Gellert und Holland
(1928)–W.J. Noordhoek– Auteursrecht onbekend
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ÜberblickDie vorigen Abschnitte beweisen zur Genüge, daß die Gellertschen Schriften sich auch hier einer großen Beliebtheit erfreuen durften. Es liegt auf der Hand, daß diese außerordentliche Popularität besonders den Fabeln und Erzählungen galt, wurden die doch in Kreisen gelesen, wo man sonst seinen Geist nicht mit Lekture quälte. Daß diese Volkstümlichkeit hierzulande recht lange vorhielt, erhellt aus den Jahreszahlen der sich, auch im 19. Jahrhundert, stets folgenden AusgabenGa naar voetnoot1). In dem betreffenden Abschnitt erwähnten wir schon, daß die Ausgabe, die 1837 bei S. de Grebber in Amsterdam erschien, in einem Vorwort besonders den Eltern und Erziehern als Jugendbuch empfohlen wurde und gleichfalls wird der Amsterdamer Verleger G. Theod. Bom wohl an jugendliche Leser gedacht haben, als er sein Bändchen Fabelen en VertelselsGa naar voetnoot2) mit bunten Bildern schmückte. Er hatte offenbar Erfolg mit seinem Unternehmen, denn eine neue Ausgabe folgte schon zwei Jahre nach der ersten. Auch eine wahrscheinlich für die Schule bestimmte AusgabeGa naar voetnoot3) in deutscher Sprache erlebte einen Neudruck, aller- | |
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dings bei einem andren Verleger und erst nach Verlauf von dreizehn Jahren. Eine Ausgabe nach 1869 ist mir nicht bekannt geworden, man muß für die spätere Zeit wohl die Folgerung ziehen, daß sich das Interesse der Leser andrer Lektüre zugewandt hatte. Zieht man das Verzeichnis der Ausgaben von Gellerts Briefsammlungen zu Rate, dann muß man wohl auf eine gewisse Beliebtheit auch dieses Lesestoffes schließen. Freilich spielt der Wettbewerb des Amsterdamer und des Utrechter Verlegers eine wichtige Rolle und mag die Zahl ihrer und andrer Ausgaben wohl nicht immer einem wirklich empfundenen Bedürfnis entsprechen. Es kam sogar vor, daß eine Ausgabe als eine Vergeltungsmaßregel zu betrachten war. So schreibt die Ned. BibliotheekGa naar voetnoot1): ‘Niettegenstaande de Utrechtsche Boekverkoopers J. van Schoonhoven & Co. het recht hadden op het drukken en uitgeven van C.F. Gellert's Leven en Nagelaaten Brieven heeft de Amsterdamsche Pieter Meyer kunnen goed vinden, om zich van het gemelde recht meester te maken. Deze zijn handelwijze mag ingerigt zijn, om eensklaps gewoontens, die bij weldenkende Boekverkoopers als een wet gehouden worden, te vernietigen, wij zijn evenwel daaraan dit fraaie drukje van Gellerts Fabelen en Vertelsels verschuldigd. De Boekhandelaar Schoonhoven heeft er buitengewone kosten aan willen doen, om langs dien weg den druk van Meyer, die op ver na zoo sierlijk niet is, in waarde te doen daalen en zooveel mogelijkbuiten vertier te brengen’. Wenn auch andre Ausgaben solchen menschenfreundlichen Absichten zu verdanken sein sollten, dann wäre es doch eine heikle Sache, die Beliebtheit eines Buches direkt aus der Zahl der Ausgaben zu folgern! | |
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Freilich verfügt man für die Gellertschen Briefe über andre Hilfsmittel. Für die Beliebtheit derselben bieten, wie wir im Vorhergehenden zeigten, auch die damaligen Zeitschriften Beweise in Hülle und Fülle. Unstreitig sehr populär auch bei uns waren die nach Gellerts Tode erscheienenen Moralischen Vorlesungen, die Pieter Meyer in der ausgezeichneten Übersetzung von Lublink de Jonge, als Zedekundige LessenGa naar voetnoot1) veröffentlichte. Schon nach wenigen Monaten war die erste Auflage vergriffenGa naar voetnoot2) und mußte eine zweite vorbereitet werden. Wie sehr man von dem Nutzen dieser Zedekundige Lessen überzeugt war, geht auch daraus hervor, daß eine Moral für KinderGa naar voetnoot3), von einem anonymen Autor, dieselben als Leitfaden benutzte. Auch den moralischen Briefen Aan mijn jonge VriendinGa naar voetnoot4) waren die Gellertschen Vorlesungen zugrunde gelegt. Bekam die Verehrung Gellerts in Deutschland in der ersten Zeit nach seinem Tode etwas Krankhaftes (in Leipzig mußte der Besuch an sein Grab verboten werden!), in Holland erschien sowohl Ernesti's GedächtnisredeGa naar voetnoot5) als J.A. Cramers C.F. Gellerts LebenGa naar voetnoot6) in doppelter Ausgabe. Auch einige der bekanntesten Trauerlieder wurden diesen übersetzungen, allerdings in Prosa, beigegeben. | |
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Die ganze lesende Welt beklagte das Hinscheiden des liebenswürdigen Menschen, dessen Schriften so manchen erbaut hatten. Es ist für die Art dieser Schriften charakteristisch, daß etwa Petrus Hofstede sie nicht weniger verehrte als Betje Wolff. Von Gellerts Frömmigkeit und edlen Absichten war jeder, welcher religiösen Richtung, welchem Stande er angehören mochte, überzeugt. Von der rührenden Weise, in der arme und ungelehrte Leute dem berühmten Professor ihre ehrfurchtsvolle Liebe bezeugten, erzählt Cramer treffende Beispiele. Volkstümlich, im besten Sinne, waren seine Schriften, die, wie Goethe schreibt, in Deutschland auf lange Zeit das Fundament der sittlichen Kultur bildeten. Der sittliche Wert hat gewiß in hohem Grade zu der Volkstümlichkeit von Gellerts Werken beigetragen. Dennoch kann dies nicht die einzige Ursache sein, sonst müßte man dazu kommen die ganze, damals so reiche, moralisierende Literatur für volkstümlich zu erklären und dem widersprechen die Tatsachen. Eine Erklärung von Gellerts Popularität ist schon verschiedentlich versucht worden. Gellerts Zeitgenosse, Professor Garve, schrieb Anmerkungen über dessen Schriften und Charakter. In Ermangelung des Originals, entnehmen wir der holländischen übersetzungGa naar voetnoot1) Folgendes: ‘Zijn talenten waren onbetwistbaar groot; doch zij waren niet groot door den uitnemenden graad eener enkele bekwaamheid, maar door de vereeniging, en gemiddelde evenredigheid van allen. En zoodanig moeten ook de talenten van een man zijn, wiens schriften de verdiensten zullen hebben, welken Abbt aan die van Gellert toeschrijft, | |
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om namelijk, van zijn geheele natie geleezen, verstaan, en hooggeacht te worden; om tot onderwijs voor de laagste en tot verbetering en vermaak der hoogste klassen van menschen te kunnen dienen. Het is alleen door deeze fijne mengeling van verscheidene zielvermogens, dat de natuur een vernuft kan voortbrengen, welks werken voortreffelijk konnen zijn, zonder boven het begrip van den grooten hoop verheven te weezen’. Gellert hatte jedem etwas zu sagen und zwar deshalb weil jeder in diesen Schriften einen Zug fand, der der eigenen Denkart verwandt war. Richtig sagt Garve: ‘De Leezer moet altoos zelf de talenten van den schrijver, dien hij verstaan en die hem behaagen zal, wel in een minderen graad, echter in zekere maate, bezitten’Ga naar voetnoot1). Gaben wir in der Einleitung einen Überblick über das geistige Leben im Zeitalter Gellerts, die folgenden, die einzelnen Seiten von des berühmten Mannes Tätigkeit besprechenden Abschnitte, zeigten, wie sehr er sich für die verschiedenen Probleme seiner Zeit interessierte. Der vermittelnde Standpunkt, den Gellert, den Fragen der Zeit gegenüber, vertrat, entsprach wohl den Ansichten des Durchschnittsgebildeten, namentlich auch in Holland. Das ruhig Abwägende, das Vorherrschen des gesunden Menschenverstandes, der Vernunft, das alles verschaffte den Gellertschen Schriften auch da Zutritt, wo man sonst religiöse Bücher mit mißtrauischen Augen betrachtete. Ein andrer Leserkreis hingegen legte deshalb so großen Wert auf dieselben, weil Gellerts Religiosität und Bibelgläubigkeit über jedes Bedenken erhaben war. Das fromme Gemüt erbaute | |
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sich an den geistlichen Liedern, der mehr philosophisch Veranlagte hatte an den Moralischen Vorlesungen seine Freude, die Fabeln und Erzählungen waren eigentlich jedem, dem Gebildeten wie dem Ungebildeten, mundgerecht, während der Literat und der Pädagoge aus so mancher Schrift seine Kunst und sein Wissen bereichern konnte. Dieser ganze geistige Reichtum fließt aus lauterer, sittlicher Quelle; das geistige Band, das alle Schriften Gellerts zusammenhält, ist eben die moralische Absicht, das Streben, die eigene Religiosität auch andren mitzuteilen. Mag diese sittliche Grundlage nicht die einzige Ursache von Gellerts Popularität sein, die Hauptursache ist sie gewiß. Man las mit Interesse die Meinungen des angesehenen Mannes über Religion, Moral, Ästhetik, Pädagogik, hatte seine Freude daran, daß diese Schriften wenigstens auf dem festen Boden der Wirklichkeit standen und wählte sich den Verfasser derselben, voll Zuversicht, zum moralischen Führer. Als D. Ewaldus Kist, Pfarrer in Dordrecht, in einer AbhandlungGa naar voetnoot1) den Ursachen der Gellertschen Popularität nachspürte, sah er das Wesentliche auch in der moralischen Grundlage dieser Schriften. Es entspricht so ganz der Geistesrichtung der Zeit, als Gellert mit Wort und Tat zur Verherrlichtung von Vernunft, Tugend und Religion auffordert. Diese Tendenz sieht Kist mit Recht in sämtlichen Schriften Gellerts. Gleichfalls mit Recht schätzt er, nach einer Würdigung des Inhaltes, auch die Vorzüge der Form. Als solche nennt er die Lebhaftigkeit des Vortrags, die Deutlichkeit und Klarheit der Sprache, die Natürlichkeit des Stils, das Geistreiche einiger Fabeln, das Ergreifende vieler Erzählungen. | |
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Ist nach allem bisher Gesagten, somit mit Rücksicht auf seine Zeit, Gellerts Popularität durchaus verständlich, es kann auch keine Verwunderung erregen, daß diese Volkstümlichkeit gleichsam ihr natürliches Ende fand als die allgemeine Gesinnung nicht mehr dem Standpunkt des Leipziger Moralisten entsprach. Der Zeit maßloser Verherrlichung folgte eine Periode gleichfalls maßloser Geringschätzung. Mag das erste übertrieben gewesen sein, auch das zweite erscheint, bei eingehenderem Studium, ungerecht. Möge bald eine Gellertbiographie dankbare Leser erfreuen durch eine wohlgelungene Schilderung dieser interessanten Figur, die, wie kaum ein andrer, in seinen Werken den Geist seines Zeitalters widerspiegelt. |
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