Die Grenzen des Wachstums. Pro und Contra
(1974)–Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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Herbert MarcuseDer marxistische Philosoph Herbert Marcuse wurde 1898 in Berlin geboren. Er studierte in Freiburg und Berlin. 1934 ging Marcuse in die Vereinigten Staaten. Von 1954 bis 1965 lehrte er Philosophie an der Brandeis University. Danach wurde er an die University of California in San Diego berufen. Seine prominenteste Schülerin wurde die schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davies. Seine bekanntesten Werke sind: Reason and Revolution, 1941 (Vernunft und Revolution); Eros and Civilization, 1954 (Triebstruktur und Gesellschaft); Soviet Marxism, A Critical Analysis, 1958 (Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus); One-Dimensional Man, 1965 (Der eindimensionale Mensch); An Essay on Liberation, 1969 (Versuch über die Befreiung) und Counter-Revolution and Revolt, 1972.
Wir erörtern die Nützlichkeit der Bemühungen des MIT, der Computer von ForresterGa naar eind1 und des Club of Rome, die einmal gründlich untersuchen wollten, wie unser Planet zum Besten der ganzen Menschheit und nicht bloß der reichen Nationen verwaltet werden könnte. Dieser Untersuchung kommt allergrößte Bedeutung zu, weil sie die dem kapitalistischen System innewohnende Destruktivität und Aggressivität aus einem neuen Blickwinkel beleuchtet. Gleichzeitig erweist sie dessen historische Begrenztheit. Die Verfasser sprechen von Umverteilung und Neuorganisation aller auf der Erde verfügbaren Rohstoffe. Ich glaube, daß eine solche Reorganisation nur durch und nach Abschaffung des Kapitalismus möglich ist. Die ganze Frage des Überlebens ist für mich von Anfang an eine radikal politische Frage und setzt den Versuch voraus, nicht bloß bestimmte Dinge innerhalb der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft selbst zu verändern.
Aber das kapitalistische System scheint immer stärker zu werden. Stärker? Und Vietnam? Chile? Kuba? Und selbst dort, wo wir von Wirtschaftswachstum sprechen können wie in den lateinamerikanischen Staaten, die von der Macht Amerikas abhängig sind, geht diese Art von Wirtschaftswachstum Hand in Hand mit der zunehmenden Verarmung der erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung.
Wenn die Reichen aber immer reicher und die Armen voraussichtlich immer ärmer werden, dann scheint ein Zusammenstoß unausbleiblich. Der Zusammenstoß ist unausbleiblich und wird eine ganze Epoche der Geschichte in Anspruch nehmen. Ich bin überzeugt, daß im kapitalistischen System bereits Kräfte am Werk sind, die auf die Grenzen des Systems hinweisen. | |
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Die armen Länder schulden heute den reichen Nationen siebzig Milliarden Dollar. Auf diese Summe, die sie von den reichen Ländern geliehen haben, müssen sie jährlich sieben Milliarden Dollar Kapitaldienst leisten. Wie wollen sie sich allein aus dieser Falle befreien? Das ist es ja eben. Aus dieser Falle werden sie nie herauskommen, es sei denn, in den hochentwickelten Ländern selbst tritt eine Veränderung ein. Ich glaube nicht, daß der fundamentale Wandel das Werk der Dritten Welt allein sein kann. Er setzt eine Veränderung in den Metropolen voraus, die ihrerseits die Radikalisierung der Dritten Welt auslösen würde.
Sie waren optimistisch, besonders 1968, 1969, als Sie darauf hinwiesen, daß nicht die Arbeiterklasse, sondern die Universitäten und die Gettos die erste wirkliche Bedrohung von innen für das System darstellten Wie würden Sie die Situation 1972 sehen? Lassen Sie mich zunächst einmal eines richtigstellen. Ich habe nie gesagt oder geschrieben, daß die Universitäten und die Gettos die Arbeiterklasse als revolutionäre Kraft ersetzen können. Ich habe nur darauf hingewiesen - und das hat sich, glaube ich, seither immer wieder bestätigt -, daß in den Vereinigten Staaten die Arbeiterklasse heute keine revolutionäre Kraft ist und daß in der gegebenen nichtrevolutionären Situation die Studenten, die Gettos und die Frauenbewegung Vorläufer, vielleicht verfrühte Vorläufer der Rebellion darstellen. Aber sie sind die einzigen revolutionären Kräfte, die wir heute haben. Solange es nicht gelingt, die Arbeiterklasse zu politisieren, werden diese Kräfte in der Frontlinie der antikapitalistischen Bewegung operieren, wie ich betont habe. Ich glaube beispielsweise nicht, daß die Studentenbewegung tot ist. Ich glaube vielmehr, daß sie sich in einer Periode der Umgruppierung und Neubesinnung befindet, wobei die Hauptfrage ist, welche Organisationsform der Bewegung gegeben werden soll. Vor allem das Fehlen einer effektiven landesweiten Organisation war schuld an der vorübergehenden Schwächung der Studentenbewegung.
Wie erklären Sie, speziell gegenüber der ausländischen beziehungsweise europäischen öffentlichkeit, die Tatsache, daß so viele junge Menschen in diesem Lande für Nixon gestimmt haben? Ich würde sagen, aus zwei Gründen, über die eigentlich getrennt zu sprechen ist. Erstens, weil sich die Repression und dementsprechend der Konformismus seit dem Beginn der ersten Amtsperiode Nixons verstärkt haben. Der Druck verstärkt sich weiterhin, so daß diese jungen Leute genau wissen, daß es ihnen sehr sehr schwerfallen wird, später einen Job zu finden, wenn sie sich radikal politisch betätigen. Deshalb passen sie sich an, ihr Wahlverhalten spiegelt diese Anpassung. Der zweite Grund ist die Desillusionierung und Enttäuschung darüber, daß | |
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die großen Anstrengungen von '68, '69 nichts eingebracht haben und daß die repressive Regierung heute stärker als je zuvor zu sein scheint.
Sehen Sie die Studentenerschießungen von Kent und Jackson StateGa naar eind2 als Teil des Versuchs der Einschüchterung der Studentenbewegung? Selbstverständlich. Aber das ist nur die brutalste und offenkundigste Form der Unterdrückung und Vernichtung. Es gibt andere, wie wirtschaftliche und gesellschaftliche Diskriminierung, die nicht mit offenen terroristischen Mitteln arbeiten, aber dennoch überaus wirksam sind.
Gibt es Anzeichen einer entstehenden revolutionären Bewegung? Um es nochmals zu betonen: In diesem Land gibt es keine revolutionäre Situation. Das ist gar nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, daß das System noch funktioniert und der Machtapparat enorm gestärkt wurde. Es gibt jedoch unübersehbare Anzeichen des Niedergangs; ich bin darauf in meinem Buch Konterrevolution und Revolte eingegangen: Störungen und Ausfälle in lebenswichtigen Bereichen (die Energiekrise, der Verkehr), rapider Verfall der Städte, Rassenkampf, verbreitete Unruhe in den Fabriken (wilde Streiks, Sabotage, Go-slow, Absentierung vom Arbeitsplatz), Zusammenbruch des kapitalistischen ‘Arbeitsethos’, Inflation, Arbeitslosigkeit, krasse Armut, Gewalttätigkeit -
Aber das Ausland versteht nicht, wie es den Vereinigten Staaten gelungen ist, die Arbeiterbewegung in ihren Machtapparat zu integrieren. Das ist gar nicht schwer zu erklären. Die Integration der organisierten Arbeiterschaft in die kapitalistische Gesellschaft ist ein einleuchtender und sehr materieller Vorgang und beschränkt sich ja keineswegs auf die ideologische Ebene. Da ist zunächst einmal die relative Höhe des Lebensstandards. So enthumanisierend die Arbeit am Fließband auch ist, so sehr die Ausbeutung auch heute intensiviert wird - und ich glaube, daß sie heute intensiver ist als in jedem früheren Stadium der kapitalistischen Entwicklung -, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß der organisierte Arbeiter heute viel besser lebt, als seine Eltern und Großeltern je gelebt haben. Er hat mehr relative Sicherheit. Er hat mehr Komfort, und das zählt schließlich. Ich finde es lächerlich, daß Leute, die sich dialektische Materialisten nennen, alle diese Fakten einfach als zur ‘Konsumtionssphäre’ gehörend außer acht lassen, als ob der Konsumbereich etwas wäre, was Marxisten vernachlässigen oder als zweitrangig behandeln dürfen. Das ist ein erster Grund, die materielle Basis der Integration. Der zweite ist das scheinbare Fehlen einer Alternative. Wenn man von Sozialismus spricht, denkt der Arbeiter an den Sozialismus, wie er in der Sowjetunion und den sowjetischen Satelliten- | |
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staaten existiert. Das will er nicht, er zieht den Staat und die Gesellschaft, in der er lebt, vor.
Sie sind mit ShirerGa naar eind3 der Meinung, daß die Vereinigten Staaten das erste Land sein könnten, das durch demokratische Wahlen faschistisch wird. Sehen Sie Anzeichen dafür, daß sich dieses Land auf eine autoritäre Regierungsform hin bewegt? Als ich vom Übergang zum Faschismus durch demokratische Prozesse sprach, hatte ich sehr konkrete Beispiele vor Augen. Denken Sie an die vielen Stimmen für WallaceGa naar eind4 bei der Wahl von 1968 oder an die zahlreichen Arbeiterstimmen für Nixon im Jahr 1972. Ich meinte damit auch die Manipulation und die computerisierte, elektronische Kontrolle der Bevölkerung, das Abhören der Telefone, die Geheimagenten etc. Und, was vielleicht am wichtigsten ist, die Stärkung des exekutiven Sektors der Regierung in einem Maße, das jegliche öffentliche Kontrolle unwirksam werden ließ, der Niedergang oder besser die Selbstkastration der Legislative, das Schweigen und die Unterwerfung der Mehrheit der Bevölkerung angesichts der Kriegsverbrechen in Vietnam. Darüber hinaus die Mobilmachung der ‘Anti-Terror-Truppen’, der Polizei, der National Guard usw. Wenn sich das kapitalistische System weiter verändern sollte, statt beseitigt zu werden, dann würde das eine Veränderung zum Faschismus bedeuten.
Haben Sie Anzeichen dafür, daß wir uns auf eine Transformation des Kapitalismus in diesem Lande und in den reichen Ländern insgesamt zu bewegen? Ich glaube, es gibt mehr als Anzeichen. Die Transformation des kapitalistischen Systems selbst - innerhalb seines Rahmens - vollzieht sich vor unseren Augen. Wenn Sie den heutigen Kapitalismus mit dem Laisser-faire-Kapitalismus der Vergangenheit vergleichen, so ist der Unterschied schon enorm. Was wir heute haben, was üblicherweise Staatsmonopolkapitalismus genannt wird, ist eine solche Transformation im Rahmen des kapitalistischen Systems - vollständige Regelung des Wettbewerbs, immer aktiveres und massiveres Eingreifen des Staates in die Wirtschaft, der neue Imperialismus, die Paralyse des demokratischen Prozesses.
Die IBM-Aktien haben gegenwärtig einen Marktwert von 45 Milliarden Dollar, aber die Regierung hat Schritte gegen den Konzern eingeleitet... Das wäre das erste Antitrustverfahren, das dem kapitalistischen System weh täte, deshalb würde ich mir keine Sorgen machen, wenn ich IBM-Aktien hätte. | |
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Ich möchte Ihnen noch eine Frage zu Die Grenzen des Wachstums und dem Anliegen des Club of Rome stellen. Lassen Sie mich Ihre Frage beantworten, bevor Sie sie gestellt haben. Meiner Ansicht nach geht es nicht so sehr darum, das Wirtschaftswachstum zu limitieren, als vielmehr die Expansion und den ganzen Bereich wirtschaftlicher Aktivität von Grund auf neu zu organisieren. Vor allem müssen alle vorhandenen technischen und natürlichen Hilfsmittel mobilisiert und ausgeschöpft werden, um Armut und Ungleichheit in der ganzen Welt zu beseitigen. Dazu kann weiteres wirtschaftliches Wachstum durchaus nötig sein, aber es wird in eine radikal andere Richtung zu gehen haben. |