Album Willem Pée
(1973)–Willem Pée– Auteursrechtelijk beschermdDe jubilaris aangeboden bij zijn zeventigste verjaardag
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Sprachwissenschaft, Sprachphilosophie, Sprachtheorie
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leien’ gefordert und ‘die Sprache und ihre Entstehung wissenschaftlich, d.h. durchaus historisch betrachten’ wollenGa naar eind5: ‘Jener entscheidende Punkt aber, der hier alles aufhellen wird, ist die innere Structur der Sprachen oder die vergleichende Grammatik, welche uns ganz neue Aufschlüsse über die Genealogie der Sprachen auf ähnliche Weise geben wird, wie die vergleichende Anatomie über die höhere Naturgeschicht Licht verbreitet hat.’6 Schlegel spricht hier nicht mehr von der Sprache im Singular, sondern von den Sprachen, d.h. dies bezeichnet den Punkt, wo mit dem Übergang zur Mannigfaltigkeit der Sprachen d.h. zum System aller Sprachen, also der übergang von Philosophieren über die Sprache zur empirischen Erforschung der Sprachen und damit auch einer Sprache - nun im System der Sprachen - vollzogen worden ist. Nimmt man dies aber als Kriterium für den Beginn der Sprachwissenschaft, dann muss man den Beginn der empirischen Beschäftigung (um nicht zu sagen: der wissenschaftlichen Beschäftigung) mit Sprachen bis an den Beginn des 17. Jahrhunderts zurück datieren, denn damals bereits ist im Zusammenhang mit der Bibelübersetzung aus dem Urtext die Zusammengehörigkeit der semitischen Sprachen entdeckt worden. Noch aber galt das Hebräische als die Ur- und Muttersprache aller anderen Sprachen, also in deutlicher Abhängigkeit von biblischen Mythen. Gegen diese hat sich Leibniz gewandt und gleichzeitig angeregt, daß Missionare von den Sprachen, in denen sie das Evangelium verkündeten und in die sie nicht selten die Bibel oder Teile der Bibel übersetzt hatten, Wörter sammeln und Grammatiken aufzeichnen sollten. Die größte derartige Sammlung war das Allgemeine Wörterbuch, das in vier Bänden auf Veranlassung der Kaiser Katharina II. 1790/91 in Petersburg erschienGa naar eind7 und von 1806 bis 1817 gab Adelung in vier Bänden seinen ‘Mithridates’ heraus. Aber bereits von 1735 bis 1809 hatte der spanische Jesuit Lorenzo Hervás von über vierzig Sprachen Grammatiken verfasst und dadurch ein umfangreiches Material für eine vergleichende Sprachwissenschaft geliefert. Die Forschung des 18. Jahrhunderts aber hat nicht an eine solche Untersuchung der Formsysteme angeknüpft, sondern war auch damals noch auf Grund oberflächlicher Vergleiche weniger Sprachen zu sprachphilosophischen Erörterungen über den Ursprung der Sprache und über die Bedeutung der Mannigfaltigkeit von Sprachen für das Wesen des menschlichen Geistes übergegangen. Ein Beweis dafür ist Herders berühmte Schrift ‘Über den Ursprung der Sprache’ von 1772. Erst die Erschließung des Sanskrit, die zur Aufstellung der indo- | |
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germanische Sprachfamilie führte, hat den Anstoß gegeben, der über Friedrich Schlegel, Franz Bopp, Rasmus Rask, Jakob Grimm zur empirischen Sprachforschung oder Sprachwissenschaft führte, die wir heut, d.h. nach Entfaltung der synchronischen Linguistik als diachronische zusammenfassen. Synchronische Erörterung hat es freilich auch schon im 18. Jahrhundert gegeben, worauf vor allem Eugen Coseriu hingewiesen hat. Aber diese synchronischen Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts haben doch noch nicht den klaren Bezug zur Empirie, der die heutige synchronische Forschung der diachronischen des 19. und 20. Jahrhunderts verdankt. Als die von Friedrich Schlegel programmierte, von Franz Bopp und seit Franz Bopp durchgeführte entscheidende Leistung, ohne die auch die moderne synchronische Sprachwissenschaft nicht denkbar ist, erweist sich der Übergang von der Wortvergleichung zur Vergleichung von Grammatiken. Dieser Übergang wurde seinerzeit vollzogen, weil man einzusehen gelernt hatte, daß die Vergleichung von Wörtern wegen der Leichtigkeit der Übernahme von Wörtern aus einer Sprache in eine andere zur Bestimmung der ‘genealogischen’ Verwandtschaftsverhältnisse von Sprachen nicht geeignet ist und jedenfalls nicht ausreicht. So hatte Filippo Sassetti, der sich am Ende des 16. Jahrhunderts in Indien aufgehalten hat, bereits damals bemerkt, daß ‘unsere heutige Sprache vieles gemeinsam mit ihr, (d.h. der Sprache der Inder) hat, darunter viele Wörter, besonders Zahlwörter: 6, 7, 8 und 9, Dio, serpe und viele andereGa naar eind8. Man sollte meinen, daß mit der Entfaltung der empirischen Sprachwissenschaft seit Bopps Conjugationssystem die Sprachphilosophie, die bis zu den Griechen, insbesondere bis zu Aristoteles zurückgeht, ihr Ende gefunden habe, und durch die moderne Sprachwissenschaft abgelöst worden sei. Das aber ist in einem unkritischen und in einem kritischen Sinn nicht der Fall. Daß es in einem unkritischen Sinn nicht der Fall ist, beweist das Fortleben der Sprachphilosophie auch über Bopp hinaus bis in unsere Zeit. In einem kritischen Sinn, den Kant für die Naturphilosophie entfaltet hat, aber kann eine wissenschaftliche Sprachphilosophie überhaupt erst beginnen, seit es empirische Sprachforschung gibt. Kant hatte durch die ‘Kritik der reinen Vernunft’ und zwei Jahre danach durch die ‘Prolegomena’ nachgewiesen, daß es seit dem Bestehen der empirischen Physik keine Naturphilosophie im alten, auch von den Griechen überkommenen Sinn mehr geben könne, daß aber durch die | |
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Entfaltung der Physik Newtons eine neue Frage, d.h. eine neue Wissenschaft möglich und nötig geworden ist, die die Voraussetzungen untersucht, unter denen allein empirische Physik möglich ist. Das gleiche gilt selbstverständlich auch für eine kritische Sprachphilosophie: Erst seit es empirische Sprachwissenschaft gibt, ist es möglich, das System der Voraussetzungen zu erörtern, unter dem allein Sprachwissenschaft im modernen Sinn des Wortes betrieben werden kann: die diachronische im 19. Jahrhundert, die synchronische, bzw. synchronisch-diachronische seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Aber ganz so einfach liegen die Verhältnisse weder für eine kritische Sprachphilosophie noch für eine kritische Naturphilosophie. Bereits Kant ist in der ‘Kritik der reinen Vernunft’ nicht nur davon ausgegangen, daß es seit dem Jahre 1687 die Newtonsche Physik gibt, sondern, wie er in den ‘Prolegomena’ wörtlich schreibt, daß ‘reine Naturwissenschaft und reine Mathematik’ ‘gegeben’ seiGa naar eind9. Und an mehreren Stellen weist er auch auf die Experimente der Chemiker hin. Auch die Sprachwissenschaft ist nicht die einzige Wissenschaft, die sich mit Sprachdenkmälern, mit sprachlichen Quellen beschäftigt. Neben ihr sind - ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert - ‘gegeben’: die Literaturwissenschaft und die Geschichtsforschung. Und seitdem gibt es auch bereits die Begriffe der Weltliteratur und der WeltgeschichteGa naar eind10, die sich auf das System der Literaturen und auf das System der Kulturen beziehen, während die Sprachwissenschaft - man kann sagen: seit Katharina II. - auf das System der Sprachen bezogen ist. Es bedarf keines Wortes, daß sich Geschichtsforschung, Literaturwissenschaft und Linguistik (einschließlich ihrer Beziehungen zum Organon-modell Karl BühlersGa naar eind11) nicht durch ihre Gegenstände voneinander unterscheiden, so wie sich etwa Optik und Akustik im Rahmen der Physik, Botanik und Zoologie im Rahmen der Biologie, Germanistik und Romanistik oder Indogermanistik und Semitistik im Rahmen der Sprachwissenschaft durch ihre Objekte unterscheiden: dem Pentateuch oder der Ilias, dem Nibelungenlied oder dem Heliand kann man nicht ansehen, ob sie Gegenstände der Geschichtsforschung (im Sinn von Universalgeschichte), der Literaturwissenschaft (im Sinn von Weltliteratur) oder der Sprachwissenschaft (im Sinn des Systems der Sprachen totius orbis) sind. Die Unterschiede liegen in den Forschungszielen, in den Gesichtspunkten, unter denen diese an sich noch Methodenindifferenten Objekte anvisiert werden, d.h. in den Methoden; und dies allein ist der Sinn des Wortes vom Primat der Methode vor dem Gegenstand. Denn erst die Methode bestimmt das Objekt als Objekt | |
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einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin, während es bis dahin sozusagen nur ein Objekt der allenfalls methodenbezognenen (darstellenden) Umgangssprache ist. Eine kritische Sprachphilosophie darf daher nicht nur nach den Voraussetzungen der Sprachwissenschaft, sondern sie muß zugleich nach den Voraussetzungen der Literaturwissenschaft und der Geschichtsforschung, d.h. sie muß nach der Struktur des Systems der philologischen Disziplinen fragen, so wie eine moderne Naturphilosophie nach den Voraussetzungen der Mathematik, der Physik und der Chemie fragen muß, die bei aller methodischen Nähe doch unterscheidbar bleiben. Aber seit die synchronische Sprachforschung zwischen der (tradierten) Struktur einer Sprache, die für eine bestimmte Sprachgemeinschaft ‘gilt’ und der Realisierung dieser Struktur durch einen Sprecher dieser Sprachgemeinschaft in einer bestimmten, historisch und soziologisch definierbaren, Gesprächssituation unterscheidet, muß man einsehen, daß auch die Struktur der philologischen Disziplinen oder das System der Voraussetzungen dieser Disziplinen noch nicht ausreicht, um eine kritische Sprachphilosophie oder Sprachtheorie zu entwickeln. Die Quellen für die Erforschung realisierter sprachlicher Strukturen in konkreten Gesprächen sind nicht mehr literarische Texte, sondern Aufnahmen auf Schallträgern: auf Schallplatten, Tonbändern, Tonfilmen, Röntgentonfilmen. Auch hier geben diese methodenindifferenten Objekte noch keine Auskunft über den Aspekt, unter dem sie zu untersuchen sind, d.h. über den wissenschaftlichen Zusammenhang, in den sie gestellt und in dem sie erforscht werden sollen. Auch hier wieder gilt der Primat der Methode und des Forschungsziels der betreffenden Wissenschaft. Werden solche Schallträgeraufnahmen aber durch den sprachwissenschaftlichen Aspekt in den Zusammenhang des Systems der Sprachen gestellt, dann eröffnen sich auf Grund derartiger Schallträgeraufnahmen, zu denen dann noch die Registrierung der Hirnströme während des Sprechens gehörte, sprachpsychologische und sprachphysiologische, sprachphysikalische und mathematische Gesichtspunkt. Erst die Heranziehung auch dieser Voraussetzungen, erst also die Berücksichtigung des Systems der Wissenschaften kann die Basis abgeben für eine moderne wissenschaftliche Sprachtheorie. Sie unterscheidet sich von allen Fachwissenschaften, indem sie deren System ins Auge fasst, das damit neben das System der Kulturen, das System der Literaturen und das System der Sprachen tritt. Und sie ist verbunden mit diesen Fachwissenschaften, dadurch daß sie von der Gege- | |
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benheit dieser Wissenschaften ihren Ausgang nimmt, das in einem nicht begrenzbaren Progreß zu erforschen ihre wissenschaftliche Aufgabe darstellt seit auch diese Wissenschaften ‘wirklich und gegeben’ sind, wie Kant das in den Prolegomena von der ‘reinen Naturwissenschaft’ und ‘der reinen Mathematik’ sagt. Seit diese Wissenschaften gegeben sind, also erst seit dem vorigen Jahrhundert ist es in der Tat ‘unumgänglich notwendig’, alle bis dahin geltende Philosophie ‘vorderhand auszusetzen, alles bisher Geschehene als ungeschehen anzusehen und vor allen Dingen zuerst die Frage aufzuwerfen: ob auch so etwas als Metaphysik - d.h. in unserem Fall: kritische Philosophie und Sprachphilosophie - überall nur möglich sei’Ga naar eind12. |
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