Die Grenzen des Wachstums. Pro und Contra
(1974)–Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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Sicco MansholtSicco Mansholt, einer der führenden Staatsmänner Europas, wurde 1908 in Ulrum, Niederlande, geboren. Er studierte tropische Landwirtschaft in Deventer und arbeitete von 1934 bis 1936 auf Teeplantagen in Java, ehemals Niederländisch-Ostindien. Nach der Befreiung der Niederlande 1945 wurde er Landwirtschaftsminister im ersten holländischen Nachkriegskabinett. 1953 legte er seinen heute berühmten Mansholt-Plan für die europäische Landwirtschaft vor. Von 1958 bis 1967 war er Vizepräsident der Europäischen Kommission. Am 1. Januar 1973 trat er von seinem Amt als Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zurück.
Glauben Sie, daß wir in absehbarer Zukunft zu einer multinationalen Weltregierung gelangen werden? Ich glaube nicht. Zumindest nicht in naher Zukunft. Die Organisation, die wir auf globaler Basis bis heute haben, die Vereinten Nationen, ist zweifellos von großer Bedeutung, aber sie besitzt kaum eine politische oder reale Macht. Seit Jahren schon habe ich die Gründung eines demokratischen Weltparlaments vorgeschlagen, das der ganzen Menschheit gegenüber verantwortlich sein sollte. Es könnte im Rahmen der Vereinten Nationen arbeiten, vergleichbar mit der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, wäre unabhängig, hätte ein Mandat von der Vollversammlung und würde mit der Macht ausgestattet, exekutive Entscheidungen zu fällen. Eine solche UN-Kommission könnte vielleicht einige wirklich dringende und ernste Probleme wie Umweltverschmutzung, Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum in Angriff nehmen. Wir brauchen Lösungen auf diesen Gebieten dringend. Ob es in naher Zukunft dazu kommt? Sicherlich nicht. Vielleicht ist die Menschheit für praktische Schritte noch nicht reif, solange sie nicht von einer unmittelbaren Katastrophensituation bedroht ist.
Sie haben Ihre Verwunderung darüber geäußert, daß ein italienischer Industrieller wie Aurelio PecceiGa naar eind1 die Initiative ergriff und durch Computer herausfinden ließ, was nun in der Welt geschehen soll. Es ist zweifellos eine Schande, daß wir die Lösung dieser dringenden Angelegenheiten einer privaten Organisation wie dem Club of Rome überlassen und daß die Nationen sich nicht klarmachen, daß der Planet als Ganzes organisiert werden muß. Aber wenn ich die gegenwärtige Haltung der Regierungen und Politiker betrachte und man die ungeheure Schwäche der Vereinten Nationen beobachtet, können wir keine positiven Veränderungen von Bedeutung in der unmittelbaren Zukunft erwarten. | |
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Macht nicht auch die europäische Union außerordentlich langsame Fortschritte? Ja. Das ist ein schwieriges Problem. Die Frage ist, ob wir die Zeit haben, derartig langsame Fortschritte zu machen. Meiner Ansicht nach ist das Zeitelement von großer Bedeutung. Wenn man eine Entwicklung beobachtet, die fünfzehn Jahre braucht, um auch nur einen Anfang für die europäische Währungsunion zu setzen. Wir sind gerade erst dabei, eine europäische Sozialpolitik auszuarbeiten. Die Dinge kommen nur ungewöhnlich langsam in Fluß.
Aber die Probleme türmen sich mit erschreckender Geschwindigkeit vor uns auf, auch in der Technik. Ja. Wenn die Menschen weitere zwanzig oder dreißig Jahre brauchen, um auch nur mit einer wirksamen Weltorganisation zu beginnen, so ist dies nach meiner Ansicht zu spät. Wir müßten jetzt anfangen, aber niemand scheint dazu bereit zu sein.
Sie sagten irgendwo einmal, daß schon Marx gewarnt habe, der Kapitalismus werde zusammenbrechen, da er Güter produziert, die sich niemand leisten kann zu kaufen. Die Ressourcen des Planeten versiegen. Vielleicht brechen Kapitalismus und Kommunismus oder Sozialismus aus einem anderen Grunde zusammen: aus Hunger. Sicherlich, eines der ersten Naturprodukte, das ausgeht, ist Nahrung. Das zweite Dilemma ist die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts. Das dritte ist mit der Umwelt verbunden und betrifft das Versiegen der Energievorräte. Unsere Thermal- und Nuklearreserven werden versiegen. In den nächsten fünfzehn oder zwanzig Jahren muß sich unser Planet mit den größten Schwierigkeiten auseinandersetzen, aber er scheint gänzlich unvorbereitet zu sein, mit ihnen fertig zu werden.
Die Bauern in Dänemark votieren für den Eintritt in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft nur, weil sie sich darüber klar sind, daß sie bessere Preise für ihre Exporte erzielen, und nicht, weil sie wissen, daß wir ein vereintes Europa brauchen. Natürlich. Der einzige Grund, aus dem sie ihren Käse und ihre Butter verkaufen, ist die Erzielung höherer Preise. In der Tat waren sie nicht von der Schaffung eines starken geeinten Europas bestimmt, und ich gebe zu, es ist kein sehr guter Start. Es wäre absolut möglich, eine bessere Lebensqualität in Europa zu schaffen. Wir haben die Organisation. Wir haben die Macht. Wenn nun auch der politische Wille da wäre, könnten wir es erreichen. Aber statt dessen bemerke ich einen Trend in die entgegengesetzte Richtung. Die Kräfte, die Entscheidungen treffen, erschlaffen immer mehr. Ich erken- | |
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ne Symptome eines Wiedererstehens von Nationalismus, was sich deutlich in den Entscheidungsprozessen widerspiegelt.
Wird der Sozialismus die notwendigen Veränderungen bringen? Was versteht man unter dem Wort Sozialismus? Ich erkenne nicht, daß uns der Sozialismus, wie er beispielsweise in der Sowjetunion praktiziert wird, wesentlich helfen wird. Ich bin Demokrat, wie Sie wissen. Ich bin mir sehr wohl im klaren über die innere Schwäche des demokratischen Sozialismus. Es fehlt ihm an Macht, Entscheidungen zu treffen. Es fehlt ihm die Möglichkeit, Handlungen zu beeinflussen. Wir müssen unbedingt einen neuen Sozialismus schaffen, für den sich jeder engagiert. Wir sind nicht länger funktionstüchtig, wenn wir uns auf Regierungen oder herrschende Institutionen verlassen, die über die Köpfe des Volkes hinweg entscheiden.
Die Regierungen sollten im echten Sinne von den Massen imspiriert werden. Das Volk sollte in der Lage sein, die Politiker als die Vertreter des Volkes zu beeinflussen. Danach strebt die Menschheit seit Urzeiten. Man kann die Probleme der Zukunft nur lösen, wenn man jeden einzelnen davon überzeugt, daß der Mensch der größten Herausforderung aller Zeiten gegenübersteht. Wenn man jeden einzelnen davon überzeugt, daß er für das Überleben der Menschheit verantwortlich ist. Ich meine, daß unser heutiges Produktions- und Konsumsystem, das auf einer kapitalistischen Gesellschaft basiert, nicht in der Lage sein wird, diese ernsten Probleme zu lösen. Man kann sie nur lösen, wenn die Arbeiter in den Unternehmen selbst voll verantwortlich für die Gegenstände und Ziele des Produktionsprozesses sind und aktiv daran teilnehmen. Wir brauchen die totale Reform und Neuordnung unserer Gesellschaft. In mancher Hinsicht könnte dies durch eine stärkere Dezentralisierung unserer Institutionen erreicht werden, eine Dezentralisierung, bei der die Regionen mehr Macht besitzen würden, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Jede Hausfrau, jeder Arbeiter, jeder Angestellte eines Büros oder einer Firma sollte auf seine große Verantwortung hingelenkt werden und sollte sich der gefährlichen Situation unseres Planeten voll bewußt sein. Wenn wir einen Sozialismus schaffen könnten, in dem nicht die Industrie und das Kapital darüber entscheiden, was produziert werden soll, sondern in der die Produktion auf dem Konsensus und dem gemeinsamen Interesse der Gesellschaft basierte, könnten wir aus der gegenwärtigen Sackgasse herausgelangen. Ich bin nicht der Ansicht, daß wir durch bloßes Stoppen des materiellen Wachstums irgendeines dieser Probleme lösen werden. Meiner Meinung nach ist es nicht möglich, daß wir das materielle Wachstum in den nächsten zehn Jahren zurückdrehen. | |
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Robert S. McNamaraGa naar eind2 befürwortet zunehmendes Wirtschaftswachstum, um der Dritten Welt bei der Hebung ihres Lebensstandards zu helfen. Das ist falsch. Wir brauchen kein Wachstum. Ohne Pro-Kopf-Wachstum, das heißt Pro-Kopf-Verbrauch, können wir besser überleben und sind auch besser in der Lage, den achtzig Prozent Armen in der Welt zu helfen. Materielles Wachstum hat eine absolute Grenze. Für die Entwicklungsländer ist es unmöglich, jemals den Lebensstandard zu erreichen, wie er heute in Europa und Nordamerika vorherrscht. Damit sich die Kluft zwischen den achtzig Prozent armen und den reichen Nationen nicht weiter ausweitet, müssen wir unser materielles Wachstum stoppen. Wenn wir wirklich einen Teil unseres Reichtums den Entwicklungsländern geben würden, könnten wir ihnen wesentlich helfen und ihre Aussichten auf ein besseres Leben verstärken. Sie wissen ebensogut wie ich, daß wir zur Zeit so gut wie nichts von unserem Reichtum den armen Völkern verfügbar machen. Kürzlich traf ich in Holland mit einer Gruppe jugendlicher Arbeiter zusammen und fragte sie, ob sie einverstanden seien, einen größeren Teil unseres Wohlstands mit den Entwicklungsländern zu teilen. Sie antworteten, sie seien durchaus bereit, mit den Armen der Dritten Welt zu teilen, wehrten sich aber dagegen, daß dies unter den gegenwärtigen Bedingungen und bei dem westlichen kapitalistischen System geschehe.
G.D. van GelswijkGa naar eind3, ein Landarbeiter aus Lisse, der Ihnen auf Ihre Frage antwortete, fragte Sie auch, warum Sie, der Sie derart fortschrittliche Ideen vertreten, an der Spitze dieses kapitalistischen Systems als Präsident der Europäischen Wirtschaftskommission gearbeitet hätten. Das ist sehr einfach: Diese Ideale kann ich leichter aus dem Inneren des Systems heraus verwirklichen, als wenn ich nur Zuschauer oder Kritiker von außen wäre. |