Die Grenzen des Wachstums. Pro und Contra
(1974)–Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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B.F. SkinnerProfessor B.F. Skinner ist nach Meinung der amerikanischen Psychologenvereinigung der einflußreichste Psychologe unserer Zeit. 1904 in Susquehanna, Pennsylvania geboren, studierte er Psychologie an der Harvard University, an der er heute lehrt. Skinners jüngstes Werk Beyond Freedom and Dignity, 1971 (Jenseits von Freiheit und Würde), hat in der akademischen Welt eine heftige Kontroverse ausgelöst (siehe dazu die Titelgeschichte im Time Magazine vom 20. September 1971). Sein sozialutopischer Roman Walden Two (Futurum Zwei) wurde mehr als zwei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen 1948 zum Bestseller. Weitere Veröffentlichungen: The Behavior of Organism, 1938; Science and Human Behavior, 1953 (Wissenschaft und menschliches Verhalten); Verbal Behavior, 1957; Schedules of Reinforcement, 1957; The Analysis of Behavior, 1961 (Analyse des Verhaltens) und The Technology of Teaching, 1968 (Erziehung als Verhaltenstraining).
Robert Frost schrieb nie ‘freie’ Verse, weil dies, wie er sagte, einem Tennisspiel ohne Netz gleichkäme. Was ist Ihre Auffassung über Freiheit? Ich glaube, daß der historische Kampf um die Freiheit politischer oder religiöser Art darauf gerichtet war, sich aus bestimmten Formen der Behandlung, die als Zwang, Strafe oder Schmerz erfahren wurden, zu lösen. Es liegt in der Art des menschlichen Organismus, sich aus gefährlichen, irritierenden, unbehaglichen Umständen zu befreien. Dasselbe gilt für Menschen, die uns in einer gefährlichen oder bedrohlichen Art behandeln. Wir haben uns gewiß nicht von allen Formen tyrannischer und despotischer Kontrolle zu befreien gewußt, aber wir haben in dieser Hinsicht schon viel zustande gebracht. Wenn wir nicht in einer Weise behandelt werden, die wir als Zwang oder Strafe erfahren, fühlen wir uns ‘frei’. Wir haben dann das Gefühl, daß wir tun, was wir wollen. Es ist aber nicht richtig anzunehmen, daß wir ‘frei’ sind, weil wir Gründe haben, warum wir etwas tun wollen. Ich will nur hervorheben, daß wir untersuchen müssen, warum wir die Dinge, zu denen wir Lust haben, tun wollen, und warum wir uns daher nicht gegen Formen einer Kontrolle wehren, die uns nicht unfrei machen. Wenn wir uns auf unsere Gefühle verlassen, beurteilen wir die Situation falsch. Wenn wir tun, was wir tun wollen, werden wir genauso kontrolliert, wie wenn wir etwas tun, weil wir dazu verpflichtet sind. | |
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Der Club of Rome will den irrsinnigen Wettlauf nach materiellem Wachstum, der im Augenblick im Gang ist, verändern. Brauchen wir dafür eine Technologie des menschlichen Verhaltens, wie Sie es nennen? Ja, das ist meiner Meinung nach in der Tat das Hauptproblem. Die Frage ist, ob im menschlichen Organismus irgendein Mechanismus für die Begrenzung des Wachstums eingebaut ist oder ob die menschliche Erbstruktur, die uns in diese phantastische Situation der Ausbeutung, des Konsums und der Umweltverschmutzung gebracht hat, fortwirkt oder sogar zur Vernichtung der menschlichen Rasse führen wird - wahrscheinlich durch irgendeine alles vernichtende Katastrophe, noch bevor unsere Hilfsquellen total erschöpft sind. Wie dem auch sei: Dieselben Eigenschaften, die uns an den Punkt gebracht haben, an dem wir uns jetzt befinden, sind auch verantwortlich für die Schwierigkeiten, mit denen wir uns gegenwärtig konfrontiert sehen. Meiner Meinung nach müssen die einzigen ‘Wachstumsgrenzen’, auf die wir hoffen können, sich aus einer wissenschaftlichen Analyse der Situation und einer Führung ergeben, die diese Analyse berücksichtigt. Denn wenn wir jetzt nicht übergehen zu einer gutüberlegten Handlungsweise, um die nationalen menschlichen Prozesse, die zu unserer Vernichtung führen, in Zaum zu halten, werden wir letzten Endes untergehen. Ich glaube nicht, daß man auch nur den geringsten Zweifel daran haben muß.
Sie sprechen in Jenseits von Freiheit und Würde über Wachstumsstadien. Sie stellen zum Beispiel einen Vergleich an mit einem Apfel. Eines dieser Stadien ist das günstigste. Wird der Mensch jemals ein solches optimales Stadium seiner evolutionären Entwicklung erreichen? Ich habe kein großes Vertrauen in eine derartige Auffassung über die Entwicklung. Ich gebrauche daher den Vergleich, um deutlich zu machen, daß Entwicklung kein brauchbares Prinzip ist. Wir sind naturgemäß Wandlungen unterworfen. Dauernd finden Veränderungen statt. Wir vergleichen sie mit dem Wachstum einer biologischen Einheit, wie etwa einem Apfel. Aber die Entwicklungsauffassung ist in Wirklichkeit eine Form des Strukturalismus, bei dem die bestimmten Variablen außer acht gelassen sind. Wir reden von der Entwicklung eines Kindes und registrieren diese, um die Sprache zu beobachten, die das Kind in verschiedenen Lebensaltern spricht. Dann sagen wir, daß die Sprache eine Funktion des Lebensalters sei. Das ist nicht richtig. Zwar verfügt ein älteres Kind über einen größeren Wortschatz, es bildet längere Sätze, aber doch nur, weil es älter ist, weil es länger einer verbalen Umgebung, die sein verbales Verhalten entwickelt hat, ausgesetzt gewesen ist. Vergleicht man diesen Prozeß mit einer eingebauten Form des Wachstums, dann setzt man voraus, daß alles einprogrammiert ist. | |
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Ich sehe darin einen Ausgangspunkt für unsere Untersuchung, warum die Veränderungen stattfinden, und ich will mich nicht auf die Tatsache beschränken, daß Veränderungen eine temporäre Dimension haben.
Aber Sie haben in Jenseits von Freiheit und Würde geschrieben, daß wir das Bevölkerungswachstum genauso regeln können wie den Kurs eines Raumschiffes. Damit äußerte ich eine bestimmte Hoffnung. Ich möchte gern, daß wir die Bevölkerungszunahme so genau regeln könnten. In irgendeiner Weise werden wir das auch in der Tat tun müssen. Ich glaube, es gibt keinen Zweifel, daß die Erde die Weltbevölkerung nicht mehr ernähren könnte, wenn diese ein Wohlstandsniveau erlangen würde, das wir in einigen florierenden Ländern schon jetzt finden. Stellen Sie sich nur vor, daß im Jahre 2000 250 Millionen Chinesen in Autos herumfahren, also jeder zweite oder dritte Chinese über ein Auto verfügen würde, um superschnell über Millionen und Abermillionen von Kilometern dahinzurasen. Wenn man nicht in irgendeiner wunderbaren Weise neue Energiequellen entdeckt, ist das einfach unmöglich. Also werden wir immer Kriege behalten, es sei denn, wir bekommen eine Welt, in der nicht ein Teil einen viel größeren Wohlstand aufweist als der Rest. Denn wenn die Menschen nicht bekommen, was sie brauchen, versuchen sie dies den Menschen, die es haben, wegzunehmen. Wenn dies nicht die Art von Welt ist, die wir uns wünschen, muß das Leben in den Wohlstandsländern eingeschränkt werden. Ihre Üppigkeit muß zurückgedrängt werden, und der sehr fundamental menschliche Verhaltensprozeß, der zur Wohlstandsgesellschaft geführt hat, wird in der einen oder anderen Weise bewußt umgebogen werden müssen. Irgendwie müssen wir zu einer Kultur kommen, in der der Mensch nicht nach immer mehr unmittelbarer Befriedigung, nach immer mehr Luxus strebt, und in der er sich nicht immer mehr unangenehmen Situationen entzieht. Der heutige Prozeß wird umgebogen werden müssen, und dafür ist ein großes Maß äußerst sorgfältiger Planung nötig, weil der Mensch nicht von Natur aus dazu neigt, Dinge aufzugeben, die ihm am meisten Freude verschaffen.
Wer würde über die Macht verfügen, eine neue gesellschaftliche Struktur zu entwerfen? Wie könnte man die Menschen so beeinflussen, daß sie zu dem Entschluß kommen, sie sollten sich mit weniger zufriedengeben? Eine aufgeklärte Diktatur? Nein, ich hoffe nicht, daß es soweit kommen wird. Es wird übrigens sehr wenig ausmachen, ob man dazu übergeht oder nicht. Wenn diejenigen, die für die gesamten Kulturen der Welt verantwortlich sind, die Zukunft nicht berücksichtigen - es sind ja nur sehr wenige Menschen, die die Zukunft wirklich mit einbeziehen -, wenn es nicht | |
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gelingt, genügend Kräfte zusammenzufassen, um bestimmte Praktiken in diesen Kulturen zu ändern, dann sind wir nach meiner Auffassung verloren. Denn dann würden wir auf dem einmal eingeschlagenen Weg fortfahren, und das würde zu einer vollständigen Erschöpfung der Hilfsquellen auf der Welt führen und zu einer totalen Umweltverschmutzung. Ich denke dabei nicht an eine bestimmte Person oder an eine bestimmte Gruppe. Eine einzelne Gruppe oder eine einzelne Hierarchie wäre hierzu übrigens gar nicht in der Lage. Ich glaube, daß die Veränderung in der Kultur selbst stattfinden muß. Eine Kultur muß sich selbst in irgendeiner Weise so umstrukturieren, daß niemand in jene Machtposition, die man als ‘aufgeklärter Diktator’ bezeichnet, gelangen kann. Wir brauchen keine andere Art von Führern, sondern eine andere Kultur - eine Kultur, in der diejenigen, die Macht und Kontrolle ausüben, also Leute mit Geld, mit militärischem Einfluß usw., nur in bestimmter, beschränkter Art und Weise handeln könnten.
Bezeichnen Sie die soziale Umwelt selbst als ‘die Kultur’? Ich glaube, daß die Kultur nichts anderes ist als eine soziale Umgebung. Sie ist nicht eine Atmosphäre, sie ist nicht eine Reihe von Ideen, sie besteht einzig und allein aus menschlichen Handlungen. Unsere Kultur läßt sich beschreiben unter dem Aspekt der Erziehung, der Verwaltung, der Religion, der Wirtschaft, nach der Art, wie das Familienleben organisiert ist, wie man für Schwache und Geisteskranke sorgt - die Summe all dieser Gewohnheiten, alles, was wir ‘the american way of life’ nennen, ist die Kultur. Jede andere Kultur hat ein eigenes Muster solcher Gewohnheiten. Ein Teil davon ist unserer Lebensweise zuträglich, ein anderer hingegen abträglich. Die Frage lautet: Was müssen wir tun, um zu einer Kultur zu gelangen, in der die Gewohnheiten so organisiert sind, daß die Kultur imstande ist, ihre Probleme zu lösen, mit unerwarteten Schwierigkeiten fertig zu werden, so daß sie fortbestehen kann. Ich meine nicht ein Fortbestehen im Konkurrenzkampf mit anderen Kulturen, eine Art von sozialem Darwinismus, darum geht es jetzt nicht. Die Frage ist nicht mehr, ob die eine oder die andere Kultur bestehenbleibt oder ob eine bestimmte Kultur überdauert. Wir müssen es lernen, die Menschheit in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen.
Das stimmt genau überein mit dem Bestreben des Club of Rome und den Studien ForrestersGa naar eind1: ein Modell des Planeten als Ganzes zu erstellen. Zum erstenmal wurde ein derartiges Modell geschaffen, um die Beziehungen zwischen den Kontinenten, den Völkern und den Menschen zu erforschen. Ja, ich glaube, daß dies in der Tat ein wichtiger Schritt ist zu einer Analyse eines künftigen Fortbestehens. ‘Überleben’ ist der einzige | |
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Wert. Fortbestehen ist ein sehr schwieriger Wert, der nur dann in Kraft treten kann, wenn man einsieht, welche Bedingungen an das Fortbestehen geknüpft sind; danach muß man sich irgendwie vergewissern, daß das menschliche Verhalten jene Eigenschaften übernimmt, die notwendig sind, um diesen Bedingungen zu entsprechen. Mein einziger Einwand gegen das, was ich über den Club of Rome weiß, ist, daß man sich offenbar konzentrieren will auf die physische und biologische Technologie und nicht auf die Verhaltenstechnologie, die wir benötigen werden. Wir wissen ohne Zweifel, wie wir das Problem der Übervölkerung lösen müssen. Wir verfügen über Methoden, um die Geburten zu beschränken. Aber es gibt noch eine weitere Phase: wie wir die Menschen dazu bewegen können, die Methoden auch wirklich anzuwenden; wie wir sie dazu bringen, ihren Stolz auf eine große Familie aufzugeben, oder wie wir es verhindern können, daß jemand ausgelacht wird, weil er nur zwei oder drei Kinder hat. Derartige Probleme gehören zu dem Gebiet der Verhaltenswissenschaft und lassen sich nicht durch Empfängnisverhütungsmethoden lösen, so umfassend diese auch sein mögen.
Wer müßte bei einem solchen Prozeß der Bewußtwerdung die Führung haben: die Psychologen, die Verhaltenswissenschaftler? Nun, das einzige, was die Verhaltenswissenschaftler tun könnten, wäre beraten. Es ist etwa so, als würde plötzlich mehr Land überflutet, als es im Augenblick der Fall ist; wir müßten eine große Zahl neuer Brücken bauen und die Hilfe von Ingenieuren in Anspruch nehmen. Diese könnten uns beraten. Sie könnten uns sagen, wie wir die Brücken zu bauen hätten. Sie würden uns sagen, wo wir die Brücken bauen müßten, wie viele, wie schwer, alles. Das ist genau die gleiche Position wie die, in der sich die Verhaltenswissenschaftler befinden. Sie können bestimmte Methoden empfehlen, die Entscheidungen müssen jedoch von anderen getroffen werden. Kein einziger Ingenieur verfügt über die Macht, andere Menschen zu bewegen, bestimmte Dinge zu tun. Er wird daher denen, die über die Macht verfügen, erzählen, was sie tun müssen, damit er die Sicherheit hat, daß sein Rat auch befolgt wird.
Meinen Sie, daß das Verhalten kultiviert werden kann, zum Beispiel durch Erziehung? Ich glaube, daß das unsere einzige Hoffnung ist. Ich bin überzeugt, daß es möglich ist. Ich will nicht ausschließen, daß es bestimmte Formen eines angeborenen Verhaltens gibt, besonders dann nicht, wenn es sich um angeborene Neigungen handelt oder um irgendeine Variable, durch die man beeinflußt wird. Fast alles, was der Mensch tut, ist das Ergebnis von Umständen, denen er ausgesetzt war - auch die Sprache, die er spricht. Vielleicht erbt er ein Verhaltensmuster, das ihn befähigt, eine Sprache zu lernen, aber die Sprache ist ein Produkt der Umgebung. | |
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Er spricht englisch, wenn er in einer englischen Umgebung lebt; er spricht chinesisch in einer chinesischen Umgebung. Fast alles, was wir tun, haben wir auf diese Weise gelernt, und wir wissen jetzt, wie das vor sich geht. Wir sind ein Stück vorwärtsgekommen in der Erforschung der Umstände, unter denen die Menschen bestimmte Dinge lernen. Wenn man diese einmal kennt, kann man die Umstände verändern. Wir machen im Augenblick wichtige Fortschritte auf dem Gebiet des Unterrichts und der Erziehung. Wir unterrichten Kinder, von denen man früher behauptet hätte, sie könnten nichts aufnehmen, weil wir eine bessere Umgebung für sie haben schaffen können.
Haben Sie den Eindruck, daß es Mao Tse-tung gelungen ist, den chinesischen Massen ein Ziel in ihrem Leben zu geben oder jedenfalls doch mehr als früher das Gefühl zu vermitteln, daß jeder Chinese ein vollwertiger Teil der Gesellschaft ist? Ich glaube, es steht ohne weiteres fest, daß China eine der größten sozialen Revolutionen der Geschichte durchmacht, vielleicht die allergrößte. Dabei geht es um die Art und Weise, wie sie zustande kommt. Der junge Chinese trägt gegenwärtig sehr einfache Kleidung, lebt in bescheidenen Wohnverhältnissen, ißt sehr einfach, arbeitet schwer, akzeptiert eine äußerst puritanische sittliche Norm, und das alles zum größeren Ruhm der Volksrepublik. Ist er nun ‘frei’, oder ist seine ‘Freiheit’ vollständig unterdrückt? Die Antwort auf diese Frage ist ganz und gar abhängig von der Art und Weise, wie das alles zustande gekommen ist. Wenn die Chinesen sich so verhalten, weil sie Angst haben, vom allgemeinen Muster abzuweichen, weil sie Angst haben, von ihren Mitbürgern angezeigt zu werden, von der Polizei verhaftet zu werden, dann fühlen sie sich nicht ‘frei’. Aber wenn Mao sie irgendwie positiv motiviert hat, fühlen sie sich vielleicht ganz frei, und ihr Verhalten stimmt hundertprozentig überein mit ihren Wünschen.
Sie nennen das positive Verhaltensverstärkung? Ja, den Ausdruck würde ich in diesem Zusammenhang gebrauchen. Ich glaube, wenn der Durchschnittschinese heutzutage vornehmlich durch positive Verstärker geleitet wird, wenn ein System konditionierender Verstärkung eingesetzt worden ist, dann ist er ‘frei’. Dann tut er das, was er tun will, und dann ist er ein Teil einer Kultur, die zweifelsohne Zukunft hat. Wird es aber so gemacht wie in Nazi-Deutschland, wo man Angst hatte vor dem Pochen an der Tür mitten in der Nacht und ähnlichem Terror, dann sind die Menschen nicht ‘frei’, und in einem solchen Fall habe ich wenig Vertrauen in die Dauerhaftigkeit jener Kultur, weil Menschen sich nicht auf lange Zeit einer derartigen Kontrolle unterwerfen lassen. | |
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In Jenseits von Freiheit und Würde habe ich eine wichtige Passage gelesen, in der Sie die Ansicht vertreten, daß das Verhalten eines Menschen bis zu einem gewissen Grade seine eigene Leistung ist. Es ist sehr schwierig, das zu verstehen. Wir alle glauben, daß wir unser Verhalten selbst hervorbringen. Wir glauben, daß wir schöpferische Wesen sind, die ‘frei’ sind in ihrem Handeln, in dem Sinne, daß unser Verhalten nicht von bestimmten Ursachen bedingt ist. Ich glaube nicht, daß das richtig ist. Ich bin der Ansicht, daß unser Verhalten einmal aus unserer Erbstruktur erwächst und zum anderen daraus, was uns in unserem persönlichen Leben widerfährt. Nun schließt das natürlich ein, daß sich die Umstände ändern lassen, und ferner, daß diese durch uns selbst geändert werden können. Wir lernen Selbstbeherrschungstechniken. Wir lernen, wie wir die Welt, in der wir leben, ändern müssen, um uns effektiver zu verhalten, damit wir Bestrafungen entgehen und andere Formen der Befriedigung erreichen können. Wir verfügen alle über die Möglichkeit, uns selbst in der Hand zu haben, aber das erwächst nicht aus eigener Initiative. Jeder hat es von seiner Kultur gelernt.
Vertreten Sie die Auffassung, daß das Verhalten geändert werden kann, indem man die Umstände, deren Funktion das Verhalten ist, ändert? Das machen wir fortwährend. Eine Kultur ordnet die Welt, in der das Individuum lebt. Dank seiner Kultur verhält es sich so, wie es sich verhält. Aber das Individuum kann das gleiche machen. Es kann die Welt, in der es lebt, ändern, und das tun wir ja auch. Wir lernen bestimmte Techniken und dergleichen.
Aber ich frage Sie noch immer, wie das Verhalten durch Veränderung der Umstände geändert werden kann, deren Funktion es ist. Nun, schauen wir uns einmal an, in welcher Weise die Menschheit die Welt, in der wir in diesem Augenblick leben, aufgebaut hat. Schließlich ist fast die ganze menschliche Umwelt von Menschenhand gemacht. Sie ist so konstruiert, weil es dem menschlichen Organismus zum Vorteil gereicht. Wir brauchen nicht mehr gegen extrem hohe oder tiefe Temperaturen zu kämpfen. Wir haben Häuser mit Zentralheizung oder Klimaanlage. Wir brauchen nicht mehr den ganzen Tag auf die Jagd zu gehen für unsere nächste Mahlzeit, weil wir über Landwirtschaft und Lebensmittellager verfügen. Dies sind ein paar Beispiele, wie sich der Mensch eine Umwelt geschaffen hat, in der er sich müheloser behaupten kann, so daß er sich mit viel mehr Dingen beschäftigen kann als sonst je möglich gewesen wäre. Als Individuum in einer Kultur sind wir zu viel mehr imstande als das Individuum in einer natürlichen Umgebung. Müßten wir uns ganz ohne Kultur behelfen, würden wir | |
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nicht mehr sein als ein Tierjunges, ein Wolfskind. Darum hat die Menschheit als solche und darum haben verschiedene, sich fremde Gruppen von Menschen Lebensräume geschaffen, in denen ihr Verhalten viel effektiver ist, als es sonst der Fall gewesen wäre. Ein Individuum kann in gleicher Weise vorgehen. Ich tue das auch. Ich habe mir für meine Arbeit eine Umgebung geschaffen, in der ich so wirksam wie möglich tätig sein kann. Zeit, Ort, Material, all das habe ich sorgfältig geregelt, weil ich so in einer bestimmten Verhaltensform nützlicher tätig sein kann, als es sonst der Fall wäre. Durch Religion, Ethik, Sittenlehren lernen wir bestimmte Techniken - Techniken, wie wir uns in unseren Beziehungen zu anderen Menschen beherrschen können, damit wir Schwierigkeiten möglichst vermeiden. Wir schaffen die Welt, in der wir leben, und je umfassender und je wirksamer wir das tun, um so mehr nimmt unsere Einsicht zu. Im Augenblick muß die Welt als Ganzes so konstruiert werden, daß sie eine soziale Umgebung bildet, in der der Mensch sich in einer Weise verhalten kann, die die Zukunft der menschlichen Rasse sichert. Ändern wir die Umgebung und damit das menschliche Verhalten nicht, dann bedeutet das, daß die Menschheit keine Zukunft mehr hat.
Aber die Führung der Welt liegt in Händen von Politikern. Sollen Männer der Wissenschaft diese Funktion übernehmen? Ich glaube nicht, daß das möglich ist. Ich fürchte, daß es vor allem auf eine Technik des Angsteinjagens hinauslaufen muß, eine Art von Kassandra-Prophezeiung. Wir müssen den Menschen so viel Angst einflößen, daß sie etwas unternehmen. Ein solches Vorgehen ist für mich eigentlich wenig anziehend. Ich würde lieber ein so herrliches Bild von der Zukunft malen, daß der Mensch sich naturgemäß gern dafür einsetzt. Aber ich fürchte, wir müssen gerade das Entgegengesetzte tun und deutlich aufzeigen, wie gräßlich die Zukunft ist und welche Katastrophe wir verhindern müssen. Irgendwie müssen die Menschen die Zukunft mit einbeziehen. Leider steht sie sehr häufig im Widerspruch zur heutigen Realität. Wir werden Wünsche, die wir heute hegen, aufgeben müssen. Das ist vielleicht das schwerste Problem heutiger Verhaltensplanung. Wie können wir Methoden entwerfen, durch die die Menschen sich diszipliniert verhalten werden? Wie können wir das Ausmaß an unmittelbarer Befriedigung, Vergnügen und Luxus, dem sich die Menschen hingeben, beeinflussen? Wie können die Menschen dahin gelangen, ihre eigene Zukunft als Individuen, die ihrer Familien und naturgemäß die der eigenen Art insgesamt in ihr Denken einzubeziehen? In der Vergangenheit ist uns das schon besser gelungen. Sittliche Wertsysteme, Religionen, Regierungen haben es vermocht, die Menschen um ihrer Zukunft willen auf die kleinen Freuden des Augenblicks, ihren Komfort, wie auf ihre Freiheit von verschiedenerlei Be- | |
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schwerden verzichten zu lassen. Es hat immer eine solche Art Zukunft gegeben. Die Zukunft einer bestimmten Regierung, einer bestimmten Religion, eines Wirtschaftssystems. Derartige Institutionen waren wirksame Mittel um jene Verhaltensweise, die im Augenblick propagiert werden mußte, zustande zu bringen. Das kann aus guten, aber auch aus falschen Gründen geschehen. Rom hat die Römer davon überzeugt, daß es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben. Das war für Rom günstig, aber nicht für die Römer. Es bedeutete, daß sie die römische Gesellschaftsstruktur lange Zeit aufrechterhielten. Religionen, in denen die Gläubigen zu Märtyrern werden, sind weniger den Gläubigen als der Religion selbst zuträglich. Aber können wir nicht irgendwie ähnliche Techniken entwerfen, um alle Mitglieder der menschlichen Art dazu zu bringen, ihre kleinen Augenblicksfreuden einer besseren Welt für jedermann zu opfern? Wenn wir das nicht können, sind wir verloren.
Sie sagten, daß es vielleicht einer Technik des Angsteinjagens bedarf. Der Bericht des Club of Rome hat in den Niederlanden jedenfalls einen Schockeffekt erzielt. Er schlug ein wie eine Bombe. Beinahe eine Viertelmillion Exemplare wurden innerhalb eines Jahres verkauft. Die Fernsehprogramme widmeten ihm zahlreiche Diskussionen. In der Hinsicht ist das Modell des Club of Rome wahrscheinlich ein nützlicher Anfang. Jede Aufklärung über die Zukunft bedeutet einen Schritt in Richtung auf eine sinnvoll die Zukunft einbeziehende Politik. Darin liegt das Problem unseres Fortbestehens, daß wir mehr über die Zukunft wissen müssen. Wir müssen uns ein klareres Bild machen können, und der Club of Rome hat dazu beigetragen. Er hat viel getan, die Menschen anzuregen, die Zukunft ernst zu nehmen und ihr augenblickliches Verhalten zu ändern.
Sie haben gesagt, wenn wir das menschliche Verhalten ändern wollen, müssen wir erst mehr über die Umwelt wissen. Genau das war die Absicht des Modells Forresters und des Club of Rome: Füttere die Computer mit den Ängsten und den Tatsachen aus jener Umwelt, in der wir leben, und wenn wir dann eine vollständige Einsicht bekommen haben in die Wirkung, die die Variablen untereinander ausüben, können wir das allgemeine menschliche Verhalten in Angriff nehmen. Ich glaube, es gibt einen Aspekt der Umwelt, den man nicht berücksichtigt hat. Man behandelt die Hilfsquellen, die Verschmutzung und man zieht bestimmte Entwicklungen durch. Soweit ich weiß, hat man die Rolle, die die Umgebung für die Definition des menschlichen Verhaltens spielt, nicht einbezogen. Vielleicht ist man imstande, eine Zukunftsvision zu projizieren, die dazu führen wird, daß wir uns anders | |
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verhalten werden. Aber man hat nicht erforscht, wie der menschliche Organismus in Wirklichkeit reagiert auf die Vorstellung von Gefahr, von Vernichtung.
Glauben Sie, daß es möglich ist, diese Variable ebenfalls in das globale Modell aufzunehmen? Sicher. Ich glaube, daß wir im Augenblick schnelle und wichtige Fortschritte machen auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen Verhalten und Umgebung. Wir entwerfen auch immer bessere Techniken für die verschiedenen Aspekte der psychotherapeutischen Erziehung, für bestimmte Systeme, für die Industrie. Das ist der Weg, den die Verhaltenstechnologie beschreiten muß. Wir brauchen absolut eine echte und wirksame Verhaltenstechnologie, um diese Probleme zu lösen.
Margaret MeadGa naar eind2 hat die Bemerkung gemacht, daß dies vielleicht das Jahrzehnt ist. in dem der Mensch sehr viel mehr über die Funktion des Gehirns herausfinden wird, was sich dann im Zusammenhang mit der Beeinflussung des menschlichen Verhaltens verwenden ließe. Ich glaube, daß wir tatsächlich mehr über die Wirkungsweise des Gehirns lernen, aber wir werden nicht so weit kommen, daß wir Änderungen des Verhaltens durch Änderungen des Gehirns eines Individuums zustande bringen können. Diese neue Erkenntnis wird uns ebenfalls kaum viel darüber sagen können, wie wir die Umgebung ändern müssen, weil der Stand der Hirnforschung noch lange nicht soweit ist. Wir erkennen im Augenblick, wie die Umgebung wirkt. Das Gehirn erfüllt naturgemäß eine Mittlerfunktion. Es bildet die Brücke zwischen Verhalten und Umgebung, ebenso zwischen Verhalten und Erbstruktur. Aber mag die Hirnforschung auch ohne Zweifel ein Licht werfen auf die Art und Weise, wie Verhalten und Umgebung zueinander in Beziehung stehen - sie wird uns dennoch nicht sagen können, welche Veränderungen wir vornehmen müssen. Ich hatte immer gedacht, daß die Wirkung bestimmter medizinischer Präparate viel bedeutungsvoller sein würde, als sich schließlich herausgestellt hat. Ich glaube, daß die Hoffnung, wir könnten durch Präparate die Intelligenz steigern oder die emotionalen Bedingungen aufklären, stark gesunken ist. Zweifellos werden wir am Ende dazu in der Lage sein, aber im Augenblick fehlen uns dazu noch die Mittel. Selbst wenn wir genau wüßten, wie unser Gehirn funktioniert, würden wir doch immer die Änderungen in der Umwelt anbringen müssen und nicht im Gehirn. Letzteres wäre viel zu schwierig. Die Teile des Gehirns, die bei einfachen Handlungen einbezogen werden, sind submikroskopisch klein. Das menschliche Gehirn hat dreißig Milliarden Zellen. Vielleicht tritt davon nur ein kleiner Teil bei einer bestimmten Handlung in Aktion. Wie könnte man angesichts dieser Größenverhältnisse arbeiten und damit experimentieren? | |
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Einige Wissenschaftler haben ein Serum entwickelt, das den Menschen in den Stand setzt, fünfzig Prozent der Gehirnkapazität zu nutzen statt der jetzigen seeks Prozent. Ich weiß wirklich nicht, in welchem Umfang wir unser Gehirn gebrauchen. Ich glaube nicht, daß es Menschen gibt, die das wissen. Es gibt Medikamente, die uns befähigen, klarer zu denken als sonst. Es gibt auch Medikamente, unter deren Einfluß wir gar nicht klar denken können. Soweit sind wir etwa. Aber die Arbeit mit Medikamenten ist etwas anderes als die Gehirnphysiologie. Wir benutzen schon seit Jahrhunderten Kaffee und Alkohol wegen ihrer Wirkung. Diese Wirkung ist teils nützlich, teils schädlich. Aber das ist etwas anderes, als einen Beitrag zur Gehirnphysiologie zu leisten. Es ist ein Beitrag zur Pharmakologie; aber trotz allem ist es meiner Meinung nach doch sehr wichtig, das Gehirn zu erforschen. Ich sehe nur nicht, wie eine derartige Kenntnis uns in naher Zukunft nützen könnte bei der Planung einer besseren Kultur.
Und das ist die Umwelt. Absolut. |