Gellert und Holland
(1928)–W.J. Noordhoek– Auteursrecht onbekend
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Gellerts Bedeutung für den Deutschen BriefstilUm dem Verdienst Gellerts bezüglich der Entwicklung des deutschen Briefes gerecht zu werden, ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß bis 1740 von einer deutschen Briefsprache gar nicht die Rede sein konnte; die gebildeten Stände führten ihre Korrespondenz in der französischen SpracheGa naar voetnoot1). Daß diese von Deutschen geschriebenen, französischen Briefe sprachlich durchaus nicht immer einwandfrei waren, schließen wir aus Gellerts BehauptungGa naar voetnoot2), daß seine Landsleute lieber elende französische, als schöne deutsche Briefe schreiben wollten. Dieselbe Abhandlung in Briefform, Gedanken von einem guten deutschen Briefe, an den Herrn F.H.v.W*, der wir diese Bemerkung entnehmen, schließt mit dem Wunsche, daß ‘Herr Professor May’ noch bei seinem Vorhaben bleiben möge, eine Sammlung von guten deutschen Briefen herauszugeben: ‘damit wir auch in dieser Art den Ausländern etwas entgegenzusetzen haben’. Lessing kann nicht umhin dieses Streben, es den Ausländern gleich zu tun, zu verspotten. ‘Die Briefsteller und Heldendichter’, schreibt erGa naar voetnoot3), ‘sind jetzt (1751!) die Modeskribenten in Deutschland. | |
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Was brauchten unsre witzigen Köpfe mehr, als zu wissen, daß uns gute Briefe und Epopeen fehlen, um diesem Mangel abzuhelfen? Hätte man ihnen gleich zu Anfange dieses Jahrhunderts diesen Mangel zu Gemüte geführt, so würde unser Vaterland jetzo wenigstens soviel Briefsammlungen als Gelegenheitskarmina und ebensoviel Heldengedichte als Postillen haben. Wie stolz könnten wir alsdann gegen die Ausländer sein! Doch nur noch wenige zwanzig Jahre Geduld, meine Herren Balzacs, Bussys, Fontenells, Tassos, Glovers, Miltons etc., so werden Sie sich durch unsre G*(ellert), R*(abener), St*(ockhausen), durch unsre B*(odmer), N*(aumann) und von Sch*(önaich) verdunkelt sehen’. Dieser Spott Lessings, der durch das Erscheinen eines, nach strengster Wolffischer Logik aufgebauten, BriefstellersGa naar voetnoot1) hervorgerufen wurde, vermag nicht das Streben Gellerts lächerlich zu machen. Dieses Streben, das nur im Rahmen seiner Zeit gebührend gewürdigt werden kann, entspricht ganz, und zwar nach mehr als einer Seite, dem Gellertschen Charakter. Erstens kann man von dem vernünftigsten aller deutschen Gelehrten nicht anders als einen ‘natürlichen’ Brief erwarten und zweitens trifft uns auch hier wieder die Tatsache, daß Gellert ‘einer im Flusse befindlichen Bewegung den wirkungsvollsten Ausdruck gibt’Ga naar voetnoot2). Er stand nämlich mit seiner Forderung eines natürlichen Briefstils nicht allein. Hatte doch Frau Gottsched ihre Freundschaftlichen Briefe schon 1746 erscheinen lassen und darin mit | |
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Glück den modernen französischen Briefstil nachgeahmt. Das Klare, Fließende dieses Stils wurde auch für Gellert vorbildlich. Darf Gellert nicht als der erste gelten, der den deutschen Briefstil zu bessern suchte, wohl bleibt ihm das Verdienst, seine Gedanken über diesen Gegenstand in der gewohnten klaren, leichtfaßlichen Weise ausgesprochen zu haben. Es müssen hier zwei Abhandlungen genannt werden. Die erste, kürzere, erwähnten wir schon: Gedanken von einem guten deutschen Briefe, an den Herrn F.H.v.W. Dieser zehn Seiten zählende Brief erschien 1742 in den Belustigungen des Verstandes und WitzesGa naar voetnoot1) und enthält schon die Grundgedanken der 1751 erschienenen Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen,Ga naar voetnoot2) die den Briefen vorangeht. Die zwei Übel, gegen welche Gellert zu Felde zieht, sind der Schwulst und die Kanzleisprache. In unerfreulicher Weise verbunden fand er die beiden vor in den damaligen Briefstellern, mit denen er streng ins Gericht geht. An einem aus NeukirchsGa naar voetnoot3) Sammlung von Musterbriefen entnommenen Beispiel zeigt er das Unnatürliche, Unwahre dieser Schreibart. Auch Friedrich der Grosze hatte seine liebe Not mit der Kanzleisprache. In seinem berühmten Gespräch mit GellertGa naar voetnoot4) fragte er diesen, ob er auch gegen den ‘verteufelten’ Stylum curiae geschrieben habe. Man bringe ihm ganze Bogen, von denen er nichts verstehe! So schlimm stand es damals um das Aktendeutsch. Daß Gellert sich die Bekämpfung dieses | |
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Übelstandes zur Aufgabe machte, kann nur dankbar anerkannt werden. Es ist aber jetzt die Frage, nach welcher Methode er eine Verbesserung des Briefstils anstrebte, m.a.W. was ist das Positive in seinen Versuchen? An erster Stelle war er sich vollkommen bewußt von der Unzulänglichkeit aller Regeln: ‘die besten Regeln sind immer noch eine unzulängliche Landkarte, aber es läßt sich doch mit einer unvollkommenen Karte besser reisen als mit gar keiner!’Ga naar voetnoot1) Zu den Regeln, die von Gellert durchaus verworfen werden, gehört die Forderung, daß jeder Brief nach einem gewissen Schema gebaut sein soll. Die Briefsteller wollten jedes Schreiben in die künstliche Form des Antezedens-Connexion-Consequens einzwängen. Dieses nun läuft der Gellertschen Brieftheorie schnurstracks zuwider. Nach Gellerts Auffassung tritt der Brief an die Stelle eines Gespräches und dementsprechend ist solch eine aufgenötigte künstliche Reihenfolge der Gedanken vom Übel. Doch steht Gellert nicht auf dem Standpunkt: schreibe, wie du sprichst! Man hat beim Schreiben mehr Zeit als beim Sprechen und daher mehr Gelegenheit seine Ausdrücke mit Sorgfalt zu wählen: ‘es wird also in einem Briefe nicht alles erlaubt sein, was im Umgange erlaubt istGa naar voetnoot2)’. Erlaubt ist z.B. nicht, was Gellert die zu natürliche Schreibart nennt, im Gegensatz zu der unnatürlichen Ausdrucksweise, von der schon oben die Rede war. ‘Die zu natürliche Schreibart bedient sich sehr leichter, aber auch sehr leerer Worte und Gedanken, sie hat wie das Wasser keinen Ge- | |
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schmack, sie ist deutlich, aber man schläft bei ihrer Deutlichkeit ein.’Ga naar voetnoot1) Was sollen nun aber junge Leute und ‘das Frauenzimmer’, für die Gellert seine Abhandlung ‘insonderheit’ schrieb, tun um zu einem guten Briefstil zu gelangen? Hier gibt er den Rat, den er späterGa naar voetnoot2) bei der Besprechung des verhältnismäßigen Nutzens der Regeln in der Beredsamkeit und Poesie wiederholen wird: Studiere, übersetze gute Vorbilder, gehe sie mit Kennern durch, sobald du aber selbst schreibst, vergiß die Exempel, ahme sie nicht knechtisch nach, sondern folge deinem eigenen Naturell!Ga naar voetnoot3) Den Kern von Gellerts Gedanken enthält schon seine erste Abhandlung: ‘Wer gut schreiben will, muß gut von einer Sache denken können. Wer seine Gedanken gut ausdrücken will, muß die Sprache in der Gewalt haben. Das Denken nun lehren uns alle Briefsteller nicht’Ga naar voetnoot4). Dasselbe sagt Gellert in der zweiten Schrift, wo er empfiehlt sich der freiwilligen Folge seiner Gedanken zu überlassen. Er fügt aber vorsichtig hinzu: ‘Wir setzen einen gesunden Verstand zum voraus. Diesen kann man niemanden in einer Regel beibringen’Ga naar voetnoot5). Der gesunde Menschenverstand bekommt, hier übrigens mit Recht, wieder die ihm gebührende Ehre. Daß man sehr schöne Briefe schreiben kann, ohne daß man eine Ahnung von Regeln hat, beweisen die ‘Frauenzimmer’. Gellert bestätigt ihnen ausdrücklich, daß sie oft natürlichere Briefe schreiben als die ‘Mannspersonen’. Er erklärt das dadurch, daß | |
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die Frau lebhafter und zarter empfindet als der Mann. Ihr Gefühl für Harmonie sei besser entwickelt und das unterstütze sie beim Denken und SchreibenGa naar voetnoot1). Neben den klassischen und französischen Vorbildern empfiehlt Gellert - wie könnte man anders erwarten? - die Briefe in Richardsons Romanen. ‘Diese Meisterstücke des Witzes verdienen unter den Briefen eine ebenso vorzügliche Stelle, als unter den Romanen’Ga naar voetnoot2). Bevor wir uns aber näher mit Gellerts eigenen Briefen beschäftigen, sei erst noch erwähnt, daß er den jungen Leuten und Damen, für die er seine Anleitung zuvörderst schrieb, deshalb so sehr die Bedeutung eines wohl stilisierten Briefes ans Herz legte, weil Verstand und Charakter des Verfassers sich aus seinen Briefen manchmal aufs deutlichste zeigen. Hat Gellert hier zweifelsohne recht, ebenfalls muß man ihm beistimmen, wo er Sorgfalt mit Bezug auf die Sprache empfiehlt. ‘Gut und richtig schreiben, wenn man sich einmal dazu gewöhnt hat, kostet nicht mehr Mühe, als schlecht schreiben’Ga naar voetnoot3). Und sollte sich nicht besonders in unsrer Zeit mancher Studierte Gellerts nüchterne Weisheit zunutze machen: ‘Schlechte Briefe schreiben und studiert haben, das macht dem Studieren nicht viel Ehre’?Ga naar voetnoot3) Auch liegt die Sache hier wesentlich anders, als bei den Regeln, die angehenden Dichtern empfohlen werden. Läßt sich allerdings nicht leugnen, daß es auch eine natürliche Begabung fürs Briefeschreiben gibt, diese Veranlagung spielt hier doch eine weit untergeordnetere Rolle als bei dem jungen Dichter. ‘Ein Redner und Poet zu werden, das steht nicht in unsrer Gewalt; aber seine Gedanken, von Dingen, die ent- | |
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weder keine Gelehrsamkeit erfordern, oder die uns bekannt sind, in einer anständigen und vernünftigen Schreibart vorzutragen, diese Geschicklichkeit können sich alle jungen Leute durch eine gewisse Übung erwerben’Ga naar voetnoot1). Hierbei wollte ihnen Gellert durch die Herausgabe seiner Briefe mit der vorangehenden Abhandlung behilflich sein. Aus Chr. F. Gellerts Leben von Joh. Andr. CramerGa naar voetnoot2) und aus Gellerts eigener Vorrede wissen wir, daß dieser nur auf Betreiben seines Freundes Rabener sich dazu entschlossen hat, Abschriften von seinen und seiner Freunde Briefen dem Druck zu übergeben und diese Sammlung mit einer theoretischen Abhandlung zu versehen. Seine Bescheidenheit und auch wohl seine Selbsterkenntnis lehnten sich dagegen auf, seine Episteln als ‘Musterbriefe’ erscheinen zu lassen. Es ist eben manches dabei, das einem weiteren Kreise kaum interessant erscheinen dürfte, wenn auch sehr vieles für die Kenntnis von Gellerts Charakter außerordentlich wertvoll ist. Die Korrespondenz mit der Demoiselle Lucius verdient hier gewiß zuerst genannt zu werden. Auch die Briefe von Freunden wie Moritz von Brühl, Cramer, Cronegk, Rabener würde man ungern vermissen. Wie kaum anders zu erwarten war, wurden die Briefe des populären Gellert mit Begeisterung aufgenommen, wozu neben der Leichtfaßlichkeit, die moralischen und religiösen Ideen, die von dem Verfasser vertreten wurden, unstreitig das Ihrige beitrugen. Sein Ziel, die Verbesserung des Briefstils, hat Gellert bis zu einem gewissen Grade erreicht. Die nach seiner Sammlung erscheinenden Briefsteller haben seine Rat- | |
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schläge verwertet und sind alle direkt oder indirekt von ihm abhängigGa naar voetnoot1). Sogar zum Schulbuche wurden die Gellertschen Briefe und wenn man diese den Schülern nicht selbst in die Hände gab, so wurden einer Anweisung zum Briefschreiben doch die Gellertschen Muster zugrundegelegtGa naar voetnoot2). Auch Erwachsene ließen sich gern von dem verehrten Professor Gellert belehren, umsomehr als das Briefschreiben in diesem Zeitalter des Freundschaftskultes zu einer liebevoll gepflegten Kunst erhoben wurde. Hatten bis jetzt die Mustersammlungen fingierter Briefe überwogen, nach Gellerts Veröffentlichung wurde ein massenhaftes Publizieren von wirklich geführten Briefwechseln ModeGa naar voetnoot3). Diese Tatsachen beweisen den durchgreifenden Erfolg von Gellerts Bestrebungen, es fehlte aber auch nicht an Stimmen, die sich gegen diesen ‘natürlichen, klaren’ Stil erhoben. Schubart z.B. redet 1762 sogar von ‘eitlem Gellertischem Gewäsch’Ga naar voetnoot4) und die Brüder GrimmGa naar voetnoot5) wollen erst recht nichts von dem Gellertschen Briefstil wissen. Gegen diese und ähnliche Äußerungen nimmt CramerGa naar voetnoot6) seinen geliebten Freund in Schutz. Gellert hat seine Briefe herausgegeben, ‘einem Freunde zu gefallen, in der Absicht andern die Notwendigkeit eines natürlichen und gefälligen Ausdrucks zu empfehlen, nicht aber mit dem Vorsatze, ein allgemeines Muster aller Briefe zu werden. Schätzbar sind | |
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die Briefe auch besonders für diejenigen, die den guten Mann zu sehen wünschen. Er selbst war weit davon entfernt, das Fehlerhafte seiner Briefe zu verkennen. Er hätte sie auch gern verbessert, wenn ihm der Zustand seiner Gesundheit solches zugelassen hätte.’ Mag letzteres seine Richtigkeit haben, auch wenn Gellert imstande gewesen wäre, eine aufs gewissenhafteste durchgefeilte Ausgabe letzter Hand erscheinen zu lassen, auch dann steht kaum zu hoffen, daß er Schubart oder einen Romantiker befriedigt hätte. Dazu sind die Geschmacksrichtungen zu verschieden. In Holland war es gewiß kein gewagtes Unternehmen auch von diesen Briefen eine Übersetzung zu veröffentlichen, verbürgte doch der Name des Verfassers dem Verleger einen genügenden Absatz. Aber auch andre als kommerzielle Erwägungen können einen Meyer oder Schoonhoven zu ihrer Ausgabe bestimmt haben. Hatte Gellert seine Angriffe auf den Schwulst und den Kanzleistil gerichtet, ein Blick in einen holländischen Brief aus diesem Zeitalter belehrt uns darüber, daß auch hier diese beiden Übel im schriftlichen Verkehr ihr Wesen trieben. Man braucht nur einen beliebigen Artikel etwa in den Vaderl. Letteroefeningen aufzuschlagen, um sofort das Umständliche, Schwerfällige als etwas Kennzeichnendes des damaligen Stiles zu empfinden. Auch insofern waren die hiesigen Verhältnisse den deutschen ähnlich, als die Bildung der höheren Stände französisch orientiert war. Sich, auch brieflich, in der französischen Sprache in eleganter Weise ausdrücken zu können, gehörte zu den Anforderungen einer guten Erziehung und seine Kenntnis der neuesten Literatur schöpfte man gern aus der bei Gosse und Pinet im Haag erscheinenden Vierteljahrsschrift Bibliothèque des Sciences et des Beaux Arts. | |
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Es ist wohl merkwürdig, aber durchaus verständlich, daß jemand, der selbst häufig in der französischen Sprache korrespondierte, der, wie kaum ein zweiter, in der zeitgenössischen, fremdländischen Literatur Bescheid wußte, sich berufen fühlte, auch auf diesem Gebiete den Landsleuten ihre Schwächen zu zeigen. Van Goens, an den Frans van Lelyveld seine mehrfach zitierten, zuweilen halb flehenden Briefe richtete, schrieb in den Nieuwe Bijdragen tot opbouw der vaderlandsche Letterkunde: Bedenkingen van den Philosophe sans fard over den staet der letteren in NederlandGa naar voetnoot1). Vor van Alphen sagte er den selbstzufriedenen Holländern harte Wahrheiten: ‘Men moet wat min bekrompen denken. En zonder iemand in 't bijzonder te kort te doen durf ik zeggen, dat wij nog nooit een tijd gehad hebben, waarin de taal geheel beschaafd, de werken van vernuft algemeen geacht, en, wat het voornaamste is, de smaak des volks recht gevestigd geweest zijn. - Dit is zeker, dat het tegenwoordig met ons vrij slecht staat, ten allen aanzichten’Ga naar voetnoot2). Auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft erreiche niemand einen Ten Kate oder Huydecoper, von der Beredsamkeit wisse man recht wenig und dann noch bloß aus Übersetzungen, die Dichter begnügten sich mit Übersetzen und Nachahmen. Van Goens sucht nach Mitteln unserer vaterländischen Literatur wieder aufzuhelfen und wünscht zu diesem Zwecke: ‘een werk, waarin de gansche Letterkunde verhandeld wordt’. Als Einleitung könnte Batteux' Werk Les beaux Arts réduits à un même principe dienen. An erster Stelle wünscht er sich eine Abhandlung über die | |
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Kanzelberedsamkeit. Er hat den Mut zu behaupten, daß nur wenige Prediger hierzulande einen richtigen Begriff von dieser Sache hätten, auch schon deshalb, weil sie auf der Universität so gut wie nichts davon gehört hätten. Überdies sehe mancher in der Beredsamkeit eine heidnische Kunst, die einer christlichen Rede nicht passen würde. Diesen Irrtum zu bekämpfen, sollte sich der künftige Verfasser der von van Goens gewünschten Abhandlung angelegen sein lassen. Als eine Art Fortsetzung dieser Schrift sähe van Goens gern eine Abhandlung über den BriefstilGa naar voetnoot1). Er erinnert an die Tatsache, daß die größten Geister unter allen Völkern, zu allen Zeiten ihre Kräfte der Kunst des Briefschreibens gewidmet haben. Es ist demnach weit gefehlt, auf diese Sache als etwas Minderwertiges herabzublicken: ‘De gemeenheid van een zaak beneemt niets van haar waardigheid’. Aus der klassischen und französischen Literatur führt van Goens die berühmtesten Briefsammlungen an, ‘bij de Duitschers, behalven Rabeners hekelbrieven, die van den grooten Gellert’. Aus der eigenen Literatur werden Hoofts Briefe mit Ehren genannt; mögen sie manchmal zu sinnreich erscheinen, die Fehler Hoofts waren die Fehler seines Jahrhunderts. Man denke nur an Huygens' Schriften. Hoofts reicher Geist ist einem seine Ufer überströmenden Flusse vergleichbar, wer wird ihn aufhalten? Dieser Reichtum zeigt sich in Hoofts Gedichten sowohl wie in seinen Briefen. Zu beachten ist aber, daß dasjenige, was in einem Gedichte schön ist, in einem Briefe zum Fehler wird. Auf diesem Wege kommt van Goens zu Gellerts Abhandlung, die er dem künftigen Bearbeiter dieses Stoffes empfiehlt und von deren Übersetzung ins Hol- | |
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ländische er sich viel Nutzen verspricht: ‘Der, welcher neulich einige von Gellerts Briefen übersetzte, hätte seine Mühe lieber auf die Abhandlung verwenden sollen’Ga naar voetnoot1). Sehr wahrscheinlich denkt van Goens hier an eine Briefsammlung, die 1762Ga naar voetnoot2) unter dem vielversprechenden Titel erschienen war: Schatkamer van honderd uitgekipte, critique, satirique, galante, aangename en nuttige Brieven, naar de beste Engelsche, Fransche, Hoogduitsche en andere Autheurs, dog meestendeels uit de voortreffelijke werken van den beroemden Heer C.F. Gellert. Dieses Büchlein ist in der Tat ein sonderbares Produkt. Gellert, von dem der Verleger in einer Vorrede sagt, daß er sich durch seine poetischen und andren Werke einen unsterblichen Namen ‘in het Eeuwelingschap’ erworben hat, muß hier diesen Namen hergeben um eine sonderbare Mischung von Ungleichartigem dem vertrauensvollen Leser anziehender zu machen. Man denke sich Gellerts Briefe neben der Epistel einer ‘galanten’ Dame, die einen Herrn einladet, die Beweise ihrer leidenschaftlichen Liebe in Empfang zu nehmen! Auch ‘het briefswijzige geschicht’, die Erzählung in Briefform, erwähnt van Goens; er nennt diese Briefe recht schwer für den Verfasser, aber angenehm für den Leser, weil die Personen in dieser Weise ‘stillschweigend’ ihren eigenen Charakter schildern. Richardson und besonders Rousseau gelten als Vorbilder. Hiermit schließt van Goens seine Betrachtungen über den Briefstil, die übrigen ‘Bedenkingen’ sind der moralischen Erzählung gewidmet. Er selbst schreibt, der Sitte der Zeit gemäß, gern französisch, so z.B. an RiedelGa naar voetnoot3), den Her- | |
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ausgeber der Theorie der schönen Künste, der ihm in derselben Sprache antwortet. Auch WielandsGa naar voetnoot1) Briefe an van Goens sind französisch abgefaßt. Wahrscheinlich war dem holländischen Gelehrten das Französische geläufiger als das Deutsche. Die Sprache in Verfolg (sic!) meiner Geschichte seit September 1802Ga naar voetnoot2) berechtigt durchaus zu dieser Vermutung. Kehren wir aber zu den Übersetzungen von Gellerts Briefen zurück. Im selben Jahre, in dem Kanneman seinen sonderbaren Mischmasch veröffentlichte, erschien ein BändchenGa naar voetnoot3): Honderd aartige en vermaaklijke Brieven, das ich nicht ausfindig machen konnte. In Pieter Meyers Ausgabe von C.F. Gellerts's MengelschriftenGa naar voetnoot4), die dem holländischen Publikum alles bis jetzt noch nicht Übersetzte des verehrten Autors bietet, findet sich die Verhandeling over den goeden smaak in brievenGa naar voetnoot5), mit Rücksicht auf die Kannemansche Sammlung jedoch, ohne Musterbeispiele. Ein Jahr später, 1776, erscheint bei Meyers Konkurrentin, der Firma J. van Schoonhoven und Co. in Utrecht eine neue ÜbersetzungGa naar voetnoot6) der Abhandlung nebst den Briefen. In Ihrem Vorwort begründen die Verleger ihre Ausgabe damit, daß die Holländer auf diesem Gebiete nichts wirklich Gutes haben und somit sehr des Gellertschen Unterrichts bedürftig sind. Ihre Sammlung tritt an die Stelle der Kannemanschen, die sie, mit Recht | |
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sowohl was den Stil als was die Übersetzung betrifft, sehr mangelhaft nennen. Sie haben dem Bommelschen Verleger seine Rechte abgekauft und dürfen daher mit reinem Buchhändlergewissen an die Öffentlichkeit treten. Die Sammlung von Gellerts Briefen, die seine Freunde Johann Adolf Schlegel und Gottlieb Leberecht Heyer nach seinem Tode veranstalteten, erschien hierGa naar voetnoot1) 1774, im selben Jahre wie die deutsche Ausgabe. Die Firma van Schoonhoven hatte Glück mit ihrer Brief-sammlung: vier Jahre nach der ersten Ausgabe erschien eine zweite AuflageGa naar voetnoot2), die noch gewissenhafter nach einem besseren hochdeutschen Original übersetzt worden war. Die Vaderl. Letteroefeningen geben anläßlich der erstenGa naar voetnoot3) sowohl als der zweiten AuflageGa naar voetnoot4) ausführliche Ankündigungen, in denen sie das Ziel, das der Verfasser vor Augen hatte, mit dessen eigenen Worten angeben. Von dem Nutzen dieser praktischen Methode, auch für holländische junge Leute, sind sie überzeugt; besonders die Forderung Gellerts, daß Briefe, ‘in welchen ein gewisser Affekt herrscht’, durchaus natürlich sein sollen, scheint dem Rezensenten aus der Seele gesprochen. Der betreffende Teil der Abhandlung wird mit der, diese Forderung dichterisch einkleidenden, Erzählung, daselbst abgedruckt. Auch andre Verleger als die oben genannten hatten offenbar großes Zutrauen zu der Zugkraft der Gellertschen Briefe; | |
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so besorgten die Utrechter Buchhändler S. de Waal, im Jahre 1776Ga naar voetnoot1), und A. van Paddenburg, fünf Jahre späterGa naar voetnoot2), eine holländische Ausgabe. Noch 1820 erwartete die Haarlemer Firma Wed. A. Loosjes Pz. Interesse für Gellerts Opgespoorde familiebrieven. Schon sehr früh hatte man die Regeln Gellerts praktisch angewandt in einer AnleitungGa naar voetnoot3) zum Schreiben von Handelsbriefen, wohl ein Beweis, daß man auch bei dieser Art Episteln mit dem bisher üblichen Stil nicht zufrieden war. Der einfache, klare Stil, der sich auch in Gellerts Briefen nicht verleugnete, hatte für die damaligen, ziemlich breitspurigen Holländer, seinen unwiderstehlichen Reiz. In dem Vorwort zu Feiths Brieven over verscheide onderwerpenGa naar voetnoot4) lobt dessen Kunstfreund an seinen Episteln, daß sie in der Sprache der Gebildeten und ohne Kunstausdrücke geschrieben sind, genau so, alsob man zu einem vernünftigen Frauenzimmer spräche! Deutlich zeigt sich hier, daß das Gellertsche Ideal auch für Feith gilt: ohne Aufwand von Gelehrsamkeit den allgemeinen Geschmack verbessern! Wenn auch das holländische Interesse für Gellerts Briefe zum größten Teil auf deren moralischem Inhalt beruhen mag, so berechtigt doch die große Zahl der Ausgaben gewiß zu der Annahme, daß durch diese Lektüre, auch hier, mancher zum Nachdenken über den Stil seiner Briefe angeregt wurde. |
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