Die Grenzen des Wachstums. Pro und Contra
(1974)–Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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Gunnar MyrdalGunnar Myrdal wurde 1898 in Gustafs, Dalama/Schweden, geboren. Er studierte an der Stockholmer Universität, wo er heute als Professor für Internationale Wirtschaft lehrt. Er ist außerdem Vorstandsvorsitzender des Internationalen Friedensforschungsinstituts (SIPRI) in Stockholm. Von 1947 bis 1957 leitete Myrdal die Europäische Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen. Myrdal wurde weltberühmt durch seine großangelegte Untersuchung über Entwicklungsländer Asian Drame, 1968 (Asiatisches Drama). Weitere Veröffentlichungen: Monetary Equilibrium, 1939; Population, A Problem for Democracy, 1944; Economic Theory in Underdeveloped Regions, 1957 (Ökonomische Theorie und unterentwickelte Regionen); Beyond the Welfare-State, 1969 (Jenseits des Wohlfahrtstaates) und An American Dilemma Revisited: A Radical Crisis in Perspective, 1970.
Auf der Umwelt-Konferenz in Stockholm im Jahre 1972 erklärten Sie warnend, der Mensch müsse endlich die Grenzen des Wachstums erkennen und sich auf sie vorbereiten. Es ist ein sehr viel komplizierteres Problem, als die meisten Menschen, darunter auch Ihr niederländischer Freund Sicco MansholtGa naar eind1, denken. Das ganze Geschwätz über planetarische und globale Lösungen ist einfach Humbug. Wenn wir uns die mangelnde Gleichberechtigung auf der ganzen Welt ansehen, wenn wir sehen, daß die US-Amerikaner vierzig Prozent aller Rohstoffe verbrauchen, die uns zur Verfügung stehen, dann ist es absoluter Unsinn, von globalen Problemen und globalen Lösungen zu sprechen.
Vielleicht ist das so, trotzdem haben Sie einen ernsten Warnruf ausgestoßen, daß die Grenzen erkannt würden. Sicher gibt es Grenzen, aber niemand weiß viel über sie. Sämtliche sogenannten Fakten sind äußerst kontrovers. Ich wehre mich besonders dagegen, mit diesen sogenannten Grenzen umzugehen, als handelte es sich dabei um ein feststehendes globales Problem, ohne daß man irgendwie die sehr viel dringendere Frage der Gleichheit zwischen den Nationen und innerhalb der Länder selber anginge.
Sie plädieren für eine zentral auferlegte und nachdrücklich durchgesetzte Planung aller menschlichen und ökonomischen Aktivität. Doch wie sollte das geschehen? Genau das versuche ich ja zu verdeutlichen. Wir stehen einem äußerst ernsten Verwaltungsproblem gegenüber. Und natürlich gibt es | |
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da auch noch die politische Frage. Aber über diese Probleme habe ich bereits zahlreiche verschiedene Artikel geschrieben. Ich freue mich, wenn man aus meinen Schriften zitiert. Ich werde diese Zusammenhänge erneut in einem Buch erläutern, das ich gerade beende; der Titel soll Critical Essays on Economics sein.
Ja, aber ich bin nicht nach Stockholm gekommen, um blind Sätze abzuschreiben, die Sie zu einem früheren Zeitpunkt geschrieben haben. Machen wir es doch ein bißchen persönlicher, bitte. Also gut. Ich werde Ihnen sagen, was ich von abstrakten Modellen halte. In den letzten Jahrzehnten bemühten sich die meisten meiner Kollegen von der Nationalökonomie in übertriebener Weise, das, was sie für die Methoden der Naturwissenschaftler halten, durch die Konstruktion von äußerst versimplifizierten Modellen nachzuahmen, denen man oft noch rasch ein mathematisches Mäntelchen überhängte. Derartige Modellkonstruktionen verbreiten sich in jüngster Zeit rapide auch in den übrigen Sozialwissenschaften, wohingegen die naturwissenschaftliche Forschung ihrerseits die Ökonomen nachzuahmen bestrebt scheint. Es sollte aber doch klar sein, daß diese Übernahme der Form die Sozialwissenschaften nicht wirklich ‘wissenschaftlicher’ macht, wenn diese Form der sozialen Wirklichkeit unangemessen und darum für ihre Analyse nicht brauchbar ist. Weil sie bis zum Grund der Realität vorgedrungen waren, ist es den Naturwissenschaftlern oftmals möglich gewesen, an ihrem Schreibtisch fundamentale Entdeckungen zu machen, indem sie einfach mathematisches Denken auf geprüfte Fakten und Zusammenhänge anwendeten. Die Mode auf unserem Studiengebiet wandelt sich zyklisch. In letzter Zeit schwingt das Pendel nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in der ganzen übrigen Welt zu abstrakten Modellkonstruktionen. Ich sehe jedoch voraus, daß in zehn oder fünfzehn Jahren die Institutsmethode erneut die neue Mode sein wird. Die derzeitigen Versuche, die Methoden oder, genauer, die Form der einfacheren Naturwissenschaften zu imitieren, wird weithin als eine zeitweilige Verirrung in Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit erkannt werden. Der Grund für meine gewagte Prognose ist, daß das Studium gesellschaftlicher Fakten und Zusammenhänge wirklich viel komplexere, unterschiedlichere und flüchtigere Inhalte umfassen muß als die, die in höchst abstrakten Modellen durch Parameter und Variablen dargestellt sind, wobei Verhalten, das nur als Aggregat und Durchschnittswert auftritt, unerklärt bleibt. Ich muß dem einige Anmerkungen hinzufügen, damit man mich nicht mißversteht. Ich kann gewiß gegen Modelle per se keine Kritik erheben. Jegliche wissenschaftliche Forschung ist zu Verallgemeinerun- | |
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gen, und somit zu Vereinfachungen, gezwungen. Wichtig ist einzig, daß die Auswahl der aufzunehmenden Faktoren entsprechend den Kriterien der Relevanz erfolgen sollte. Wenn die Konstrukteure abstrakter ökonomischer Modelle ihre eigene Methode als ‘quantitativ’ bezeichnen und im Gegensatz dazu die institutionale Methode gern ‘qualitativ’ nennen, dann ist dies natürlich eine Fehlbezeichnung. Quantitativ meßbares Wissen ist ein selbstverständliches Ziel der Forschung, und der institutionelle Wirtschaftswissenschaftler, genau wie der kritischere Naturwissenschaftler, ist wahrscheinlich schärfer hinter empirischen Daten her. Wenn er oftmals weniger Zahlenmaterial vorzuweisen hat als die konventionellen Wirtschaftswissenschaftler - besonders im Fall der unterentwickelten Länder -, dann deshalb, weil er bei der Ermittlung kritischer verfährt. Mein dritter Punkt ist ein Eingeständnis. Ungeachtet des empfindlichen Mangels an einer gründlichen Durchleuchtung der zugrundeliegenden abstrakten Annahmen und der verwendeten Konzepte ist es eine Tatsache, daß ökonometrische Modelle - selbst die des Makrotyps, die sich auf ein ganzes Land beziehen - tatsächlich oft zu relevanten Schlußfolgerungen führen und heute nutzbringender sind als in der Zeit, da Alfred Marshall diese Methode als unrealistisch anprangerte. In entwickelten Ländern ist heute das statistische Material umfassender und zuverlässiger, obwohl ich nicht sicher bin, daß die statistischen Unterlagen, die das MIT-Team für Die Grenzen des Wachstums verwendete, sachlich begründet und korrekt waren.
Da die MIT-Studie auf einen globalen Plan abzielt und da zwei Drittel unseres Planeten als noch im Entwicklungsstadium befindlich angesehen werden können, wie zuverlässig - um es milde auszudrücken - sind Ihrer Meinung nach die Inputs bezüglich der Dritten Welt als Ganzes? Zunächst einmal ist unser Wissen über die Bedingungen in diesen unterentwickelten Ländern immer noch äußerst mager. Ich befürchte, daß ein Großteil der angehäuften Daten und der Berge von Zahlenmaterial entweder für die Analyse wirtschaftlicher Realitäten überhaupt keine Rolle spielt, während die Unzulänglichkeiten der angewandten konzeptionellen Kategorien gleichzeitig zu außerordentlichen Fehlern auf der Ebene der Primäruntersuchungen beigetragen haben müssen. Selbst in den entwickelten Ländern ist man sich heute darüber im klaren, daß Konzepte wie Bruttosozialprodukt oder Einkommen pro Kopf und ihr Wachstum - um es vorsichtig auszudrücken - dürftig sind. Sie lassen den Faktor der Verteilung außer acht. Es herrscht eine weitverbreitete Unklarheit darüber, was als wachsend angesehen werden soll, ob es sich irgendwie um reales Wachstum handelt oder nur um die Kostenberechnung verschiedener unerwünschter Entwicklungen. Die absolute oder relative Nutzlosigkeit von ins Auge fallendem priva- | |
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tem oder öffentlichem Verbrauch und Investment wird nahezu niemals berücksichtigt. In den Entwicklungsländern stellen die für weite Gebiete des Wirtschaftslebens nicht vorhandenen Märkte und zahlreiche weitere Konzeptschwierigkeiten, die typisch für diese Länder sind, weitere Faktoren dar. Aus diesen Gründen, aber auch wegen der außerordentlichen Funktionsschwäche der statistischen Institutionen müssen die in der Literatur so zuversichtlich zitierten Zahlenangaben über Pro-Kopf-Einkommen oder -Sozialprodukt als nahezu wertlos angesehen werden, ganz bestimmt dort, wo es um Entwicklungsländer geht. Lassen Sie mich folgendes sagen: Der Urtyp eines theoretischen Wachstumsmodells ist der, bei dem der aggregierte Output zum materiellen Investment in einem Verhältnis Kapital: Output in Bezug gesetzt wird. Ursprünglich als ein theoretisches Werkzeug zur Lösung wirtschaftlicher Stagnations- und Instabilitätsprobleme in entwickelten Ländern konzipiert, wurde dieses Ein-Faktoren-Modell auf die zutiefst anders gearteten Entwicklungsprobleme von Entwicklungsländern angewendet. Die Kapital-Output-Methode war nach dem letzten Krieg bei Wirtschaftswissenschaftlern populär geworden, weil mehrere Arbeiten in westlichen Ländern es sich zur Aufgabe machten, einen engen Zusammenhang zwischen materiellem Investment und wirtschaftlichem Wachstum aufzuzeigen. Effektiv wurde das Verhältnis Kapital: Output eine Weile lang als etwas Ähnliches wie die Konstanten angesehen, die den Fortschritt in der Erkenntnis des physischen Universums durch simples mathematisches Denken ermöglichten. In den letzten Jahren jedoch machten intensivere Studien über Wirtschaftswachstum in einigen hochentwickelten westlichen Ländern deutlich, daß selbst dort das Problem nur zum Teil durch das Ausmaß des investierten physischen Kapitals erklärt werden konnte. Wenn auch die Schätzungen über den unerklärten Rest sehr unterschiedlich sind, so wird doch im allgemeinen die Ansicht vertreten, daß dieser Rest beträchtlich höher ist als jener Teil des wirtschaftlichen Wachstums, den man durch Kapitalinvestition erklären kann.
Würden Sie sagen, daß der Einsatz von Computern in der Forrester-Meadows-Methode für den Bericht des Club of Rome vielversprechend ist? Für unseren Planeten als Ganzes, glaube ich, ist die Computermethode nicht sehr nützlich. Denn, wie ich vorher schon betont habe, unsere Probleme sind keine globalen Probleme in dem einfachen Sinn, den die Leute von MIT unterlegen. Wir sollten selbstverständlich die großen Vorteile nicht übersehen, die uns moderne Datenverarbeitungsmaschinen bei der Untersuchung aller unserer Krisen und Rätsel bieten. Aber dann müßten die Probleme und Fragen klar definiert sein. Sie sollten | |
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klar umrissen sein. Sie sollten nicht mit Prämissen arbeiten, die unsicher oder sogar völlig falsch sind. Man wird aus dem Zauberkasten Computer nie mehr herausholen können, als man hineingesteckt hat. Gegen eine Sache bin ich radikal, gegen den naiven Glauben, daß man mit dummen Prämissen, mit falschen Prämissen, Probleme lösen könne und daß man mit falschen Konzeptionen oder äußerst schlechtem Material zu einem Ziel kommen könne.
Sind Sie der Überzeugung, daß die Naturwissenschaftler bereit und willens sind, zugunsten einer klügeren Benutzung der Umwelt mehr Druck auf die Politiker und die öffentliche Meinung auszuüben? Ich hoffe, daß sie es tun werden. Alle Wissenschaftler sollten dies natürlich tun.
Internationale Vereinigungen der Gewerkschaften suchen derzeit nach Wegen, die Macht globaler Konzerne zu neutralisieren. Mit anderen Worten, man will die individuellen profitorientierten Entscheidungen zugunsten der Interessen der Gesellschaft und des Menschen, unter Einbeziehung der Umwelt, global beseitigen. Ich habe dieses Gebiet nicht genügend im Detail studiert. Theoretisch müßte die Antwort natürlich lauten, daß eine Weltregierung die gleiche Kontrolle ausüben könnte, wie wir sie bisher auf nationaler Ebene von unseren Regierungen und Parlamenten kennen.
Marx hat davor gewarnt, daß um so mehr nutzlose Produktion geschaffen wird, je mehr nutzlose Leute dasein werden. Die öffentliche Diskussion wird heute häufig von der langhaarigen bärtigen Jugend geführt. Ich glaube, es ist eine lächerliche Vorstellung, daß wir es mit zu vielen beschäftigungslosen Arbeitern zu tun bekommen werden. Wir brauchen so viele Menschen für die Arbeit mit alten Menschen, Kindern und für ihre Pflege, für Gesundheitsprobleme und so fort.
Aber Arbeiter in modernen Industriebetrieben werden doch ohne Zweifel krank und müde, und das vor allem wegen der Arbeit, die zu tun man ihnen befiehlt. Ja, das ist wahr. Natürlich kann Arbeit eine Menge Spaß machen. Was aber derzeit geschieht, ist, daß die zwei Forderungen nach höheren Löhnen und verbesserter Technologie auf ganz neue Weise Pressionen für die Arbeiter in modernen Industriebetrieben mit sich bringen. Das muß geändert werden. Volvo zum Beispiel schafft das Fließband ab. Immerhin finden wir jetzt endlich heraus, daß zwischen Reformen zur Gleichberechtigung im modernen Wohlfahrtsstaat und wirtschaftlichem Wachstum kein Widerspruch besteht. Noch vor ein paar Jahr- | |
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zehnten verfochten die meisten Wirtschaftswissenschaftler - und manche tun das heute noch - die These, daß Gleichberechtigung Geld kosten würde, nicht nur in den höheren Einkommensschichten, sondern national im Sinn des Wirtschaftswachstums. Doch die Wohlfahrtsreformen haben sich in Wirklichkeit als produktiv erwiesen. Die Tatsache, daß das wirtschaftliche Wachstum sich nicht verlangsamt, sondern im Gegenteil sich auf diesem Sektor einer radikalen Sozialreform - wie zum Beispiel in Schweden - beschleunigt hat, unterstreicht im weitesten Sinne diese Schlußfolgerungen. Umschichtungsreformen haben die Einkommen der Bedürftigen erhöht und im allgemeinen die Einkommen oder den Einkommenszuwachs der oberen Klassen nicht einmal verringert. Allgemein gesagt, die relative Einkommens- und insbesondere Vermögensverteilung hat keine großen Veränderungen gebracht, trotz wachsender progressiver Besteuerung und kostspieliger Reformen zur Neuverteilung zugunsten der unteren Einkommensschichten. Wir sehen heute, daß eine große Zahl der Reformen - zum Beispiel die Bestrebungen zugunsten staatlicher Gesundheitsfürsorge und Kinderwohlfahrt - sich ganz besonders stark auf eine Hebung der Produktivität ausgewirkt haben. Einer der wichtigsten Grundbestandteile in der Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates ist außerdem die Ausweitung der Chancen für die Jugend auf dem Erziehungssektor. Die alte nichtegalitäre Gesellschaft ruhte auf der festen Basis eines Monopolrechts der oberen Klassen auf jegliche höhere Schulbildung. Dieses Monopol zerbricht jetzt rapide in allen reichen demokratischen Wohlfahrtsstaaten. Und diese Entwicklung geht exakt Hand in Hand mit dem Interesse an einer Steigerung der Produktivität auf dem neuen technologischen Sektor. Dieser politische, soziale und wirtschaftliche Prozeß scheint sich mit wachsender Beschleunigung in allen reichen Ländern abzuspielen.
Aus Ihren Schriften würde ich schließen, daß Sie weder optimistisch noch pessimistisch sind, sondern einen realistischen Mittelweg einschlagen. Das ist kein Mittelweg. Optimismus wie Pessimismus sind parteiische Vorurteile. Realismus, das ist die Sache. Er hat auch nichts mit Defätismus zu tun, denn wenn die Lage trübe erscheint, dann muß man den Mut besitzen, zur Veränderung der Welt beizutragen. Genau das sollte die Basis sein, auf der jeder Wissenschaftler steht. Warum um Himmels willen würde ich sonst an meinen Büchern arbeiten, wo ich doch ein angenehmes Leben haben könnte in Saus und Braus. Ich arbeite und schreibe weiter, weil ich den Glauben habe, der die Grundlage jeglicher wissenschaftlichen Bestrebung ist. Alles in allem besitzt Wissen eine befreiende Kraft. Illusionen, besonders opportunistische Illusionen, sind stets gefährlich. Das ist die Überzeugung, von der ein Gelehrter bestimmt wird. | |
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Aber um schöpferisch zu sein, muß man an die Menschheit glauben. Genau, das habe ich Ihnen zu erklären versucht. Dies ist die Überzeugung, die aller wissenschaftlichen Arbeit zugrunde liegt. |
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