Gellert und Holland
(1928)–W.J. Noordhoek– Auteursrecht onbekend
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Gellert als ÄsthetikerEs kann nicht wunder nehmen, daß der Moralist Gellert ‘bei dem Antritte der Profession’ im Jahre 1751 eine Rede hielt, selbstverständlich lateinisch, der den Einfluß der schönen Wissenschaften auf das Herz und die Sitten erörterte und, von Gellerts Freund Heyer ins Deutsche übertragen, 1756 in die Sammlung vermischter Schriften aufgenommen wurde. Gellert, dem Vermittler zwischen Kultur und Religion, mußte viel daran liegen auch den moralischen Nutzen der schönen Wissenschaften darzulegen. Es galt dabei eine Erklärung zu finden für die unumstößliche Tatsache, daß der Charakter und die Sitten mancher Künstler und Gelehrten nicht gerade als Muster aufgestellt werden können. Bevor er auf diese Frage eingeht, setzt Gellert auseinander, wie er sich überhaupt den Einfluß der Künste und Wissenschaften auf das Herz und die Sitten denkt. Wer sich, nicht etwa bloß aus Ehrgeiz, sondern mit ganzem Herzen dem Studium der Künste und Wissenschaften widme, erwerbe sich dadurch einen guten Geschmack und dieser gute Geschmack übe seinen wohltätigen Einfluß nicht nur auf das Denken, sondern auch auf den Charakter aus. Freilich wohne den Künsten und Wissenschaften keine Zauberkraft inne, die denjenigen, der sich mit ihnen befaßt, gleichsam automatisch tugendhaft mache. Die Tatsachen bewiesen das Gegenteil. Wohl aber gebe der gute Geschmack ‘unsren Tugenden einen | |||||||||||||||
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Wert und eine Anmut, die sie ohne ihn nicht haben würden’. Und nicht nur dem Dichter, dem Redner werde der gute Geschmack den richtigen Weg zeigen, jedem werde er in allen Beschäftigungen des Lebens ein treuer Gefährte sein. An einigen Beispielen aus dem Altertum wird dies erläutert. ‘Der gute Geschmack, der in Cicero's Reden herrscht, wird auch da herrschen, wenn er mit seinen Freunden von Hausangelegenheiten redet, wenn er Briefe schreibt’Ga naar voetnoot1). Läßt sich also nicht leugnen, daß die Künste und Wissenschaften das Herz und die Sitten ihrer Liebhaber häufig recht günstig beeinflussen, es bleibt noch die Frage zu beantworten: ‘woher kommen unter den Gelehrten und Künstlern so viele Ungesittete, Mürrische, Stolze, so viele Pedanten?’ Die Ursache, meint Gellert, ist leicht zu finden. Sie liegt eben in der Art und Weise, wie und in den Gründen, weshalb man sich dem Studium widmet. Diejenigen, die sich als Stubengelehrte von der Welt abschließen, werden trotz ihrer Gelehrsamkeit sich im Leben ungeschickt benehmen, sie haben eben nicht gelernt den guten Geschmack auch auf das gemeine Leben und die Gesetze des Wohlstandes anzuwenden. Andre, die bloß studieren um später mit ihrer Gelehrsamkeit prahlen zu können, werden auch den guten Einfluß ihres Studiums auf Herz und Sitten vermissen lassen. Gellert kommt zu dem Schluß, daß es sich mit dieser Angelegenheit genau so verhält wie mit den Lehren der Religion. Man könne die mit dem Verstande vollkommen gefaßt haben und dennoch ein liederliches Leben führen. ‘Nicht die Wissenschaften, sondern ihr fehlerhafter Gebrauch zeugt die übeln Sitten vieler Gelehrten’Ga naar voetnoot2). Der Lehrer der akademischen Jugend kann nicht umhin | |||||||||||||||
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nachdrücklich auf den Wert solcher Schriften hinzuweisen, ‘die für das Herz geschrieben sind’. Besonders sein geliebter Richardson wird empfohlen; gleichfalls Charakterschilderungen in Heldengedichten, Tragödien, Komödien, auch Fabeln, ‘die umso besser lehren werden, je weniger sie die Miene des Lehrers verraten’. Den besten Beweis für seine These glaubt Gellert im Altertum zu finden. Begeistert ruft er aus: ‘Gehet die Zeiten des Altertums in Gedanken durch; überall werdet ihr die schönen Künste von einer feinen Lebensart und von gesellschaftlichen Tugenden begleitet antreffen. Unter ihren Tritten sproßten, wie die Rosen unter den Füßen der Grazien, die angenehmen und liebenswürdigen Sitten Athens hervor. Mit den schönen Wissenschaften kam die Höflichkeit und Leutseligkeit nach Rom; und nie erschienen die einem Volke, wo sie nicht alsbald von den Klugen geliebt, und nach und nach von der Menge aufgenommen, ihre Annehmlichkeiten dem gemeinen Leben mitteilten, und nachdem sie die Einsichten des Volks verbessert, auch ihre Neigungen und Empfindungen edler und feiner machten’Ga naar voetnoot1). Es ist klar, daß diese Sätze den Hauptgedanken der ganzen Abhandlung enthalten und so versteht es sich auch, daß Rhijnvis Feith dieses Zitat dem ersten Band seiner Brieven over verscheide Onderwerpen voranschickte. Rhijnvis Feith und Gellert! Wir werden im Folgenden Gelegenheit haben immer mehr Berührungspunkte zwischen den beiden verwandten Geistern hervorzuheben. Auch wenn nicht eben an direkten Einfluß gedacht zu werden braucht, laufen die Anschauungen der beiden Dichter häufig parallel. Suchen wir erst Gemein- | |||||||||||||||
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sames zwischen Gellerts oben besprochener Abhandlung und den Schriften Rhijnvis Feiths. Das erlösende Wort bei beiden ist ‘der gute Geschmack’. Wiederholt, wenn er den Namen Gellerts nennt, fügt Feith hinzu: ‘der den Geschmack der Deutschen verbesserte’Ga naar voetnoot1). Der dritte Brief aus dem zweiten Band der Brieven over verscheide Onderwerpen trägt die Überschrift Over den smaak, deszelfs waardij en over de schoonheid. Auf Seite 88 heißt es da: ‘Dan, de smaak is niet alleen een gids tot het Vermaak, hij vloeit ook op de Deugd in. Hij leert ons het schoone en verkiesbare van dezelve slechts kennen, neen! maar ook gevoelen! warm, levendig gevoelen, vuurig beminnen, ijverig begeeren! Hij leert ons gewillig walgen van het afschuwelijke, laage, onharmonische der ondeugd. Waant gij, dat dit teveel aan den goeden smaak toegeschreven zij? - hoor, hoe natuurlijk Gellert dit uit denzelven afleidt, hoe volledig hij het betoogt’. Es folgt dann ein drei Seiten langes Zitat aus Gellerts Abhandlung. In denselben Briefen spricht Feith über religiöse PoesieGa naar voetnoot2): wenn man selbst das Erhabene der Religion empfindet, wenn man so glücklich und zugleich Dichter ist, dann wird es einem unmöglich sein, sein Gefühl nicht auch andren mitzuteilen. Auch wird man dann einsehen, wie sehr Gellert recht hatte, als er den Zusammenhang zwischen dem guten Geschmack und der Verbesserung der Sitten darlegte! Ebenso wie Gellert will Feith der geistlichen Poesie eine ehrenvolle Stelle zuerkannt sehen, aber ebensowenig wie jener, nur etwas von seinen Anforderungen an eine schöne | |||||||||||||||
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Form fallen zu lassen. Man muß ein Dichter sein. Für die geringe Beliebtheit der geistlichen Poesie führt Feith u.a. den nämlichen Grund an, den wir auch in Gellerts Moralischen VorlesungenGa naar voetnoot1) finden; ‘het onvoegzaam gebruik, dat men van dit voortreffelijk boek (die Bibel!) in de opvoeding der kinderen maakt’Ga naar voetnoot2). Feith verlangt von dem Dichter, daß er wirklich empfindet, was er schildert: ‘Wij beminnen in een werk van genie de gewaarwording, die de vervaardiger van hetzelve gehad heeft, niet, die hij kunstig nagebootst heeft, maar die hij gehad heeft’Ga naar voetnoot3). Es ist also nicht. mehr als folgerichtig, daß Feith an andrer StelleGa naar voetnoot4) schreibt: ‘Om een groot dichter te worden moet men beginnen met een deugdzaam mensch te zijn.’ Vor dem Christen Klopstock hatte er noch mehr Bewunderung als vor dem Dichter. Diese Auffassung stimmt wieder ganz mit den Ansichten Gellerts überein. In der noch zu besprechenden Abhandlung Über den Nutzen der Regeln in der Poesie und Beredsamkeit sagt dieser ausdrücklich, daß der Dichter sich nicht nur durch seine Poesie, sondern auch durch ein edles Herz und reine Sitten angenehm machen sollGa naar voetnoot5). Systematischen Kleinigkeiten, die von wesentlicher Bedeutung für die Religion sein sollen, ist Feith abholdGa naar voetnoot6). Er zitiert mit Bezug darauf Gellerts Der Christ: ‘Mensch, der du Christen schmähst, was ist in ihrer Lehre, Das der Vernunft ein Schimpf und Gott nicht rühmlich wäre?’ | |||||||||||||||
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Natürlich steht der deutsche Dichter mit seiner Ansicht von der moralischen Aufgabe der Künste und Wissenschaften nicht allein. Man kann ruhig behaupten, daß er bloß die Auffassung seines Jahrhunderts in ansprechender Form zum Ausdruck bringt. So vertritt z.B. Sulzer in seiner Theorie der schönen Künste (1771) auch den Standpunkt, daß die Bedeutung der Kunst nicht in einer flachen Nützlichkeit, sondern in dem erhebenden Einfluß liegt, den sie auf Geist und Gemüt ausübt. Van Alphen, damals unser bedeutendster Ästhetiker, schließt sich von ganzem Herzen dieser Meinung an. Sein Lobredner in der Zeitschrift MnemosyneGa naar voetnoot1) sagt von diesem ‘Gellert van Nederland’, daß er öffentlich verkündigte, daß Künste und Wissenschaften die Menschheit bilden und menschliche und bürgerliche Glückseligkeit fördern, wenn sie wenigstens von der Religion beherrscht werden. Van Alphen hat in der Tat diese Meinung wiederholt ausgesprochen. In der Einleitung zu seiner Übersetzung von Riedels Theorie der schönen Künste und Wissenschaften schreibt er, daß Unterricht und Ermahnung nicht der höchste Zweck der Kunst sein dürfe, sondern vielmehr ‘de beschaving der ziel’. Einfluß also im edelsten Sinne auf das Herz und die Sitten! Daß er Gellerts Abhandlung kannte, beweist eine Fußnote auf Seite LXXXI der erwähnten Einleitung. Er beschäftigt sich da mit Lord Kaimes' Introduction zu seinen Elements of Criticism, wo dieser behauptet, daß nichts den Menschen treuer seine Pflicht erfüllen lasse als eben der ausgebildete gute Geschmack. Van Alphen erinnert nun an die Art und Weise, wie Gellert diese Frage gelöst | |||||||||||||||
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hat; selbst ist er etwas vorsichtiger: zwar könne das Studium der Künste und Wissenschaften der Tugend förderlich sein, notwendig sei dieser günstige Einfluß jedoch keinesfalls. Besonders die Ausschweifungen der damaligen französischen Schöngeister veranlassen diesen Standpunkt. Daß bei Van Alphens Würdigung des von den Künsten und Wissenschaften ausgehenden günstigen Einflusses eine gute Dosis echt holländischer Nüchternheit mit unterläuft, ist unverkennbar. Künste und Wissenschaften sollen die Mußestunden ausfüllen, vor den Lastern des Müßiggangs, ja sogar vor Verbrechen bewahren, zur Arbeitsamkeit anregen u.s.w.Ga naar voetnoot1). Die Poesie ist für Van Alphen nur eine Nebenbeschäftigung, auch bei der Beurteilung seiner allerdings recht gründlichen ästhetischen Studien darf dies nicht übersehen werden. Mit seiner vollen Manneskraft steht er als Staatsmann, Historiker und Theologie mitten im Leben. Seine Schriften legen dafür ein beredtes Zeugnis abGa naar voetnoot2). Dieselbe Auffassung findet man auch bei Gellert, der am Schlusse seiner Abhandlung Wie weit sich der Nutzen der Regeln in der Beredsamkeit und Poesie erstrecke (1756) schreibt: ‘es ist wenig ein schöner Skribent zu sein, man muß auch ein Mann für Geschäfte, für den Umgang, ein Freund, ein rechtschaffener Mann sein und wie viele sind unglücklich geworden, weil sie mit Gewalt Poeten sein wollten!’ | |||||||||||||||
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Es wird Zeit, daß wir uns auch mit dieser Abhandlung Gellerts etwas näher beschäftigen. Gellerts Standpunkt ist wieder, seinem ganzen Charakter entsprechend, ein vermittelnder. Nicht die Kenntnis der Regeln allein macht zum Dichter, aber auch dem schrankenlosen Walten des Genies gegenüber ist Vorsicht geboten. Genie wird als unbedingt erforderlich vorausgesetzt. Hat man dies, so können die Regeln viel nützen, die richtige Anwendung derselben kommt auf unsre Einsicht, auf unsren Geschmack an. Was ist nun dieser Geschmack? ‘Eine richtige, geschwinde Empfindung, vom Verstand gebildet’Ga naar voetnoot1). Das Verstandeselement spielt bei Gellerts ästhetischen Betrachtungen ebenso wie bei seinen moralischen Abhandlungen eine bedeutende Rolle. Es ist eben das Bepräge seines Jahrhunderts, das sämtlichen Werken unsres Dichters aufgedrückt ist. Es kommt auf unsre Einsicht an, der Verstand muß das Gefühl auf den richtigen Weg führen. Der Dichter muß Genie, aber auch Gelehrsamkeit besitzen: ‘Ohne Wissenschaft wird ein Poet nie groß werden’Ga naar voetnoot2). Was sind eigentlich diese von vielen geschmähten Regeln, etwa die eigenwillige Erfindung irgend eines Pedanten? ‘Gute Regeln’, sagt Gellert, ‘sind Vorschriften der gesunden Vernunft, die sich auf die Natur der Sache und auf die Erfahrung gründen’. ‘Sie waren in dem Geiste großer Männer zugegen, ehe sie redeten und dichteten, wie würden wir sie sonst in ihren Arbeiten antreffen können?’Ga naar voetnoot3) Gute Regeln sind die in eine Methode gebrachte Natur, mit Pope zu reden: | |||||||||||||||
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‘Those rules of old discover'd, not devis'd,
Are nature still, but nature methodiz'd.’
Critic. v. 88.
Weshalb sollte nun der jugendliche Dichter sich nicht die Erfahrung seiner Vorgänger zunutze machen? Weshalb sollte er diese ‘Vorschriften der gesunden Vernunft’ verschmähen? Der Verstandesmensch in Gellert lehnt sich gegen diese Annahme auf. Entrüstet sagt er: ‘Es ist Stolz und Unwissenheit, sich keine Kenntnis der Regeln erwerben mögen. Es ist Undank, sich die Anmerkungen der geistreichsten Männer nicht zunutze machen wollen. Es ist Verwegenheit, sich auf sich selbst verlassen, und doch nicht leugnen können, daß die Natur in vielen Jahrhunderten nur wenige, nur etliche Geister hervorgebracht, die sie mit einer außerordentlichen und göttlichen Stärke des Verstandes, der Einsicht und des Geschmacks begabt hat. Es ist Torheit, von andren gefundene Schätze nicht brauchen wollen, in der Hoffnung, daß man sie auch finden könne. Es ist Einfalt, sich kühn auf das Wasser zu begeben und die Anweisung derjenigen, welche die Erfahrung die Vorteile des Schwimmens gelehrt hat, deswegen nicht hören wollen, weil die ersten diese Vorteile auch ohne Anleitung, und auf ihre eigne Gefahr gefunden haben’Ga naar voetnoot1). Will Gellert demnach die überlieferten Regeln mit Respekt betrachtet sehen, andrerseits warnt er vor Überschätzung: ‘Man kann die Hauptregeln der Dichtkunst wissen und ausüben und dennoch das elendeste Werk hervorbringen’Ga naar voetnoot2). Die Regeln können sogar dem Genie schaden und ‘das | |||||||||||||||
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Ängstliche in der Schreibart’ herbeiführen, wenn es dieselben, mitten in der Arbeit, zu sehr vor Augen hat: ‘Das edle Feuer des Geistes verfliegt, indem wir die Regel um Rat fragen’Ga naar voetnoot1). Was ist nun schließlich der Nutzen dieser Regeln, ‘ohne deren Kenntnis man zwar wenig oder nichts ausrichten kann’Ga naar voetnoot2), die aber doch nicht den Redner oder den Dichter machen? Was die Beredsamkeit betrifft, gewährt das Anwenden der Regeln beim Redner das Erträgliche: ‘und da wir so viel geistliche Redner nötig haben, müssen wir auch mit solchen zufrieden sein die keine Saurine, keine Mosheime sind’Ga naar voetnoot3). ‘Mit denen, die Poeten werden wollen, muß man grausamer umgehen. Die Welt kann die Poeten entbehren und mittelmäßige braucht sie gar nicht’Ga naar voetnoot4). Der dichterisch Begabte, ‘das Genie’, hat die Pflicht, die Regeln an guten Vorbildern zu studieren, er soll mit seinen eignen Versuchen sparsam sein und namentlich nicht vergessen, daß er sich mit tausend nützlichen Kenntnissen aus der Natur bereichern muß. Durch das Studium der Dichter hindurch soll der Poet zum Studium der Natur kommen. Diesem Gedanken werden wir noch häufiger begegnen, so z.B. bei Feith. In seiner Abhandlung Over het Heldendicht empfiehlt dieser die Regeln als Führer bei dem Studium der NaturGa naar voetnoot5). Obwohl Gellert und Feith beide die dichterische Begabung, das Genie oder das poetische Naturell, wie es damals hieß, als durchaus unentbehrlich betrachten, wollen sie andrerseits der günstigen | |||||||||||||||
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Wirkung guter Regeln die ihr gebührende Anerkennung nicht versagen. Beide, und auch Van Alphen steht noch auf diesem Standpunkt, sind der Meinung, daß die Regeln, die Ästhetik überhaupt, eine Art Schule für junge Dichter sein sollen. Bilderdijk ist es der zwar die Existenzberechtigung der Ästhetik durchaus eingesteht, aber mit H.W. Tydeman fragt: ‘hoe kan men kunstmatig leeren gevoelen?’Ga naar voetnoot1) Mit vollem Recht verwirft er das Verstandesmäßige, das bekanntlich bei Gellert, Feith und Van Alphen in so hohem Ansehen stand. Liest man Feith's Over het Heldendicht und danach seine Brieven over verscheide Onderwerpen, dann erinnert nicht bloß das häufige Wiederholen desselben Gedankens an Gellert, auch die Gedanken selbst stimmen oft mit denen des Meisters überein. Fordert Gellert von dem Genie Gelehrsamkeit und nützliche Kenntnisse, Feith ist derselben Meinung, obgleich er, ebenso wie Gellert, wohl einsieht, daß Kenntnisse allein nicht zum Dichter machenGa naar voetnoot2). Auch Feith's Auffassung vom Geschmack findet sich schon bei Gellert. Auf dessen Abhandlung Über den Nutzen der Regeln weist der holländische Dichter hin in einer Fußnote zu seinem Over het HeldendichtGa naar voetnoot3), wo Gellerts Rede ‘kundig en onbevooroordeeld’ heißt. Diese Rede enthält über den guten Geschmack und seine Aufgabe, das Genie vor Fehltritten zu bewahren, dieselben Gedanken, die Feith folgendermaßen ausdrückt: ‘Die Smaak, die de Mentor van de Genie zal zijn, behoort niet minderGa naar voetnoot4) | |||||||||||||||
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tot het hart, dan hij tot het verstand behoort, hij bestaat alleen in het juiste gevoel van het schoone’Ga naar voetnoot1). Der Verstand sollte auch in aestheticis ja nicht zu kurz kommen; in dieser Hinsicht, wir sahen es schon, sind Gellert, aber auch Feith und Van Alphen echte Kinder ihres Jahrhunderts. Van Alphen, wenn er in seiner Einleitung zu der Riedel-übersetzung die Berechtigung guter Regeln verteidigt, glaubt dies nicht besser tun zu können als mit den Worten Gellerts:Ga naar voetnoot2) ‘Es ist Stolz und Unwissenheit, sich keine Kenntnis der Regeln erwerben mögen u.s.w.’, die wir schon Seite 114 anführten. Auf Schritt und Tritt findet man bei Van Alphen über das Genie, den Geschmack, den Nutzen der Regeln Gedanken, die, wenn sie auch nicht immer aus Gellert entnommen sind, doch jedenfalls mit dessen Ideen übereinstimmen. Man urteile selbst: ‘De Genie’Ga naar voetnoot3), sagt Van Alphen, ‘is de voorraadschuur, waarin de idealen voor de schoone voortbrengsels opgesloten liggen. Maar de hand, die deze idealen polijst, er het gedrogtelijke uit wegneemt en zoo tot een schoon geheel vormt, is eigenlijk de genie niet, maar het oordeel en de smaak, deze nu worden zekerlijk verfijnd en verbeterd door de theorie, vooral als die wijsgeerig behandeld wordt en inzoover is het zeker, dat een kunstenaar van genie alleen, minder is dan hij, die genie en smaak samenvoegt.’ Ganz diesem Gedanken entsprechend behauptet Van Alphen, daß Shakespeare viel größer gewesen wäre, wenn er Pope und Addison zu seinen intimen Freunden gezählt hätteGa naar voetnoot4). Mit Gellert legt Van Alphen viel Wert | |||||||||||||||
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darauf, daß der junge Dichter seine (vorausgesetzte und unentbehrliche) poetische Begabung durch fleißiges Studium der Naturwissenschaften, der Geschichte und des Altertums zur Entwicklung bringe. Besonders die Philosophie und Psychologie empfiehlt Van Alphen, der von einer Verbindung dieser beiden Wissenschaften mit der Poesie für beide Teile großen Nutzen versprichtGa naar voetnoot1). Freilich fügt er seufzend hinzu: ‘Met zulk een beoefening der schoone wetenschappen heeft men hier te lande tot hier toe weinig op gehad.’ Der ‘Gellert van Nederland’ erwartet, ebenso wie sein deutsches Vorbild, großen Nutzen von den Regeln für mittelmäßig Begabte. Auch darin ist er mit Gellert einverstanden, daß die Mittelmäßigkeit in der Poesie vom Übel sei, er drückt sich allerdings etwas vorsichtiger aus: für mittelmäßige Genien ist in der Poesie fast kein PlatzGa naar voetnoot2). Eine Nation muß zufrieden sein, wenn sie in einem Jahrhundert zwei oder drei gute Dichter, in jeder Gattung, aufweisen kann. Anders liegt die Sache bei Rednern, Bildhauern, Malern, deren ein Volk in weit größerer Anzahl bedarf. Bei mittelmäßiger Veranlagung können diese durch die Regeln wenigstens Erträgliches leisten. Wenn der gute Geschmack in einem Volk keine Pflege findet, so schadet das demselben, auch in der Wertschätzung andrer Staaten. Als Gellert den Geschmack der Deutschen verbessert hatte, errang sich die deutsche Dichtkunst, auch im Ausland, den ihr gebührenden RuhmGa naar voetnoot3). Ein merkwürdiges Gegenstück zu Schillers begeistertem Aufruf an die Künstler: Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,
Bewahret sie!
Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!
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findet sich in Van Alphens mehr als nüchterner BesprechungGa naar voetnoot1) der Gefahr, oder vielmehr des Schadens, der einem Volk aus einem schlecht entwickelten Geschmack erwachsen kann. Steht der Geschmack bei den Nachbarstaaten auf einer höheren Stufe, dann werden diese die Produkte eines schlechten Geschmacks nicht kaufen und eine bessere Bezugsquelle suchen. Wenn dieses Mittel bei dem handeltreibenden Holländer nicht verfing, dann sollte man ihn lieber gar nicht mit ästhetischen Studien belästigen! Gellert hatte über den Einfluß der Künste und Wissenschaften auf das Herz und die Sitten gesprochen, Van Alphen erwartet von einem schlechten Geschmack sogar materiellen Nachteil. Das sollte sich der holländische Kaufmann merken! Eine Frage, die Gellert als Professor der Poesie und Beredsamkeit besonders interessieren mußte, war: Wie soll sich der angehende Dichter den Alten gegenüber verhalten? ‘Auf hohen Befehl’ seines Kurfürsten hielt er denn auch am 12. Oktober 1767 eine VorlesungGa naar voetnoot2): Von den Ursachen des Vorzugs der Alten vor den Neuern in den schönen Wissenschaften, besonders in der Poesie und Beredsamkeit. Trotz des Einspruchs einzelner nimmt Gellert als feststehend an, daß die Werke der Alten vor denen der neueren Dichter den Vorzug verdienen. Er will bloß die Ursachen dieses Vorzugs aufspüren und auf ihren Wert hin prüfen. Zunächst betrachtet Gellert es als eine Tatsache, daß die Alten die schöne Natur selbst nachahmten, die Neueren dagegen die Werke der Alten, also Kopien der Natur. Dann schreibt der Verteidiger von dem Nutzen der Regeln, daß eben diese Regeln | |||||||||||||||
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dem neueren Dichter eine schwere Last seien, so schwer, daß er darüber versäume selbst Genie zu haben. Merkwürdiges Versäumnis! Die Absicht ist übrigens deutlich; Gellert warnt vor ‘knechtischer Nachahmung der Alten.’ Young, dessen Nightthoughts von Gellert in den Moralischen Vorlesungen empfohlen werden, schrieb als hochbejahrter Greis Ähnliches in seinen Conjectures on original Composition (1759): ‘Wer die Natur nachahmt, ist “originell”, wer sich einen Dichter zum Vorbild nimmt, ist ein Nachahmer, der aber von seinem Vorbild lernen kann, wie er der Natur folgen soll, - nicht das “was” entscheidet, sondern das “wie”! Dive deep into thy bosom, know thyself and reverence thyself.’ Gellert mag diese Schrift wohl gekannt haben. Als andre ‘Ursachen’ nennt er noch:
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Vergleicht man nun mit diesem Überblick über Gellerts Abhandlung die diesbezüglichen Schriften Feith's, dann ist die Übereinstimmung unschwer zu zeigen. Schon in seiner preisgekrönten Studie über das Epos nennt Feith in einer Fußnote Gellerts ‘schoone verhandeling’Ga naar voetnoot2). Er verbreitet sich da über die richtige und falsche Nachahmung der Alten und sieht in der letzteren die Ursache, weshalb es so wenig gute Heldengedichte gibt. Allgemein verbreitet ist die Ansicht, daß die Alten nun einmal das non plus ultra gegeben haben, die Neueren versuchen es nun mit sklavischer Nachahmung und infolgedessen bleiben sie unter dem Original. Die richtige Nachahmung sieht Feith, ebenso wie Gellert, und vor diesem schon Young, darin, daß der neuere Dichter | |||||||||||||||
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von den Alten lernt der Natur zu folgen. Dann verspricht Feith dem modernen Poeten noch größeren Erfolg als Gellert, der nur von einem den Alten Gleichen sprach. Feith glaubt, daß der Moderne, der bei den Alten in die Schule gegangen ist, diese oft übertreffen wird, weil er, wenn das Wesentliche den Anforderungen der Alten entspricht, leicht noch einige kleinen Fehler derselben, nach dem Original, der Natur, wird verbessern könnenGa naar voetnoot1). Die edle Nachahmung, wie Feith es nennt, erläutert dieser an einer andren Stelle mit einem ausführlichen ZitatGa naar voetnoot2) aus Volkmanns Reisebuch durch ItalienGa naar voetnoot3), das bekanntlich Goethe als Führer auf seiner italienischen Reise gebrauchte. Volkmann spricht da über einen Maler ohne Genie und über Zeuxis, die unter gleich günstigen Umständen eine Helena zu malen hätten. Beide dürften sich die schönsten Mädchen der Stadt zu Modellen aussuchen. Der geschickte, aber genielose Maler würde dann die einzelnen Schönheiten seiner Modelle zu einer weiblichen Gestalt vereinigen, die aber keine Helena wäre. Zeuxis würde gleichfalls seine Modelle studieren, nicht aber auf seinem Gemälde Einzelheit an Einzelheit fügen, sondern vor dem ersten Pinselstrich würde ihm das ganze Bild, zum Greifen deutlich, vor der Seele stehen. Die verschiedenen Schönheiten würden gleichsam durch seine Seele hindurchgegangen sein, oder, mit Gellert zu reden, ‘in Gedanken’ würde er sie zu einem Ganzen vereinigt haben. Es würde in der Künstler- | |||||||||||||||
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seele eine Assimilation stattgefunden haben, die sich jeder weiteren Nachforschung entzieht. Auch Feith sucht eine Antwort auf die Frage, weshalb die Werke der Alten denen der Neueren so weitaus überlegen sindGa naar voetnoot1). Er findet sie bei Mengs, dessen Gedanken über die Schönheit (1762) er offenbar in einer französischen Übersetzung gelesen hat. Mengs, dessen Werk übrigens vor Gellerts Abhandlung (1767) erschien, sucht die Ursache von der Überlegenheit der Alten, ebenso wie dieser, darin, daß die Alten die Natur selbst zum Muster nahmen, während die Neueren sich mit der Nachahmung der alten Dichtungen begnügten. Feiths Absicht ist keineswegs vor dem Studium der Alten zu warnen, im Gegenteil, er ist, mehr als jemand, überzeugt von den ‘unendlichen Vorteilen’ desselben, nur soll man auch bei den Alten nicht alles Glänzende für Gold ansehen und vor allem über ihrem Studium das der Natur nicht vergessen. Der Natur, d.h. der ‘eenvouwige natuur’, wie die Holländer sie kannten. Was der Holländer von der Poesie erwartet, beschreibt Feith unter dem Titel: Iets over den smaak der Nederlanderen in de PoezijGa naar voetnoot2). Die Poesie sollte dem von angestrengter Arbeit Ermatteten Erholung bringen. Eine Ode von Klopstock wäre zu dem Zweck nicht geeignet, dabei würde der Denkkraft zu viel zugemutet. Der Holländer will in seinen wenigen Mußestunden empfinden, ohne zu denken, und genießen, ohne sich zu bemühen. Er fordert also von dem Dichter, daß seine Werke leichtverständlich, zweitens aber, daß sie ein treues Abbild der Natur sind. Der von den Geschäften ruhende Kaufmann soll bei seiner | |||||||||||||||
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poetischen Lektüre an seinen Landsitz erinnert werden und Feith versteht so ganz den Erfolg von Poot's: ‘Hoe genoeglijk rolt het leven’.... Für erhabene, erschütternde Gedanken ist in solcher Poesie kein Platz und man kommt in dieser Weise von dem Studium der Alten wohl in ein sehr ruhiges Gewässer. Doch sind diese Ausführungen Feith's - Van Alphen wollte die Nachahmung der Alten durch das Studium der Ästhetik ersetzen - für unsre Kenntnis der damaligen Anschauungen von größter Bedeutung. Daß seine Ansichten über den Wert der Alten mit denen Gellerts parallel liefen, zeigten wir; daß damit die Berührungspunkte zwischen den beiden Dichtern nicht erschöpft sind, beweist u.a. der Abschnitt über die geistliche Poesie. |
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