Tussen stigma en charisma
(1982)–Paul Schnabel– Auteursrechtelijk beschermdEen analyse van de relatie tussen nieuwe religieuze bewegingen en geestelijke volksgezondheid
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I. Neue religiöse Bewegungen und PsychohygieneDer Aufschwung, den die Sekten und neuen religiösen Bewegungen, die vor allem aus den Vereinigten Staaten und Indien nach West-Europa gekommen sind, gefunden haben, hat in den letzten zehn Jahren in der Öffentlichkeit viel Aufsehen erregt und auch viel Unruhe zuwegegebracht. Vor allem der Massenselbstmord der 1000 Mitglieder der People's Temple hat hierzu beigetragen. In der Presse sind die sogenannten ‘Jugend’ Religionen zu einem regelmässig zurückkehrenden Thema geworden, und aus einer Analyse einiger hunderter Berichte in den Tageszeitungen und Wochenblättern geht hervor, dass es immer die gleichen namentlich bekannten Gruppierungen sind, die als gefährlich angesehen werden (Hare Krishna, Children of God, Vereinigungskirche, Scientology), und dass es auch immer dieselben Vorwürfe sind, die ihnen gemacht werden. (Abhängigkeit der Mitglieder, Ausbeutung, Gehirnwäsche und Versuche zur Veränderung der Identität der einzelnen Mitglieder.) Seitens der Behörden wird aber, zumindest in den Niederlanden, auf die immer dringendere Frage nach Massnahmen nur mit äusserster Zurückhaltung reagiert. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit macht es praktisch unmöglich einzugreifen, wenn nicht die Vermutung eines Strafdeliktes naheliegt. Dies ist aber nur ganz selten der Fall. Die Frage nach dem psychischen Schaden, der die Mitgliedschaft in einer Neureligion für die Mitglieder oder Jünger zu Folge haben kann, und nach dem Schaden, dem die Neureligionen der Gesellschaft in psychohygienischem Sinne zufügen könnten, bestimmt das Thema dieses Buches. Der Ansatz zur Beantwortung dieser Frage wird in einem von dem Sozialpsychiater Trimbos entwickeltem Modell gefunden. Dieses Modell beschreibt psychische Gesundheit nacheinander als Qualität im Leben des Einzelnen, als Objekt in der Forschung und Lehre, als Aufgabe eines institutionalisierten Versorgungsangebots und als Ziel eines gesellschaftlichen Strebens, und stellt einen Zusammenhang zwischen diesen Bereichen dar. Die Trimbossche Auffassung einer psychischer Gesundheitslehre als wissenschaftliches Programm der psychosozialen Versorgung wird hier von einer Auffassung abgelöst, die das von Trimbos entworfene Programm der psychohygienischen Bewegung, also dem gesellschaftlichen Streben nach einer besseren psychischen Gesundheit für die Bürger insgesamt, zuordnet. Das Programm zielt sowohl auf die Identifizierung der die psychische Gesundheit bedrohenden Wirkungen eines Phänomens (hier: neue religiöse Bewegungen), als auch auf die Identifizierung der sich eher positiv auswirkenden Merkmale jenes Phänomens ab. Die Frage wäre dann, ob und in welchem Masse die neuen religiösen Bewegungen die psychische Gesundheit ihrer Mitglieder positiv oder | |||||||||||
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negativ beeinflussen und wie sie sich auf den Stand der Psychohygiene in der Gesellschaft auswirken. Bei der Beantwortung dieser Frage werden auch Haltung und Verhalten der Gesellschaft - oder Teilgruppen der Gesellschaft - den neuen religiösen Bewegungen gegenüber berücksichtigt. Das Buch setzt sich aus einer Reihe von Teiluntersuchungen zusammen. Die einzelnen Kapitel stützen sich zum Teil auf eine Analyse der einschlägigen Fachliteratur, zum Teil auch die Ergebnisse eigener empirischer Forschung. Es wurde der Versuch unternommen, das Thema unter Anwendung von sehr unterschiedlichen theoretischen Ansätzen (soziologischen, psychologischen, juristischen, usw.) von mehr als nur einer Seite zu beleuchten. | |||||||||||
II. Neue religiöse Bewegungen in den NiederlandenIn diesem Kapitel werden die Entstehung, Entwicklung, Lehre und Verbreitung der einzelnen Bewegungen kurz beschrieben. Es stellt sich heraus, dass es fünf Bewegungen mit einem hinduistischen Hintergrund gibt (Divine Light Mission, Transzendentale Meditation, Hare Krishna, die Bhagwan-Jünger, Ananda Marga). Neben diesen von einem Guru geleiteten Bewegungen gibt es Bewegungen, die aus dem Christentum hervorgegangen sind (Children of God) oder noch immer als genuin christlich bezeichnet werden können (Youth for Christ, Campus Crusade und Navigators - fundamentalistische Jugendbewegungen evangelischer Prägung). Die christlichen Jugendbewegungen, obwohl wegen ihrer strikten Moralauffassung sicher nicht unumstritten, sind im Rahmen dieser Arbeit vor allem als Vergleichsmaterial herangezogen worden. Sie sind zwar in vielem den Sekten sehr ähnlich, aber unterscheiden sich auch in manchen Hinsichten, die in den späteren Abschnitten des Buches näher erörtert werden. Die Vereinigungskirche des Sun Myung Moons hat zwar christliche Elemente in sich aufgenommen, kann aber nicht als eine christliche Bewegung angedeutet werden. Die Scientology Kirche hat als eine laientherapeutische Bewegung angefangen und sich erst später in eine noch immer betont säkular orientierte Kirche umgewandelt. Neben den oben genannten Bewegungen gibt es noch eine ganze Reihe anderer in den Niederlanden aktiver Sekten, Neureligionen und marginale Weltanschauungen (z.B. die Mormonen, Gruppen von Buddhisten, Pfingstgemeiden, Zeugen Jehovas). In der Öffentlichkeit erregen sie aber kein besonderes Aufsehen, zum Teil weil man mit ihnen schon länger vertraut ist, zum Teil auch weil sie sich selber besser den holländischen Verhältnissen angepasst haben, sich sehr unauffällig benehmen oder sich nicht besonders auf Jugendliche richten. | |||||||||||
III. Die Hinwendung zu den neuen religiösen BewegungenIm Gegensatz zu den allgemein gängigen Erwartungen, erfreuen sich die neuen religiösen Bewegungen bei den Jugendlichen keines besonderen Zulaufs. Die meisten Bewegungen sind sehr klein. Gerade die am gefährlichsten zubetrachtenden Bewegungen (Divine Light Mission, Hare Krishna, Vereinigungskirche, Children of God) können in den Niederlanden nicht mehr als einige Dutzende von echten Mitgliedern aufweisen. Beträchtlich grösser ist die | |||||||||||
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Mitgliedschaft in solchen Bewegungen wie die Scientology Kirche, die Transzendentale Meditation oder die Bhagwansche Sannyas-Bewegung (einige Hunderte bis einige Tausende Mitglieder, in mehrheit Erwachsene mit mittlerer und höherer Ausbildung). Sehr viel grösser sind die zum Vergleich herangezogenen evangelischen Jugendbewegungen, die sich ausselhalb der christlichen Kirchen entwickelt haben. Die neuen religiösen Bewegungen stellen sich meist aus einem kleinen Kern von sehr involvierten Mitgliedern und aus einer Peripherie von Beteiligten und Interessierten zusammen. In manchen Fällen ist die Peripherie im Verhältnis zum Kern sehr ausgedehnt, im Falle Transzendentaler Meditation zum Beispiel einige Hunderte zum Kern gehörender Leute und ungefähr 50.000 Initierte -, manchmal ist die Peripherie selbst auch klein, zum Beispiel bei Hare Krishna, Children of God und die Vereinigungskirche. Aus den zur Verfügung stehenden Zahlen geht hervor, dass sich der Kern der in der Presse immer wieder als gefährlich auftauchenden Sekten insgesamt auch nicht mehr als 300 Menschen zusammenstellt und dass sich um den Kern noch eine Gruppe von höchstens 600 involvierten Jüngern befindet, die aber schon der Peripherie zugerechnet werden müssen. Aus den Ergebnissen einer Meinungsumfrage lässt sich schliessen, dass die neuen religiösen Bewegungen in ziemlich weiten Kreisen der Bevölkerung bekannt sind, aber dass ihnen nur von einem prozentual kaum feststellbaren Teil der Bevölkerung sympathischen Gefühlen entgegengebracht werden. Adoleszenten und junge Erwachsene unterscheiden sich in dieser Hinsicht kaum von den älteren Gruppen in der Bevölkerung. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die neuen religiösen Bewegungen eine besondere Anziehungskraft auf Jugendliche ausüben. Es gibt sogar keinerlei Anzeichen dafür, dass die Bewegungen sich starker Zuwachsraten erfreuen können. Im Gegenteil, einige Bewegungen sind schon auf dem Rückzug. Die Ausnahme bilden wieder die evangelischen Jugendbewegungen und es lässt sich vermuten, dass auch die mit der humanistischen Psychologie verbundenen ‘psychosalvation Movements’ (EST, Psychosynthese, usw.) wohl noch einen weiteren Aufschwung erleben werden. Von Sekten oder neuen religiösen Bewegungen kann man im letzteren Fall doch wohl nur noch in metaphorischem Sinne sprechen. Die Situation in den Niederlanden scheint sich übrigens nicht grundsätzlich von der bundesrepublikanischen Situation zu unterscheiden. Auch in der BRD sind die Gruppen meist klein bis sehr klein und quantitativ verhalten die verschiedenen Gruppen sich zu einander etwa so wie in den Niederlanden. | |||||||||||
IV. Sekte oder Kult? Charisma oder Stigma?Zunächst bietet das Kapitel einen Überblick der religionssoziologischen Diskussion über die Entwicklung einer Typologie von Kirche und Sekte. Angesetzt wird dann bei der Typologie, die vor kurzem von Stark und Bainbridge entwickelt worden ist. Diese Typologie führt das Konzept der Sekte erst an der Stelle ein, wo das Verhältnis von Religion und sozial-kultureller Umwelt ein bestimmtes und hohes Mass an Spannung erreicht hat. Religiöse Bewegungen, die darauf hinauslaufen, dass die Spannung zur Umwelt sich immer weiter steigert, können als sektarische Bewegungen angemerkt werden; Bewegungen, die das Mass an Spannung zu lindern versuchen, können als kirchliche oder Verkirchlichungsbewegungen betrachtet werden. Darüber hinaus möchten Stark | |||||||||||
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und Bainbridge den Terminus Sekte ausschliesslich für Schismen in den etablierten, christlichen Kirchen reservieren; in allen anderen Fällen (innovativen Bewegungen, Neugründungen, importierten Religionen) verwenden sie den Terminus ‘Kult’. Beim Kult kann man dann wieder zwischen einem ‘Audience Cult’, einem ‘Client Cult’ und einem ‘Cult Movement’ unterscheiden. Stark und Bainbridge stellen die Hypothese auf, dass ein Kult sich mit der Gesellschaft und der herschenden Kultur solange ziemlich problemlos vertragen kann, bis er anfängt, sich zu einem ‘Cult Movement’ zu entwickeln und sich gleichsam als Alternative zur etablierten Kultur hochstilisiert. Die neuen religiösen Bewegungen lassen sich leicht in der Stark-Bainbridge Typologie unterbringen und dabei ergibt sich, dass alle diese Bewegungen als voll oder halb entwickelte ‘Cult Movements’ betrachtet werden können. Gemessen am Grad der Abweichung, Abweisung und Abtrennung im Verhältnis zu ihrer sozialkultureller Umwelt, vermitteln Hare Krishna, Children of God und die Vereinigungskirche am meisten das Bild einer fast vollkommener Entfremdung. Im zweiten Teil des Kapitels wird am Beispiel der Scientology Kirche die Entwicklung einer Bewegung, die als Audience Cult angefangen hat und sich über einen Client Cult zu einem echten ‘Cult Movement’ weiterentwickelt hat, dargestellt. In der Entwicklungsgeschichte der Scientology Kirche spiegelt sich auch die Tendenz von der etablierten Gesellschaft immer mehr Distanz zu wahren, bis auf dem Punkt, wo die normale Gesellschaft nur noch als negativer Kontrast denkbar ist. Im Anschluss an die diesbezüglichen Überlegungen von Max Weber wird im dritten Abschnitt des Kapitels das Problem der charismatischen Herrschaft in den neuen religiösen Bewegungen angesprochen. In den hinduistischen Bewegungen wird der Guru als charismatischer Führer vor allem als ein Vorbild und als ein Lehrer verstanden: ein ‘directeur de l'âme’, der den Jünger zum Stadium der Erleuchtung fürht. In der christlichen Tradition wird der charismatische Führer eher als Prophet betrachtet, als Vermittler und Erneuerer der ursprünglichen Botschaft Gottes. Die evangelischen Jugendbewegungen weisen auch jetzt diese Art von charismatischer Führung auf, die synkretistischen (Vereinigungskirche, Children of God) und innovativen (Scientology) Bewegungen weisen sowohl Züge eines exemplarischen als auch eines prophetischen Charismas auf. Viele Verhaltensweisen und Sitten, die die neuen religiösen Bewegungen so unangenehm auffallen lassen (Pflicht des Gehorsams, totaler Einsatz der eigenen Person, Aufgeben der eigenen Individualität, Abtragung von Einkommen, Namensänderung, usw.) hat Weber schon als die typischen Folgen und Begleiterscheinungen der charismatischen Herrschaft erkannt. Diese Aspekte werden unter Einbeziehung der folgenden Probleme in den unterschiedlichen Paragraphen näher ausgearbeitet: die Routinisierung des Charismas, die Inszenierbarkeit des Charismas, das besondere Problem des noch lebenden charismatischen Führers, die nur noch sehr beschränkten Möglichkeiten, die es in einer modernen hochentwickelten Gesellschaft für die charismatische Herrschaft noch gibt, die exotische Herkunft als eine zusätzliche Legitimierung des Charismas. Die Verbindung zwischen Charisma und Selbststigmatisierung wird im Rahmen der im ersten Abschnitt des Kapitels schon geführten Diskussion über das Mass an Spannung zwischen Sekte oder Kult einerseits und der Gesellschaft andererseits näher erörtert. Aus dieser Diskussion ergibt sich nicht nur eine Einsicht in die Beschränktheit der charismatischen Ausstrahlung in der modernen Gesellschaft, sondern auch eine Einsicht in die für die Entstehung eines Charismas günstigen Ausgangsbedingungen. | |||||||||||
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Selbststigmatisierung in Verbindung mit einer charismatischen Qualität kann in den seltensten Fällen zu einem Revolutionsversuch führen. Eher zu erwarten sind Versuche, sich von der Gesellschaft zu trennen und sozial und geographisch von der alten Gesellschaft getrennt eine Alternative zur Entwicklung zu bringen. Solchen Versuchen tritt die Gesellschaft entweder entgegen oder aber sie kapselt sie derart ab, dass sie sich nicht weiter verbreiten können. Selbststigmatisierung kann als gesellschaftliches Problem auch dadurch gelöst werden, dass die gefährdete Identität sich gleichsam von dem ihr anhaftenden Stigma löst und ohne weiteres akzeptiert wird als eine Identitätsmöglichkeit unter anderen. Endlich soll dann auch noch darauf hingewiesen werden, dass Selbststigmatisierung nicht nur das ungewollte Ergebnis eines Entscheidungsprozesses in Lebensfragen zu sein braucht, sondern auch als Entscheidung an sich denkbar ist und als solche einem Bedürfnis zur Distanzierung oder einem Protestverhalten entsprechen kann. | |||||||||||
V. Monismus, Mystik und MeditationDer rationelle und grundsätzlich lernbare und daher übertragbare Charakter der Meditation tritt im Falle der Transzendentaler Meditation in einer besonderen ausgeprägten Form hervor. Transzendentale Meditation ist - allenfalls für Anfänger - eine einfache Meditationstechnik, die man ohne jegliche Einsicht in philosophische oder weltanschauliche Hintergründe anwenden kann. Transzendentale Meditation präsentiert sich der Welt auch ausdrücklich als eine wissenschaftlich einwandfreie Methode zur Förderung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens des Individuums. Es lässt sich aber nachweisen, dass die Transzendentale Meditation wohl eine säkularisierte Form der Mystik, man könnte fast sagen, eine alltägliche Form der Mystik darstellt, darum aber noch keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann. Aus der Forschungsliteratur zu diesem Thema lässt sich schliessen, dass auch die vielfach wiederholten gesundheitsfördernden Effekte der Transzendentalen Meditation in Wirklichkeit doch recht bescheiden anmuten. | |||||||||||
VI. Eine Übersicht über die psychologischen und psychiatrischen Forschungsergebnisse bei Mitgliedern und ehemaligen Mitgliedern der neuen religiösen BewegungenWirklich bemerkenswerte Untersuchungen über dieses Thema fehlen noch fast vollständig, obwohl namentlich über die Anhänger der Divine Light Mission, der Vereinigungskirche, der Children of God und der Ananda Marga einiges bekannt ist, das vorwiegend aus amerikanischen, englischen, deutschen und niederländischen Untersuchungen stammt. Die Untersuchungsbefunde weisen allesamt aus, dass man sich vor der Bekehrung unzufrieden und unglücklich fühlte, während nach der Bekehrung eine merkbare Verbesserung der Lage auftrat. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden im Rahmen der Narzissmus Diskussion in der Psycho-Analyse, dem soziologischen Konzept der totalen und alles verschlingenden Institution, und der Bekehrungstheorie von Lofland und Stark nacheinander behandelt. Die Forschungsergebnisse bei Ex-Mitgliedern von Sekten, vor allem in Amerika, sind sehr unterschiedlich. Es besteht der Eindruck, dass die grossen | |||||||||||
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psychischen Probleme, die in einer Anzahl von Fällen auftreten, vor allem dann vorkommen, wenn das Verlassen der Sekte auf unfreiwilliger Basis geschah (unter dem Druck der Sekte selbst oder durch den Eingriff von Eltern beispielsweise). Dass die Sektenmitgliedschaft selbst grosse psychische Schäden mit sich bringt, konnte nicht nachgewiesen werden. Die Sekte scheint für viele Mitglieder eher eine rein persönliche Lösung für viele verschiedene persönliche Probleme zu sein.
Schlussfolgerungen:
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VII. Hilfsbedürftigkeit und HilfeleistungEine Untersuchung des ‘Nationaal Centrum voor Geestelijke Volksgezondheid’ ergab, dass nur wenige offizielle Instanzen in den Niederlanden (Polizei, Gericht, Kinderfürsorge, Gesundheitsbehörde) einige Erfahrung mit den Sekten und neuen religiösen Bewegungen aufweisen können. Beschwerden gibt's nur wenige und Prozesse fast keine. In der seelischen Gesundheitsfürsorge (psychiatrische Krankenhäuser, ambulante seelische Gesundheitsfürsorge) ist man öfters mit der Problematik von Sektenmitgliedern und Ex-Mitgliedern konfrontiert worden. Dies gilt auch für die Sozialfürsorge und für das Studentenpastorat. Es gibt darüber hinaus noch eine Anzahl individuell Hilfeleistender, die Kontakt zu (Ex-)Sektenmitgliedern haben, und es gibt auch eine Elterngruppe von Sektenmitgliedern, die sich mit dem Auftreten von Sekten befasst. 1979 hatte diese Elterngruppe einige Dutzende Mitglieder, mittlerweile wird diese Zahl auf 100 angewachsen sein. 1981 wurde ein Verein gegründet, dessen Ziel es ist, Ex-Mitgliedern Hilfe zu bieten. An dieser Stelle muss noch erwähnt werden, dass es eine Subkommission in Fragen Jugendreligionen des permanenten Gesundheitsausschusses der Zweiten Kammer gibt. Diese Kommission geht unter anderem der Frage nach, wie gross die Hilfsbedürftigkeit bei Ex-Sektenmitgliedern ist. Bei einem Vergleich mit der Lage in der Bundesrepublik ergibt sich, dass die Hilfsbedürftigkeit sehr gering ist. Die entsprechenden Einrichtungen (Beratungsstellen, Rehabilitationszentrum) werden | |||||||||||
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nur von wenigen in Anspruch genommen. Staat und Kirche führen in Deutschland übrigens eine Anti-Sekten-Strategie, jedoch nicht aufgrund einer fundierten Einsicht hinsichtlich des Umfangs und der Art der Probleme. Als Ergebnis dieses Kapitels kann gesagt werden, dass in den Niederlanden zum jetzigen Zeitpunkt die Hilfsbedürftigkeit von (ehemaligen) Sektenmitgliedern zu gering ist, dass man zu einer besonderen Form von Hilfeleistung übergehen müsste. Schätzungsweise gibt es einige Dutzende Menschen, die als Problemfälle anzusehen wären, aber es ist unklar, ob dies dem Einfluss der Sekten zuzuschreiben ist, und es ist auch unklar, ob die Probleme derartig sind, alsdass man eine eigens dafür bestimmte Institution oder Einrichtung ins Lebens rufen müsste. Am Schluss dieses Kapitels wird eine Empfehlung zur Entwicklung einer Politik in Fragen von Psycho-training und Encounter-Gruppen gegeben, wie sie u.a. von einigen der neuen religiösen Bewegungen angeboten werden. | |||||||||||
VIII. Gehirnwäsche, Snapping oder Bekehrung?Neuen religiösen Bewegungen wird mitunter vorgeworfen, Gehirnwäsche bei ihren Mitgliedern zu betreiben, und gleichsam Menschen mittels Gehirnwäsche von sich abhängig zu machen. Dieser Vorwurf wird meistens dadurch gestützt, dass man sich auf Liftons Untersuchung beruft, die dieser nach den Methoden der Gehirnwäsche bei Chinesen zur Zeit des Koreanischen Krieges durchgeführt hat. Erwiesenermassen geschieht diese Berufung auf Lifton zu unrecht, denn Lifton schrieb über Menschen, die nicht wollten, sondern die sich verändern mussten. Die aus diesem Buch zitierten Passagen beziehen sich nicht auf Gehirnwäsche, sondern auf die Merkmale eines ideologischen Totalismus. Die in den Niederlanden aktiven neuen religiösen Bewegungen zeigen diese Merkmale nur in sehr begrenztem Masse. Eine moderne Variante der Gehirnwäsche ist die ‘Snapping’-Hypothese von Conway und Siegelman: Rückfall in eine totale Abhängigkeit als Lösung für eine Störung der normalen informationsverarbeitenden Kanäle. Es hat sich erwiesen, dass Conway und Siegelman ihre Hypothese empirisch nicht beweisen können. Als Resultat ergibt sich aus diesem Kapitel, dass es zu wenig Argumente gibt, um im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft bei einer neuen religiösen Bewegung von Gehirnwäsche oder Snapping zu sprechen. Die Bekehrungstheorie von Lofland und Stark dahingegen ist sehr gut anwendbar: hier wird davon ausgegangen, dass die Bekehrung zu einer Sekte das Resultat einer Anzahl ineinanderfliessender dispositions- und situationsbedingter Faktoren ist. | |||||||||||
IX. Deprogrammieren: Den Teufel mit dem Beelzebub austreibenDeprogrammieren ist der Prozess, der darauf abzielt, jemanden dazuzubringen, die Auffassungen, Praktiken und Glaubensinhalte der religiösen Gruppe, deren treues Mitglied er erst war, völlig abzulehnen. Deprogrammieren ist eine in den Vereinigten Staaten zur Entwicklung gekommene Praxis, bei der Sektenmitglieder gegen ihren Willen aus ihrer Umgebung herausgeholt wurden und an einem isolierten Orte in ihrem Glauben untergraben wurden und in ihren Identität angetastet wurden. Deprogrammierung zeigt Übereinkünfte mit exorzistischen Ritualen und inquisitionsartiger Prozessführung. In seiner Untersuchung nach den | |||||||||||
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chinesischen ‘Thought-Reform’-Techniken kommt Lifton zu der Erstellung eines ‘death and rebirth’-Modells, das bemerkenswerte Übereinkünfte mit der Deprogrammierung zeigt: Deprogrammierung ist dasjenige, was im allgemeinen seit Lifton unter Gehirnwäsche verstanden wird. Deprogrammierung bedeutet eine Existenzkrise eines Sektenmitgliedes, und auf diese Krise folgt ein Trauerprozess, dessen Verarbeitung sehr schwierig ist. Es gibt Argumente für die Hypothese, dass die psychischen Probleme, die bei Ex-Sektenmitgliedern festgestellt werden, gerade die Folge des Deprogrammierens sind und nicht die der Sektenmitgliedschaft selbst. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung des Deprogrammierens im Eltern-Kind-Verhältnis von besonderer Bedeutung. Deprogrammierung erscheint dann als Element in der narzistischen Kollusion von Eltern und Kind. Die Aufmerksamkeit richtet sich schliesslich auf die einseitige und negative Meinungsbildung hinsichtlich der neuen religiösen Bewegungen, wie diese von dem ‘anticultmovement’ (Eltern, Deprogrammierer, Ex-Mitglieder) in der Presse und der öffentlichen Meinung gefördert wird. Die Rechtfertigung des Deprogrammierens gelingt je besser, desto effektiver das negative Bild von den neuen religiösen Bewegungen ausfällt. Als Ergebnis dieses Kapitels kann angemerkt werden, dass das Deprogrammieren eine Praxis ist, die aufgrund moraler und psychohygienischer Gründe verwerflich ist. | |||||||||||
X. Die Zukunft der Religion, der Kirchen und Sekten in den NiederlandenIm Gegensatz zu dem, was manchmal angenommen wird, ist das Entstehen von neuen religiösen Bewegungen nicht die am meisten auffallende Entwicklung auf religiösem Gebiet in den Niederlanden. Die wichtigste Entwicklung ist die schnelle und noch immer andauernde Zunahme der Nicht-Kirchengesonnenheit und der Unkirchlichkeit (1979 schon fast zwei Drittel der Bevölkerung). Vor allem die Katholische und die Reformierte Kirche sind davon betroffen. Daneben, aber in viel grösserem Umfange, müssen die aufkommenden Religionen der Immigranten (der Islam steht zur Zeit an vierter Stelle in den Niederlanden) und das Phänomen der Import-Kirchen genannt werden (vor allem die Pfingstgemeinden wachsen schnell). Bei einer abnehmenden kirchlichen Gebundenheit führt dies zu einem noch zunehmenden religiösen Pluralismus und zu kirchlicher Pluriformität. Aus den Daten geht hervor, dass eine Import-Kirche eine grössere Chance hat, Anhang zu gewinnen, wenn die Glaubenslehre einen konservativ-christlichen Stempel trägt, die Moral traditionell und individualistisch ist, und die Organisation den Charakter einer Vereinigung mit intensivem sozialen Kontakt hat. Die neuen religiösen Bewegungen, die in diesem Buch behandelt worden sind, werden denn auch letzten Endes wenig Anziehungskraft ausüben können. Die Bedeutung der aktiven Mitgliedswerbung von Import-Kirchen wird im Rahmen des traditionellen Zustandes der Pazifikation zwischen den Kirchen in den Niederlanden behandelt. Schliesslich wird noch daraufhingewiesen, dass der zunehmende Verlust an Glauben und kirchlicher Gebundenheit nicht Hand in Hand mit der Suche nach Alternativen geht. Das Bedürfnis nach Glauben oder einem allumfassenden Bedeutungssystems ist keine anthropologische Konstante, sondern ein historisches Produkt, dessen Wert schnell abnimmt. | |||||||||||
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XI. Das kernkulturelle Bedürfnis nach einem parakulturellen AngebotIn diesem Kapitel werden die neuen religiösen Bewegungen in den Rahmen einer breiteren Strömung gesetzt, die sich von den traditionellen Werten der westlichen Kultur abwendet und ihr Heil im Irrationalismus, Esoterismus und Exotismus sucht. In der westlichen Kultur ist Esoterismus schon sehr lange als Unterströmung und Gegenströmung vorhanden und es gibt Argumente dafür, dass der Esoterismus nicht nur als eine regressive Tendenz zu betrachten ist. Zwischen den Fragen, die die Wissenschaft offen lassen muss, und den Fragen, auf die die traditionellen Religionen eine Antwort geben können, gibt es einen Leerraum, der mit einem Angebot, das aus anderen Quellen gespeist wird, ausgefüllt werden kann. Es ist ein Angebot, an das persönliche Leben und an das Individuum, es schafft Abhilfe in Fragen, die aus der Kernkultur herausgestellt werden und gibt darauf eine parakulturelle Antwort. Die Antwort ist ein konsumptiv gemeintes Angebot, das aus Methoden zur Selbstentwicklung und Selbstverwircklichung besteht, aus Methoden zur Selbsterhaltung und zum Selbstschutz und aus Methoden zur Selbsterkenntnis und zur Einsicht in das eigene Ich. Das Angebot ist keine Alternative zur Kernkultur, sondern es ist eine Ergänzung dazu. Das Aufkommen des heutigen parakulturellen Angebotes erklärt sich aus der gleichzeitigen Entwicklung eines Fürsorgestaates und einer Wohlstandsgesellschaft. Das Angebot an sich ist zwar nicht neu, wohl aber neu ist der Anklang, den dieses Angebot in weiten Kreisen der Bevölkerung findet. Die Verbindung zwischen Kernkultur und parakulturellem Angebot wird an der allgemeinen Sakralisierung der Gesundheit gezeigt. Die geringe gesellschaftliche Bedeutung des Angebotes wird an der verhältnismässig geringen Bedeutung des Aberglaubens gezeigt, wie dies u.a. auch in der Astrologie zum Ausdruck kommt. | |||||||||||
XII. Auf der Suche nach einem neuen Verhältnis zwischen Kirche und StaatTraditionsgemäss hat sich der niederländische Staat immer sehr zurückhaltend in Bezug auf die Kirchen verhalten. Religiöse Toleranz in der Gesellschaft war die einzige Möglichkeit, eine Situation des religiösen Pluralismus bestehen lassen zu können und auf Staatsniveau drückte diese Toleranz sich in einer mehr oder weniger gleichen Behandlung aller Kirchen aus. Das war schon so in der Zeit vor dem Grundgesetz von 1815, das sowohl die Trennung von Kirche und Staat als auch die Religionsfreiheit festlegte. Nach der Annahme des liberalen Grundgesetzes von 1848 wurde die bischöfliche Hierarchie in den Niederlanden wieder hergestellt. Die diesbezüglichen Proteste der Reformierten (die Aprilbewegung) führten zu dem merkwürdigen Kirchengesetz von 1853, das eigentlich nicht mehr beinhaltete, als dasjenige, was schon im Grundgesetz stand. Die Religionsfreiheit wurde im Europäischen Vertrag von 1954 bestätigt, der übrigens mehr Möglichkeiten zur Begrenzung der Freiheit zulässt, als das beim niederländischen Grundgesetz der Fall ist. Vom niederländischen Gesetzgeber wurde bisher nie definiert, was nun eigentlich unter Kirche als Glaubensgemeinschaft zu verstehen ist, in der Jurisprudenz aber ist man sich darüber einigermassen einig. Kirchen geniessen in der Praxis nicht unansehnliche Privilegien und Vergünstigungen (diese werden in Kapitel XII inventarisiert). Es muss festgestellt werden, dass der Staat den verschiedenen Kirchen in vielen Punkten zu Willen ist, | |||||||||||
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und das die Behörden mit äusserster Vorsicht an sie herantreten. ‘Neutral’ ist dieses Verhalten sicher nicht, reaktiv förderlich sicher wohl. Dieses Verhalten gereicht sowohl den neuen religiösen Bewegungen, als auch den traditionellen Kirchen zum Vorteile. In allen Bereichen hat sich die Lage der niederländischen Kirchen und des Niederländischen Staats seit 1848/1853 verändert (allein schon die Anzahl der eingetragenen Kirchen stieg seitdem von kaum 10 auf 277) und dies bringt auch eine nötige Reflexion über das Verhältnis Kirche-Staat mit sich.
Es muss auf die besondere Verantwortung des Staates hinsichtlich der Gesundheit seiner Bürger hingewiesen werden, selbst wenn dies im Gegensatz mit religiösen Überzeugungen stünde, und es wird für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche plädiert, die zu einer neutraleren Haltung des Staates führen könnte. Dazu müssten alle im Laufe der Zeit entstandenen Sonderbestimmungen bezüglich der verschiedenen Kirchen und Lebensüberzeugungen abgeschafft werden, während die Einrichtung einer unabhängigen Kommission für Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit dafür zu sorgen hätte, dass diese Freiheit weder vom Staat noch von den Kirchen oder lebensanschaulichen Organisationen selbst angetastet oder unterdrückt werden könnte. |
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