Gellert und Holland
(1928)–W.J. Noordhoek– Auteursrecht onbekend
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Gellert als MoralistAllerdings könnte dieser Titel als Überschrift einer Abhandlung über Gellerts sämtliche Werke stehen, der Moralist kommt überall zu Wort, in den Fabeln wie in den Liedern, in den Lustspielen wie in dem Roman. Moral ist der Endzweck von Gellerts schriftstellerischer Tätigkeit. Beschränkung ist demnach geboten. Es ist unsre Absicht hier besonders die Moralischen Vorlesungen ins Auge zu fassen und die sich denselben eng anschließenden moralischen Gedichte. Wir wollen sehen wie die Übersetzung dieser erst nach Gellerts Tode veröffentlichten akademischen Vorträge in Holland aufgenommen wurde, dann uns eingehender mit dem Inhalt derselben beschäftigen um schließlich ihre Wirkung, aus dem Zusammenhang mit den damaligen geistigen Strömungen zu erklären. Mit seinem Übersetzer hat Gellert es gut getroffen. Es ist der unermüdliche Joh. Lublink de Jonge, der sich auch um die Übertragung der Fabeln verdient gemacht hat. Unter dem Titel: Gellerts Zedekundige Lessen erschien sein Werk bei Pieter Meyer im Jahre 1773 und schon zwei Jahre später war eine neue Auflage notwendig. Lublink gehört zu den nicht eben zahlreichen Übersetzern, die sich das Schwierige ihrer Aufgabe bewußt sind. Liebevoll hat er sich in Gellerts Geist hineinversetzt, in seinem Vorwort fühlt man das Verwandte der beiden Naturen und die daraus entstandene Sympathie. | |
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Daß Lublink es mit seiner Übersetzung genau nimmt, brauchen wir ihm nicht aufs Wort zu glauben. Er selbst bringt dafür die Belege am Schlusse des zweiten Bandes der zweiten Auflage seiner Zedekundige Lessen. Lublink stellt da in drei Spalten nebeneinander: Sätze aus dem Original, aus seiner Übersetzung und aus der französischen Übersetzung des Herrn Pajon, der Pfarrer der französischen Gemeinde in Berlin war. Er zeigt dabei unwiderleglich das Ungenaue und Lückenhafte der französischen Übersetzung, die nota bene bei Meyers Konkurrenten, J. van Schoonhoven in Utrecht erschienen war (1772). Für uns ist diese Auseinandersetzung Lublinks von Bedeutung, insofern wir hier die Richtigkeit der Übersetzung vor Augen sehen, aber auch deshalb, weil das Erscheinen einer französischen ÜbertragungGa naar voetnoot1) bei einer holländischen Firma auf Interesse für Gellert auch bei den Französisch lesenden höheren Ständen hierzulande schließen läßt. Mit dem Empfang seiner Arbeit konnte Lublink zufrieden sein. Die Ned. BibliotheekGa naar voetnoot2) z.B. ergeht sich in Lobsprüchen auf Gellert. Der Rezensent wünscht den Holländern Glück zu dem neugewonnenen Schatz und dankt Herrn Lublink für seine schöne Übersetzung. Bei der zweiten Auflage fordert dieselbe Zeitschrift ihre Leser nachdrücklich auf, sich des schönen Werkes zu bemächtigenGa naar voetnoot3). Auch die Vaderl. Letteroef. zählen die Zedekundige Lessen ‘ohne Widerrede’ zu den nützlichsten moralischen Schriften, die bestens empfohlen werden müssenGa naar voetnoot4). | |
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Zur Erklärung dieser günstigen Aufnahme erscheint ein näheres Eingehen auf den Inhalt dieser Moralischen Vorlesungen notwendig, auch die Form wird dabei in Betracht zu ziehen sein. Fangen wir an mit einem vernichtenden Urteil Erich Schmidts: ‘Gellerts Moralische Vorlesungen geben im Grunde nur seichte religiöse Betrachtungen und Anmahnungen. Gelegentlich läuft eine Art Hodegetik des akademischen Lebens und Studiums mit unter’Ga naar voetnoot1). Was findet man nun, wenn man das Buch, nach diesen wenig ermutigenden Worten, aufschlägt? Vor allen Dingen eine Bemerkung Gellerts, daß es nie seine Absicht gewesen ist, ein vollständiges System der Moral zu entwerfen, ‘zu dem er viel zu wenig Tiefsinn besitze’, sondern seinen Zuhörern auf eine faßliche und praktische Art das Vornehmste aus den Sittenlehrern vorzutragenGa naar voetnoot2). Überdies wird betont, daß die Moral nicht bloß eine Sache des Verstandes, sondern vor allem eine Sache des Herzens sein soll. Hauptsache ist nicht die akademische Jugend über Moral zu belehren, sondern vielmehr sie zur Moral zu erziehen. Wie sucht nun Gellert dieses Ziel zu erreichen? Wie immer nimmt er auch hier eine vermittelnde Stellung ein. Zuvörderst wird die Moral erläutert, wozu die bloße Vernunft oder, wenn man will, die natürliche Religion führt, und zwar in sehr anerkennender Weise. Dann aber zeigt er weiter wie diese Moral keine endgültige Befriedigung geben kann, daß diese hingegen nur erworben wird durch die Moral, die uns in der Heiligen Schrift offenbart worden ist. ‘Die Moral der Vernunft ist so wenig die Moral der Religion wie die Bered- | |
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samkeit Poesie ist’Ga naar voetnoot1). Zwar haben die natürliche und die christliche Moral den gemeinschaftlichen Zweck die Sitten zu bessern, allein die letzte geht viel weiter als die erste. Sie will des Menschen ganzes Herz ändern und erneuern. Sie fordert Buße und Glauben, sie gebietet Liebe der Feinde, Gebet, Demut gegen Gott und Menschen. Die Demut (ein echt Gellertscher Zug!) ist besonders eine eigentümliche Tugend der christlichen Moral und sie allein beweist beinahe den himmlischen Ursprung der Religion. Gleichfalls in echt Gellertscher Weise folgt die praktische Anwendung der Lehren in der Schilderung des Vernunftphilosophen, der zweifelnd in den Tod geht, während der sterbende Christ voll Zuversicht der ewigen Glückseligkeit entgegengeht. In der dritten Vorlesung stellt Gellert die christliche Moral der Moral des Altertums gegenüber. Der Leipziger Professor der Beredsamkeit zeigt mehrfach große Bewunderung für die Antike, aber mit Bezug auf ihre Moral soll man sich nicht durch übermäßige Verehrung blenden lassen. Der Reihe nach werden die unvollkommenen Begriffe der Alten auf diesem Gebiete beleuchtet. So ihre Vorstellung von der Gottheit: Des Witzes Fürst, Homer, singt seines Gottes Rechte.
Wer ist sein Zeus? Ein Gott, der ich nicht werden möchte.
Ihn kleide noch so schön die Pracht der Dichtkunst ein,
Ich bin zu stolz sein Freund und auch er selbst zu sein.
Aus diesem falschen Gottesbegriff gehen falsche Grundsätze in die Moral über. Die Lehre der Alten von der Natur der Seele ist ein Irrgarten von Vermutungen und Träumen, die Unsterblichkeit des Geistes wird nur vermutet und gewünscht. | |
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die Begriffe von der Tugend sind oft mangelhaft, oft unnatürlich. Wann gründete ein Plato, Aristoteles oder Zeno das Wesen der Tugend auf die große Wahrheit, daß Gott unser Gesetzgeber und Richter sei? Was war der Stoiker bei seiner eingebildeten Tugend als sein eigener Gott? Die alten Weisen steckten die Schranken der Mäßigkeit und männlicher Keuschheit sehr weit. Wo ist die allgemeine Menschenliebe, wo die Mildtätigkelt in der Tugendlehre der Alten? Barmherzigkeit, lehrt Seneca ist eine Gemütskrankheit. Wo ist die Demut in der Moral der Alten? Die Sittenlehre der Alten zeigt kein sicheres Mittel der Beruhigung in den mannigfaltigen Leiden und Übeln dieses Lebens. Die alten Philosophen haben, trotz ihres Scharfsinns, die Moral nicht auf eine höhere Stufe heben können, weil sie die H. Schrift nicht kannten. Du spottest stolz der Schrift, nennst sie den Witz der Blöden;
Doch laß die Sokraten von Gott und Tugend reden.
Spricht einer so gewiß, mit soviel Kraft und Licht,
So zuversichtlich schön als ein Apostel spricht?
Neben dieser dritten Vorlesung verdient die zehnte besondere Beachtung. Gellert verbreitet sich gern über die Mittel zur Tugend zu gelangen. Zu diesen Mitteln gehört auch der Umgang mit hochstehenden Menschen und die Lektüre guter Bücher. Der Lehrer der Moral will nun seinen Hörern einen Dienst erweisen, indem er ihnen eine freilich nicht zu stattliche Reihe moralischer Werke empfiehlt. Die Herausgeber der Moralischen Vorlesungen Schlegel und Heyer berichten über diese wenig umfangreiche moralische Bibliothek, daß Gellert das Verzeichnis dieser Schriften gern erweitert hätte, daß aber fortwährendes Kränkeln ihm das unmöglich gemacht | |
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habe. Lublink de Jonge, benutzt denn auch die Gelegenheit hie und da in Fußnoten neben den holländischen Übersetzungen der von Gellert empfohlenen Werke auch die Titel ähnlicher bedeutender Schriften anzugeben. Betrachten wir jetzt das Verzeichnis von Gellerts ‘guten Freunden’! Es kann keine Verwunderung erregen, daß an erster Stelle Mosheims Sittenlehre steht. Besonders den Theologen wird das Werk dieses berühmten Mannes empfohlen und Gellert geht in seiner Verehrung so weit, daß er das Zeitalter des guten Geschmacks in der deutschen Beredsamkeit das Mosheimische nennen will. Kritischer steht Gellert den Sittenlehren Hutchesons und Fordyces gegenüber. Er erkennt klar, daß diese englischen Moralisten ‘gleich den Naturforschern, aus Beobachtungen und Erfahrungen das sittliche System aufzurichten suchen’, mit andren Worten die empirische Methode auf die Moral anwenden. Obgleich die Absicht Hutchesons und seines Schülers, die Menschen zur Liebe der allgemeinen Vollkommenheit und zur Liebe und Anbetung Gottes zu führen, verehrungswürdig ist, doch legen beide, nach Gellerts Ansicht, zu viel Wert auf den moralischen Geschmack (moral sense), den zuerst von Shaftesbury eingeführten Begriff. Wer staunt aber nicht, auch Basedow, den umstürzlerischen Pädagogen, von Gellert empfohlen zu sehen? Freilich ist die Sache leicht erklärt, es handelt sicht bloß um die Praktische Philosophie für alle Stände, dessen gemeinverständliche Auseinandersetzungen Gellerts Bestrebungen entsprachen. In einer von Gellert zusammengestellten Bibliothek werden auch die Werke am Ehrenplatze stehen, die die natürliche und die geoffenbarte Religion mit einander in Einklang bringen wollen. Gellert selbst hat dies ja auch immer versucht. | |
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Neben Werken von Reimarus, Buttler, Squire, Nösselt werden auch Laws Ermunterungen an alle Christen zu einem frommen und seligen Leben genannt. Das Besondere in diesem Werk ist die Methode, durch Charaktere und Gemälde die christliche Sittenlehre zu erläutern. Gellert empfiehlt dieses Verfahren ausdrücklich und wendet es selbst mit großem Erfolg an. Eine besondre Rubrik widmet Gellert, den Anschauungen der Zeit entsprechend, den ‘Werken, die zur Erkenntnis und Verehrung Gottes aus der Natur führen’. Es sind, abgesehen von Sulzers Moralische Betrachtungen über die Werke der Natur und seine Unterredungen über die Schönheiten der Natur Übersetzungen: Derhams Astrotheologie und Physicotheologie, ähnliche Schriften vom Abt Plüche, Hervey, Nieuwentijt, vor allem aber Bonnets Betrachtungen über die Natur, ‘die die Wißbegierde des Lesers reizen, ohne sie zu ermüden und ohne seine Aufmerksamkeit zu sehr anzustrengen’. Gellert spricht bei dieser Gelegenheit den Wunsch nach ‘einem recht schönen Naturcatechismus für die Welt’ aus. Statt der vielbändigen Werke eine kleinere Schrift, mit dem lebhaften Geiste eines Fontenelle und dem gottseligen Herzen eines Derham geschrieben. Daß dieser Aufruf in Holland nicht ungehört verklang, zeigt Martinet's Catechismus der NatuurGa naar voetnoot1), dessen Verfasser Gellerts Wunsch in einem Vorwort ausdrücklich erwähnt. Die Moral braucht nicht trocken zu sein, sie kann auch eine lächelnde Miene annehmen und wird dann umso besser gefallen. Zu den Schriften, in denen dieses der Fall ist, zählt Gellert Die Charaktere des La Bruyère, die Maximen des | |
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Herrn von Rochefoucault und der Marquisin de la Sable. Spaldings Bestimmung des Menschen, Rabeners Satiren, Thomas Abbts Vom Verdienste gehören gleichfalls hierher. Gellerts Urteil über dieses letzte Werk dürfen wir nicht unerwähnt lassen. Ihm scheint, daß Montesquieu zu sehr der Held des Verfassers gewesen ist, ‘hingegen weiß er (Abbt) den Rousseau mit seinem Emile glücklich zu demütigen’. Die scharfsinnigen Betrachtungen über den Wert der Verdienste des vernünftigen Menschen und Bürgers werden nach Gebühr gelobt, dennoch hätte Gellert diese Verdienste gerne öfter im Lichte der Religion betrachtet gesehen. Auch Abbts Stil kann keine Gnade finden, manche Stelle ist sogar dunkel und rätselhaft. Unbedingten Beifall ernten hingegen Cramers moralische Abhandlungen und die berühmten Bremischen Beiträge. Diese Zeitschrift bildet dann den Übergang zu einer kurzen Besprechung der moralischen Wochenschriften. Dem englischen Spectator von Addisson und dem Guardian Steeles wird ihr günstiger Einfluß auf Herz und Sitten nachgerühmt: ‘Wenn ich höre, daß ein Jüngling den Zuschauer gern liest, so sehe ich ihn schon mit Vertrauen an.’ Zum Schlusse folgen dann die deutschen Nachahmungen: Schlegels der Fremde, Cramers der Nordische Aufseher und Cronegks der Freund. Die letzte Abteilung ist überschrieben Moralische Gedichte. Zu den besten dieser Art, in denen Verstand, Witz und Herz aufs glücklichste zusammenarbeiten sind Youngs Nachtgedanken und Thomsons Jahreszeiten zu zählen. Nach Hallers und Hagedorns Lehrgedichten und Racines Gedichten von der Religion kommen gute prosaische Gedichte an die Reihe. Als solche gelten Richardsons Clarissa und Grandison. | |
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Für Richardson schwärmte Gellert ganz besonders, schöne Stunden hatte er bei dieser Lektüre verweint und ihm widmet er die Verse: Die Worte, die er schuf, wird keine Zeit verwüsten,
Sie sind Natur, Geschmack, Religion,
Unsterblich ist Homer, unsterblicher bei Christen
Der Brite Richardson!
Zu den ‘Übungen der Religion’ empfiehlt Gellert noch die ‘heiligen Reden’ eines Mosheim, Jerusalem, Spalding, Saurin u.s.w., während für die niedre Welt, deren hier auch gedacht wird, die Sittenlehre des Sirach und Die ganze Pflicht des Menschen besonders geeignet erscheint. Dieses letzte Werk wurde von einem unbekannten Engländer geschrieben und scheint sehr beliebt gewesen zu sein. Mit einer warmen Empfehlung der Bibel schließt Gellert die Reihe seiner moralischen Schriften. Zeigt das Vorige die Sorge Gellerts für das moralische Wohlbefinden seiner Studenten, bei fortgesetzter Lektüre macht man die erfreuliche Entdeckung, daß dieser gewissenhafte Lehrer der Moral keineswegs ein Pedant, sondern ein Mann von Welt is, der auch auf eine gute Haltung des Körpers Wert legt, auf eine liebenswürdige Miene, auf anständiges Benehmen in guter Gesellschaft. Der Professor der Beredsamkeit weist seine Hörer auf das Wirkungsvolle eines guten Tones und fordert von ihnen Vernehmlichkeit und Deutlichkeit der Aussprache. Besonders Geistliche und Schulmänner sollen sich dies zu Herzen nehmen. Die äußere Erscheinung überhaupt darf nicht vernachlässigt werden. Gellert, der doch auch ein Bürger des Klein-Paris | |
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ist, das seine Leute bildet, erläutert das mit einem Beispiel, das für unsre Verhältnisse etwas auffällig ist. Ein unbeholfener junger Theologe nämlich macht sich regelmäßige Bewegungen des Körpers eigen, indem er Tanzstunden nimmt! Auch verlernt er bei diesem Tanzmeister das ‘Wie befinden Sie sich?’ mit eben dem verzogenen Munde zu sagen, mit dem er an dem Pult zu schreiben gewohnt ist. Kein Zweifel, daß der Geistliche, der sich in höheren Kreisen zu benehmen weiß, in dieser Umgebung auch für seine Ermahnungen ein willigeres Ohr finden wird! Gellert, der ein so offenes Auge für Wohlanständigkeit hat, gibt auch wertvolle Ratschläge für die beste Art zu studieren. Er regt zu selbständigem Nachdenken an, man soll nicht ohne weiteres auf das Wort des Lehrers schwören: ‘Seinen Verstand nicht zum eignen Nachsinnen gewöhnen: und ihn stets nach der Anleitung der andren stimmen, heißt sein Eigentum verlassen um betteln zu können’Ga naar voetnoot1). Vor allem soll der Studierende als den letzten Zweck seiner Tätigkeit betrachten, weiser und besser und dadurch der Welt nützlicher zu werden. Für den, der dieses aus den Augen verliert, ist alles Lesen und Denken nichts als ein üppiges Gastmahl, die Wollust unsres Geistes dadurch zu unterhaltenGa naar voetnoot2). Ähnliches findet sich in den Lehren eines Vaters für seinen Sohn, den er auf die Akademie schicktGa naar voetnoot3), wie auch in der Abhandlung: Von den Fehlern der Studierenden bei der Erlernung der WissenschaftenGa naar voetnoot4). Die Werke der Alten, deren Moral Gellert so abfällig | |
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beurteilt, werden den jungen Leuten zum täglichen Studium empfohlen. Nicht vielerlei, sondern viel sollen sie lesen und sich das Wichtigste in einem Diarium merken. Nach den Alten kommen an die Reihe die guten französischen Schriftsteller aus dem Ludwigischen Zeitalter. Das Französische, die Sprache des Hofes, soll der Studierende ebensowohl beherrschen wie das Lateinische, die Sprache der Wissenschaft, daneben darf er aber die Muttersprache nicht vernachlässigen. Das Neumodische und allzu Gemächliche in den Wissenschaften rügt Gellert als Fehler des Jahrhunderts. Seinen praktischen Sinn zeigt er in der Wertschätzung geographischer, historischer und ökonomischer Wissenschaften und ‘ehe du deine gute Hand im Schreiben vernachlässigest, so lerne lieber eine Sprache weniger!’Ga naar voetnoot1) Sind diese Ratschläge für die akademische Jugend bestimmt, auch seine Gedanken über die körperliche und geistige Erziehung jüngerer Kinder gibt Gellert in den Moralischen Vorlesungen. Freilich ist bei diesen Gedanken in der Tat nur wenig Eigenes. Weitaus das meiste ist auf Locke und dessen Schüler zurückzuführen. Ebenso wie diese, Basedow z.B. in seiner Praktischen Philosophie, warnt unser Pädagoge vor Verzärtelung, besonders auch mit Bezug auf den Körper: ‘Ein gesundes Bier (!) wird dem kleinen Kinde der beste Wein, ein leichter Molken die beste Mandelmilch’Ga naar voetnoot2). Basedow wird wiederholt angeführt; dessen Ansichten z.B. über das spielende Lernen der Kleinen, seine Methode, die fremden Sprachen zu erlernen, und manches andre, das in den Philantropinen die Feuerprobe bestehen mußte, wird von Gellert eingehend erörtert. | |
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Mit den damals üblichen Methoden des Religionsunterrichts ist Gellert nicht zufrieden. Er will das Herz des Knaben bilden durch Beispiele von Tugenden und Lastern aus der profanen, besonders aber aus der biblischen Geschichte: ‘Ich fürchte, daß der Ekel gegen die Weisheit und Tugend der Religion bei vielen größtenteils von der elenden Methode, uns dieselbe in der Jugend beizubringen, herrühreGa naar voetnoot1)’. Unter dieser elenden Methode versteht er trockne und langweilige Erklärungen einer Glaubenslehre oder Auswendiglernen eines Catechismus. Wie beklagt sich Friedrich Nicolai über die unsinnigen Methoden, durch die er in seiner Jugend hatte leiden müssen und wie leicht läßt sich sein späterer Standpunkt in religiösen Dingen aus Reaktion gegen den in der Jugend erlittenen Zwang erklären! Gellert hat die schönsten Erwartungen von dem guten Beispiel. Lebensbeschreibungen eines Sokrates, eines Aristides, aber nicht weniger die eines Davids oder eines Paulus sollen die jungen Herzen zur Tugend erziehen helfen. Besonders aber auch das Beispiel des Erziehers selbst. Dieser soll für den Knaben die größte Achtung haben und in seiner Gegenwart in Gebärden, Worten und Handlungen so verfahren, als man im Beisein des vornehmsten und frömmsten Mannes tun würde. Dies schließt aber nicht aus, das Gellert namentlich bei jüngeren Kindern sich eine gute Wirkung verspricht von ‘weisen Schmerzen des Körpers!’ In die pädagogischen Fähigkeiten der natürlichen Erzieher der Kinder setzt Gellert nur geringes Vertrauen. Um so mehr erwartet er von einem Hofmeister. Die gesellschaftliche Stellung dieser verdienstvollen Männer sollte bedeutend verbessert | |
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werden, ja, Gellert denkt schon an eine Lehrkanzel der PädagogikGa naar voetnoot1). Konnten die Hörer Gellerts seine pädagogische Weisheit teils auf sich selbst anwenden, teils war sie auch für die künftigen Väter unter ihnen bestimmt. Gellert wollte ihnen eben in ihrem ganzen Leben nützen. Er weist sie auf den Wert eines aufrichtigen Freundes, rät zur Vorsicht im Verkehr mit dem andren Geschlecht, stimmt aber von ganzem Herzen in Salomos Loblied auf eine gute Hausfrau ein. Dies berührt umso angenehmer, als manche Fabel nicht gerade dazu beiträgt, das Ansehen der Frauen zu mehren. Auch die Pflichten den Verwandten gegenüber werden von Gellert erörtert und er nimmt dabei kein Blatt vor den Mund: ‘Eine parteiische Empfehlung der Blutsfreunde ist, sie mit dem gelindesten Namen zu belegen, ein frommer Betrug und wer getraut sich, diesen vor der Welt und dem Richterstuhle des Gewissens zu rechtfertigen?’Ga naar voetnoot2) Noch ist Gellert mit seinen Vorlesungen nicht zufrieden. Eine Reihe von Moralischen Charakteren soll das bisher Gesagte noch nachdrücklicher betonen; man könnte hier fast von Anschauungsunterricht in der Tugendlehre sprechen. Auch die moralischen Gedichte, die in der holländischen Ausgabe den Fabeln folgen: Der Menschenfreund, Reichtum und Ehre, Der Christ und noch einige, sind im Wesentlichen nichts andres als Bereimungen der in den moralischen Vorlesungen enthaltenen Gedanken. Wir stehen am Ende unsres Überblicks. Verlohnte es sich nun der Mühe, die Gedanken Gellerts noch einmal Revüe passieren zu lassen oder waren es in der Tat nur ‘seichte religiöse Betrachtungen und Anmahnungen?’ | |
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Uns erscheint dieses Urteil Erich Schmidts ungerecht. Wir glauben vielmehr, daß man sich, mit Hilfe dieser Vorlesungen, annähernd eine Vorstellung machen kann von einem wesentlichen Teil der Gedankenwelt des damaligen Durchschnittsgebildeten. Wurde nicht der theologische Standpunkt Gellerts, der immer zwischen Vernunft und Offenbarung vermitteln wollte, von sehr vielen Zeitgenossen geteilt? Wie mußte es den holländischen Anhängern Petrus Hofstede's in dem Sokratischen Krieg aus der Seele gesprochen sein, wenn er trotz aller Ehrfurcht vor den Alten ihre Moral verwarf! Ist nicht seine Naturbetrachtung charakteristisch für seine Zeit? Alles Erschaffene dient nur zum Nutzen und Vergnügen des Menschen und namentlich das Zweckmäßige in der Schöpfung soll zum Lobe ihres Urhebers begeistern! Gesteht nicht unser Martinet, daß Gellert ihn zu seinem so gern gelesenen Catechismus der Natuur angeregt hat?Ga naar voetnoot1) Sahen wir nicht, daß Gellert sich zum Wortführer der neuesten pädagogischen Bestrebungen machte und hat er durch seine Fabeln die Erziehung der Jugend nicht günstig beeinflußt? Zeugt es nicht von männlicher Aufrichtigkeit, wenn der sanfte Gellert, der so gern zur Geduld und Gelassenheit ermahnt, in dieser Zeit des Nepotismus, parteiische Empfehlung Blutsverwandter aufs strengste tadelt? Verteidigt er nicht, in einer Zeit schrankenloser Unsittlichkeit in den höchsten Kreisen, das heilige Recht der Ehe? ‘Was mit dem Gesetze der Vernunft und der Religion streitet, das bringe der Marschall von Frankreich oder der König in Vorschlag, es bleibt, was es istGa naar voetnoot2)’. Auch wo er als literarischer Berater auftritt, spricht Gellert | |
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nur die communis opinio seines Zeitalters aus und der moralische Standpunkt, den er bei der Beurteilung literarischer Werke einnimmt, ist eben der Standpunkt der meisten Zeitgenossen. Übrigens ist er hier nur konsequent, in den Moralischen Vorlesungen wäre eine andre Betrachtungsweise nicht am Platze. Den Moralisten haben wir behandeln wollen. Wir sahen, wie sehr dieser Moralist mitten in den geistigen Strömungen seiner Zeit steht und wie er alle geistigen Erzeugnisse von dem Standpunkt der Moral aus beurteilt. Ein ‘Moraltrompeter’ also? Nein, dazu ist seine Stimme zu sanft und bescheiden, wohl ein treuer Berater und Helfer. Das fühlten auch seine holländischen Leser heraus, hier galt es die edlen Absichten eines frommen Mannes. Daß man diese edlen Absichten hier nicht verkannte, sondern nach ihrem wahren Wert zu schätzen wußte, ehrt nicht nur Gellert, sondern auch seine Leser. |
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