Die Grenzen des Wachstums. Pro und Contra
(1974)–Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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Claude Lévi-StraussDer 1908 in Brüssel geborene Anthropologe Claude Lévi-Strauss studierte in Paris Philosophie und Jura und promovierte 1949 an der Pariser Sorbonne zum Doktor der Philosophie. Von 1935 bis 1939 lehrte er an der Universität von São Paulo, Brasilien, von wo aus er mehrere ethnologische Expeditionen in das Amazonasgebiet leitete. Seit 1958 hat er den Lehrstuhl für Sozialanthropologie am Collège de France inne. Lévi-Strauss gilt als führender Vertreter des Strukturalismus. Er ist Mitglied der Académie Française und Träger der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung Frankreichs, der Goldmedaille des Centre National de la Recherche Scientifique. Zu seinen bedeutendsten Veröffentlichungen zählen: Race et Histoire, 1952 (Rasse und Geschichte); Tristes Tropiques, 1955 (Traurige Tropen); Anthropologie structurale, 1958 (Strukturale Anthropologie); La Pensée sauvage, 1962 (Das wilde Denken) und Mythologiques, 4 Bände, 1964-1968 (Mythologica).
Haben Sie Die Grenzen des Wachstums gelesen? Zunächst muß ich sagen, daß ich die französische Version gelesen habe; ich bin nicht sicher, ob die Übersetzung dem Werk ganz gerecht wird. Meine Reaktion war sehr gemischt. Mit der Absicht, den Zielen und dem Geist des Reports kann ich mich voll und ganz identifizieren, aber die Art der Präsentation finde ich weitschweifig und allzu simpel. Vielleicht ist das ein zu hartes Wort, aber ich weiß im Moment kein anderes. Ich hätte es vorgezogen, wenn sich der Bericht auf die Zahlen und Diagramme beschränkt hätte, die mehr und Erschreckenderes aussagen als der diffuse und stark vereinfachende Kommentar.
Ist es eine Frage des philosophischen Niveaus? Nein, es liegt nicht an der Philosophie, sie hat Hand und Fuß. Mir mißfällt eher die Art der Darstellung.
Manche Kritiker meinten, der Bericht sei zu sehr wie ein Einstein-Brief, wie eine Kassandra-Botschaft dargeboten worden. Soweit mir bekannt ist, ist die Kritik aus zwei verschiedenen Richtungen gekommen. Der eine Teil stammt von Mathematikern, die behaupten, daß die Modelle übersimplifiziert sind, daß nicht genug Variablen berücksichtigt wurden. Ich meine dazu - freilich ist das nur die Meinung eines Laien, denn ich bin weder mathematisch noch wirtschaftswissenschaftlich versiert -, daß man nicht übersehen sollte, daß es sich hier um Modelle handelt. Der Report maßt sich nicht an, eine Darstel- | |
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lung gegenwärtiger oder künftiger Entwicklungen zu geben. Vielmehr befaßt er sich mit einem im Labor gebauten Modell, das uns lehren soll, besser zu verstehen, was in der Realität vor sich geht. Genauso ist Karl Marx vorgegangen, als er Das Kapital schrieb. Genauso gehen wir in den Sozialwissenschaften vor. Von diesem Gesichtspunkt aus, meine ich, sollte man sich über den Charakter des Modells, über die Ergebnisse, zu denen der Bericht kommt, völlig im klaren sein. Diese Art von Kritik beeindruckt mich überhaupt nicht. Daneben gibt es eine zweite Art von Kritik, auf die Sie eben anspielten, die von Hiobsbotschaften spricht. Dazu meine ich, daß die Forrester-Leute noch zu zaghaft und vorsichtig sind. Die Lage ist noch viel tragischer, als sie sie schildern. Es ist nun fast zwanzig Jahre her, daß ich mein Buch Tristes TropiquesGa naar eind1 geschrieben habe, und ich kann jetzt in aller Offenheit sagen, daß ich damals die gleichen Ideen, Ängste und Warnungen ausdrücken wollte. Obwohl Tristes Tropiques natürlich nie so entschiedene Gestalt gewann wie es die Club of Rome-Studie vermochte. Aber nachdem ich den Bericht gelesen habe, komme ich zu dem Schluß, daß die Lage bereits hoffnungslos ist, daß die Heilmittel, von denen der Report spricht, viel eher in den Bereich des Wunschdenkens gehören, als daß es sich um echte Möglichkeiten handelt, die erprobt und angewandt werden könnten. Meine eigene Meinung ist, daß die Lage der Menschheit noch viel düsterer ist, als der Report sie zeichnet.
Sie haben in Tristes Tropiques auch geschrieben, daß die Welt ohne Menschen begann und ohne Menschen enden wird. Das war vor zwanzig Jahren. Wenn es jetzt noch schlechter aussieht, was sollen wir dann unseren Kindern erzählen? Wir sollten zwei vollkommen verschiedene Dinge auseinanderhalten. Als ich diesen Satz schrieb, habe ich dabei weniger an die Qualen und Schwierigkeiten unserer gegenwärtigen Welt gedacht als an die unübersehbare Tatsache, daß, wenn es kein ewiges Leben gibt, alle lebenden Arten einmal angefangen haben und einmal enden werden und natürlich auch die Menschheit einmal enden wird, schon deshalb, weil die Erde selbst vergehen wird.
Sie meinen, weil die Sonne die Erde verbrennt- Nun, nach langer, langer Zeit. Es sollte unseren Kindern keine größeren Sorgen bereiten als uns selbst, daß es nach vielen Milliarden Jahren keine Erde und keine Menschheit mehr geben wird. Dies ist schließlich nur ein philosophischer Aspekt, der uns beim Nachdenken über diese Dinge hilft. Aber das hat nichts mit der Tatsache zu tun, daß der Weg, den die Gattung Mensch eingeschlagen hat, nicht zu ihrer Ausrottung, aber zu Tragödien und Katastrophen großen Ausmaßes führen kann und sicher auch wird. | |
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Schlimmer als Hiroschima? Vielleicht nicht so plötzlich oder nicht so brutal, aber viel schlimmer, denn in einer Welt, in der die menschliche Bevölkerung immer stärker zunimmt - wir müssen uns nur die Zahlen in dem Bericht ansehen, um davon überzeugt zu sein -, wird das Leben allein auf Grund der Menschenzahl unerträglich werden, wenn es das in vielen Teilen der Welt nicht schon ist. Ich glaube nicht, daß es bloß ein Problem der menschlichen Hilfsmittel ist, etwa der Nahrungsmittelversorgung für viele Milliarden Menschen. Selbst wenn dieses Problem gelöst würde - ich bezweifle, daß es möglich ist -, aber selbst wenn es gelöst würde, änderte dies nichts an der Tatsache, daß es für die Menschheit wie für jede andere Gattung eine optimale Bevölkerungsdichte gibt. Natürlich sollte diese Dichte nicht zu niedrig sein, denn wenn sie unter eine gewisse Grenze fällt, gibt es keine Kommunikation, und das führt zur Stagnation -
Wir brauchen Gleichgewicht - Ja, wir brauchen ein Optimum an Dichte und Vielfalt. Was heute geschieht und was wir in den großen städtischen Ballungszentren und in den übervölkerten Gebieten beobachten können, ist, ganz abgesehen von der Frage der Naturschätze, daß die Menschen so nahe aneinanderrücken, bis sie, vereinfacht gesagt, zur Bedrohung und Behinderung für ihre Mitmenschen werden.
Der Psychiater Lifton meint, daß die alten Verhaltensweisen, die jahrhundertelang durch die Gesellschaft verstärkt wurden, uns letzten Endes vernichten werden, daß wir mit anderen Worten das menschliche Verhalten neu entwerfen müssen. SkinnerGa naar eind2 sagt, wir sollten die Umwelt neu entwerfen, um das Leben lebenswert zu machen. Aber können wir das denn? Ist das nicht völlig utopisch? Ist es möglich, das menschliche Verhalten neu zu entwerfen? Sicher können wir hoffen, daß dies durch natürliche Prozesse und eine Art natürliches Bedürfnis nach Gleichgewicht, die auf eine uns vollkommen unbekannte Weise wirken und deren wir uns nicht bewußt sind, spontan geschehen wird. Aber ich zweifle sehr daran, daß wir es vorausplanen und beschließen und aus eigener Kraft bewirken können. Dazu bedürfte es einer Welt voll Verständnis und gutem Willen oder einer Art oberste Autorität, die über die ganze Erde herrscht, was natürlich eine wunderbare Wirkung hätte, oder eine schlechte, ich weiß es nicht, aber jedenfalls gehört es ins Reich der Träume, nicht in eine vorhersehbare Wirklichkeit.
Haben Sie den Eindruck, daß es Mao Tse-tung gelungen ist, die achthundert Millionen Chinesen irgendwie zu programmieren und der | |
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Gesellschaft eine infrastrukturelle soziale Ordnung zu geben? Ich weiß es nicht, ich bin nicht ganz auf dem laufenden in chinesischen Angelegenheiten. Es ist schon möglich. Es ist auch möglich, daß viele von uns ein solches Leben, wie es in China geplant wird, nicht leben möchten.
Alberto Moravia erzählte mir bei seiner Rückkehr aus China, daß immer noch unglaubliche Armut herrsche. Der Zeitgeist habe die rigorose Mobilisierung der seelischen Kräfte ebenso wie der Volkswirtschaft verlangt. Strikte Programmierung sei der einzige Ausweg für Mao gewesen. Vielleicht war es in China notwendig, und vielleicht wird es bald in der ganzen Welt notwendig sein, aber das heißt nicht, daß das eine sehr angenehme Welt sein wird. Es könnte sich als Notwendigkeit erweisen, aber bestimmt ist es nichts, was man sich wünschen sollte.
Arnold Toynbee bemerkte, daß die römischen Kaiser in Notzeiten manchmal zur Diktatur zurückkehrten und daß eine gütige Art von Weltverwaltungsdiktatur eines Tages notwendig werden könnte. Das wäre wieder eine Diktatur von rechts oder von links, das ist von unserem heutigen Standpunkt aus gleichgültig, aber das ist etwas, was wir uns in traditionellen Ländern vorstellen können, aber können wir uns eine Diktatur vorstellen, die imstande wäre, die weltweite Problematik zu meistern? Was geschehen dürfte, wenn viele Länder in eine Krise und eine Diktatur von rechts geraten, ist, daß diese Diktaturen dann miteinander in Konflikt kommen. Ich glaube nicht, daß dies der allgemeinen Verständigung dienlich wäre.
Was haben Sie vor allem aus Ihrem Studium der Ureinwohner Lateinamerikas gelernt, Demut? Demut. Nein, dieses Wort würde ich nicht wählen, eher Bescheidenheit. Ich habe Menschengruppen kennengelernt, die sehr begrenzte Bedürfnisse haben, die mit sehr wenig Arbeit befriedigt werden können. Ihre Freizeit ist daher viel größer als in unserer modernen Gesellschaft. Vor allem fühlen sie sich nicht als Herren und Beherrscher der Erde, sondern sind froh, einen begrenzten Anteil an der Welt zu haben, den sie nur behaupten können, indem sie den Anteil respektieren, der den verschiedenen Tier- und Pflanzenarten gehört. Das ist ein Humanismus, der maßvoll und bescheiden ist, während unser eigener Humanismus maßlos und unbescheiden geworden ist, denn er denkt nur an die Menschheit und opfert den Interessen der Menschheit alle die anderen Interessen des Lebens auf der Erde.
Sie haben den Menschen seinen eigenen schlimmsten Feind genannt. | |
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Wie soll die übrige Natur, die übrige Schöpfung überleben? Ich fürchte, sie wird es nicht. Außer ein paar Gemüse- und Tierarten, die wir brauchen. Wir brauchen keine Mäuse, aber wir brauchen Rinder. Wir brauchen Weizen und Mais - bloß machen wir in der sogenannten grünen Revolution den Fehler, ganz bestimmte Arten auszuwählen, die besonders krankheitsanfällig sind und früher oder später ausgerottet werden.
Werden uns Ihre Untersuchungen ausgestorbener Kulturen helfen, den menschlichen Geist besser zu verstellen? Wahrscheinlich werden wir nur überleben, wenn wir endlich lernen, die menschliche Psyche zu begreifen. Ich weiß es nicht, aber sicher ist es der einzige Weg oder der wichtigste Weg. Es besteht ein großer Unterschied zwischen den Human- und Sozialwissenschaften einerseits und den Naturwissenschaften andererseits. Letztere können im Labor experimentieren, wir können keine Versuche mit menschlichen Gesellschaften machen. Die Kosten wären zu hoch, es würde zuviel Zeit in Anspruch nehmen, und es gibt noch andere Gründe, auf die ich jetzt nicht eingehen möchte. Deshalb müssen wir nach schon bestehenden Experimenten suchen, da dies die einzige Möglichkeit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit menschlichen Problemen ist. Diese sogenannten primitiven Kulturen, die vollkommen anders als unsere eigene Gesellschaft sind, stellen solche vorfabrizierten Experimente dar, an denen wir unsere Hypothesen testen können. Sobald diese Kulturen völlig verschwunden sind, und das wird nicht allzulange dauern, werden wir auf eine einzige Form menschlicher Erfahrung, die unserer eigenen Gesellschaft, beschränkt sein. Es wird dann unmöglich sein, Vergleiche zu ziehen und die volle Skala menschlicher Erlebnismöglichkeiten und menschlicher Fähigkeiten zu erfassen.
Hatten die Indianer, mit denen Sie in Brasilien arbeiteten, das Gefühl, daß Sie mit ihnen Experimente anstellten? Das ist schwer zu sagen, man kann es nicht verallgemeinern. Es gab Gruppen, die den Zielen und Absichten des Anthropologen völlig gleichgültig gegenüberstanden und die ihn einfach als Besucher duldeten, von dem sie Geschenke, irgendeinen Vorteil erwarteten. Aber mehrfach habe ich auch sogenannte Eingeborene kennengelernt, die sich der Ziele der anthropologischen Feldarbeit durchaus bewußt waren, da sie sich selbst für andere Lebensformen und Gebräuche, auch des Anthropologen in seiner Gesellschaft, interessierten. Dies ist auch häufig Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten geschehen, unter Indianern, die genau wußten, daß ihre Kultur zum Untergang verdammt war, daß sie mit dem Anthropologen zusammenarbeiten | |
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mußten, wenn sie Zeugnisse retten wollten, nicht nur Gegenstände, sondern Überlieferungen ihres Glaubens, ihrer Sitten und Gebräuche. Aus der Literatur sind alte Medizinmänner bekannt, die begriffen hatten, daß sie vielleicht die letzten Überlebenden ihres Stammes sein würden, und die sehr daran interessiert waren, daß ihr Wissen und ihre Kultgegenstände in Museen für die Zukunft ihrer eigenen Generation aufbewahrt wurden. Ihre Frage läßt sich also nicht so einfach beantworten.
In StockholmGa naar eind3 wurde gesagt, daß die Abholzung des Amazonas-Urwalds dutch die brasilianische Regierung ein ‘ökologisches Hiroschima’ darstelle. Werden die Indianer Brasiliens seine ersten Opfer sein? Ich fürchte, das ist nur zu wahr. Besonders betroffen sind die bisher relativ unberührten Stämme - relativ, denn es gibt heute keine völlig unberührten Stämme mehr. Die brasilianischen Indianer sind sicher durch die neue Straßenbaupolitik zum Aussterben verurteilt, weil sie Nomaden sind, von wildwachsenden Pflanzen und der Jagd leben und deshalb große Gebiete zum Leben brauchen. Wenn ihr Lebensraum eingeschränkt wird, werden sie aussterben. Aber nicht nur die Indianer sind gefährdet. Die ganze Menschheit ist in Gefahr, denn wir sollten nicht vergessen, daß die tropischen Urwälder nicht mehr nachwachsen, wenn sie einmal zerstört sind. Wenn sie vernichtet sind, sind sie es für alle Zeiten. Sie kommen nie wieder. Soviel ich weiß, stammt ein beträchtlicher Teil des Sauerstoffs der Erdatmosphäre aus den Urwäldern des Amazonas. Wenn sie gerodet würden, wäre die Sauerstoffversorgung der ganzen Menschheit in Gefahr.
Wie können Wissenschaftler diese Situation beeinflussen? Brasilien will sein Wirtschaftswachstum nicht aus ökologischen Gründen drosseln. Ich bezweifle, daß die Wissenschaftler etwas dagegen tun können. Es ist vollkommen verständlich, daß ein Land wie Brasilien nicht unterentwickelt bleiben möchte, daß es sich bemüht, den Standard eines voll industrialisierten Landes zu erreichen. Das kann ich sehr gut verstehen. Ich kann es nicht einmal verurteilen. Es ist einfach die Tragödie der modernen Welt, daß uns das, was geschieht und was geschehen muß, an den Rand des Desasters und der Katastrophe bringt.
Stendhal schrieb einmal über Napoleon, er müsse seine Größe durch die Einsamkeit seiner Seele büßen. Wenn Sie auf Ihr Leben und Ihr Werk zurückblicken, ihre Liebe zu den Menschen in den letzten Urwäldern, welches Gefühl haben Sie gegenüber der Menschheit und dem Leben? Ich bedaure nur, in dem Jahrhundert geboren zu sein und leben zu | |
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müssen, in dem ich geboren wurde. Ich hätte viel lieber ein oder zwei Jahrhunderte früher oder im Neolithikum gelebt, aber das ist nun mal ein biographischer Zufall.
Aber damals stürmten Menschen die Bastille, und Marie Antoinette endete auf dem Schafott. Nun, sagen wir, ich hätte lieber kurz vor der Französischen Revolution oder kurz danach gelebt. |