Die Grenzen des Wachstums. Pro und Contra
(1974)–Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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Ivan IllichDer 1926 in Wien geborene Ivan Illich ist Direktor des Centro intercultural de documentación (CIDOC) in Cuernavaca, Mexiko, das zum Mittelpunkt der Bemühungen um neue Erziehungssysteme in unter entwickelten und entwickelten Ländern wurde. Illich studierte in Wien, Salzburg und Rom, wurde zum Priester geweiht und erhielt später den Titel Monsignore. Er war Rektor der Universität von Puerto Rico und Seelsorger in New Yorker Slums, bevor er 1960 das Institut in Cuernavaca gründete. Zu seinen bekanntesten Werken zählen: Celebration of Awareness, 1969 (Almosen und Folter) und Deschooling Society, 1970 (Entschulung der Gesellschaft).
Eine kürzlich an der Harvard University von Christopher JencksGa naar eind1 und anderen durchgeführte Untersuchung hat ergeben, daß die Ungleichheit der Schulbildung keine Hauptursache der wirtschaftlichen Ungleichheit unter den Erwachsenen ist. Mit anderen Worten, zur Bekämpfung der Armut in den reichen Nationen (die Studie beschäftigte sich mit den USA) müssen die wirtschaftlichen Institutionen grundlegend verändert werden; von den Schulen kann man eine Lösung dieses Problems nicht erwarten. Ich habe nie behauptet, daß die Ungleichheit der Schulen eine Hauptursache der wirtschaftlichen Ungleichheit unter den Erwachsenen sei. Mein Hauptaugenmerk richtet sich mehr auf das Ritual als auf die ursächliche Wirkung der Schulen. Das habe ich in dem Kapitel ‘Das Ritual des Fortschritts’ meines Buches Die Entschulung der Gesellschaft ausgeführt. Wie jedes mythenschaffende obligatorische Ritual verschleiert auch die Schule für alle Beteiligten die Divergenz zwischen dem Mythos, an den sie glauben, und der gesellschaftlichen Struktur, der sie dienstbar sind. Die Schule fördert den Mythos der Gleichheit und gibt ihren Anhängern zwangsläufig das Gefühl, einer bestimmten Alters- und Schulklasse anzugehören. Die Gleichheit der Lebenschancen oder des Anteils am Sozialprodukt zu fördern zählt zu den obersten Zielen jeder Gesellschaft, die sich ein Schulwesen geschaffen hat. Sie alle schreiben ihren Bürgern die Teilnahme an dem obligatorischen Wettbewerb der Erkletterung der nach oben unbegrenzten Leitern des Bildungskonsums vor. Je höher einer auf dieser Leiter klettert - je mehr er angeblich ‘gelernt hat, wie man lernt’ -, desto teurer wird es für die Gemeinschaft, seine Studien für ein weiteres Jahr zu finanzieren. Jede Gesellschaft, die die Initiation durch die Schule vornehmen läßt, schafft eine Pyramide säuberlich getrennter Klassen von Bildungskonsumen- | |
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ten. Wer die Schule früh verläßt, wird als Bildungskonsumverweigerer identifiziert und endet als ökonomischer Paria. Die Einführung des Schulwesens ist daher gleichbedeutend mit der Legitimierung einer Gesellschaft, in der die Menschen nach ihrer institutionellen Kapitalisierung oder ‘Bildung’ klassifiziert werden. Solange sie an den Wert der standardisierten ‘Erziehung’, ‘Manipulation’, ‘gesellschaftlichen Konditionierung’ oder ‘Sozialisation’ glauben, sind sie blind für den Widerspruch zwischen Mythos und sozioökonomischer Struktur. Schulen reflektieren, verstärken und reproduzieren selbstverständlich die jeweilige Klassengesellschaft, von der sie gegründet wurden. Das geschieht unabhängig von dem, was zwischen Lehrer und Schüler vorgeht, einzig kraft dessen, was ich ihr ‘verborgenes Curriculum’ genannt habe. Aber noch wesentlicher ist, daß diejenigen, die an die universelle Notwendigkeit eines spezialisierten, institutionalisierten Bildungssystems glauben, durch den Schulungsprozeß blind gegenüber dem unvermeidlichen Klassencharakter jeder expandierenden Industriegesellschaft werden.
William I. ThompsonGa naar eind2 meint, Ihre Studie Die Entschulung der Gesellschaft ziele eher darauf ab, die Autorität der Schulen oder der Lehrer als Ersatzeltern in Frage zu stellen, als das Realitätsbewußtsein zu verändern beziehungsweise zu erhöhen. Ich kenne Thompsons Kritik nicht. Aber gerade um eine von allen Fesseln befreite Einstellung zur Realität geht es mir. Ich habe mich auf die Schule konzentriert, weil mir das Bildungswesen unter den verschiedenen industriellen Produktionssystemen der geeignetste Musterfall zur Entlarvung der Illusionen schien, die wir noch über andere Institutionen hegen. Und zwar deshalb, weil die Schule bis vor kurzem als die heilige Kuh der Industriegesellschaft galt. Ich sagte mir, wenn es müglich sei, Illusionen über das Bildungssystem aufs Korn zu nehmen, müsse es ebenso möglich sein, Illusionen über Verkehr, Wohnungsbau oder Gesundheitswesen abzubauen. Bis 1970 war uns im CIDOC der Nachweis gelungen, daß 1. universelle Bildung durch obligatorischen Schulunterricht nicht möglich ist; 2. Alternativen für die Produktion universeller Bildung leichter zu verwirklichen, aber weniger akzeptabel sind. Neue Erziehungssysteme, die bereits in vielen Gebieten im Begriff sind, die traditionelle Schule zu ersetzen, sind potentiell besser geeignet, Menschen zu manipulieren, zu konditionieren und zu kapitalisieren, als das traditionelle Schulsystem der letzten vierzig Jahre. Sie konditionieren die Menschen auch zuverlässiger für das Leben in einer kapitalistischen Wirtschaft. Sie sind deshalb attraktiver für die Führungsgruppen unserer Gesellschaft, verführerischer für die Bevölkerung und von heimtückischer Destruktivi- | |
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tät gegenüber fundamentalen menschlichen Werten; 3. eine Gesellschaft, die eine hohe Stufe gemeinsamen Lernens erreicht hat (in Gegensatz zu einer hohen Stufe geplanter Konditionierung), den Hauptparametern des industriellen Wachstums pädagogische Grenzen setzen muß. Diese Analyse des Schulwesens ließ uns in der Massenproduktion von Bildung das Vorbild für andere Industriebetriebe erkennen: Sie alle produzieren Dienstleistungen, sind als öffentliche Versorgungseinrichtung organisiert und behaupten, ihr Produkt befriedige ein primäres Bedürfnis. Zunächst wandten wir uns der obligatorischen Krankenversicherung und den Massenverkehrssystemen zu, die ebenfalls die Tendenz haben, obligatorisch zu werden, sobald sie eine gewisse Geschwindigkeit überschreiten. Wir fanden, daß die Industrialisierung jeder Dienstleistung destruktive Nebenwirkungen hat, die den unerwünschten Sekundäreffekten entsprechen, die man aus der Überproduktion von Gütern so gut kennt. Wir mußten daher auch auf dem Dienstleistungssektor eine Reihe unvermeidlicher Wachstumsgrenzen akzeptieren, analog zu den der Güterproduktion inhärenten Grenzen. Wir schlossen, daß Wachstumsbegrenzungen nur dann gut formuliert sind, wenn sie sowohl auf Güter wie auf Dienstleistungen, die industriell produziert werden, Anwendung finden. Weit davon entfernt, vor allem die Autorität der Schulen oder Lehrer als Ersatzeltern abschaffen zu wollen, habe ich mich konsequent des Musterbeispiels Schule bedient, um ein neues Bewußtsein in bezug auf die Widersprüche jeglicher Art von Zwangskonsum industrieller Erzeugnisse zu fördern.
Jean PiagetGa naar eind3 und B.F. SkinnerGa naar eind4 scheinen völlig verschiedener Meinung über die Programmierung von Kindern zu sein: Piaget lehnt Skinners Kontrollen als Mittel zur Konditionierung des Kindes für die Zukunft ab. Piaget behauptet, Herkunft und Umwelt würden in hohem Maß das Lerntempo des Kindes bestimmen; es solle nicht zu rasche Fortschritte machen; alle Kinder durchliefen Phasen erhöhter Aufnahmefähigkeit; die sich entwickelnden Fähigkeiten sollten ständig gebraucht und geprüft werden, oder das intellektuelle Wachstum werde gehemmt. Die Erziehungspsychologen konzentrieren sich meist auf den Prozeß der Initiation junger Menschen in die Gesellschaft, in der wir leben. Mir kam es darauf an, das Offenkundige zu verdeutlichen: daß es unmöglich ist, die Menschen für ein humanes Leben in einer inhumanen Gesellschaft zu konditionieren. Mein Hauptinteresse gilt weniger einer neuen ‘Erziehung’ als der Notwendigkeit negativer Entwurfskriterien, die eine Welt definieren, in der die Menschen wirksam lernen können. Was mir vorschwebt, ist das Konzept einer vieldimensionalen Ausgewogenheit des menschlichen Lebens, das als Rahmen für die Bewertung der Beziehung des Menschen zu seinen Werkzeugen dienen kann. Ich | |
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glaube, daß es möglich ist, in bezug auf einige dieser Dimensionen ein natürliches Maß festzustellen. Wenn ein Unternehmen zu stark über dieses Maß hinauswächst, dann vereitelt es zuerst das Ziel, zu dessen Erreichung es ursprünglich konzipiert wurde, und wird dann rasch zu einer Bedrohung für die Gesellschaft selbst. Diese Grenzen sind zu identifizieren, und die Parameter menschlichen Bemühens, innerhalb deren das menschliche Leben lebenswert bleibt, sind zu erforschen. Ich glaube, daß uns die Erziehungspsychologie Richtlinien für die Festlegung einiger dieser Grenzen und damit für Konzepte geben kann, deren Ziel die Abschaffung von Organisations- und Produktionsformen bzw. Instrumenten ist, die die psychologische Umwelt undurchdringlich, geheimnisvoll und furchterregend machen.
Während Aurelio PecceiGa naar eind5 und der Club of Rome bemüht sind, die Führungsspitzen der Gesellschaft zu verändern, den Politikern und Wissenschaftlern klarzumachen, daß unser Planet auf Grund der Grenzen des Wachstums in Gefahr ist, könnte man sagen, daß sich Ihre Arbeit zum Ziel setzt, einen Wandel an der Basis der bürgerlichen Gesellschaft zu bewirken? Peccei, ForresterGa naar eind6 und Meadows haben durch ihre Anstrengungen, einen breiten Kreis von Menschen über die unvermeidlichen Grenzen des Wachstums der Güterproduktion aufzuklären, der Allgemeinheit einen großen Dienst erwiesen. Sie haben das Offenkundige evident gemacht, und ich möchte ihre Erkenntnisse dahingehend ergänzen, daß analoge inhärente Wachstumsgrenzen auch auf dem Dienstleistungssektor existieren. Meiner Meinung nach stellen die spezifisch ökologischen Wachstumsgrenzen auf dem Warensektor nur eine Untergruppe in einer größeren Reihe multidimensionaler Grenzen dar, die der Institutionalisierung von Werten ganz allgemein gesetzt sind. Die Gesellschaft kann zugrunde gehen, wenn weiteres Wachstum die Umwelt feindlich werden läßt, wenn die Mitglieder der Gesellschaft ihre natürlichen Fähigkeiten nicht mehr frei entfalten können, wenn die Menschen voneinander isoliert und abgekapselt werden, wenn der Zusammenhalt der Gemeinschaft durch extreme Polarisation und zersplitternde Spezialisierung zerrissen wird, wenn krebsartige Beschleunigung sozialen Wandel in einem Tempo erzwingt, das die juristische, kulturelle und politische Tradition von ihrer Rolle als Wegweiserin für die Gegenwart ausschließt. Instrumente, die solche Auswirkungen haben, können nicht toleriert werden. An diesem Punkt des Wachstums wird es irrelevant, ob ein Unternehmen nominell im Besitz von Einzelpersonen, Konzernen oder Staaten ist, denn keine Betriebsführung kann ein solches Unternehmen einem sozialen Zweck dienlich machen. | |
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Wie sehen Sie die Zukunft in den nächsten zwei Jahrzehnten? Insbesondere in Anbetracht der ständig wachsenden Kluft, die sich zwischen armen und reichen Menschen, armen und reichen Nationen aufzutun scheint? Ich glaube, daß uns nur die Entmythologisierung der Wissenschaft, die Wiederfindung der gewöhnlichen Sprache und der Rückgriff auf grundlegende Vorgänge helfen kann, das institutionelle Wachstum zu bändigen. Dies kann nur durch eine Umkehrung der heutigen politischen Zielsetzungen geschehen; diese sind gewöhnlich auf eine Erhöhung und gleichmäßigere Verteilung des Sozialprodukts gerichtet. Dieses Bemühen um Verteilungsgerechtigkeit muß ergänzt werden durch Anerkennung des Bedürfnisses nach Partizipationsgerechtigkeit; gleiches Recht auf die Produkte der Gesellschaft ist zu ergänzen durch gleiche Beteiligung an den Kontrollen über die neuen Energien, die uns jetzt zur Verfügung stehen, selbst wenn dies zu der Erkenntnis führen sollte, daß Partizipationsgerechtigkeit eine Gesellschaft mit radikal eingeschränktem Energieverbrauch voraussetzt. In meinem nächsten Buch Tools for Conviviality versuche ich, mich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. |