Gellert und Holland
(1928)–W.J. Noordhoek– Auteursrecht onbekend
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Gellerts ‘Leben der Schwedischen Gräfin von G**’In seiner ‘entwicklungsgeschichtlichen Analyse’ dieses Romans weist Dr. Fritz BrüggemannGa naar voetnoot1) darauf hin, daß zu der Zeit, da Gellert sich mit diesem Buche an die Öffentlichkeit wagte (1747-'48), jeder ernste Kunstschriftsteller es unter seiner Würde gehalten hätte, einen Roman zu schreiben. Man dachte bei diesem Worte eben an den heroisch-galanten Roman, an Produkte wie von Zieglers Asiatische Banise. Dem Unwesen dieser ‘tollgewordenen Enzyklopädien’ hatte Gottsched, der Leipziger Literaturdiktator, ein verdientes Ende bereitet. Anstatt dieser Anhäufungen von nur in höheren Kreisen spielenden, recht unwahrscheinlichen Abenteuern bietet nun Gellert, der eben seine nach französischem Muster geschriebenen Lustspiele veröffentlicht hatte, einen deutschen bürgerlichen Familienroman, dessen Vorbild die zeitgenössische englische Literatur abgab. Dieses Vorbild war Pamela oder die belohnte Tugend, der 1740 erschienene, im engsten Zusammenhang mit den moralischen Wochenschriften stehende, Briefroman Richardsons. Die Tugend der Kammerjungfer Pamela widersteht den Nachstellungen eines Lords, sodaß dieser sich entschließt sie zu seiner rechtmäßigen Gemahlin | |
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zu machen. Gellert, der seine warme Verehrung für Richardson in den Moralischen VorlesungenGa naar voetnoot1) ausspricht, hat zunächst die Pamela ins Deutsche übertragen und dann in dem zweibändigen Leben der Schwedischen Gräfin von G*** seine Kräfte an einer Nachahmung des englischen Vorbildes versucht. Freilich entstand dabei ein Werk, das von Gellert so viel Eigenes enthielt, daß es sogar bezeichnend für seine Welt- und Lebensanschauung wurde. Ebenso wie Richardson schreibt Gellert einen Frauenund Ich-roman: die Gräfin erzählt ihre Schicksale selbst. Das typisch Gellertsche ist aber, daß die Personen über die Haltung philosophieren, die sie den wechselnden Schicksalen gegenüber anzunehmen haben. Der allzu bunte Wechsel der äußeren Ereignisse erinnert noch stark an den heroischgalanten Roman, die eingehende Erörterung seelischer Zustände und Kämpfe aber ist eine Errungenschaft des Zeitalters, in dem die psychologische Forschung zu hohem Ansehen geriet. Auch hier, wie so oft, zeigt sich in Gellert das Alte unmittelbar neben dem Neuen. Das Verwickelte und Unwahrscheinliche der Handlung kann in einem heroisch-galanten Roman kaum einen höheren Grad erreicht haben als in dem Gellertschen Werk. Der folgende Überblick beweist das. Die Gräfin, die aus Livland gebürtig ist, ist erst glücklich verheiratet; diesem Glück wird aber durch den Tod ihres Gatten ein Ende gemacht. In Begleitung eines Herrn R., eines Freundes ihres Gemahls, reist sie nach Holland um sich den Nachstellungen eines Prinzen zu entziehen, der an dem Tode ihres Gatten moralisch schuldig ist. Mit der Gräfin und ihrem Freunde reist auch Carl- | |
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son, der Sohn des Grafen und seiner Geliebten Caroline, nach Amsterdam, wo sich die beiden seiner Erziehung widmen und ihm später eine Fähnrichstelle kaufen. Eine Tochter, die Caroline dem Grafen geschenkt hatte, soll bei ihrem Onkel Andreas in Holland gestorben sein. Freilich ist die Gräfin aufs höchste bestürzt, als sie die ehemalige Geliebte ihres Gatten und dessen Kind kennen lernt, bald ist sie aber von der Tugend Carolinens überzeugt und die beiden Frauen werden Freundinnen. Nachdem die Gräfin vier Jahre lang unter dem Schutze des bürgerlichen Herrn R. in Amsterdam gewohnt hat, vermählt sie sich mit diesem selbstlosen Freund, dem sie eigentlich selbst einen Heiratsantrag macht. Die Haupthandlung wird jetzt durch die Mariannenepisode unterbrochen. Marianne ist die Tochter Carolinens, die angeblich in Holland gestorben war. Sie war aber in einem Kloster erzogen worden und hatte dieses, Carlson zu Liebe, verlassen. Die beiden leben ein Jahr lang in glücklichster Ehe und auf den Wunsch der Gräfin kommt auch Caroline aus Schweden und schließt sich dauernd der glücklichen Familie an. Caroline aber erfährt bald von ihrem aus Indien wiedergekehrten Bruder Andreas, daß ihre Tochter gar nicht gestorben ist und daß er sie unter dem Namen Marianne in einem Kloster hat erziehen lassen. Das Schreckliche der Lage wird bald allen klar: Carlson hat seine Schwester geheiratet. Furchtbar ist der Schmerz der Liebenden und Carlson freut sich über den eben erhaltenen Marschbefehl, deshalb, weil er in dem Feldzug eine Entscheidung erwartet. Bleibt er am Leben, so will er es als ein Zeichen ansehen, daß der Himmel seine Ehe billigt! Carlson stirbt bald darauf an einer hitzigen Feldkrankheit; Marianne fügt sich in ihr Schicksal mit unvermuteter Gelassenheit und nach nicht allzu langer | |
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Witwenschaft wird sie die Frau Dormunds, der Carlsons Freund gewesen war. Die glückliche Ehe nimmt aber nach etwa dreiviertel Jahr ein katastrophales Ende, Dormund gesteht in einer ernstlichen Krankheit, daß er Carlson vergiftet hat; nach seiner Genesung zieht er in den Krieg und hofft sein Leben zu verlieren, Marianne aber kommt über ihren Schmerz nicht hinweg und endet mit Selbstmord. Nach dieser Episode schreitet die Haupthandlung weiter. Die Gräfin und ihr Gatte, Herr R., ziehen mit ihrer und Carlsons Tochter von Amsterdam nach Haag, das sich Gellert als einen Seehafen denkt. Als sich die beiden mit Andreas an Bord eines Schiffes begeben wollen, das diesem Waren aus Rußland gebracht hat, wirft sich einer der Passagiere der Gräfin in die Arme: es ist der totgeglaubte Graf. Bezeichnend für Gellerts Ideal der Gelassenheit ist das Verhalten der beiden Männer. Ebenso wie Caroline zu gunsten der gesetzmäßigen Gattin zurücktrat, ebenso selbstverständlich erscheint es Herrn R., daß er auf seine Rechteverzichten muß. Er will abreisen, aber auf die gemeinsamen Bitten des Grafen und der Gräfin bleibt er in ihrem Wohnorte! Die Folge ist ein ruhiges Weiterleben im besten Einvernehmen, während auch Caroline, auf die Bitte der Gräfin, Mitglied der Familie bleibt. Als der Graf mit der Gräfin, Herr R. und Caroline nach England reisen um da ihrem Freunde Steeley, der in Sibirien der Leidensgefährte des Grafen gewesen war, einen Besuch zu machen, begegnet ihnen da der schwedische Prinz, vor dessen Nachstellungen die Gräfin geflohen war. Dieser will das Vergangene gut machen und bietet dem Grafen eine hohe Stelle an, die dieser aber zurückweist; er zieht ein ruhiges Leben dem geräuschvollen Treiben der Welt vor. Nicht lange nach der Versöhnung mit dem Prinzen erkrankt der Graf und stirbt. | |
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Als aber, nach gebührender Frist, der Prinz um die Hand der Witwe anhält, wird dieser Antrag mit den Worten: ‘Hier ist mein Gemahl!’ abgetan. Sie betrachtet es als selbstredend, daß nur Herr R. ihr zweiter Gemahl werden kann. Herr R. stirbt aber bald darauf, ‘und’, schreibt die Gräfin, ‘die Betrübnis über seinen Verlust überführte mich, wie sehr ihn mein Herz noch geliebt hatte’Ga naar voetnoot1). Dieser, nur die Hauptpunkte gebende Überblick, gibt bloß einen schwachen Eindruck von der an Verwicklungen so überreichen Handlung, die Erich SchmidtGa naar voetnoot2) ‘einen wahren Rattenkönig von Doppelheiraten, Verbrechen und Blutschande’ nennt. Überhaupt findet dieser Literarhistoriker an dem Gellertschen Romane recht wenig Lobenswertes. Dr. F. BrüggemannGa naar voetnoot3), in seiner anfangs erwähnten Arbeit, behauptet sogar, daß Erich Schmidts Verkennung dieses Werkes geradezu grotesk wäre. Unumwunden sagt SchmidtGa naar voetnoot4), daß Gellerts Versuch, einen moralischen Familienroman zu liefern kläglich gescheitert sei, daß sogar, trotz der einzelnen moralisierenden Absätze, die Handlung entschieden unmoralisch sei. Gellerts milde, zur Vermittlung geneigte Natur, verabscheut alles Harte, Gewaltsame. Konflikten geht er möglichst aus dem Wege. So erklärt sich das psychologisch doch recht unwahrscheinliche Zusammenleben des Grafen mit seiner Frau, seiner ehemaligen Geliebten und Herrn R., dem ehemaligen Gatten seiner Frau. Und diese Unwahrscheinlichkeit ist gewiß in dem Roman nur eine aus vielen. Daß der berühmte Lehrer der Moral z.B. nicht merkte, wie sonderbar es sei, | |
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daß eine edle Frau ohne irgendwelches moralische Bedenken von einem Mann zum andren geht, beweist doch wohl, daß in diesen Dingen der heutige Mensch in manchen Stücken anders denkt als der Bürger des achtzehnten Jahrhunderts. Verwirft also Erich Schmidt den Inhalt des Romans durchaus, auch die Sprache kann das Werk nicht retten. Gellert ‘verfügt nicht über die sprachlichen Mittel, gewaltige Affekte auszudrücken. Seine Äußerungen sind kraftlos und matt’; ein hartes Urteil über Gellerts Schreibart von Vosz, wo von einem unausstehlichen Wassergeschwätz die Rede ist, wird denn auch gern zitiert. Glücklicherweise stehen andre Meinungen diesem abfälligen Urteil gegenüber. ‘Gellert’, schreibt HettnerGa naar voetnoot1), ‘hat um die Läuterung und Fortbildung unsrer Sprache die allerunvergeßlichsten Verdienste; und zwar ist die mittelbare Wirkung seiner Schriften in dieser Beziehung noch wichtiger als die unmittelbare, welche er durch seine Anleitung zum Briefschreiben bezweckte.’ Darf also das Urteil Erich Schmidts über Gellerts Sprache nicht ohne weiteres gelten, auch seine Meinung über den Roman als Ganzes wird von Brüggemann durchaus verworfen. Durch eine ‘seelengeschichtliche Studie’ will er dem von den Zeitgenossen bejubelten, von einem späteren Geschlecht geschmähten Werke gerecht werden. Er versucht darzutun, daß der Gellertsche Roman ebenso gut eine Weltanschauungsdichtung ist wie etwa Goethes: Die Leiden des jungen Werther. Zunächst betont er zu diesem Zwecke den bürgerlichen Charakter des Romans. Im Gegensatz zu dem heroisch-galanten Roman, in dem der ‘politische’ Mensch Weises und Thomasius' ohne all zu viele Skrupel und ohne | |
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soziale Bedenken seine Ziele verfolgte, tritt in Gellerts Dichtung der ‘polite’ Bürger auf, dessen Handlungen von dem Streben nach ‘Tugend’ bestimmt werden. Das Ideal dieser tugendhaften Bürger, ein echt Gellertsches Ideal, ist die ‘Gelassenheit.’ Voll Zuversicht auf die Weisheit und Güte Gottes, soll sich der Tugendhafte in die Schickungen der Vorsehung fügen. Alles Extreme, auch in der Empfindung, ist vom Übel; ein ‘wohltemperiertes Gefühl’ macht den Menschen glücklich. Das moralisch Gute ist auch das Kluge, Religion und Verstand ergänzen sich. Neben dieser ‘Gelassenheit’, im Glück wie im Unglück, lobt das 18. Jahrhundert gern die ‘Großmut’: das, aus moralischen Gründen, freiwillige Aufopfern von Herzenswünschen um dadurch das Glück andrer zu ermöglichen. Ein schönes Beispiel dafür bietet die Geliebte des Grafen, Caroline, und der ‘bürgerliche’ Herr R. Beide treten zurück, einmal weil ihre Moral es fordert, dann aber auch weil ihnen das Glück des Geliebten über das eigene geht. Doch warnt Brüggemann vor zu großer Begeisterung diesen edlen Menschen gegenüber: ‘Diese Großmut ist nicht nur ein heroisches Opfer, wie sich diese Menschen in schöner Selbsttäuschung glauben machen, sondern gleichzeitig auch ein bequemes Ausweichen vor Konflikten und gewaltsamen Katastrophen, mit dem das eudaimonistische Prinzip der Gellertschen Lebensklugheit des politen Menschen zusammenhängt’Ga naar voetnoot1). Betrachten wir später den gewaltigen Abstand zwischen der Gellertschen und der Schillerschen Auffassung von der Aufgabe der Kunst, derselbe himmelweite Unterschied besteht zwischen der Großmut der tragischen Helden Schillers und der der Gellert- | |
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schen Romanfiguren. Mit Recht sagt Brüggemann: ‘Bei Schiller ist die Großmut ein Akt idealer Leidenschaft, bei Gellert ist sie die Gelassenheit eines wohltemperierten Gefühls, ist sie die Unfähigkeit zu heißblütiger Leidenschaft’Ga naar voetnoot1). Ein Irrtum wäre es, wenn man glaubte, daß Gellert sein Ideal der Gelassenheit seinen Mitbürgern etwa aufdrängen wollte. Im Gegenteil: wie so oft, spricht er auch hier einfach das tatsächliche Empfinden der Zeit aus. Wie sollte man sonst wohl den Erfolg des Romans bei den Zeitgenossen erklären? Wurde doch Johann Timotheus Hermes durch die Schwedische Gräfin zu seinen Familienromanen stark angeregt und allgemein jubelte man: ‘nun sei doch endlich ein Buch erschienen, welches Deutschlands Töchtern zur Ergötzung und mehr noch zur Veredlung des Gemütes in die Hand gegeben werden könne’Ga naar voetnoot2). Man kann nicht umhin diese Begeisterung heutzutage ‘naiv’ zu finden. Verstehen wird man diesen Jubel nur, wenn man den Gellertschen Roman mit den Produkten der Zeitgenossen, wie etwa Die Geschichte des Grafen von P. von Johann Gottlob Benjamin Pfeil vergleicht. In Holland erschien die erste Übersetzung von Gellerts einzigem Roman unter dem Titel: ‘Charlotta of de gevallen eener Zweedsche Gravinne’Ga naar voetnoot3) im Jahre 1760. Der Name des Verfassers wurde nicht genannt. Der Rezensent in den Vad. Letteroef.Ga naar voetnoot4) urteilt: ‘De geschiedenis van Charlotta wordt in een redelijk goeden stijl beschreven; de vinding is behagelijk, het verwonderlijke en waarschijnlijke gaat in dezelve zeer wel gepaard; de daarin opgeslotene zedeleer toont den invloed | |
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eener welgegronde Godsdienstigheid in voor- en tegenheden, waar toe de zedekundige aanmerkingen, hier en daar in 't werkje verspreid, den Lezer geleiden; bij aldien de schrijver de gevallen een weinig langzamer had doen afloopen en bij die gelegenheid de innerlijke werkzaamheden van het hart wat onderscheidenlijker ontvouwd, zou hij de voortreffelijkheid eener deugdzame gemoedsgestalte in een helderder daglicht gesteld, en daardoor zijn geschrift leerzamer gemaakt hebben.’ Die Moral des Romans hat für diesen Rezensenten offenbar nichts Anstößiges; im Gegenteil: eben dieser moralischen Tendenz wegen wird Charlotta einigen minderwertigen Romanen gegenübergestellt. Es wird auch hier wieder bewiesen, daß die Gellertsche Moral eben die Moral der Zeit war. Auch die massenhaften Unwahrscheinlichkeiten beanstandet dieser Beurteiler nicht, ‘het verwonderlijke en het waarschijnlijke gaan zeer wel gepaard’, wohl aber überstürzen sich die Begebenheiten nach seinem Geschmack zu sehr und hätte er gerne ausführlichere psychologische Erörterungen gesehen. Als vierzehn Jahre nach der Charlotta eine neue ÜbersetzungGa naar voetnoot1) erschien, brauchte der Rezensent, nachdem der Name des berühmten Verfassers bekannt geworden war, sein UrteilGa naar voetnoot2) nicht zu widerrufen. Sehr geeilt hatte es mit dieser zweiten Übersetzung nicht und die erste Ausgabe war nur noch ‘beinahe’ vergriffenGa naar voetnoot3). Auch andre Tatsachen stützen die Annahme, daß der Erfolg des Gellertschen Romans hierzulande nur ein mäßiger war. Betje Wolff, die man doch als Sachverständige ansehen kann, | |
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schreibt in dem Vorwort zum fünften Band von Willem LeevendGa naar voetnoot1) über das geringe Glück, das die Deutschen bis dahin auf dem Gebiete des Romans gehabt haben. Sie kann, zu ihrem Bedauern, nicht in Abrede stellen, daß der ehrwürdige Gellert der Verfasser der Schwedischen Gräfin sei; sie vermutet aber, und mit GrundGa naar voetnoot2), daß der berühmte Mann ‘dieses armselige Stück’ geschrieben habe zu der Zeit, daß er seine Lustspiele verfaßte, ‘die men ook niet al geeuwend uit kan leezen.’ Die Moralischen Vorlesungen und diesen Roman, sie möchte sie zu den ‘incommensurablen’ Größen zählen, denn einen größeren Abstand kann sie sich kaum denken. Erinnert man sich, daß Betje Wolff und Aagje Deken ebenso wie Gellert für die Richardsonschen Romane schwärmten, dann ist es doch höchst charakteristisch, daß die Nachahmung Richardsons bei den holländischen Schriftstellerinnen eine Sara Burgerhart (1782) zeitigt, während das Produkt der Gellertschen Begeisterung heutzutage doch nur noch im Rahmen seiner Zeit gewürdigt werden kann. Den frischen Blick auf das wirkliche Leben, der Sara Burgerhart noch jetzt zu einer fesselnden Lektüre macht, vermißt man in Gellerts Roman. Die Ereignisse folgen einander zu rasch, zu einer recht anschaulichen Schilderung läßt sich Gellert nicht Zeit. Man kann es dem Rezensenten in den Vad. Letteroef. wirklich nicht verdenken, daß das Tempo der Handlung ihm zu schnell schien. Läßt demnach die Wirklichkeitstreue des Gellertschen Romans zu wünschen übrig, der berühmte Name des Verfassers sicherte auch diesem, weniger gelungenen Werke zahlreiche Leser. So wissen wir aus den Brieven aan R.M. van GoensGa naar voetnoot3), | |
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daß dieser sein Studium des Deutschen mit der Lektüre dieses Romans anfing. Der Schreiber dieser Briefe, der Leidener Kaufmann Frans van Lelyveld, der sich wiederholt sehr für Gellert eingenommen zeigtGa naar voetnoot1), hat auf den Rat seines gelehrten Freundes auch die Schwedische Gräfin gelesen. Offenbar hat diese Lektüre ihn enttäuscht, er hofft, daß dieser Roman eine der am wenigsten gelungenen Schriften seines verehrten Gellert istGa naar voetnoot2). Konnte hier Gellert einen Zeitgenossen und Geistesverwandten nicht befriedigen, als gut ein Jahrhundert später der Leidener Professor Dr. Jan Ten Brink dem Buche seine Aufmerksamkeit widmeteGa naar voetnoot3), da war kein günstiges Urteil mehr zu erwarten. Ten Brink steht durchaus auf dem Standpunkt Erich Schmidts, dessen Buch Richardson, Rousseau und Goethe schon vierzehn Jahre vor der holländischen Schrift erschien und dem Verfasser derselben bekannt gewesen sein muß. Anders als bei dem feinen Psychologen Richardson findet Ten Brink bei Gellert ‘keine Spur von psychologischem Studium’. Auch die andren Bedenken Erich Schmidts sind dem holländischen Beurteiler aus der Seele gesprochen. Legt man sich nach dem oben über den einzigen Roman | |
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Gellerts Gesagten die Frage vor: ‘Hat das Leben der Schwedischen Gräfin von G** auf unsre Schriftsteller irgend welchen Einfluß ausgeübt, dann kann die Antwort nicht anders als verneinend lauten. Ebenso wie die Gellertschen Lustpiele war dieser Roman nicht bedeutend genug um eine anregende Wirkung auf andre Dichter aufkommen zu lassen. Liegt der kulturhistorische Wert der Lustspiele in der getreuen Schilderung damaliger Familienverhältnisse in deutschen bürgerlichen Kreisen, die literarhistorische Bedeutung des Romans ist darin zu sehen, daß seine Personen, den Schlägen des Schicksals gegenüber, eine, in ihrer Moral begründete, Haltung zeigen und über diese Haltung gleichsam Rechenschaft ablegen. Es ist Brüggemanns Verdienst, dieses gehörig hervorgehoben zu haben. Es erscheint mindestens fraglich, bei dem damaligen Tiefstand der vaterländischen literarischen Kritik, ob den zeitgenössischen Beurteilern diese wertvolle Seite des Romans aufgefallen ist. Betje Wolff, bekanntlich, konnte sich über dieses Werk nur wundern. Was aber mehr sagen will, sie machte selbst etwas Besseres. Ihre und ihrer Freundin Sara Burgerhart besaß in hohem Grade die anregende Kraft, die dem deutschen Roman versagt war. Sara Burgerhart veranlaßte Adriaan Loosjes' Historie van Mejuffrouw Susanna Bronkhorst (1806), einen sechsbändigen Roman in Briefen. Gellerts Roman geht augenscheinlich spurlos an unsrer Literatur vorbei, es war Goethe's Werther vorbehalten, auch hierzulande einer literarischen Strömung sein unverkennbares Gepräge aufzudrücken. |
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