, indem sie sich dem Trend der Zeit anpaßten, neben den einzelnen Rezensionen Essays und Überblicke abdruckten und auf diese Weise Orientierungshilfe ‘für den häuslichen Herd’Ga naar voetnoot174 leisteten. Das Blatt, das so sehr schnell einen ausgesprochen populären Charakter erhielt, vermied darüber hinaus ‘bei einer allgemein liberalen Grundeinstellung, wenn es irgend ging, allzu profilierte politische, literarische und theologisch-religiöse Positionen’Ga naar voetnoot175. Die großen Erwartungen, die an die Blätter für literarische Unterhaltung wegen ihres grundsätzlichen Interesses für die Unterhaltungsliteratur zu Beginn der Untersuchung gestellt wurden, haben sich leider nicht erfüllt. Die Ausbeute war insgesamt eher spärlich. Dennoch kann gesagt werden, daß sich die Blätter für literarische Unterhaltung im Vergleich zu anderen literarischen Zeitschriften oder Konversationsblättern verhältnismäßig oft der niederländischen Literatur und den Übersetzungen aus dem Niederländischen zugewandt haben. Von Anfang an wurde klargestellt, wie das Interesse für die niederländische Literatur zu begründen war, nämlich mit dem Bedarf an Unterhaltungsliteratur. Dabei hob man hervor, daß die Niederländer bis zum Erscheinen der ersten Werke Van Lenneps in diesem Genre nicht besonders bewandert gewesen seien und beschränkte man die Bedeutung der niederländischen Literatur zunächst auf die einer ‘Hülfsquelle’Ga naar voetnoot176. Schon wenig später aber urteilte de Rezensent von Van Lenneps Abenteuern Ferdinand Huycks (1841, ndl. De lotgevallen van Ferdinand Huyck, 1840) ein wenig optimistischer. Nachdem auch er festgestellt hatte, daß einer der Gründe, warum man auf die niederländische Literatur zurückgegriffen hat, der wachsende Bedarf des deutschen Publikums an Unterhaltungsliteratur sei, äußerte er, obwohl er, wie er offen zugab, weder | |
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Niederländisch noch die Literatur des ‘Mijnherrs’ kannte, die Vermutung, daß die Romanliteratur auch in den Niederlanden ‘zu den stark angebauten Feldern’Ga naar voetnoot177 gehören müsse, und meinte deshalb, dem holländischen Roman in den deutschen Leihbibliotheken eine ‘nicht üble Zukunft’Ga naar voetnoot178 prophezeien zu können. Zu den Vorzügen des Romans von Van Lennep rechnete letzterer Rezensent die Gewandtheit, mit der das Werk geschrieben war, und die ‘gutmüthig humoristische [...] Kleinmalerei des Lebens’Ga naar voetnoot179, die er auch in den Bildern Jan Steens wiederzufinden glaubte. Dabei dokumentiert der Vergleich mit der niederländischen Malerei, der auch heute noch immer wieder in Rezensionen zur niederländischen Literatur bemüht wird, seine Unsicherheit bezüglich des tatsächlichen literarischen Wertes der beurteilten Literatur. Über eines war man sich trotz widersprüchlicher Meinungen über die Bedeutung der niederländischen Literatur insgesamt einig: als Romantiker hatte Van Lennep versagt: ‘Das Romantische [...] ist offenbar nicht des Verf. Fach, sowie wir denn überhaupt von dem Verf. einen Rückschluß auf das ganze Volk machen und den Holländern Talent und selbst Verständniß echter Romantik absprechen möchten. Der Verf. verwechselt abenteuerlich mit romantisch und hat sich nach dem Beispiele seines Vorbildes Walter Scott viele [sic] Mühe gegeben, in das gemüthliche Klein- und Stilleben der Holländer allerlei ungewöhnliche Figuren und Begebenheiten zu verweben.’Ga naar voetnoot180 Im Vergleich zu Van Lennep, der nicht zuletzt auch wegen seiner Fähigkeit zu psychologisieren geschätzt wurde, schnitten andere niederländische Autoren schlecht ab. H.J. Schimmel bescheinigte man lediglich ein vergebliches Ringen um gewisse Effekte, die Handlung bei A.L.G. | |
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Bosboom-Toussaint schreite viel zu langsam fort, vom Werk von Melati van Java (1853-1927) war man ebenfalls nicht besonders angetan, und auch Max Havelaar oder die Holländer auf Java (1875, ndl. Max Havelaar, 1860) von Multatuli stieß auf Unverständnis.Ga naar voetnoot181 Ein unvergleichbar reges Interesse fanden demgegenüber in den Blättern für literarische Unterhaltung die Bearbeitungen von A. Glaser. Fast alle seine Übertragungen aus dem Niederländischen wurden rezensiert. Dabei wurden ‘Sprache und Stil [...] von großer Verve’Ga naar voetnoot182 und die ‘elegante Schreibart’Ga naar voetnoot183 dieses Autors hervorgehoben, der die deutsche Literatur um einige ‘wertvolle Gaben’Ga naar voetnoot184 aus dem Ausland bereichert hatte. In diesem Zusammenhang gab es auch Lob für N. Beets und C. Busken-Huet, und nicht zuletzt für J.J. Cremer, der durch Glaser in den Blättern für literarische Unterhaltung zu einem ‘bekannte[n]’Ga naar voetnoot185 holländischen Novellisten avancierte.Ga naar voetnoot186 Vor allem Cremers Erfolg war nach Meinung der Blätter für literarische Unterhaltung nicht ausschließlich auf die Bearbeitung seiner Werke durch Glaser zurückzuführen. Ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang sei auch die Tatsache, daß man in seinen Novellen typisch Holländisches wiederfinde: ‘[...] uns ist, [...] als steigen jene durch ihre fabelhafte Reinlichkeit berühmten Dörfer und Landstädtchen des merkwürdigen meerbespülten Kleinstaats vor uns auf, die friedlichen Orte, umgeben von gartenähnlich sorgsam bebauten Landstrichen, alles so still und friedlich und klein, ein halb träumendes, halb lebendig bewegtes Idyll.’Ga naar voetnoot187 | |
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Obwohl man im niederländischen Sprachraum bemängelt hat, daß Cremer seine Romanfiguren selten wirklich durchzeichnete und sich allzu oft mit bloßer Schwarzweißmalerei begnügte, gefiel in den Blättern für literarische Unterhaltung seine Art der Darstellung: ‘gerade Realismus genug, um die Dinge als einfach aus Welt und Leben herausgegriffen erscheinen zu lassen.’Ga naar voetnoot188 Diese Beurteilung entsprach vollkommen der - im Gegensatz zu den Grenzboten - gemäßigt realistischen Position der Blätter für literarische Unterhaltung. Dementsprechend hob man hervor, daß in Cremers Arbeiterprinzessin (1875, ndl. Hanna de Freule, 1873) anhand der Hauptpersonen die wichtigsten Facetten der sogenannten Arbeiterfrage relativ präzise wiedergegeben wurdenGa naar voetnoot189, während man in der Besprechung von G. Kellers Haus des Schulmeisters (1878, ndl. Het huisgezin van de praeceptor, 1859) den Mangel an Individualität kritisierte und vor einem ‘Realismus in Schlafrock und Pantoffeln’Ga naar voetnoot190 warnte. Gemäßigten Realismus forderte in den siebziger Jahren auch O. Welten, neben J.J. Honegger der zweite wichtige Rezensent der niederländischen Literatur in den Blättern für literarische Unterhaltung. Er nannte als vorrangige Kriterien: Verständlichkeit der Charaktere, psychologisches Detail, plastische Darstellung und den Versuch, dem Leser den Eindruck des Selbsterlebten zu vermitteln. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt wären, könnte seiner Meinung nach die ‘tendenziöse Färbung’Ga naar voetnoot191, die durch ‘rücksichtslose, ungeschminkte Darlegung’Ga naar voetnoot192 entstehe, wieder wettgemacht werden.Ga naar voetnoot193 Weltens Meinung teilte auch der Rezensent von Lideweide - dem Buch, das in den Niederlanden durch seine offene Beschreibung eines Mannes, der seine fast völlig entblößte Frau nach einem Ehebruch mit der Peitsche bestraft, schockiert hat. F.E. Schubert betonte, daß die Art und Weise, in der sich der Ehemann an Lideweide | |
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räche, und sonstige ‘anstößige Punkte’Ga naar voetnoot194 durch die ‘besonnene, helle Darstellung’Ga naar voetnoot195, die ‘Gegenständlichkeit’Ga naar voetnoot196, die ‘geschmackvolle Vermeidung der so häufig sich breitmachenden süßlichen Sentimentalität’Ga naar voetnoot197 und durch die ‘meist echt künstlerische Behandlung [...] einen schwer definirbaren, aber unleugbaren Reiz’Ga naar voetnoot198 erhielten.Ga naar voetnoot199 Wegen des Mangels an geeigneten Mitarbeitern gestaltete sich die Darstellung der Literatur aus den Niederlanden in den Blättern für literarische Unterhaltung bis zum Ende der sechziger Jahre äußerst schwierig. Erst dann gab es mit J.J. Honegger und O. Welten zwei Kritiker, die sich besonders für diese Literatur interessierten.Ga naar voetnoot200 Das Gegenteil war bei der Darstellung der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern der Fall. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts berichtete die Zeitschrift nicht nur wiederholt, sondern sogar fast ausschließlich über die Literatur aus Flandern, insbesondere über Conscience. Über Belgien konnte und wollte man, da die dortige Literatur noch im Entstehen begriffen war, und in Anbetracht des deutsch-französischen Gegensatzes, offenbar ohne Scheu berichten, und man brauchte sich - im Gegensatz zur Berichterstattung über die Literatur aus den Niederlanden - nicht der Unkenntnis der historischen Vergangenheit zu schämen.Ga naar voetnoot201 Das Motiv für die Beschäftigung mit der Literatur aus Flandern war klar: die wachsende flämische Bewegung. Diesbezüglich schrieb J.W. Wolf: ‘Unscheinbaren Anfängen entproßten [sic] sie [= die flämischen literarischen Vereine, HVU], doch sie wuchsen dem Senfkorn gleich, und das wieder zu seinem Germanenthum zurückgeführte Volk weidet ich [sic] an ihnen und ist stolz auf sie, während Frankreichs Söldinge [sic] in Belgien vor ihnen beben.’Ga naar voetnoot202 | |
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In vergleichbarer Weise wurde auch Conscience vorrangig als der ‘vollkommenste Typus der vlämischen Bewegung in Belgien’Ga naar voetnoot203 dargestellt. Die politische Perspective auf die niederländische Literatur aus Flandern führte dazu, daß die Blätter für literarische Unterhaltung, obwohl sie im allgemeinen ‘allzu profilierte’Ga naar voetnoot204 politische und religiöse Stellungnahmen zu vermeiden suchten, Mitte des 19. Jahrhunderts wiederholt zu den Entwicklungen in Belgien und der flämischen Bewegung Stellung bezogen. Dennoch wurde das Blatt nie zum Sprachrohr des Pangermanismus. Man beschränkte sich wie in der Besprechung von Consciences Geschichte von Belgien vielmehr darauf festzustellen, daß Conscience in seiner Geschichte ‘oft und gern auf die Verwandtschaft Belgiens mit Deutschland ein besonderes Gewicht legt’Ga naar voetnoot205. Ferner betonte man lediglich, daß die Ultramontanen - wie die Katholiken, die die Belange des Staates denen Roms unterordneten, im 19. Jahrhundert genannt wurden -, ‘ihrer Stütze auf Frankreich [...] beraubt’Ga naar voetnoot206, darum bemüht waren, die ‘Hinneigung’Ga naar voetnoot207 der Flamen zu Deutschland zu unterstützen, wobei man zugleich herausstellte, daß die ‘Strebnisse der Flamingen [...] dem Kern nach freisinnig’Ga naar voetnoot208 waren. Besonders interessant in diesem Kontext war die Art und Weise, wie der Rezensent des Flämischen Stillebens in drei kleinen Erzählungen die Flamen und ihre Bewegung charakterisierte. Er wies darauf hin, daß die flämische Bewegung ‘freisinnig im volksthümlichen Sinne’Ga naar voetnoot209 sei, daß sie ‘Wurzeln im eigenen wirklichen Boden’Ga naar voetnoot210 habe und daß sie zugleich durch eine gewisse ‘sittliche und religiöse Haltung’Ga naar voetnoot211 gekennzeichnet | |
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sei.Ga naar voetnoot212 Damit stellte er bereits 1846 die Bodenverbundenheit, die Religiosität, die Freiheit und die Volkstümlichkeit als Wesenszüge Flanderns, der Flamen und ihrer Literatur heraus und lieferte damit schon sehr früh einen Beitrag zur Prägung des deutschen mystisch-sensualistischen Flandern-Images, auf das gegen Ende des 19. Jahrhunderts parallel zum Erfolg der französisch schreibenden Autoren aus Flandern verstärkt zurückgegriffen wurde.Ga naar voetnoot213 Die große Bedeutung, die man den politischen Entwicklungen in Belgien und den Fortschritten der flämischen Bewegung in der untersuchten Zeitschrift beigemessen hat, führte dennoch nicht zu einer kritiklosen Haltung zur besprochenen Literatur, auch nicht im Falle von Conscience, dem bekanntesten Vertreter der niederländischsprachigen Literatur aus Flandern im deutschen Sprachraum. Im Gegenteil, man stellte nicht nur mit einem gewissen Schrecken fest, daß 1845 drei Erzählungen von M. von Diepenbrock ins Deutsche übertragen wurden, weil sie doch ‘für ein Publicum geschrieben, welches von dem deutschen himmelweit verschieden’Ga naar voetnoot214 sei und das ‘noch in den ersten Anfängen der Bildung’Ga naar voetnoot215 stehe, so daß sie wegen ihrer ‘allzu große[n] Einfachheit’Ga naar voetnoot216 im deutschen Sprachraum Vorurteile gegen Conscience und damit auch gegen Flandern wecken könnten, sondern man übte auch Kritik am eigenen Publikum. Im Bewußtsein, daß Consciences Werke nicht mit dem Ziel übertragen wurden, Flandern oder die flämische Bewegung im deutschen Sprachraum bekannter zu machen, sondern weil sie ‘dem Geschmacke eines recht großen Leserkreises’Ga naar voetnoot217 entsprächen, erfuhr man Consciences Ruhm im deutschen Sprachraum als etwas ‘eigenthümlich’Ga naar voetnoot218 und hielt man daran fest klarzustellen, daß manches der Werke Consciences ‘als deutsche Originalarbeit, trotz mancher Vorzüge, schwer- | |
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lich einen zahlenden Verleger gefunden’Ga naar voetnoot219 hätte oder ‘trotz des gepriesenen Namens seines Verfassers kaum die Uebersetzung’Ga naar voetnoot220 verdiene. Etwas milder war lediglich die Kritik von J.J. Honegger: ‘Hendrick [sic] Conscience, eine Natur von unantastbarer, etwas altväterisch zugeschnittener Reinheit des Sinnes, ist geboren für die intimen Schilderungen des heimischen Still- und Kleinlebens; in der Luft der Kempen, in den Bauernhöfen der Heide ist seine Heimat, und diese Regionen malt er mit aller Feinheit niederländischer Kunst, sein Herz ist ganz und voll dabei. Recht glücklich ist er eigentlich nur, wo er seine Phantasie in friedlichen Bildern, in Idyllen sich ergehen läßt; er muß das fühlen, denn fast überall bevorzugt er glückliche Ausgänge. Zu weitgreifenden, zu großen geschichtlichen Ueberblicken fehlt ihm die Klarheit eines allgemein überschauenden Geistes.’Ga naar voetnoot221 Dabei war interessant, daß sogar dieser versierte Kritiker und Kenner der niederländischen Literatur 1876 offensichtlich nicht ausreichend Vergleichsmöglichkeiten hatte, um niederländische Literatur mit passenden literarischen Kriterien zu beurteilen und auf die niederländische(!) Malerei zurückgreifen mußte, um Conscience zu würdigen. Die Entwicklung geeigneterer Kriterien blieb Aufgabe für interessierte Kritiker, Publizisten und Wissenschaftler in der nächsten Periode. | |
1.3.2 Die GrenzbotenDie Grenzboten (1841-1922), die zunächst den Untertitel ‘Blätter für Deutschland und Belgien’ trugen, wurden 1841 vom Prager Journalisten Ignaz Kuranda gegründet.Ga naar voetnoot222 Kuranda, der für die Augsburger Allgemeine Zeitung Beiträge über Belgien verfaßte und deshalb 1838 als Auslandskorrespondent nach Belgien gekommen war, fühlte sich sofort der flämischen Sache verbunden. ‘Die flämische Literatur’Ga naar voetnoot223, so schrieb er bei | |
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der Übersendung der ersten Nummer an Jan Frans Willems, ‘soll einen fleißigen und warmen Wortführer an mir finden, ich hoffe meinem Vaterlande wie dem Ihrigen einen wichtigen Dienst zu leisten!’Ga naar voetnoot224 Dennoch war es nicht ganz so erstaunlich, daß bei näherem Hinsehen in seiner Zeitschrift, die die ‘wechselseitigen Beziehungen zwischen Deutschland und dem flämischen Teil Belgiens’Ga naar voetnoot225 pflegen, die ‘Aufmerksamkeit’Ga naar voetnoot226 für die Literatur aus Flandern erregen wollte und sich zum Ziel gesetzt hatte, ‘Vorurteile zu heben [...] Verkennen auszurotten, die Scheidewand zu untergraben und die Brücke zu einer geistigen Vereinigung und gegenseitigen Anerkennung zu bauen’Ga naar voetnoot227, die niederländische Literatur letztendlich doch wenig Respons gefunden hat. Kuranda war trotz seines Engagements nicht der rechte Wortführer für die niederländischsprachige Literatur aus Flandern im deutschen Sprachraum. Auch er war nämlich davon überzeugt, daß die Zukunft Flanderns wie die Zukunft Europas ‘im Schooße [sic]’Ga naar voetnoot228 Deutschlands liege, daß das Flämische in den ‘alten germanischen Provinzen’Ga naar voetnoot229 einer der ‘ältesten deutschen Dialekte’Ga naar voetnoot230 sei und daß die flämische Literatur am besten deutsch würde, da sie nicht überleben könne, wenn sie nicht versuche, an Deutschland literarisch Anschluß zu finden.Ga naar voetnoot231 Aus diesem Grunde und nicht etwa weil, wie J.W. Wolf suggerierte, Kuranda über zu wenig Kenntnisse des Niederländischen verfügte, erschienen lediglich in den ersten Jahrgängen der Grenzboten einige aus dem Niederländischen übersetzte Texte: die ausführliche Besprechung eines satirischen Gedichtes von Jan van Rijswijck (1818-1869) einschließlich übersetzter Fragmente, Consciences Was eine Mutter leiden kann in einer anonymen Übertragung, Auszüge aus Heemskerk's Seezug nach Gibraltar (1842, ndl. De tocht van Heemskerk naar Gibraltar, 1837) von Adrianus Bogaers (1795-1870) in einer Übersetzung des Anfang des vorigen Jahrhunderts sehr verdienstlichen Friedrich Wilhelm von Mauvillon und eine Rezension von Julius Fester über den Löwen von Flandern, ebenfalls mit Übersetzungsfragmen- | |
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ten versehen. Danach wurde in den Grenzboten niederländische Literatur in Übersetzung nicht mehr publiziert.Ga naar voetnoot232 Vergleichbar verhielt es sich mit Beiträgen zur niederländischsprachigen Literatur aus Flandern. Obwohl die Redaktion der Grenzboten gleich zu Anfang erklärt hatte, dem ‘Programm gemäß [...] eine Reihe von Literaturübersichten, die dem deutschen Leser einen Blick in die Bewegung der jetzigen niederdeutschen Schriftsteller eröffnen sollen’Ga naar voetnoot233, publizieren zu wollen, und auch J. Fester angekündigt hatte, ‘in einzelnen Charakteristiken’Ga naar voetnoot234 die jungen flämischen Autoren vorzustellen, blieb die Zahl der Rezensionen gering. In Wirklichkeit kam man über die beiden bereits erwähnten Beiträge von J. Fester nicht hinaus. Abgesehen von Heinrich Rückerts Rezension von W.J.A. Jonckbloets Geschichte der niederländischen Litteratur, in der noch einmal deutlich gemacht wurde, daß die niederländische Literatur ‘rückhaltlos in die deutsche’Ga naar voetnoot235 einzumünden hätte, fand die niederländischsprachige Literatur aus Flandern nur in den Aufsätzen von Ignaz Kuranda eine gewisse Beachtung. Aus Kurandas Beiträgen ging, wie gesagt, hervor, daß seine Bewunderung für die Literatur aus Flandern vor allem auf seiner Überzeugung beruhte, daß sie wie das Werk des Malers Peter Paul Rubens, dem er ebenfalls einen Beitrag widmete, dem germanischen Geist, der ‘deutschen Richtung’Ga naar voetnoot236 verwandt sei und daß sie im weiteren ausschließlich seiner Bewunderung für die ‘Kraft und Unerschütterlichkeit’Ga naar voetnoot237, mit der die | |
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Flamen ihre Sprache verteidigten, entspringe.Ga naar voetnoot238 Eine rechte Zukunft könne der Literatur aus Flandern demnach nicht eingeräumt werden. Deshalb fragten Die Grenzboten in einem unsignierten Beitrag, der, da er aus Brussel stammt und in ihm die wesentlichen Gedanken Kurandas wiedergegeben werden, wohl dem Redakteur der Zeitschrift zugeschrieben werden muß, 1843 nach den Folgen und dem Bestand der unbestrittenen und immer wieder bewunderten Wiederbelebung der ‘niederdeutschen’Ga naar voetnoot239 Sprache und ihrer Literatur in Flandern. Dabei wiesen sie darauf hin, daß das Gebiet der niederländischen Sprache ‘ein sehr beschränktes’Ga naar voetnoot240 sei, daß die Literatur in Flandern sich ‘erst aus dem Chaos heraufzuarbeiten’Ga naar voetnoot241 habe, daß die Schriftsteller in Flandern wohl nicht immer der niederländischen Literatur ‘ohne allen Egoismus’Ga naar voetnoot242 patriotisch dienen könnten, sowie daß es doch wohl ‘thöricht’Ga naar voetnoot243 sei, sich einzubilden, daß die niederländischsprachige Literatur aus Flandern den Wettkampf mit der französischen bestehen könnte, und stellten heraus: ‘Wenn der germanische Theil Belgiens nach Bildung und Geistesstärkung sucht, warum sucht er diese nicht bei den Deutschen? Warum schließt er sich nicht der großen Sprachfamilie an, die 40 Millionen Menschen zählt, die alle seine Stammgenossen sind? Wenn der wallonische Belgier sich naturgemäß der französischen Bildung anschließt, hat der germanische Niederländer denselben Weg nicht zu den Deutschen? [...] Die politische Größe einer Nation verhilft auch ihrer Sprache zur Herrschaft. Nun aber der niederdeutsche Sprach- und Nationalkörper aus einander [sic] gehauen wurde, nun der germanische Belgier sich von dem Strom der französischen Zunge und Bildung überschwemmt sieht, wäre es nicht natürlich, daß er sich der großen Stammbrüderschaft sprachlich anschließt und die hochdeutsche Sprache allmälig [sic] mit der seinigen in Einklang zu bringen strebt?’Ga naar voetnoot244 | |
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Die Zukunft der niederländischen Literatur lag also nach Meinung Kurandas und seiner Grenzboten in einem näheren Anschluß an Deutschland. Bedauerlicherweise mußte man feststellen, daß man in Flandern nicht bereit war, die gereichte Hand anzunehmen. Anstatt daß die Autoren in Flandern die Aufgabe übernahmen, ‘vorzubereiten und Uebergänge zu bahnen’Ga naar voetnoot245, stießen die deutschen Vorschläge auf keinerlei Reaktion und stellten sich die Führer der Sprachbewegung in Flandern ausdrücklich als ‘Hindernisse’Ga naar voetnoot246 auf. Man wollte ‘Flamänder sein, nicht Deutsche noch Holländer’Ga naar voetnoot247. Obwohl bereits 1843 in den Grenzboten geschrieben wurde, daß man von der Hoffnung, daß die Autoren in Flandern bald die ‘weite Scene der deutschen Literatur’Ga naar voetnoot248 betreten würden, abrücken müsse und ein flämischer ‘Sprachanschluß’Ga naar voetnoot249 ebensowenig zu erwarten sei wie von den Niederländern ein Zollanschluß, änderte sich die Perspektive auf die Literatur aus Flandern kaum. Nicht nur Kuranda betonte nach 1843 in einem Beitrag zur Literatur in Flandern - einem Auszug aus seinem Buch Belgien seit seiner Revolution -Ga naar voetnoot250 erneut ihre Perspektivelosigkeit aufgrund des Nebeneinanders zweier Sprachen in Belgien, der Situation des Verlags- und Sortimentbuchhandels, der trübseligen Verbindung mit dem Ausland, des Mangels an literarischer Kritik und nicht zuletzt auch | |
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aufgrund des Einflusses der Ultramontanen und stellte, ohne diesmal den direkten Anschluß zu fordern, die Zugehörigkeit der niederländischen Literatur zur deutschen heraus. Auch in anderen Beiträgen wurde die Tatsache, daß sich innerhalb der flämischen Bewegung die Tendenz zum Anschluß an Deutschland nicht durchsetzte, immer wieder bedauert oder war von Flamen als ‘verkommene[n] Deutsche[n]’Ga naar voetnoot251 die Rede, die ‘die unnationale trübselige Politik des heiligen römischen Reichs auf die unverzeihlichste Weise dem großen Ganzen entschlüpfen, entfremden’Ga naar voetnoot252 ließen, und von der ‘ewigen Brüderschaft zwischen flamisch [sic] Belgien und seinen germanischen Bruderstämmen’Ga naar voetnoot253. Unmißverständlich war schließlich auch der Beitrag über die flämische Sprachbewegung und Hendrik Conscience, in dem Kurandas alte Positionen wiederholt wurden: ‘Die Stammverwandtschaft zwischen Flamändern und Deutschen gebot und gebietet noch jetzt, der Sprachbewegung in den beiden Flandern, Antwerpen und Brabant einen Blick der Aufmerksamkeit zu schenken [...] in Belgien steht ein verkümmertes Plattdeutsch einem vollkommen organisirten und freien Staatswesen gegenüber, welches französisch redet [...] Das Flämische ist als Volkssprache im Osten und Norden Belgiens beinahe unausrottbar, für die Bildung des Landes wird es aber weniger leisten’Ga naar voetnoot254. Kein Wunder also, daß immer deutlicher betont wurde, daß der Triumph der ‘größte[n] literarische[n] Berühmtheit der Flamänder’Ga naar voetnoot255, der Triumph von Hendrik Conscience, auf die deutsche Begeisterung für | |
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die flämische Bewegung (die zu Unrecht zu einem ‘nationale[n] Glaubensartikel’Ga naar voetnoot256 geworden sei) zurückzuführen sei und daß man diesen Autor, wie schwer es einem Ausländer vielleicht auch fallen möge, vor allem als ‘moderne[n] Patriot[en]’Ga naar voetnoot257 würdigen müsse, denn in literarischer Hinsicht stelle das Werk von Conscience kaum etwas vor. Daß Conscience ‘aus Patriotismus eine verkümmerte Sprache cultivirt und ihr eine Literatur zu verschaffen sucht’Ga naar voetnoot258, werde seinem Werk zum Verhängnis. Jacob von Artevelde (1856, ndl. Jacob van Artevelde, 1849) fehle es ‘fast an Allem, was die deutsche Kritik lobend hervorheben könnte’Ga naar voetnoot259, und über Consciences kleine Novellen war zu lesen, daß sie ‘in eine Sentimentalität’Ga naar voetnoot260 getaucht seien, die sie ‘künstlerisch unwahr’Ga naar voetnoot261 mache und ‘ein dauerndes Behagen’Ga naar voetnoot262 nicht aufkommen lasse. Sie seien also ‘schwerlich geeignet [...], der schönen Literatur einer neuen Sprache [...] Charakter und Richtung zu geben’Ga naar voetnoot263. Damit war das Urteil über Conscience in den Grenzboten gesprochen. Später wurde auch Baes Gansendonck als schwach, ohne innere Konsistenz abgewiesen, bei der Besprechung vom Bauernkrieg bemängelt, daß das Werk nicht von einem ‘entschiedenen plastischen Talent getragen’Ga naar voetnoot264 sei, erneut betont, daß man wohl vor allem Consciences Patriotismus würdigen müsse, und schließlich bei der Besprechung des Geldteufels kritisiert, daß der Autor bei seinem Kampf gegen den Materialismus nicht beim ‘rechten Ende’Ga naar voetnoot265 ansetze.Ga naar voetnoot266 Lediglich zwei Erzählungen, Der arme Edelmann und Die blinde Rosa (1851, ndl. Blinde Rosa, 1850), wurden etwas entgegenkommender als ‘ein Paar zart gedachte und hübsch ausgeführte Genrebildchen, halb rührend und halb humoristisch, die bei ihrer Anspruchslosigkeit wol befriedigen können’Ga naar voetnoot267, beurteilt. Die Werke der wenigen Autoren aus den Niederlanden, die in den Grenzboten besprochen wurden - offenbar hatte man sie über die Niederländische Reihe, die bei Lorck verlegt wurde, der auch Conscience publi- | |
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zierte, oder über den Übersetzer O.L.B. Wolff kennengelernt, denn fast alle besprochenen Übersetzungen standen mit einem der beiden in Beziehung -, kamen wohl, weil der Literatur aus den Niederlanden mehr Eigenständigkeit eingeräumt wurde, etwas besser weg. Bosboom-Toussaint wurde ein ‘nicht unbedeutendes Talent für Charakteristik’Ga naar voetnoot268 bescheinigt, und auch die Niederländischen Dorfgeschichten von C. van Schaick, von denen der Rezensent behauptete, daß sie aus dem Flämischen übertragen wären, obwohl er wußte, daß der Autor in Amsterdam geboren wurde, wurden relativ positiv empfangen. Es wurde zwar beklagt, daß es zu viele Dorfgeschichten gebe, die sich sehr ähnlich seien: ‘trotz ihrer schwarzwälder, schweizer, böhmischen und vlämischen Maske erinnern sie mehr oder minder an ihr Original, den westphälischen Hofschulzen in Immermann's Münchhausen’Ga naar voetnoot269; und der Beitragende scheute sich nicht mitzuteilen, daß er Van Schaicks Dorfgeschichten, weil sie zu lang seien, nicht zu Ende gelesen habe, aber er bescheinigte, daß sie ‘in ihrer Art vortrefflich geschrieben’Ga naar voetnoot270 seien und an ‘Virtuosität der Detailzeichnung und an Erfindung leidlich gesunder Menschen mit Berthold Auerbach und Jeremias Gotthelf wetteifern’Ga naar voetnoot271 könnten. Zu der geringen Zahl der Besprechungen niederländischer Literatur in den Grenzboten hat neben der für die Zeit innerhalb der Germanistik typischen geringschätzenden Haltung gegenüber der niederländischen Literatur und dem Einfluß und den Ideen Kurandas mit Sicherheit beigetragen, daß Die Grenzboten als ‘Rivalen’ der Blätter für literarische Unterhaltung ‘Stimmführer [...] der [...] realistischen Richtung’Ga naar voetnoot272 sein wollten.Ga naar voetnoot273 Dies kann man - so wie die Beiträge zu den Niederlanden und Flandern auch die für Die Grenzboten typische Kritik am Ultramontanismus widerspiegeln -Ga naar voetnoot274 konkret einigen Rezensionen zur niederländi- | |
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schen Literatur entnehmen. So betonte der Rezensent von Van Schaick zunächst, daß die Dorfgeschichten auf ihn nur Eindruck machen könnten, weil sein Geschmack ‘durch starke Gewürze überreizt’Ga naar voetnoot275 sei, aber er distanzierte sich daraufhin wieder und stellte fest, daß er sie dennoch nicht zu Ende gelesen habe, daß sie also wohl nicht würzig genug gewesen seien, um sein Interesse auf Dauer fesseln zu können, und bei der Rezension von Consciences Chlodwig und Chlothilde (1855, ndl. Hlodwig en Clothildis, 1854) wurde betont, daß der Autor zuviel ‘Gutmüthigkeit’Ga naar voetnoot276 besitze, um die Darstellung ‘so harter und gewaltthätiger Charaktere, wie sie in der Geschichte des 5. und 6. Jahrhunderts auftreten’Ga naar voetnoot277, angemessen beschreiben zu können. Die politischen Beiträge in den Grenzboten machten neben einigen Reiseberichten bzw. -bildern, einem Beitrag über die Bevorzugung belgischer Kunst in Deutschland und einer Analyse des Verfalls der niederländischen Heringsfischerei den größten Teil der Beiträge über die Niederlande und Flandern aus. Bis Anfang der fünfziger Jahre zeigte sich deutlich das Wirken Kurandas. Vor 1853 erschienen in den Grenzboten vor allem Beiträge über Belgien, in denen die Bedeutung von Belgiens Unabhängigkeit (insbesondere von Frankreich, aber auch von den Niederlanden), die moralische und materielle Unverträglichkeit der belgisch-französischen Beziehungen, die Gemeinsamkeiten zwischen Belgien und Deutschland und der Sinn einer Annäherung an Deutschland als Schutz gegen Übergriffe Frankreichs beschrieben wurden. Ab 1853 rückten aber die Niederlande mehr und mehr in den Mittelpunkt. Zunächst war das Verhältnis noch relativ ausgewogen. Auf einen Aufsatz über Belgien folgte ein Beitrag über die Niederlande. So wurde als Gegenstück zu dem Essay Belgiens politische Lage im Innern und nach Außen ebenfalls 1853 der Beitrag Die politischen Zustände in den Niederlanden veröffentlicht.Ga naar voetnoot278 1854 erschien wiederum | |
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nach einem Beitrag mit Impressionen aus Brussel ein Aufsatz über Wissenschaft, Kunst und Leistungen der Niederländer.Ga naar voetnoot279 Dann aber distanzierte man sich von Flandern, und die Zeitschrift konzentrierte sich für einige Jahre auf die Niederlande. Dabei zeigte sich, daß man auch diesem Staat immer weniger Respekt entgegenbrachte und Eigenständigkeit zuerkannte. Dies belegt deutlich der Beitrag Niederländische Zustände, in dem der Autor die Hauptcharakteristika der niederländischen geistigen Entwicklung beschrieb: ‘ein unbedingter christlicher Standpunkt [...], völliges Fehlen eines büreaukratischen [sic] Einflusses, Mangel wie Scheu vor logischer Consequenz und Kleben am Gewesenen, Gegenwärtigen und Autoritäten’Ga naar voetnoot280. Vor allem das letztere Kennzeichen sei typisch für ein Volk, das sich zunehmend in Abhängigkeit begeben habe und begebe. Eine These, die folgendermaßen erläutert wurde: ‘Jedes Volk, welches sine ruhmreiche Periode hinter sich hat, ohne eine zweite gleiche oder ähnliche mit Grund erwarten zu können, was beides bei den Niederländern der Fall ist, wird ein eifersüchtiger Vertheidiger des Gewesenen und Bestehenden. Die Niederlande sind politisch wie handelspolitisch an einem Punkte angelangt, wo jeder Fortschritt zur Unterordnung unter das stammverwandte Deutschland führen muß, unter das Deutschland, welches man zwar in ersterer Beziehung noch gar nicht und in zweiter erst in den letzten Jahren zu respectiren begonnen hat, von dem man aber für die Zukunft umsomehr fürchtet, als man bei einigem Nachdenken das Vorhandensein unermeßlicher Entwicklungskräfte nicht leugnen kann. In dem ganzen Volke der Niederlande steckt eine bange Furcht vor dem Erwachen des deutschen Mannes’Ga naar voetnoot281. Die Auffassung, daß die Niederlande dem ‘Ende als selbständige Nation’Ga naar voetnoot282 entgegenstrebten, wurde in den fünziger Jahren in den Grenzboten zwar nicht immer gleich extrem vertreten - so wies ein anderer Aufsatz nur auf die Notwendigkeit einer handelspolitischen Freundschaft zwischen den Niederlanden und Deutschland hin -,Ga naar voetnoot283 aber die Beiträge aus den fünfziger Jahren waren eindeutig Vorboten der siebziger Jahre, | |
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in denen Die Grenzboten ‘zum Sprachrohr der inneren [und, wie die Diskussion um eine Annexion der Niederlande zeigt, nicht nur der inneren, HVU] Politik Bismarcks’Ga naar voetnoot284 wurden und die Diskussion um das Ende der Selbständigkeit des niederländischen Staates immer mehr in den Vordergrund rückte. Noch 1869 wurden sowohl von niederländischer als auch von deutscher Seite die Gedanken einer niederländischen Annäherung an Preußen und einer preußischen Annexion der Niederlande heftig widerlegt.Ga naar voetnoot285 Aber 1871 bestätigte der Korrespondent der Zeitschrift aus Den Haag dennoch das Wort Bismarcks von der Selbstannexion der Niederlande und schrieb: ‘Unser Anschluß an Deutschland, der mehr und mehr eine Nothwendigkeit wird, muß langsam und freiwillig sein, und zwar unter der Bedingung, daß uns die größtmögliche Selbständigkeit gelassen wird. Zwang würde das Ziel immer weiter hinausrücken. Wir gehören wirthschaftlich und geistig zu Deutschland, aber unser früheres nationales Volksleben gibt uns dagegen Recht auf eine Sonderstellung und Unabhängigkeit’Ga naar voetnoot286. Die Grenzboten haben also, obwohl die direkte Annexion nie wirklich befürwortet wurde, mit Sicherheit die Angst der Niederländer vor einer preußischen Annexion genährt.Ga naar voetnoot287 | |
1.4 Niederländische Literatur in Einzeldarstellungen: IIn dieser ersten untersuchten Periode stand anfangs, wie zu erwarten, auch in den verschiedenen ausführlichen Beiträgen, die außerhalb der getrennt untersuchten Zeitschriften erschienen, wegen des großen deutschen Interesses für die Entwicklungen in Belgien die niederländischsprachige Literatur aus Flandern im Mittelpunkt. Daß diese Literatur, die für den Verfasser der Anthologie Auswahl niederländischer GedichteGa naar voetnoot288 F.W. von Mauvillon sechs Jahre nach der Belgischen Revolution noch kein Begriff war und über die man auch 1854 offenbar ‘nichts bedeutendes’Ga naar voetnoot289 verraten könne, ‘wenngleich ihre Romane auch in deutschen | |
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Übersetzungen eifrig gelesen’Ga naar voetnoot290 würden, mehr Aufmerksamkeit als die aus den Niederlanden erregen konnte, wurde aber auch dadurch begünstigt, daß Anfang des 19. Jahrhunderts die Literatur aus den Niederlanden im deutschen Sprachraum völlig unbekannt war und daß ‘von manchen ihre Existenz sogar bezweifelt’Ga naar voetnoot291 wurde. Letzteres wurde schon damals damit begründet, daß so mancher ‘niederländische Ausdruck den Deutschen unwillkürlich an ein ganz ähnliches plattdeutsches Wort’Ga naar voetnoot292 erinnere und ‘übel’Ga naar voetnoot293 klinge, daß das Niederländische nur von einigen Millionen Leuten gesprochen werde, daß die niederländische Literatur ‘keinen Eckstein zur Weltliteratur’Ga naar voetnoot294 gelegt habe und daß sie ‘so durchaus protestantisch, so gesund und puritanisch nüchtern’Ga naar voetnoot295 sei, daß auch die Romantik an ihr vorbeigegangen zu sein scheine. In deutschen Augen hatte die niederländische Literatur Anfang des vorigen Jahrhunderts nur noch historische Bedeutung, war von ihr nur der ‘Leichnam’Ga naar voetnoot296 übriggeblieben. Erst das Zusammentreffen dieser Überzeugungen mit der politischen Konstellation machte es möglich, daß die Zukunft der niederländischen Literatur für viele Publizisten, die sich in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit ihr beschäftigten, so selbstverständlich in Flandern zu liegen schien, daß man dort und nicht in den Niederlanden ‘nach langer [...] Erschlaffung’Ga naar voetnoot297 alles entdeckte, | |
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‘[...] was die Literatur, was die geistige Bildung, die politische Praxis der Niederländer uns vermissen läßt: geistige Regsamkeit und Frische, ein energisches, ausdauerndes Bestreben, die großen Fragen der Zeit, die Aufgaben der Philosophie, der Geschichte zu begreifen und sich an ihrer Lösung zu betheiligen, endlich und vor Allem [sic], statt jenes zähen Egoismus, jener kleinlich krämerhaften Chikane, welche die Niederländer uns entgegensetzen, vielmehr ein freudiges Entgegenkommen, ein offnes, fröhliches Bekenntniß der gemeinsamen germanischen Abkunft’Ga naar voetnoot298. In diesem Zusammenhang, und nicht nur als bloßes Resultat eines deutschen kulturellen Expansionsdranges, ist auch die Tatsache zu sehen, daß die bekannten deutschen Publikationen zur niederländischen Literatur, Reise-Erinnerungen aus Belgien von der ‘Modeschriftstellerin’Ga naar voetnoot299 Louise von Ploennies und die mit biographischen Anmerkungen versehene, ausführliche Übersicht Von der Schelde bis zur Maas von Ida von Düringsfeld, sich ausschließlich mit der Literatur aus Flandern beschäftigten.Ga naar voetnoot300 Es kann zwar nicht geleugnet werden, daß der Grundtenor auch dieser beiden Bücher, wie bei Prutz, die Begeisterung für die Flamen und ihre Kultur als ‘Blut von unserm Blut, Geist von unserm Geist’Ga naar voetnoot301 war, daß beide ‘Gesandten Deutschlands’ sich mit den Flamen zutiefst verwandt fühlten - wobei sich von Ploennies bezeichnenderweise darüber ärgerte, daß die Flamen keinen Unterschied zwischen Kirche und ‘Pfaffentum’Ga naar voetnoot302 machten und daß viele Flamen, ‘so bald sie in die Welt treten’Ga naar voetnoot303, das Flämische ‘wie einen alten Flausrock’Ga naar voetnoot304 ablegten. Aber es muß betont werden, daß Ida von Düringsfeld die niederländischsprachige Literatur aus Flandern nur als ‘vorläufige[n] Zweck der flämischen Bewegung’Ga naar voetnoot305 sah. Im Gegensatz zu Prutz malte sie sich nicht aus, wie die Folgen einer ‘aufrichtigen und innigen Verbrüderung Belgiens mit Deutschland’Ga naar voetnoot306 | |
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aussehen könnten, sondern verfolgte lediglich mit Freude und Bewunderung den Kampf der Flamen für den deutschen Geist. Bezeichnend für die Periode 1830-1880 war ferner, daß die Beiträge zur neueren niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum bis Mitte der sechziger Jahre weitgehend unabhängig voneinander als selbständige Publikationen und nicht in großen Zeitschriften erschienen. Bis auf Prutz bezog sich niemand auf Vorstudien. Dies weist darauf hin, daß das Interesse für die niederländische Literatur trotz der weit verbreiteten Diskussion um Belgien und der Diskussionen um die Überlebensfähigkeit der Niederlande in Zeitschriften wie Die Grenzboten auf Einzelpersonen beschränkt war. Erst gegen Ende der untersuchten Periode änderte sich dies insofern, als sich das Augenmerk nun nicht mehr an erster Stelle auf Flandern richtete. Zugleich erschienen damals einige ausführliche Übersichten über die moderne Literatur in den Niederlanden in teilweise recht bekannten und weit verbreiteten Zeitschriften, was als erster wirklicher Erfolg für die Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum zu werten ist. Der erste Beitrag Die holländische LiteraturGa naar voetnoot307 klang 1863 noch eher zögernd. Noch einmal bedauerte der aus den Niederlanden stammende Autor, daß die Literatur seines Vaterlandes im deutschen Sprachraum so wenig bekannt war: ‘Es bleibt ein eigenes Räthsel für unsere alles ergründende Zeit, daß zwei Nachbar-Nationen, wie die deutsche und holländische, die aus einer Wurzel entsprossen sind und ihrem tiefen inneren Wesen zufolge als eng verschwistert erscheinen müssen, sich dennoch so unendlich fern bleiben und beiderseits keine Schritte thun, sich näher kennen zu lernen.’Ga naar voetnoot308 Dabei suchte er nach Gründen für dieses Verkennen der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum und führte weitgehend bekannte Argumente an: ‘das flache, neblige Holland’Ga naar voetnoot309, die Sprache, die ‘einiger Härten wegen’Ga naar voetnoot310 dem deutschen Ohr mißfalle, den Umstand, daß die Niederländer sich gerne und leicht fremder Sprachen bedienten, und nicht zuletzt, daß der ‘Geist der niederländischen Sprache | |
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[...] nicht leicht zu fassen’Ga naar voetnoot311 sei. Nachdem er daraufhin auf die bedeutende Geschichte der Niederlande und die hervorragende Literatur aus dem 17. Jahrhundert hingewiesen hatte, wandte er sich dem 19. Jahrhundert zu und hob als ‘Held[en] und Heerführer’Ga naar voetnoot312 Willem Bilderdijk (1756-1831) hervor, um dann auf Hendrik Tollens (1780-1856) und interessanterweise insbesondere auch auf Isaak da Costa einzugehen: ‘Keiner der jetzt lebenden niederländischen Dichter kann mit dem 1862 verschiedenen Dacosta [sic] verglichen werden, nicht weil sie so klein, sondern weil er so groß dasteht und durch seinen Glanz die andern verdunkelt’Ga naar voetnoot313. Sicher, so schrieb der Kritiker des Bremer Sonntagsblattes, es gab J. van Lennep und N. Beets, aber nach ‘Dacosta's [sic] Tode scheint die niederländische Muse abermals einzuschlummern’Ga naar voetnoot314. Obwohl, so gab er zugleich zu, gerade diese Männer, zusammen mit Jan Jacob Lodewijk ten Kate (1819-1889), Jan Pieter Heije und Josephus Alberdingk Thijm, bewiesen, daß das ‘achte Dichterfeuer’Ga naar voetnoot315 doch nicht erloschen sei und daß die niederländische Literatur auch nach Da Costa darauf Anspruch erheben könne, ‘mehr gesucht, besser gekannt und allgemeiner bewundert zu werden’Ga naar voetnoot316. Die Voraussetzung dafür lieferte aber erst das Erscheinen von W.J.A. Jonckbloets Geschichte der niederländischen LitteraturGa naar voetnoot317. Dieses Werk von ‘Hollands Literaturhistoriker par excellence’Ga naar voetnoot318, das die Literatur der Niederlande selbstbewußt als Nationalliteratur präsentierte, ermöglichte nach 1870 die ‘Aufhellung mancher Vorurtheile über das niederländische Geistesleben’Ga naar voetnoot319. Insbesondere Jonckbloets Geschichte der nieder- | |
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ländischen Litteratur hat dazu beigetragen, daß die Artikel zur niederländischen Literatur, die ab der Mitte der siebziger Jahre in der Zeitschrift Gegenwart erschienen und die dort ansetzten, wo Jonckbloet aufgehört hatte, nämlich bei den rezenten Entwicklungen in der niederländischen Literatur, von einer ungekannten Selbstverständlichkeit zeugten. Die einzelnen Aufsätze, u.a. einer gegen das Pfaffentum in der niederländischen Literatur und einer vom Übersetzer A. Glaser, waren zwar zum Teil sehr polemisch, aber aufgrund ihrer teilweise völlig gegensätzlichen Standpunkte und wegen ihrer Ausführlichkeit informierten sie mehr als bis dahin üblich über das literarische Geschehen in den Niederlanden in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.Ga naar voetnoot320 Dabei fand, dies zeigt erneut die bis dahin gewachsene Distanz zu Flandern, in keinem dieser Beiträge die niederländischsprachige Literatur aus Flandern noch Berücksichtigung. |
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