Die Grenzen des Wachstums. Pro und Contra
(1974)–Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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C.H. WaddingtonProfessor Waddington lehrt seit 1947 Tiergenetik an der University of Edinburgh. Er gilt als einer der bedeutendsten Köpfe im heutigen Großbritannien und ist aktiver Teilnehmer der Zusammenkünfte des Club of Rome. Waddington wurde 1905 in Coimbatore im Süden Indiens geboren. Von 1961 bis 1967 war er Präsident des Internationalen Verbandes der Biologischen Wissenschaften. Veröffentlichungen: Introduction to Modern Genetics, 1939; Organisers and Genes, 1940; Science and Ethics, 1942; The Strategy of the Genes, 1957; The Ethical Animal, 1960; Nature of Life, 1961 sowie ein vierbändiges Werk mit dem Titel Towards a Theoretical Biology, 1968-1972.
Es ist wichtig, eine Vorstellung davon zu bekommen, was man beim heutigen Stande der Wissenschaft durch Computersimulation komplexer Situationen klären kann und was nicht, und wie weit das MIT-Team und andere seit kürzerer Zeit mit dem Club of Rome assoziierte Forschergruppen bis heute gekommen sind. Das Verfahren, nach dem man bei der Erstellung eines computerisierten Modells eines komplexen Systems vorgeht, sieht etwa so aus: Zunächst wählt man, rein nach dem Hausverstand, eine Reihe von Faktoren aus, die einem wesentlich erscheinen. Die MIT-Untersuchung stützte sich auf fünf Hauptvariablen: Bevölkerung, Kapitalinvestitionen, Naturschätze, Umweltverschmutzung und landwirtschaftliche Investitionen. Jedes dieser Elemente wird dann wieder auf einer niedrigeren Ebene in weitere Aktivfaktoren zerlegt, wie beispielsweise im Falle der Bevölkerung in Geburts- und Sterberaten oder auf den anderen Gebieten in Faktoren wie Ausmaß der vorhandenen Kulturfläche, Kapitalkosten der Urbarmachung neuer Areale usw. Dann muß man versuchen, quantitative Schätzungen der Stärke der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Faktoren in das Modell einzuführen. Beispielsweise, welche Auswirkung hat die Umweltverschmutzung auf das Bevölkerungswachstum? Diese Interaktionseffekte (im Fachjargon der Systembauer Multiplikatoren genannt) müssen derzeit meist noch erraten werden, da nur wenige Fakten zur Verfügung stehen, auf die man die Schätzungen stützen kann. Der Computer ist jedoch flexibel genug, um mit Multiplikatoren fertig zu werden, die sich je nach den tatsächlichen Größen der miteinander in Wechselwirkung stehenden Faktoren ändern. Beispielsweise ging das MIT-Team davon aus, daß die Umweltverseuchung nicht in jeder Phase entsprechende Auswirkungen auf die Sterberate hat, sondern diese erst dann beeinflußt, wenn sie ein ziem- | |
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lich weit fortgeschrittenes Stadium erreicht hat; dann wird sie sehr rasch zu einer immer größeren Bedrohung. Dies ist eine Vermutung, die sich auf Phänomene wie beispielsweise den großen Smogeinbruch in London vom Winter 1952 stützt, den man für das vorzeitige Ableben von dreitausend Menschen verantwortlich macht. Die Gültigkeit dieser Annahmen lassen sich nur beweisen - und nicht unbedingt überzeugend -, indem man zeigt, daß das ganze System ein annähernd korrektes Bild der Entwicklung aller Variablen in einem Zeitabschnitt, für den Zahlen vorhanden sind, liefern kann, beispielsweise für die Zeit von 1900 bis 1960. Jede Skala von Interaktionswerten, die das nicht vermag, wäre selbstverständlich mit den vorhandenen Daten vereinbar gewesen, um so mehr, als manche der Faktoren, die für die Zukunft von großer Bedeutung zu sein scheinen, wie fortgeschrittene Umweltverschmutzung oder die Erschöpfung gewisser Bodenschätze, erst in jüngster Zeit Bedeutung gewonnen haben. Sobald das Modell ausgearbeitet ist und man den Nachweis geführt hat, daß es zumindest für die Vergangenheit funktioniert, errechnet der Computer, was geschehen würde, wenn sich die gleichen Wechselwirkungen in der Zukunft fortsetzen würden. Das MIT-Modell ergab, daß gegen Ende des Jahrhunderts auf der Erde die Bodenschätze auszugehen beginnen und daß sie nicht länger eine so große Bevölkerung verkraften kann, sondern diese drastisch, ja katastrophal abnimmt. Das MIT-Team erprobte dann, wie das Modell reagiert, wenn einige der Zahlen, mit denen es gespeist wurde, verändert werden. Da die Fortsetzung des ursprünglichen Verfahrens zu einer Erschöpfung der Rohstoffvorräte führt, scheint es naheliegend, das Tempo ihrer Ausbeutung zu reduzieren. Als man die eingefütterten Werte entsprechend änderte, ergab dies eine Beschleunigung der Umweltverschmutzung, die ebenfalls eine Bevölkerungskatastrophe bewirkte. Was wäre also, wenn man den Abbau der Bodenschätze verlangsamt und der Industrie eine größere Effizienz bei der Vermeidung von Umweltschäden zutraut? Dies schiebt die Katastrophe zwar etwas hinaus, führt aber letzten Endes zum gleichen Resultat. Die einzigen Änderungen am MIT-Modell, die eine im wesentlichen stabile Situation herbeiführten, waren jene, die drastische Kürzungen der Kapitalinvestitionsraten, der Rohstoffausbeutung, ja sogar der Nahrungsmittelproduktion einschlossen. Eine triste Aussicht für alle diejenigen, die sich daran gewöhnt haben, daß alles ständig ‘größer und besser’ wird.
Wie ernst müssen diese Ergebnisse genommen werden? Als Prognosen sollten sie überhaupt nicht ernst genommen werden. Sie sind keinesfalls als Voraussagen der tatsächlichen Entwicklung konzipiert. Ihre eigentliche, sehr reale Bedeutung liegt auf einer anderen Ebene, genaugenommen auf drei Ebenen. | |
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Erstens führen sie uns Formen des Zusammenbruchs vor Augen, die eintreten könnten, wenn die Welt nach dem gleichen System weiterarbeitet, was nicht allzu unwahrscheinlich ist. Die Menschheit tut gut daran, sich bewußt zu werden, daß Katastrophen keinesfalls undenkbar sind. Zweitens lehren sie uns, daß die Veränderung eines Faktors in einem komplexen System dieses zu Reaktionen veranlassen kann, die man weder beabsichtigt noch vorhergesehen hat. Diese Lektion müssen die Menschen immer aufs neue lernen. Das Verhalten komplexer Systeme ist oft geradezu ‘konterintuitiv’, wie es die MIT-Fachleute nennen - sie tun verdammt nicht, was man von ihnen erwartet. Eine frühere Untersuchung des gleichen Teams beschäftigte sich mit Wachstumsprozessen in den StädtenGa naar eind1. Man hat häufig die Erfahrung gemacht, insbesondere in den Vereinigten Staaten, daß eine wohlmeinende Stadtverwaltung ein Programm zur Slum-Sanierung durchführt, viele besser ausgestattete Wohnungen errichtet und innerhalb weniger Jahre feststellen muß, daß sich in dem früheren Slum-Viertel noch mehr noch ärmere Menschen zusammendrängen als zuvor. Dieses ‘konterintuitive’ Verhalten kommt wohl daher, daß die neuen Wohnbauten eine große Zahl von Menschen anziehen, für die nicht genug Arbeit vorhanden ist, so daß sie arm bleiben und sich im Wohnraum noch mehr einschränken müssen. Modelle von komplexen Systemen werden gerade deshalb angefertigt, um herauszufinden, weshalb sie sich anders verhalten als erwartet. Eine dritte Bedeutung des MIT-Weltmodells liegt darin, daß es die Wissenschaftler zur Untersuchung einer Vielzahl von Modellen anspornt - bis es gelingt, eines zu entwickeln, das sich genauso verhält wie die Realität.
Wenn es stimmt, daß das Geheimnis, der Reichtum des Lebens in der Vielfalt der Gene, in der Vielfalt der Lebewesen gespeichert ist, wenn Vielfalt also unabdingbar ist, zerstört der Mensch dann nicht durch sein Verhalten diesen notwendigen Reichtum? Ohne Zweifel zerstören wir ihn in der Natur. Wir rotten viele Arten aus. Wir dezimieren die Fauna und Flora in verschiedenen Teilen der Welt, und es ist sehr wichtig, daß wir damit aufhören. Viele der Gene, die wir zur Veredelung der Kulturpflanzen brauchen oder zum Schutz vor Krankheiten, kommen in wildwachsenden Arten vor, und wenn wir diese wilden Arten alle ausrotten, berauben wir uns dieser Möglichkeit, und es wird schwierig sein, sie wieder nachzuzüchten. Der Mensch selbst ist nicht so sehr genetischen als vielmehr kulturellen Einflüssen ausgesetzt. Wir ermöglichen es den Menschen, glaube ich, heute wesentlich vielseitiger zu werden, als sie dies in der Vergangenheit konnten, weil wir über größeren Reichtum und mehr Freizeit und so | |
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weiter verfügen. Die Last, das einfache Überleben zu sichern, ist geringer geworden. Insgesamt gesehen ist den Menschen eine größere Differenzierung möglich geworden. Das gilt sicher auch für die Entwicklungsregionen der Welt, wo bisher jede Stunde Tageslicht zur Arbeit genutzt werden mußte, um das Leben zu fristen. In manchen wohlhabenderen Teilen der Erde, wie etwa in Europa, konnte sich die Oberschicht in der Vergangenheit vielleicht eine größere Vielfalt leisten als heute. Der Zwang zum Konformismus ist beträchtlich. Aber, so meine ich, er ist nichts im Vergleich mit dem Zwang zum Konformismus, der in den Agrargesellschaften des Mittelalters herrschte, als jede Stunde des Tageslichts zur Arbeit auf den Feldern genutzt werden mußte und kaum Gelegenheit bestand, irgendwelche anderen Dinge zu tun.
Und das Modell SkinnersGa naar eind2 würde zu einer Art autoritärer Weltregierung führen? Es könnte, natürlich; Skinner gibt sich große Mühe, daß es nicht dazu kommt. Ich glaube, Skinner hat recht, wenn er betont, wie sehr wir uns gegenseitig beeinflussen und wie stark wir beispielsweise durch unsere Erziehung programmiert sind. Aber ich meine, es ist viel zu früh, um daran zu denken, ein Programmiersystem zur Produktion des optimalen Menschen zu entwerfen. Wir müssen allmählich in dieser Richtung experimentieren. Wir können nicht vermeiden, einander zu beeinflussen und in gewissem Maß programmiert zu werden. Doch Skinner überbetont meiner Meinung nach einen wertvollen Teilaspekt der Situation. Und ChomskyGa naar eind3 überbewertet seinerseits die Gegenposition, daß alles vollkommen spontan erfolgt und aus den tieferen Schichten des Unterbewußtseins aufsteigt, ohne Beeinflussung durch andere Menschen oder andere Dinge. Beide, meine ich, überbetonen ihre jeweiligen Standpunkte, die beide etwas für sich haben.
Sind Sie der Ansicht, daß die Wahrheit in der Mitte liegt? Irgendwo in der Mitte.
Was versprechen Sie sich von der Molekularbiologie, von der gesagt wurde, sie praktiziere Biochemie ohne Lizenz? Ein Großteil des Geredes über Gentechnik und andere biologische Manipulationen stammt von Leuten, die der Zeit sehr weit vorauseilen. Sicher kann es nicht schaden, daß man über diese Dinge schon zehn oder zwanzig Jahre, bevor sie möglich sind, zu sprechen beginnt. Aber viele dieser Dinge werden nie verwirklicht werden können. Ich glaube nicht, daß es gelingen wird, viele bessere Gene zu erfinden und die DNs künstlich herzustellen und einzupflanzen. Ich glaube nicht, daß wir imstande sein werden, die menschlichen Gene radikal zu verändern. | |
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Wesentlich leichter ist es, das menschliche Ei und Sperma zu manipulieren. Es liegt beispielsweise im Bereich des Möglichen, viele identische Zwillinge zu produzieren. Bei Fröschen hat man das tatsächlich schon getan. Bei Säugetieren wäre es zwar viel schwieriger, aber es ist durchaus denkbar, daß es bei Nutztieren wie Rindern und Schweinen eines Tages praktiziert wird. Ich würde sagen, daß dies innerhalb von zehn Jahren geschehen könnte, wenn ein großes Forschungsprogramm in Angriff genommen wird. Für die Anwendung beim Menschen wäre ein weiteres umfangreiches Entwicklungsprogramm erforderlich. Um so etwas mit Menschen zu versuchen, müßte eine Erfolgsaussicht von 99,9 Prozent oder mehr gegeben sein. Bei Nutztieren könnte man in Kauf nehmen, daß ein Prozent eingeht oder sonstwie Schaden nimmt. Aber beim Menschen muß man auf absoluter Zuverlässigkeit bestehen, und das stellt uns vor enorme Aufgaben. Ich weiß nicht, ob Sie zufällig einen Artikel von einem Mann namens Djerassi gelesen haben: er ist Generaldirektor der Syntex Corporation, der es gelang, das Ausgangsmaterial für die Steroide zu entdecken, die zur Herstellung der Antibabypille verwendet werden. Er spricht davon, was notwendig wäre, um zu einem neuen, besseren Mittel zur Empfängnisverhütung zu kommen, und er weist darauf hin, daß die amerikanischen Gesetze umfangreiche Testserien zur Feststellung der Toxizität und der Wirkung auf Embryos sowie Versuche mit verschiedenen Tierarten vorschreiben, bevor mit menschlichen Versuchsgruppen experimentiert werden darf. Diese Testreihen nehmen ein Minimum von fünfzehn Jahren in Anspruch und kosten -zig Millionen Dollar. Die Chance, daß sich dieser finanzielle Aufwand amortisiert, ist, wie er sagt, gering, und der Versuch wird daher gar nicht erst unternommen werden. Seiner Meinung nach wird man im vielzitierten Jahre 1984 im wesentlichen die gleichen empfängnisverhütenden Mittel benutzen wie heute; niemand könne es sich leisten, ein wirklich neues zu entwickeln.
Es sei denn, der Krieg in Vietnam wird beendet. Selbst wenn man den Krieg in Vietnam beendet, kommt man nicht um das vorgeschriebene Testprogramm herum. Aber vielleicht könnte man es in Indien oder Brasilien oder irgendeinem anderen Land mit einem großen Übervölkerungsproblem machen, das keine so strenge Gesetzgebung hat. Aber ich erwähne das nur, um daran zu erinnern, daß Genmanipulationen oder die Erzeugung eineiiger Zwillinge dieselbe Unmenge von Tests und Kontrollen durchlaufen müßten, bevor sie auf den Menschen angewandt werden könnten. Das einzige, womit wir mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit rechnen können, ist, daß man eines Tages das Geschlecht des Nachwuchses wählen kann. Dies hätte einige Bedeutung für die Landwirtschaft, wenn auch keine sehr große. | |
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Es hätte ungeheure Bedeutung für den Menschen. Ich habe Zweifel, ob es gelingen wird, den Gedanken der Familienplanung überall durchzusetzen, es sei denn, die Leute können sicher sein, daß die zwei Kinder, die sie in die Welt setzen, das gewünschte Geschlecht haben. Wenn sie sich Jungen wünschen und beim ersten Mal ein Mädchen bekommen, wollen sie sichergehen, daß das nächste Kind ein Junge ist, oder sie machen weiter, bis sie einen Jungen bekommen. Für die Bevölkerungskontrolle wäre es von Vorteil, wenn man den Leuten sagen könnte, daß sie das Geschlecht ihres nächsten Kindes selbst bestimmen können, und zwar mit hoher Zuverlässigkeit. Im Grunde können sie das heute schon, aber es ist keine angenehme Methode. Man kann das Geschlecht des Fötus feststellen und das Kind abtreiben, wenn es nicht das gewünschte Geschlecht hat. Heute geht das aber erst in einem ziemlich späten Stadium. Außerdem ist ein Abortus unangenehm, die Mutter hat zu diesem Zeitpunkt schon eine innere Beziehung zu dem Kind und will es sich nicht nehmen lassen, es ist daher rundherum keine glückliche Lösung. Wird gegenwärtig daran gearbeitet? Da und dort ein bißchen. Es gibt vielleicht ein Dutzend Wissenschaftler in der Welt, vielleicht auch bloß ein halbes Dutzend, die sich damit befassen - jedenfalls verschwindend wenige im Vergleich zu jenen, die an Überschallflugzeugen arbeiten. Halten Sie es nicht für wesentlich, daß diese Vorhaben unter Aufsicht eines internationalen Gremiums stattfinden, der UNO oder der Weltgesundheitsorganisation? Ich meine, ja. Sie stehen zwangsläufig schon unter nationaler Kontrolle, weil sie so kostspielig sind, daß sie nur von nationalen Körperschaften unter Verwendung nationaler Fonds, das heißt im wesentlichen Steuergelder, durchgeführt werden können; diese unterliegen der Kontrolle des Parlaments oder eines entsprechenden anderen nationalen Gremiums. Ich glaube also nicht, daß sie von Privatpersonen gemacht werden können. Sie sollten meiner Ansicht nach unter öffentlicher Aufsicht stehen. Heute wünschte ich, sie stünden unter internationaler Aufsicht. Sollten an dieser internationalen Kontrolle auch die sozialistischen Länder, beispielsweise die Sowjetunion, beteiligt sein? Ich glaube, ja. Die Frage ist, ob die bestehenden internationalen Gesellschaften wirklich dafür geeignet sind. Die Erfahrung, die man etwa bei den Olympischen Spielen gemacht hat, läßt den Eindruck entstehen, daß die existierenden internationalen Gremien nicht sehr international denken. |