Die Grenzen des Wachstums. Pro und Contra
(1974)–Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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Alva MyrdalAlva Myrdal, die Frau Gunnar Myrdals, ist seit 1966 schwedischer Kabinettsminister für kirchliche Angelegenheiten und Abrüstungsfragen. Sie wurde 1902 in Uppsala geboren. Ihre Studien führten sie nach Stockholm, London, Leipzig und Genf. Von 1949 bis 1950 war Frau Myrdal Leitender Direktor des Department of Social Sciences in der UNESCO. Seit 1962 ist sie schwedische Chefdelegierte bei der Abrüstungskonferenz in Genf. Neben einer Anzahl von Büchern, die sie gemeinsam mit Gunnar Myrdal verfaßte, schrieb Alva Myrdal: Responsibilities for the Poor Peoples, 1961, und Disarmement - Reality or Utopia? 1965.
Als Delegierte bei der Genfer AbrüstungskonferenzGa naar eind1 machten Sie warnend darauf aufmerksam, daß unsere Erde in achtzehn Monaten erneut sechzig atomare Versuche ertragen mußte: drei in Rotchina, fünf französische, sechzehn in den USA und einige Dutzend in der Sowjetunion. Dies ist einfach eine Entwicklung, die aufhören muß. Es sind nur fünf Nationen, die die wirklichen Sünder sind. Ich glaube nicht, daß die Gefahr übergroß ist. Aber wie immer, sie führen diese Waffentests durch, um ihre Nuklearwaffen zu verbessern und zu noch größerer Tötungskapazität zu entwickeln. Das bedeutet natürlich, daß sie miteinander im Wettbewerb stehen. Außerdem monopolisieren sie damit die enormen Mittel ihrer eigenen Länder. Auf diese Weise wird ein großer Teil der Aktiva der Welt für den Zweck der Perfektionierung von Tötungsinstrumenten verbraucht. Selbst wenn es keinen Atomkrieg gibt und selbst wenn die Nukleartests für die menschliche Gesundheit unschädlich sein sollten, so ist doch der Weg selbst, den man gezwungen ist einzuschlagen, für die Interessen der Menschheit nachteilig, ebenso wie für die übrige nichtbeteiligte Welt und sogar für die Menschen in den betroffenen Ländern selbst.
Wie Ivan IllichGa naar eind2 schrieb, können moderne Waffen die Zivilisation und die sogenannte Freiheit nur verteidigen, indem sie sie vernichten. Ist es auch Ihre Meinung, daß zum Beispiel SALTGa naar eind3 eine weitere Zunahme atomarer Sprengköpfe an Raketen nicht verhindern wird? Es existiert eine SALT-Vereinbarung, aber SIPRIGa naar eind4 hat dafür den Begriff ‘kosmetische Übereinkunft’ geprägt. Steht die Menschheit nicht vor einer sehr ernsten Situation? Allerdings. Die SALT-Übereinkünfte sind insofern gut, als sie demonstrieren, daß zwei Parteien in einem Punkt übereinstimmen kön- | |
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nen. Aber sogar bei den strategischen Defensivwaffen bedeutet dies, daß sie die Zahl ihrer ABM-Raketen erhöhen, um zu diesem Ergebnis zu gelangen. Und bei den strategischen Angriffswaffen gibt es überhaupt keine quantitative Grenze, weil sie mehr Bomben in jedes Geschoß stecken können. Es kann eine qualitative Entwicklung geben; die sogenannte Verbesserung der Waffen findet kein Ende. Das Feld für Wettrüsten bleibt offen. Der Zuwachs in der Sowjetunion und in den Vereinigten Staaten ist so hoch, daß dadurch zwangsläufig China ermutigt wird, gleichfalls weiterzumachen. Von den Weltmächten lassen zumindest diese drei nicht im geringsten darauf hoffen, daß sie dieses Wettrennen in die Vernichtung abbrechen wollten.
Mit anderen Worten, der Trend geht von Quantität zur Qualität, und der irrsinnige Wettlauf geht effektiv einfach weiter. Ja, die Qualität ist ständig verbessert worden. Der einzige Bereich, in dem sie sich zu begrenzen versuchen, ist der quantitative. Und das ist nicht das Schlechteste. Der qualitative Aspekt ist bei weitem schlimmer, denn wenn man jetzt Unmengen von nuklearen Waffen herstellt, so setzt man ein oder benutzt Hilfsquellen, Fabriken, Stahl, Elektronik. Doch bei dem Wettrennen der qualitativen Verbesserungen nimmt und benutzt man das Gehirn des Menschen in viel höherem Maß, weil dazu Forschung und Entwicklung nötig sind. Ich bin der Überzeugung, daß in dieser unserer Welt das Gehirnpotential sehr viel rarer ist als - sagen wir die Elektrizität. Und was die armen Länder mehr als alles andere brauchen, ist natürlich, daß diese Hunderttausende von Wissenschaftlern und Ingenieuren sich an die Arbeit machen und die Probleme dieser Länder lösen, konstruktive Probleme, nicht Probleme der Vernichtung.
Was besagte die Übereinkunft zwischen Chruschtschow und Kennedy über den Stopp der Atomversuche in der Atmosphäre eigentlich wirklich? Unterirdische Versuche wurden sofort weiter durchgeführt und gefährden den Planeten und das menschliche Leben weiterhin. Und jetzt haben wir das sogenannte SALT-Abkommen. Die Übereinkunft zwischen Kennedy und Chruschtschow über den Nuklearteststopp war vollkommen bedeutungslos, am wenigsten hat sie zu einer Reduzierung des Wettrüstens beigetragen. Nicht das geringste bißchen. Sie machen genauso weiter wie zuvor. Ich kann wirklich kein Ende absehen, es sei denn, die Militärs ändern ihre Einstellung; die Wissenschaftler, so glaube ich, sind bereits dabei, die ihre zu ändern. Es herrscht heute ein weit größeres Unbehagen bei den Wissenschaftlern, zum Beispiel an chemischen Waffen zu arbeiten. Sie üben wirklich Kritik an dem, was da getan wird. Und immer hat es schon die großen Helden gegeben, sogar unter den Atomphysikern, die sich fragten, ob sie richtig gehandelt hätten oder nicht, wie etwa OppenheimerGa naar eind5. | |
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Oder Andrei D. Sacharow in der Sowjetunion - Ja, Sacharow und mehrere andere in der Sowjetunion. Sie kamen hierher nach Schweden zu einem Kongreß. Sie sagten vor kurzem, daß alle Wissenschaftler zumindest darin einig sein sollten, daß sie die Arbeit an biologischen Kriegswaffen niederlegen sollten. Meine Hoffnung, daß die Wissenschaftler sich gegen die derzeitige Lage auflehnen werden, ist viel größer. Die Wissenschaftler werden die öffentliche Meinung dazu bewegen, sich gegen diese Zustände aufzulehnen, und dies wird die Politiker beeinflussen. Und dann, so hoffe ich, werden die Politiker und Staatsmänner ihrerseits Druck auf die Militärs ausüben.
Mit anderen Worten: Die Wissenschaftler sollten die Menschen dazu bringen, daß sie die Politiker veranlassen, das Notwendige zu tun. Genau das. Die Bevölkerung hat nicht den Antrieb und die Kenntnisse, um es selbst zu tun, zumal sie ja auch von den Massenmedien, vom Fernsehen verdummt wird. Das Volk glaubt sehr viel stärker an Slogans wie ‘Überlegenheit’, ‘Ehre der Nation’, ‘Wir müssen die Größten sein’ und so fort, und das ist ganz einfach Unsinn. Außerdem kann nicht jede Nation die größte sein. Es ist viel besser, wenn wir uns zusammentun und das Beste aus unserem Planeten zu machen versuchen.
Das Forrester-Team am MIT hat nun zum erstenmal versucht, ein Weltmodell zu schaffen, um an ihm zu studieren, was für unser Überleben getan werden muß und was die Interaktionen der für jegliches Leben schädlichen Faktoren wirklich sind. Wenn Sie das Wort Beginn unterstreichen, ist dies, wie ich meine, etwas sehr Gutes. Es eröffnet neue Interessensphären für viele Menschen, aber es kann sicherlich nicht als Modell angesehen werden, mit dessen Hilfe man die reale Durchführung in die Wege leiten könnte, sondern eher als eine Möglichkeit, mit kritischen Untersuchungen verschiedenartiger Zukunftsalternativen zu beginnen. Wir hier in Schweden hatten und haben ein großes Interesse auf diesem Gebiet. Als das kleine Land, das wir sind, fürchten wir uns natürlich vor den Riesennationen, den Supermächten, besonders vor ihrer Planung von militärischen Gesichtspunkten aus. Die multinationalen Unternehmen, die Industriegiganten werden die künftige Welt gemäß ihren Interessen planen. Aber sie planen tatsächlich auch unsere Zukunft. Und dabei wollen wir ein Wort mitreden. Wir brennen darauf, in Schweden einige Institutionen zu schaffen, um den Denkprozessen auf dem Sektor der Planung, die derzeit ablaufen, folgen zu können, und wir brennen darauf, in bestimmten Sektoren, wo wir über genügend Mittel zur Durchführung verfügen, einen Beitrag zu leisten. Ich hatte vor kurzem den Vorsitz in einem staatlichen Komitee. Wir haben uns in unserem | |
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Bericht Gedanken darüber gemacht, wie wir in Schweden futurologische Studien betreiben sollten. Wir dürfen die Interessen des Bürgers, der Gemeinden, der Provinzen und der verschiedenen Interessengruppen nicht vergessen, und wir müssen dafür sorgen, daß das Zukunftsdenken, das alle diese Interessen kombiniert umfassen sollte, ausgewogen ist, daß es aber auch die Interessen künftiger Generationen berücksichtigen sollte. Wir sollten nicht zu viel entscheiden wollen. Wir dürfen die Zukunft für sie nicht zu sehr festlegen. Wir sollten ihnen eine Reihe von Entscheidungen offenlassen. Dies ist ein äußerst schwieriges Unterfangen in jeder Planung.
Die New York Times warnte mit dem Abdruck einer Rede von Professor Mason Willridge von der University of Virginia davor, daß eines Tages Kriminelle oder Psychotiker in der Lage sein könnten, die Menschheit mit einer selbstgebastelten Atombombe unter Druck zu setzen. Das ist in der Tat denkbar. Mörder und Banditen haben weit größere Möglichkeiten, als wir uns vorstellen. Sogar was etwa chemische Waffen, tödliche Gase und so fort betrifft. Muster solcher Explosivstoffe sind die kleinen Briefchen, die an die verschiedensten Personen in verschiedenen Ländern verschickt wurden. Dies hat möglicherweise ja keine katastrophalen Folgen für eine große Zahl von Menschen, aber ich glaube dennoch, daß wir den Möglichkeiten viel größere Beachtung als bisher schenken müssen, daß Individuen oder Banden terroristische Pläne durchführen. SIPRI zum Beispiel erstellt gerade eine umfangreiche und beunruhigende Studie über die verschiedenen chemischen Waffen. Und die 900 Seiten starke Untersuchung dieses Instituts über den Waffenhandel mit der Dritten Welt, die vor kurzem veröffentlicht wurde, ist Ihnen sicher bekannt?
Ich habe mit Dr. Frank Barnaby, dem Chef der Studiengruppe, gesprochen, und ich habe in der Presse über diese äußerst wichtige Arbeit geschrieben. Aber haben Sie wirklich die Hoffnung, daß die Wissenschaftler die Menschheit in ausreichendem Maß und vor allem rechtzeitig mobilisieren können, bevor wir effektiv in die Katastrophe schlittern? Nein, ich könnte nicht sagen, daß ich sehr viel Hoffnung habe. Aber wir brauchen auch gar nicht hoffnungsvoll zu sein, um den Versuch zu unternehmen, möglichem Übel zu begegnen. Ich bin der Überzeugung, daß jedermann, der auch nur etwas von diesem Thema versteht, die Pflicht hat, sich laut und deutlich zu äußern. Ich würde sagen, daß insbesondere wir in den kleineren und neutralen Ländern, die von keinerlei Rücksichten gegenüber dem einen oder anderen Block behindert sind, eine besonders hohe Verantwortung tragen, die Wahrheit, | |
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wie wir sie sehen, auszusprechen - in der Hoffnung, daß dies auf lange Sicht die Welt beeinflussen wird. Wenn man nicht mehr an Vernunft glaubt, bleibt nichts, woran man glauben könnte. |
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