Die Grenzen des Wachstums. Pro und Contra
(1974)–Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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Alexander KingDr. Alexander King ist seit 1961 Generaldirektor für Wissenschaftsfragen der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris. Im Jahre 1909 in Glasgow geboren, studierte Dr. King am Imperial College of Science in London und an der Universität München Chemie. Während des Zweiten Weltkriegs war er Stellvertretender Wissenschaftlicher Berater des Ministers für Produktion. Von 1943 bis 1947 leitete er die Wissenschaftsmission Großbritanniens in Washington, D.C. und fungierte als Wissenschaftsattaché der britischen Botschaft. Von 1947 bis 1950 war Dr. King Direktor des Wissenschaftlichen Sekretariats des Kabinetts in London. 1968 gründete er zusammen mit Aurelio PecceiGa naar eind1 den Club of Rome.
Wie haben die Wissenschaftler in der OECD und in UNO-Kreisen auf Die Grenzen des Wachstums reagiert? Sehr unterschiedlich und vorwiegend zurückhaltend. Als persönlich Interessierte tendieren die Wissenschaftler natürlich zu der Meinung, daß sich mit der ‘Technologiespritze’ alles lösen lassen wird, aber sie kommen mehr und mehr zur Einsicht, daß der Zeitfaktor von großer Bedeutung ist. Man ist sich darüber einig, daß die Forschungspolitik mit der Wirtschaftspolitik und der Sozialpolitik koordiniert werden muß. Aber nachdem der Entwicklungsprozeß von einer neuen wissenschaftlichen Entdeckung bis zur industriellen Produktion oder zur gesellschaftlichen Innovation etwa zehn bis fünfzehn Jahre in Anspruch nimmt, bedeutet das, daß die Wissenschaft um fünfzehn Jahre zu spät kommen würde. wenn sie sich mit Problemen von heute befaßte. Statt schöpferische Impulse zu geben, würde sie dann bloß die Rolle einer Feuerwehr spielen. Die Bedeutung von Die Grenzen des Wachstums liegt daher für den Wissenschaftler vor allem darin - und dies beginnt erst allmählich ins Bewußtsein zu dringen -, daß es ihn lehrt, in viel größeren Zeiträumen zu planen und sich gemeinsam mit Nationalökonomen und Politikern zeitlich entfernteren Problemen zuzuwenden, wenn seine Ergebnisse nicht ständig überholt sein sollen. Dennoch meine ich, ebenso wie viele meiner Kollegen, daß die technischen Faktoren in Die Grenzen des Wachstums ungenügend berücksichtigt wurden. Man könnte mehr tun, aber alles hängt von der Verfügbarkeit unbegrenzter Energiequellen ab.
TinbergenGa naar eind2 meint, das Modell bedürfe ipräziserer Ansätze. Selbstverständlich. Niemand behauptet, dieses Modell sei perfekt; nicht einmal die Verfasser. Ich finde es verwunderlich - abgesehen von | |
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der emotionalen Reaktion der Ökonomen, die beweist, daß es höchste Zeit war, sie aufzuscheuchen -, daß so viele Leute meinen, dieser neue Ansatz, eine Pionierleistung, ein erster Vorstoß in ein neues Gebiet, müsse Antworten auf alle Fragen erbringen. Dies widerspräche dem Verlauf der wissenschaftlichen Entwicklung - es ist eine emotionale, keine wissenschaftliche Reaktion. Eine Tür wird geöffnet, das ist alles, aber das ist enorm viel. Künftig werden uns Tinbergen und sein Team und viele andere Schritt für Schritt zusätzliche Informationen liefern, wodurch die Zuverlässigkeit des Ganzen erhöht wird und es als Ausgangspunkt für politische Aktionen dienen kann.
B.F. SkinnerGa naar eind3 sagte in einem Gespräch über sein umstrittenes Buch Jenseits von Freiheit und Würde, achtzig bis neunzig Prozent der Kritiken seien niederschmetternd gewesen, weil die Leute nicht lesen könnten. Gilt dies auch für Die Grenzen des Wachstums? Ohne Zweifel. So viele der schlechten Kritiken, die ich gelesen habe, und ich muß gestehen, auch einige der guten, zeugen mehr von offenkundigen Vorurteilen als von der Lektüre des Buches. Beispielsweise heißt es im Buch immer wieder, es handle sich nicht um Futurologie, nicht um Zukunftsprognose; es werde lediglich dargestellt, was geschehen wird, wenn wir nichts ändern. Und trotzdem erklären so viele der Rezensenten, daß Voraussagen nie einträfen, daß es immer zu Veränderungen käme, damit sie sich nicht bewahrheiten. Genau dies ist der Zweck des Buches, also haben sie es offensichtlich nicht gelesen.
Wie reagieren die Wissenschaftler der Dritten Welt, die Sie kennen, und wie reagieren die Osteuropäer, die sozialistischen Länder? Das ist eine überaus interessante Frage. Es ist nicht verwunderlich, daß nicht nur die Wissenschaftler, sondern jeder denkende Mensch in den Entwicklungsländern zunächst negativ reagiert, weil aus dem Buch hervorgeht, daß die Lage der Dritten Welt wesentlich prekärer ist, als allgemein angenommen wird. Und dagegen müssen sie sich zur Wehr setzen. Man kann eine Art krassen Neokolonialismus darin sehen, die Reaktion des reichen Mannes, der sein Nest beschmutzt hat und seine eigene Position konsolidieren und gleichzeitig alles andere stoppen möchte. Ich habe jedoch die Erfahrung gemacht, besonders nach den Diskussionen, die der Club in Rio de Janeiro veranstaltete, daß die lateinamerikanischen Wissenschaftler als Repräsentanten der unterentwickelten Länder nach einer gewissen Zeit ihren Standpunkt ändern. Sie sehen ein, daß es Tatsachen gibt, denen man sich stellen muß. Wir im Club of Rome sind daher ungeheuer froh, daß die Lateinamerikaner die Untersuchung vertiefen wollen, mit finanzieller Unterstützung Kanadas, die der Club organisiert hat, daß sie die Sache von ihrem eigenen Standpunkt aus angehen wollen. Das ist ein enormer Fortschritt. | |
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Sie erwähnten Rio. In StockholmGa naar eind4 hat sich Brasilien auf den Standpunkt gestellt, es werde sein Wirtschaftswachstum nicht durch ökologische Erwägungen beeinträchtigen lassen. Das ist eine natürliche und sehr verständliche Tendenz. In einem riesigen, dünn besiedelten Land fällt es sehr schwer, der ferneren Zukunft Vorrang zu geben, den ökologischen Schaden gegen die kurzfristigen, äußerst wünschenswerten wirtschaftlichen Vorteile in die Waagschale zu werfen. Das ist die unvermeidliche Schizophrenie, die jeden einzelnen und jedes Land angesichts seiner kurzfristigen und seiner wohlverstandenen langfristigen Interessen befällt.
Dr. King, glauben Sie, daß die Umweltproblematik im Begriff ist, in das politische Bewußtsein der Welt einzudringen? Durchaus. In den Gesprächen, die wir - insbesondere Aurelio Peccei und ich - mit Politikern geführt haben, gewann ich den Eindruck, daß die politisch Interessierten sich der Gesamtheit des Problems zunehmend bewußt sind. Den Umweltproblemen im engeren Sinn, der Verschmutzung von Luft und Wasser, wird die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Vielleicht weil sie der zugänglichste Teil des Komplexes, den wir die ‘Problematik’ nennen, sind. Es sind dies Probleme, die technisch und wirtschaftlich zu vertretbaren Kosten gelöst werden können. Es ist die hoffnungsvollste Seite. Aber ob die Politiker wirklich den längerfristigen sozioökonomischen und industriellen Problemen und den Problemen der Rohstofferschöpfung ins Auge sehen und dementsprechend handeln werden, ob dies wirklich zum Anfang vom Ende der Verbrauchs- und Vergeudungsgesellschaft führen wird, das weiß ich noch nicht.
Sind Sie optimistisch? Ja, ich bin optimistisch, aber ob uns genug Zeit bleibt, das weiß ich nicht.
Sie haben viel mit Aurelio Peccei als Gründer des Club of Rome zusammengearbeitet. Professor William Thompson von der York University in Toronto, Kanada bemerkte kürzlich in Harpers Magazine: ‘Peccei ist der typische multinationale Manager auf der Suche nach einer neuen konzentrischen Ordnung.’ Welchen Eindruck haben Sie von ihm? Ich kenne Aurelio seit langer Zeit und arbeite seit vielen Jahren mit ihm zusammen. Die ganze Idee des Club of Rome ging aus Diskussionen hervor, die in diesem Zimmer zwischen uns beiden begonnen hatten. Für mich ist er ein einmaliger Mensch. Er ist leider nicht typisch, denn der durchschnittliche Großindustrielle oder multinationale Firmenbürokrat interessiert sich zwangsläufig fast ausschließlich für | |
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die Belange seines Konzerns. Trotzdem ist es richtig, daß die multinationalen Gesellschaften mit ihren weltweiten Geschäftsverbindungen die Dinge etwas globaler sehen, und deshalb würde man von ihnen etwas mehr Verständnis, etwas mehr langfristiges Denken erwarten. Aber Peccei ist eine Ausnahme insofern, als für ihn die globalen Probleme an erster Stelle rangieren. Er ist einer der engagiertesten Menschen, die ich in meinem ganzen Leben kennengelernt habe. Er lebt diesem Engagement, und seine Motive sind die selbstlosesten, die ich je angetroffen habe. Er arbeitet ungeheuer hart. Er widmet diesen Dingen einen großen Teil seiner Zeit. Er denkt wirklich in globalen Kategorien. Er repräsentiert weder die multinationalen Konzerne noch die industrialisierten Länder. Er ist einer jener seltenen Weltbürger, die wir heranbilden wollen, aber das ist keine leichte Aufgabe.
Er sagte einmal zu mir: ‘Wie könnte ich irgend etwas anderes tun, wenn ich meine Kinder und Enkel ansehe?’ Alle Weltbürger könnten es aus dieser Perspektive sehen, tun es aber nicht. Das ist der Unterschied zwischen Peccei und den anderen; seine Sorge gilt der ganzen Menschheit. |