Moderne Niederländische Literatur im Deutschen Sprachraum 1830-1990
(1993)–Herbert van Uffelen– Auteursrechtelijk beschermd
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Teil 1: Rezeption | |
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EinleitungDie bedeutendsten Untersuchungen zur Rezeption fremdsprachiger Literaturen im deutschen Sprachraum liegen bereits einige Jahre zurück. Trotzdem wurde der Literatur aus den Niederlanden und Flandern bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ungeachtet der unübersehbaren Erfolge in den fünfziger und sechziger Jahren und des rezenten Durchbruchs von Autoren wie Hugo Claus (o1929), Harry Mulisch (o1927) und Cees Nooteboom (o1933) scheint das Interesse für die niederländische Literatur nach wie vor unter dem geringen Ansehen zu leiden, von dem die Kultur aus dem niederländischen Sprachraum, seit sie ihre Vormachtstellung im 17. Jahrhundert verloren hat, betroffen ist, und unter der Tatsache, daß viele Deutsche die niederländische Sprache als ‘dem zur mißbilligten Mundart erniedrigten Niederfränkisch’Ga naar voetnoot1 zu ähnlich empfinden. Ursachen für die bislang eher geringe Aufmerksamkeit für die niederländische Literatur nach 1945 sind nicht nur auf deutscher Seite zu suchen. Von niederländischer und flämischer Seite hat man der Tatsache, daß im deutschen Sprachraum in bezug auf die niederländische Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg einfach alte Traditionen fortgesetzt wurden und daß damals der Kontakt zu den neuen Entwicklungen in der niederländischen Literatur so gut wie abriß, auch nur wenig entgegengesetzt. Letzteres mag bei der grundsätzlich internationalen Orientierung der Niederländer erstaunlich erscheinen, aber diese Orientierung beruht nun einmal an erster Stelle auf einem merkantilen Interesse. Nicht die Kultur, sondern Käse und Tulpen oder der erhobene moralisierende Zeigefinger stehen für die Niederländer bei internationalen Beziehungen vielfach im Vordergrund. In kultureller Hinsicht neigen sie eher zu übertriebener Zurückhaltung oder zur eigenen kulturellen ‘Annexion’ durch fortwährenden Import fremder Produkte.Ga naar voetnoot2 | |
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Auf den ersten Blick sind die Flamen im Vergleich zu den Niederländern viel nationalistischer, aber dafür sind sie in dem sich im Wandel zum föderalistischen Staat befindlichen Belgien noch immer auf der Suche nach einer eigenen Identität. Hieraus erklären sich sowohl ihr Streben nach Anschluß an den nördlichen Nachbarn als auch ihr Partikularismus. Kein Wunder, daß gerade das Werben um Anerkennung, das von seiten der Flamen in der Vergangenheit in Richtung Osten immer wieder entwickelt wurde, ebenfalls alles andere als ein aktiver, selbstsicherer Einsatz für die Verbreitung der eigenen Kultur war. Glücklicherweise hat sich, was die Haltung der Niederländer und Flamen bezüglich der Förderung ihrer Sprache und Literatur im Ausland betrifft, besonders in den letzten Jahren einiges getan. Wichtige Ereignisse in diesem Zusammenhang waren die Gründung der ‘Stiftung zur Förderung der niederländischen Literatur in Übersetzung’, mit der bis vor kurzem Niederländer und Flamen gemeinsam ihre Literatur im Ausland zu fördern versuchten, und Mitte der achtziger Jahre das große Veranstaltungsprogramm Begegnungen mit den Niederlanden der Königlich Niederländischen Botschaft in Bonn, mit der diese die niederländische Kultur einschließlich ihrer Literatur im deutschen Sprachraum präsentierte. Damals hat die Königlich Niederländische Botschaft auch den Grundstein für diese Studie und die dazugehörigen Bibliographien gelegt, indem sie in Zusammenarbeit mit Murk Salverda, dem Verantwortlichen für die Ausstellungen des Nationalen Literaturmuseums in Den Haag, als Begleitmaterial zur Wanderaustellung Ohne Käse, ohne Tulpen die Broschüre Niederländische Literatur in deutscher Übersetzung herausgegeben hat, in der eine vorläufige Bibliographie der niederländischen Literatur, d.h. der niederländischsprachigen Literatur aus den Niederlanden und Flandern, in deutscher Übersetzung ab 1900 enthalten ist.Ga naar voetnoot3 Das Bewußtsein, daß sich die Niederlande und Flandern seit der Gründung der supranationalen Niederländischen Sprachgemeinschaft (Taalunie), der Belgien und die Niederlande 1980 Pflege und Förderung der niederländischen Sprache und der niederländischen Literatur im Ausland übertragen haben, gemeinsam für die niederländische Literatur im Ausland einsetzen müßten, nimmt aber nur langsam zu.Ga naar voetnoot4 Zwar verzerrt | |
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der niederländische Schriftsteller Jeroen Brouwers (o1940), der lange Zeit in Flandern gewohnt hat, die tatsächliche Sachlage, wenn er behauptet, daß es überhaupt keine Sprachgemeinschaft gebe, sondern nur eine Sprachverwirrung, die aus einer Entfremdung, die bei den jeweiligen Staatsgrenzen beginne, resultiere.Ga naar voetnoot5 Aber dennoch ist Hugo Dyserinck leider immer noch zumindest teilweise recht zu geben, wenn er feststellt, daß es in Flandern und den Niederlanden Leute gibt, die davon überzeugt sind, daß es sich bei den Unterschieden zwischen Flamen und Niederländern um Unterschiede ‘zwischen zwei selbständigen Volksgemeinschaften’Ga naar voetnoot6 handelt. Der Vertrag der Niederländischen Sprachgemeinschaft hat in den Niederlanden und Flandern noch keine breite Basis gefunden. Vorurteile und Ängste prägen nach wie vor die Beziehungen und behindern die erfolgreiche gemeinsame Förderung der niederländischen Literatur im Ausland.Ga naar voetnoot7 So ist es kein Zufall, daß geeignete Instanzen, die diese Förderung übernehmen könnten, heutzutage nicht zur Verfügung stehen. Die Niederländische Sprachgemeinschaft hat bezüglich der Förderung der niederländischen Literatur im Ausland keine eigenen Initiativen entwickelt, und die bereits erwähnte Stiftung zur Förderung der niederländischen Literatur in Übersetzung hat, dies war auch der Grund ihrer Auflösung, | |
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in den letzten Jahren ihrer Existenz die Literatur aus Flandern nur noch auf Papier gefördert.Ga naar voetnoot8 Trotz des Vertrages der Niederländischen Sprachgemeinschaft wird die niederländische Literatur seit einiger Zeit wieder national, d.h. einerseits durch eine flämische und andererseits durch eine niederländische Instanz, gefördert. Beide Instanzen arbeiten in der Praxis zwar zusammen, aber es bleiben Instanzen mit länderspezifischen Prioritäten. Demnach bleibt also nur zu hoffen, daß aus der eigens für die Frankfurter Buchmesse 1993 gegründeten flämisch-niederländischen Stiftung auf Dauer eine dem Vertrag zur Niederländischen Sprachgemeinschaft entsprechende neue Organisation zur gemeinsamen Förderung der niederländischen Literatur im Ausland wachsen wird. Für den flämisch-niederländischen Prozeß der supranationalen Auto-Imagebildung ist das Bild des Auslandes von eminenter Bedeutung. Dafür bietet wiederum das Jahr 1985 einen Beleg, denn in diesem Jahr berief sich die Königlich Niederländische Botschaft zur Dokumentation der Einheit der Literatur aus den Niederlanden und Flandern statt auf die eigene Sprachgemeinschaft auf die sogenannte ‘Klarstellung’, ein Manifest aus dem Jahr 1966, das zur Beseitigung der vom deutschen Übersetzer Georg Hermanowski erzeugten Sprachverwirrung publiziert wurde.Ga naar voetnoot9 Eines der Ziele der vorliegenden Untersuchung ist dann auch, durch eine Beschreibung der lange Zeit unterschätzten Rolle und Bedeutung der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum dazu beizutragen, daß sich Niederländer und Flamen in Zukunft, anstatt weiter ängstlich zu befürchten, als kulturelle Nationen nicht ernst genommen zu werden, aktiver für die gemeinsame Verbreitung ihrer Literatur einsetzen und selbstbewußter zu ihrer einmaligen Sprachgemeinschaft stehen können. Zugleich soll von der Gelegenheit Gebrauch gemacht werden, das Bild der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum, wo nötig, zu korrigieren. Dabei wird versucht, in Anbetracht des Verhältnisses der niederländischen Literatur zur deutschsprachigen als das einer kleineren Literatur zu einer größeren (wobei die kleinere schnell zur minderwertigen abqualifiziert wurde bzw. wird), wo möglich, de Eigenständigkeit und die Eigendynamik der niederländischen Literatur hervorzuheben. In diesem Sinne steht in der vorliegenden Studie, wie wichtig der Prozeß der Transformation für die Praxis der Übersetzung auch ist, anders als etwa bei der Untersuchung zur Rezeption der niederländischen Litera- | |
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tur in englischer Übersetzung von Ria Vanderauwera, nicht die ‘accomodation’, die Anpassung der ‘minority literature’Ga naar voetnoot10 an das Zielsystem, im Vordergrund. Es besteht inzwischen wohl kein Zweifel mehr darüber, daß die Leser gegenüber ‘peripheral and secondary work’Ga naar voetnoot11 weniger offen stehen ‘than for work at the innovatory center of the literary system, where inventiveness and creativity may be not only condoned but applauded’Ga naar voetnoot12, und daß sich kleinere Literaturen in einem vitiösen Zirkel befinden - ‘unknown therefore not translated, therefore always unknown’Ga naar voetnoot13 -, aber eine Untersuchung, die vor allem das Zielsystem und die Adaption an dieses System in den Vordergrund stellt, fällt leicht selbst diesem Zirkel zum Opfer und riskiert, die Bedeutung der ursprünglichen Literatur, die Eigenständigkeit des ersten literarischen Systems aus dem Auge zu verlieren, um die Möglichkeiten ihrer Integration in die zweite zu untersuchen und Vorschläge zu ihrer Verbreitung zu machen. In Wirklichkeit fördert man so aber selten die Ursprungsliteratur, sondern vielfach ausschließlich die Homogenität der Zielliteratur. Den Stellenwert, den eine Literatur, besonders eine kleinere, in einer größeren wirklich innehat, kann man nur dann erfassen, wenn man ihre Eigenständigkeit und Eigendynamik nicht aus dem Auge verliert und nicht nur die Abhängigkeit, in der sich eine Literatur wie die niederländische befindet, beschreibt. Eine solche Beschreibung der modernen niederländischen Literatur als refraktierte Literatur in einem größeren Zieisystem, in diesem Falle in dem der deutschsprachigen Literatur, erfordert eine weitgehend offene und vielschichtige Analyse. Darum beschränkt sich diese Studie nicht auf eine Konfrontation der literarischen Fakten, der tatsächlichen Übersetzungen mit bedeutenden Ereignissen in den jeweiligen literarischen Systemen. Großes Gewicht wird auch auf die Darstellung der politischen und kulturellen Beziehungen zwischen den Niederlanden und Flandern auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite gelegt. Das Gleiche gilt für die Beschreibung des Einsatzes von Individuen oder Verlagen für die niederländische Literatur sowie gegebenenfalls der Förderung durch niederländische oder flämische Instanzen, denn alle diese Elemente bestimmen die Dynamik des Austausches.Ga naar voetnoot14 Besondere Aufmerksamkeit | |
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wird ferner dem Bild der niederländischen Literatur in einigen literarischen Zeitschriften gewidmet, weil sich durch die Konfrontation mit der relativen Konstante einer literarischen Zeitschrift besser als durch die Beschreibung einzelner Monographien oder durch die Analyse der Darstellung der niederländischen Literatur in einzelnen literaturhistorischen Übersichten das sich ständig ändernde Bild der niederländischen Literatur beschreiben läßt und so die Spannung zwischen den beiden literarischen Systemen, die das Subsystem moderne niederländische Literatur im deutschen Sprachraum bestimmen, am besten erhellt werden kann. Um den großen Untersuchungszeitraum überschaubar zu machen, wird er in vier Perioden untergliedert, wobei der Aufteilung sowohl literarische als auch politische Ereignisse zugrunde gelegt werden. Die erste Periode (1830-1880) wird einerseits durch die Unabhängigkeit Belgiens begrenzt, die zugleich den Anfang der modernen niederländischsprachigen Literatur aus Flandern darstellt, und andererseits durch die literarische Erneuerung in den Niederlanden und einige Jahre später auch in Flandern in den achtziger und neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Bei der Untersuchung dieser Periode stehen die ersten deutsch-niederländisch-flämischen Beziehungen und eine Analyse des Erfolges des flämischen Autors Hendrik Conscience (1812-1883) im deutschen Sprachraum im Mittelpunkt. Es wird beurteilt, inwiefern Consciences Erfolg die Grundlage für eine breitere Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum war. Die zweite Periode (1880-1914) beginnt mit der literarischen Revolution der Achtziger in den Niederlanden und endet kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In diesem Abschnitt wird die Rezeption der zwei bedeutendsten Vorläufer der literarischen Erneuerung in den Niederlanden und Flandern, Multatuli und Guido Gezelle, näher analysiert und der Rolle der niederländischen Achtziger im deutschen Sprachraum nachgegangen. Es wird untersucht, inwiefern das großdeutsche Interesse für Flandern und die Niederlande die Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum beeinflußt hat und in welcher Form die niederländischen Achtziger oder die Vertreter des niederländischen Naturalismus rezipiert wurden. Wie im vorhergehenden Kapitel werden die allgemeinen Feststellungen zur Periode und zur Rezeption der niederländischen Kultur | |
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und ihrer Literatur im besonderen an Hand einer Analyse einiger ausgewählter Zeitschriften überprüft. Die dritte Periode (1914-1945) ist durch die beiden Weltkriege begrenzt, denn die Rezeption der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum wurde in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu einem wesentlichen Teil durch die damalige Kriegs- und Nachkriegssituation bestimmt. Nachdem wiederum die Beziehungen zwischen Flandern, den Niederlanden und Deutschland untersucht werden, wird versucht, die Rolle der erfolgreichen niederländischsprachigen Autoren während des Nationalsozialismus zu bestimmen, und der Frage nachgegangen, inwiefern sie ins nationalsozialistische System integriert und für die Propaganda eingesetzt wurden bzw. ob sie ihre Eigenart bewahren konnten und einen eigenständigen literarischen Beitrag in dem von den Nationalsozialisten gelenkten Literatursystem leisten konnten. Abschließend werden die Feststellungen erneut mit der Entwicklung des Bildes der niederländischen Literatur in verschiedenen für die Periode bedeutsamen literarischen Zeitschriften konfrontiert. Im vierten und letzten Teil (1945-1990) wird untersucht, ob die niederländische Literatur nach über 100 Jahren der Rezeption im deutschen Sprachraum eine Rolle als gleichwertiger Partner erhalten hat. Ihre Erfolge in dieser Periode werden näher betrachtet, und die Förderung, die sie seit 1945 von deutscher, niederländischer oder flämischer Seite erfahren hat, wird kritisch beleuchtet. Da es seit dem Zweiten Weltkrieg keine deutschsprachige Literaturzeitschrift mehr gibt, die sich ausführlich und kontinuierlich mit der niederländischen Literatur beschäftigt, mußte für diese Periode auf die Analyse der Rezeption der niederländischen Literatur in Zeitschriften verzichtet werden. Dafür wird an Hand einer ausführlichen Sammlung von Zeitungsausschnitten die Rezeption einiger der bedeutendsten niederländischsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts in der deutschen Zeitungskritik eingehend betrachtet und auf Basis einer genaueren Untersuchung der verschiedenen Anthologien aus dieser Periode die Entwicklung des Bildes der niederländischen Literatur im deutschen Sprachraum dargestellt.Ga naar voetnoot15 Auf nähere Untersuchungen zur konkreten Praxis der Integration und der Art und Weise der Adaption wurde, wie wichtig dies auch ist, aus genannten Gründen verzichtet. Dies gilt auch für eine Analyse des Prozesses der Auto-Imagebildung, d.h. des selbständigen Sich-Anpassens eines | |
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Autors an das Bild seines Werkes im Ausland. In der vorliegenden Studie werden zwar bei Conscience Ansätze eines solchen Prozesses festgestellt, aber eine weitergehende Analyse dieses Vorganges bei ihm oder bei anderen Autoren, die sich intensiv mit deutscher Literatur beschäftigt haben oder lange in Deutschland gewohnt haben wie Albert Verwey (1865-1937) oder Multatuli (1820-1887), muß der nachfolgenden Forschung überlassen werden. Dies betrifft ebenso eine detaillierte Untersuchung eventueller Einflüsse der niederländischen Literatur auf die deutschsprachige oder die Frage, mit welchen Autoren z.B. Conscience im 19. oder Claus, Mulisch und Nooteboom im 20. Jahrhundert auf dem Buchmarkt im deutschen Sprachraum konkurrieren mußten bzw. müssen. Die hier vorgelegte Studie, die sich auf eine breite, diachrone Übersicht der Aspekte konzentriert, die bei der Entstehung und der Entwicklung des Systems, das aus der Begegnung der niederländischen mit der deutschsprachigen Literatur entstanden ist, eine Rolle gespielt haben und auch heute noch spielen, soll aber die für solche Untersuchungen notwendigen Voraussetzungen schaffen.
Wien, im Dezember 1992 Herbert Van Uffelen |
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