Nach 1838 verschwindet der Begriff ‘Realismus’ für mehr als zehn Jahre aus Planche's Wortschatz und dauert es, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, bis nach 1850 ehe mit einer gewissen Regelmäßigkeit von ‘Realismus’ und ‘Realisten’ in der Literaturbetrachtung die Rede ist. Fast immer wird der Begriff pejorativ gebraucht. Ab der zweiten Hälfte der vierziger Jahre spricht man in Frankreich manchmal über ‘Realismus’ in der Malerei, aber auch dann wird der Begriff zumeist negativ verwendet. Daneben kommt der Begriff auch - genau wie der in der Kunstbetrachtung ältere Begriff ‘Naturalismus’ - als neutraler Begriff vor. Nach 1850 hat sich der Begriff ‘Realismus’ in Frankreich als ein Schimpfwort eingebürgert: er konnotiert daß Urteil, daß der Künstler sich nicht von der äußeren Wirklichtkeit hat lösen können und der mechanischen Nachahmung der mit den Sinnen wahrnehmbaren Wirklichkeit verhaftet geblieben ist. Der Maler Gustave Courbet, von der Kritik apostrophiert als Jünger des Realismus in der Malerei, macht 1855 aus dem Schimpfwort einen Ehrentitel. Courbets Freund, der Schriftsteller Champfleury, der von Kritikern womöglich noch häufiger als Courbet mit dem Realismus in Zusammenhang gebracht wird, folgt ihm - zwei Jahre später - unter Protest.
Die gängige Auffassung von der Geschichte des Begriffs ‘Realismus’ um die Mitte des 19. Jahrhunderts kann in drei Punkten zusammengefaßt werden: der Begriff ‘Realismus’ wurde von französischen Kunstkritikern geprägt; ausländische Kritiker haben den Begriff von den Franzosen übernommen; Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler haben den Begriff der Kunstbetrachtung entlehnt. Die hier vorgelegte Übersichtsdarstellung belegt, daß diese Auffassung nicht zutrifft. Es ist zu vermuten, daß ‘Realismus’ in Deutschland öfter typologisch verwandt wurde, als man bislang angenommen hat. Fontane ist dieser Tradition bereits zuzurechnen, wenn er 1853 den ‘wahren Realismus’ umschreibt. In Frankreich ist der pejorative Gebrauch des Begriffs ‘Realismus’ stark verbreitet - eine Entwicklung, die sich nach 1850 eher noch verstärkt. Courbets programmatischer Gebrach des Begriffs ‘Realismus’ kann als direkte Reaktion auf diese Entwicklung aufgefaßt werden.
In Kapitel 2 sind eigene Absätze zwei Themen gewidmet, die regelmäßig zur Sprache kommen, wenn von ‘Realismus’ die Rede ist: die Frage nach den Quellen des Künstlers (Natur oder Tradition) und die nach seinem Formenschatz (allgemeine oder individuelle Formen). Weiterhin wird das Verhältnis des Terms ‘Realismus’ zu etwaigen Synonymen (‘Naturalismus’) und Gegenbegriffen (‘Idealismus’) behandelt.
In Kapitel 3 geht es um die ‘Geschichte des Begriffs “Realismus” bis 1855 in den Niederlanden’. Der Term ‘Realismus’ erscheint um 1820 in niederländischen Wörterbüchern als philosophische und bisweilen als pädagogische Lehre. In der Kunst- und Literaturbetrachtung werden die Begriffe ‘Realismus’ und ‘Realist’ vor 1855 kaum gebraucht. Bemerkenswert ist lediglich die Dissertation von L.S.P. Meijboom aus dem Jahr 1840, dessen typologischer Gebrauch der Terme ‘Realismus’ und ‘Idealismus’ Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung entnommen ist. Daß Goethe in Zeitschriften manchmal als eine ‘realistische’ Persönlichkeit beschrieben wird, ist auf den Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller zurückzuführen.
In Teil II werden Zeitschriftenartikel und Bücher besprochen, in denen ‘Realismus’ ausführlich thematisiert wird. Auch werden einige Kongresse behandelt, auf denen über Realismus debattiert wurde. In dem kurzen Zeitraum zwischen 1855 und 1859 erscheinen einige Abhandlungen, in denen der Begriff ‘Realismus’ eine prominente Rolle spielt. Die