Gellert und Holland
(1928)–W.J. Noordhoek– Auteursrecht onbekend
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EinleitungDie Protestanten des Reformationszeitalters hatten jeden Angriff auf die Autorität der Bibel mit unerschütterlicher Glaubenstreue zurückgewiesen: ‘Das Wort sie sollen lassen stahn’. Diese kraftvolle Zuversicht der eben erst zur Freiheit Gelangten hatte aber alsbald schwere Proben zu bestehen. Zuvörderst vollzog sich im eignen Lager eine verhängnisvolle Entwicklung; der begeisterte Glaube, der die Kraft zu großen Taten verliehen hatte, wurde von einer Herzenssache zu einer Angelegenheit des Verstandes, die anfängliche Begeisterung erkaltete, an die Stelle des beseligenden Gottvertrauens trat ein ängstliches Festhalten am starren System. Auf dieser Seite also Erkaltung und Erstarrung, aber auch auf der andren Seite ein Umschwung der Verhältnisse. Bis dahin hatte sich die Wissenschaft ehrfurchtsvoll vor der göttlichen Offenbarung gebeugt, jetzt aber kündigte sich eine neue Zeit an. Die gewaltigen Entdeckungen auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, namentlich das Gravitationsgesetz Newtons, führten zu der Ansicht, daß es der Wissenschaft vorbehalten sei, auch in das letzte Dunkel ihr Licht scheinen zu lassen. Jetzt wurde auch die Offenbarung, ja sogar die Möglichkeit der Offenbarung Gegenstand der Forschung. Die Vernunft wurde maßgebend, der Rationalismus hielt seinen Siegeszug. Die erste Frage, die der Rationalismus zu beantworten hatte, lautete: Wie soll das Verhältnis des Gebildeten zu der Bibel sein oder, etwas weiter gefaßt, wie verhalten sich Kultur und Religion? | |
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Voll Vertrauen auf die alles besiegende Kraft der Vernunft wurde die Lösung dieses schwierigen Problems in Angriff genommen. Um eine Versöhnung zwischen Kultur und Religion anzubahnen wurde bei der letzteren scharf unterschieden zwischen dem theoretischen und dem praktischen Teil, zwischen dem Dogma und der Moral. Auf das Praktische, auf die christliche Moral wurde das Hauptgewicht gelegt, das Dogmatische dagegen in den Hintergrund gedrängt. Die Religion wurde gleichsam denaturiert und nichts schien dem Rationalismus vernünftiger als die Übereinstimmung dieser Religion mit der Kultur. Der wahre Sachverhalt wird aufs glücklichste geschildert von Unger. In seinem Buche über Hamann, dem wir manches für diese Einleitung verdanken, schreibt er: ‘Diese Vermittlung zwischen Kultur und Religion geht zuletzt auf einen kahlen Vernunftglauben hinaus, auf jenen geschichts- und naturlosen, abstrakten Deismus, dem das Göttliche zum unlebendigen und untätigen Begriffswesen wird, der religiöse Prozeß in vernünftiges Denken und Handeln aufgeht, das Reich der frommen Innerlichkeit versinkt und mit dem spezifischen Gehalt und der charakteristischen Tatsächlichkeit des Christentums zugleich alle religiöse Substanz abhanden kommt. Statt einer Versöhnung von Kultur und Religion führt der Rationalismus lediglich zur Verkümmerung und Unterdrückung der Religion.’Ga naar voetnoot1) Schon Leibniz hatte eine Versöhnung des Rationalismus mit dem christlichen Offenbarungsglauben versucht. Dessen Wahrheiten sind, nach ihm, übervernünftig; durchaus nicht widervernünftig, sondern völlig vernunftgemäß. Besonders durch Christian Wolff, den Schüler Leibnizens, den Kant | |
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‘den Urheber des noch nicht erloschenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschland’ nennt, drang der Rationalismus in die deutsche Theologie ein. Ein Schüler Wolffs, der berühmte Hallische Professor Siegmund Jakob Baumgarten, suchte die neuen Begriffe mit den alten Anschauungen zu einer vollständigen orthodox-lutherischen Dogmatik zu verschmelzen. Von diesem Standpunkt entfernten sich Theologen wie Jerusalem, Sack und namentlich Spalding immer weiter. Als echte Rationalisten verhielten sie sich gegen den Offenbarungsgehalt des Christentums ziemlich gleichgültig, richteten aber ihr volles Interesse auf die moralische Interpretation der religiösen Grundwahrheiten und auf ein bis ins Kleinliche gehendes Studium der Natur, deren wundervolle Zweckmäßigkeit den entzückten Betrachter zur Anbetung des Schöpfers auffordern sollte. Es machte sich auch ausländischer Einfluß geltend. Der Rationalismus, dem der Sinn für Realität und, im Zusammenhang damit, für Geschichte abging, sah in dem praktischen England eine andre Geistesrichtung neben sich aufkommen, der das sinnlich Wahrnehmbare das Wesentliche war: der Sensualismus. John Locke war der Mann, dessen Gedankenarbeit auf den weiteren Verlauf der philosophischen Bewegung in England, aber auch in Frankreich, sein Gepräge drückte. Er vertrat den ‘gesunden Menschenverstand’, der alle Erkenntnis dem unmittelbaren Leben dienstbar machen möchte. Seine Ideen auf dem Gebiete der Erkenntnistheorie und der Psychologie, die später von andren weiter ausgebildet wurden, führten ihn, mit Bezug auf die Religion, deren positiver Teil ihm maßgebend blieb, zu der Forderung der Toleranz. In völliger Übereinstimmung mit der Hauptrichtung seines Geistes betonte er auch in seiner Erziehungslehre, | |
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bei der er besonders die höheren Stände im Auge hatte, den Wert des Praktischen, der Realien. Sein Empirismus führte auf ethischem Gebiete zu dem moralischen Sensualismus eines Cumberland, Shaftesbury, Hutcheson, während sein Mißtrauen gegen die abstrahierende Vernunft bei Hume zur Skepsis wurde. In Frankreich war der Boden durch Bayles Schriften für Lockes Empirismus vorbereitet. Voltaire und Montesquieu machten sich die Verbreitung seiner Gedanken zur Aufgabe, deren Wirkung sich in den Werken Condillacs, Bonnets, Helvétius' zeigt. Wollte Locke in kirchlichen Dingen Toleranz, in Frankreich entwickelte sich eine aggressive Kirchenfeindschaft. Diderot und d'Alembert, die bekannten Enzyklopädisten, der berüchtigte Materialist La Mettrie, der Verfasser des l'Homme machine, der Baron Holbach, der Autor des Système de la Nature, ‘der Bibel des Materialismus’, haben in dieser Beziehung von sich reden gemacht. In England hatte der Sinn für das Reelle zu einem Erstarken des historischen Sinnes geführt und Werke von epochemachender Bedeutung veranlaßt. Lowths Studien Über die heilige Poesie der Hebräer, BlackwellsGa naar voetnoot1) Untersuchungen über Homer nehmen neben Robertsons und Hume's Mustern pragmatischer Historik eine ehrenvolle Stelle ein. Auch in Frankreich durfte die neue Richtung sich bedeutender Vertreter rühmen; die historischen Schriften Voltaires, Montesquieus, Bossuets haben unvergänglichen Wert. Welche Folgen hatten nun diese geistigen Strömungen in Deutschland? Wir sahen schon, daß bedeutende Theologen | |
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immer weniger Gewicht auf den Inhalt der Offenbarung legten und erkennen jetzt darin die Wirkung der englischen und französischen Denker, denen das Christentum in der bisherigen Gestalt zu streng und düster erschienen war. Nicht nur, daß die Methoden der Philosophie jetzt auch auf die Offenbarung angewandt wurden, auch philologische und geschichtliche Kritik, die in Lowth und Blackwell, Robertson und Hume solche glänzenden Vertreter gefunden hatten, wurde hinfort an der Heiligen Schrift geübt. J.A. Ernesti, der berühmte Leipziger Philolog, war der erste, der bei aller persönlichen Gläubigkeit, das Prinzip aufstellte, daß bei dem Studium der Bibel dieselbe grammatische Methode befolgt werden sollte, die auch für die Profanphilologie galt. Der Göttinger Orientalist Michaelis trat in seine Spuren, während diese freiere Handhabung der biblischen Theologie bei J.S. Semler die Anfänge der historischen Bibel- und Dogmenkritik hervorrief. Radikale Eiferer wie Bahrdt und Basedow veranlaßten bald heftige Konflikte mit dem Hergebrachten. Hatte der Rationalismus im Sinne Descartes' den praktischen Sinn der Engländer nicht befriedigen können, auch in Deutschland hatten Männer wie Spener in Frankfurt und Francke in Halle sich von dieser nüchternen, verstandesmäßigen Richtung abgewandt. Die Versammlungen, in denen sie und ihre Anhänger sich durch Bibellektüre, Gesang und Gebet erbauten, hießen collegia pietatis und die frommen Besucher, bei denen das Gefühlselement sehr in den Vordergrund trat, erhielten daher den Namen Pietisten. Dieser Pietismus verlor sich nicht in verwirrende Abstraktionen, stand vielmehr mit beiden Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit und suchte sich praktisch zu | |
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betätigen. Das glänzendste Beispiel dieser praktischen Tätigkeit bietet wohl das von A.W. Francke gegründete Waisenhaus in Halle. - Auch bei dem schwäbischen Theologen Bengel kann man von einem biblisch-historischen Realismus und Empirismus sprechen. Stellt man nun diesen Pietismus mit seinem Gefühlsglauben neben den das Verstandeselement betonenden Rationalismus, vergißt man dabei nicht, daß bei letzterem die älteren dogmengläubigen Anhänger nicht mit den radikalen Eiferern von der Bahrdtschen Sorte verwechselt werden dürfen, und erwähnt man dann noch, daß sich die strenge, supranaturalistische Theologie in gewisser Ausdehnung erhalten hatte, dann gewinnt man einen Überblick über das damalige religiöse Leben. Man sieht die Vernunft die Religion bekämpfen und ein Surrogat dafür an die Stelle setzen, aber auch im andren Lager herrscht nichts weniger als Einigkeit: der dogmatische Intellektualismus ist der Gegner des formlosen Sentimentalismus, die konservative Altgläubigkeit die Feindin des neuerungsfrohen Individualismus und Subjektivismus. Reges geistiges Leben überall, freilich auch hier und da eine beängstigende Verflachung. Als erfreuliche Erscheinung muß dabei erwähnt werden, daß die geistigen Fragen in den weitesten Kreisen Gegenstand des Studiums und des Gesprächs wurden und nicht länger bloß Gelehrte interessierten. Dies erklärt sich auch dadurch, daß das philosophische Denken, besonders in England, auf dem Wege der psychologischen Forschung zu einer Schönheitslehre, einer Ästhetik, gekommen war und damit von der Philosophie eine Brücke zur schönen Literatur geschlagen hatte. So hatte Shaftesbury das Schöne mit dem Guten identifiziert, das Ästhetische mit | |
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dem Ethischen und ganz folgerichtig in der Kunst eine veredelnde Kraft gesehen. Addison in seinem berühmten Spectator schrieb Aufsätze: On Imagination, On Taste, in denen er die Phantasie die dichterische Grundkraft nannte, die freilich dem Intellekt untergeordnet sei. Hutcheson machte einen bedeutenden Schritt vorwärts, indem er das Schöne von dem Zweckmäßigen und Nützlichen bestimmt schied. Ebensowie es ein angeborenes Gefühl für Gut und Böse gibt, ebenso gibt es ein natürliches Urteilsvermögen für Schön und Häßlich. Dieses natürliche Urteilsvermögen, das Hutcheson einem sechsten Sinn verglich, nannte er den Geschmack. Das objektive Merkmal des Schönen sah er in der Einheit innerhalb der Mannigfaltigkeit. Andre Ästhetiker traten ihm ergänzend zur Seite. Burke z.B. betonte das Erhabene und Charakteristische, Harris vertrat die dynamische Richtung durch seine Lehre von der ästhetischen Wirkungskraft. Home führte diese Anschauung durch, er sah in den ästhetischen Phänomenen eine Erregung des Gefühls, deren Verlauf zum Teil von den Gesetzen der Assoziation bestimmt wird. Er unterschied das Schöne und das Erhabene als verschiedene Arten oder Grade der Gemütserregung, als sanftere und stärkere. Das seelische Leben äußert sich bei diesen Emotionen aktiv und spontan, während es sich bei den intellektuellen Prozessen mechanisch und rezeptiv verhält. In Home erreichte die antirationalistische und antiklassische Ästhetik Englands ihre Höhe. Frankreich verfolgte auch hier wieder denselben Weg wie England und schritt wie dieses von der Psychologie zur Ästhetik. Condillac bildete die empiristischen Grundgedanken Lockes zu einer umfassenden sensualistischen Theorie des Seelenlebens aus, die durch Helvétius und Diderot uz | |
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radikalen Konsequenzen weitergeführt wurde. La Mettrie der Vorleser Friedrichs des Großen, hatte schon früher den mechanistischen Materialismus in die französische Psychologie eingeführt, während Robinet den Zusammenhang des Physischen mit dem Psychischen studierte. Der Genfer Bonnet gründete seine phantastischen metaphysisch-theologischen Betrachtungen auf physiologische Studien und zeigte sich seinem Landsmann Lavater geistesverwandt. Auch der andre berühmte ‘Bürger von Genf’, Jean Jacques Rousseau, bekämpfte durch seine Gefühlsromantik den psychologischen Intellektualismus. Ebenso wie die Psychologie zeigte auch die Ästhetik in Frankreich einen Zug zum Gefühlsmäßigen. In Abweichung von Boileaus Klassizismus setzte Dubos das Wesen des künstlerischen Eindrucks in die Erregung des Gefühls und verlangte infolgedessen von dem Kunstwerk einen starken Empfindungsgehalt und bildliche Kraft. In dem ästhetischen Urteilsvermögen, dem Geschmack, sah er, ebensowie Hutcheson eine Art sechsten Sinn, der von der Verstandesfunktion durchaus zu trennen ist. Bei ihm fand sich schon die Auffassung des künstlerischen Genies im modernen Sinne. Batteux, dessen Werk in Deutschland gründlich studiert wurde, hatte die schönen Künste alle auf dasselbe Prinzip zurückführen wollen und zwar auf die Nachahmung der schönen Natur, Diderot dagegen forderte an erster Stelle naturgetreue Wiedergabe der Wirklichkeit und wurde so ein früher Vertreter des Naturalismus. Wie stand es nun mit der Entwicklung der Psychologie und Ästhetik in Deutschland? Bei Leibniz fand sich eine energetische Auffassung des seelischen Lebens als Aktivität und Spontaneität, in Wolffs Psychologie mußte sich Gefühl und Sinnlichkeit eine gering- | |
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schätzige Behandlung gefallen lassen, sie gehörten ‘dem unteren Erkenntnisvermögen’ an. Eigentlich sah man in den Gemütsbewegungen Störungen des logischen Denkens. Dieser Auffassung gegenüber entstand nun unter dem Einfluß der englischen und französischen Psychologen eine geistige Strömung, die das Sinnliche höher bewerten wollte. Namentlich G.F. Meier, der persönliche Schüler des Ästhetikers A.G. Baumgarten, und die Berliner Sulzer und Mendelssohn strebten nach der Anerkennung eines selbständigen Empfindungsvermögens, das eine Mittelstellung zwischen Erkenntnis und Willen einnehmen sollte. Die Schweizer Kunstrichter Bodmer und Breitinger hatten unter dem Einfluß von Addison, Shaftesbury und Milton diesen neueren Ansichten schon vorgearbeitet. Freilich ist dabei nicht zu übersehen, daß dieser Gedankengang, dessen Ziel das Einsetzen der Phantasie in ihre Rechte war, bei Meier, Sulzer, Mendelssohn und später Eberhard sich im Rahmen der Wolffschen Philosophie vollzog. Zu einer restlosen Lösung des Problems gelangten diese Popularsphilosophen nicht, und die Einsicht in das schöpferische Vermögen der Phantasie blieb ihnen noch verschlossen. Die Hauptlinie der Entwicklung der deutschen Ästhetik führt von den Schweizern zur Wolff-Baumgartenschen Schule und den Berliner Kunstrichtern. Bodmer kämpfte für das Recht des Wunderbaren in der Dichtung; Breitinger sah, mit Dubos, das Wesen der dichterischen Wirkung in der möglichst starken Erregung des Gemütes. Beide besaßen unstreitig tieferes Gefühl und Verständnis für die Poesie als die meisten ihrer Zeitgenossen; in ihrer Vermischung von Dichtung und Malerei aber, in ihrem Festhalten an dem Nachahmungsprinzip, in ihrer Schätzung der beschreibenden Dichtkunst | |
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und ihrem kleinlichen Moralisieren erkennt man ebensoviele Irrtümer, über die erst ein Größerer hinweghelfen sollte. A.G. Baumgarten, Professor der Philosophie in Frankfurt a.d. Oder, der das Wort ‘aesthetica’ prägte, gab auf der Basis des Wolff schen Systems eine Kunstlehre, bei der er vorzüglich die redenden Künste im Auge hatte und die er als eine Logik des unteren Erkenntnisvermögens aufgefaßt haben wollte. Sein Schüler G.F. Meier arbeitete die Gedanken des Meisters weiter aus, während Mendelssohn und Sulzer schon einer subjektivistisch-psychologischen Auffassung der Ästhetik huldigten. Für Mendelssohn, Sulzer und Lessing war Wesen und Zweck der Kunst Erhöhung der Vorstellungstätigkeit, d.h. Erregung des Empfindungsvermögens, des Gemütes. Dieser Gedanke war das Leitmotiv in Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste, (1771) die die Vereinigung der schweizerischen und Wolffschen Richtung verkörperte. Hatte schon Shaftesbury der Kunst eine veredelnde Wirkung zugeschrieben, Mendelssohn und Sulzer sahen in ihr die Vorstufe der sittlichen Freiheit. Der Gedanke, dem Schiller in seinem Gedicht Die Künstler poetischen Schwung verlieh, fand sich schon bei diesen Kritikern: es ist die gewaltige Aufgabe der Kunst, ihre Wirkungen der ethischen Erziehung der Menschheit dienstbar zu machen. Durch das Ästhetische zum Ethischen! Um dies zu erreichen mußten die von der theoretischen Kunstlehre aufgestellten Regeln auf die literarischen Produkte in Anwendung gebracht werden. Damit entstand die literarische Kritik, die zunächst von Mendelssohn und Nicolai, dann aber in genialer Weise von Lessing vertreten wurde. Es ist dabei bemerkenswert, daß die Aufklärung in dieser | |
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Beziehung gerade umgekehrt verfuhr wie die Antike. Diese abstrahierte die Regeln von den Kunstwerken, jene gab Vorschriften, die für die Künstler als Richtschnur gelten sollten. Dieses Vorschreiben von Gesetzen und Regeln ist ein kennzeichnender Zug der Zeit; nicht nur in der Kunst sollten gewisse Vorschriften beachtet werden, auch die Regeln der Moral sollten dem Leser immer wieder vorgehalten werden. Von jedem Kunstwerk erwartete man eine moralische Tendenz und dementsprechend ist die moralisierende Literatur der damaligen Zeit nahezu uferlos. Auch wenn man die ‘Moralischen Briefe’, Predigtsammlungen und ähnliches nicht in Betracht zieht, tritt die moralisierende Absicht irgend einer literarischen Erscheinung in den meisten Fällen deutlich hervor. Die beiden Richtungen der Aufklärung, der Rationalismus und der Sensualismus, haben dies gemeinsam, daß beide belehrend wirken möchten. Sie machten dazu, ebensowie der Pietismus, Gebrauch von der Literatur, die dadurch zum Spiegelbild des damaligen geistigen Lebens wurde. Natürlicherweise stand die Lehrdichtung im Mittelpunkt des Interesses; dies dauerte bis in die fünfziger Jahre. Die deutschen Dichter Brockes, Haller, Uz, Pyra, Lessing, Wieland, Dusch u.s.w. wurden dabei angeregt durch das Vorbild des berühmten Engländers Pope, dessen Lockenraub und Dunciade auch Muster für das komische und satirische Epos abgaben. Ganz dem moralisierenden Zug der Zeit entsprach die Fabeldichtung, die von den Schweizern als mustergültig empfohlen worden war und von Engländern und Franzosen in glücklicher Weise gepflegt wurde. Auch epigrammatische Poesie verschiedener Art bot die gewünschte moralische Belehrung. Von besondrer Bedeutung für die Literatur wurde die ur- | |
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sprünglich religiöse Bewegung des Pietismus dadurch, daß durch sie, dem dürren Rationalismus gegenüber, dem Gefühl, auch dem Gefühl für Poesie, eine Zufluchtsstätte bereitet wurde. Die spätere Empfindsamkeitsströmung wurzelte in diesem Pietismus, die allerdings in den vierziger und fünfziger Jahren durch englische und französische Einflüsse verstärkt wurde. Ihrer ganzen Anlage gemäß trieb der deutsche Pietismus zunächst Blüten in der religiösen Lyrik Langes, Pyras, Klopstocks, um dann bei Zinzendorf manchmal in leere Empfindelei auszuarten. Dem Wirklichkeitssinn des Pietismus, der mit seinem gesteigerten Gefühlsleben unzertrennlich verbunden war, entsprachen die Romane Richardsons und Sternes, während auch die religiöse Naturliebe Thomsons, die melancholischen Betrachtungen Youngs und die gemütvolle Kleinmalerei Goldsmiths deutschen pietistischen Stimmungen verwandt waren. Die psychologische Charakteristik und realistische Schilderung bürgerlicher Milieus zeigten, nach englischem Muster, die französischen Familienromane Marivaux' und namentlich Prévost d'Exiles' ‘Manon Lescaut’ (1731). Dieselbe Vermischung sentimentaler Psychologik und eingehender Schilderung bürgerlicher Verhältnisse zeitigte in England das bürgerliche Trauerspiel eines Lillo und in Frankreich die comédie larmoyante eines Nivelle de la Chaussée, dem Diderot mit seinem bürgerlichen Drama folgte. Fanden die englischen und französischen Produkte dieser neueren Richtung bald sehr befugte Übersetzer, z.B. Bode (Sterne und Goldsmith), Ebert (Young), Gellert (Richardson), Lessing (Diderot), auch an selbständigen Versuchen fehlte es nicht. Es spiegelte sich eben das allgemeine geistige Leben auch | |
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in der deutschen Literatur. Die psychologische Analyse und die realistische Tendenz, die den zeitgenössischen englischen und französischen Romanen ihr eigentümliches Gepräge verliehen, kennzeichneten auch die Romane Pfeils, Hermes' und Gellerts Schwedische Gräfin. Wielands lehrhafte Romane, die Produkte eines humorvollen Sensualismus, stehen künstlerisch auf einer höheren Stufe. Auch auf dramatischem Gebiete war Gellert einer der ersten Nachahmer des Neuesten. Er vertrat nämlich zuerst praktisch und theoretisch die rührende Komödie, während Lessing am Ende der sechziger Jahre das bürgerliche Drama Diderots den Deutschen empfahl und seinen Père de famille übersetzte. Es ist klar, daß die Entwicklung der Literatur im engsten Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen stand. Der Bürgerstand gewann immer mehr an Bedeutung und Einfluß und begnügte sich, auch auf literarischem Gebiete, nicht länger mit einer untergeordneten Rolle, wie etwa in der Komödie. Die Lebensfragen, die den Bürger damals beschäftigten, konnte er jetzt auch auf der Bühne, im Roman und in den so beliebten moralischen Wochenschriften behandelt sehen. Seinem Bildungsbedürfnis kam man, sowohl von rationalistischer als pietistischer Seite entgegen und das Bild, das wir von den geistigen Strömungen der Zeit zu entwerfen suchten, würde eine häßliche Lücke zeigen, wenn wir nicht auf die zahlreichen erzieherischen Schriften hinwiesen. Die Erziehung des jungen Adligen und des begüterten Bürgersohnes wurde Gegenstand des allgemeinsten Interesses. Locke in England, Rousseau in Frankreich veröffentlichten über dieses Thema grundlegende Schriften. Deutsche Aufklärer wie Basedow, Bahrdt, Salzmann, Campe suchten | |
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diese Ideen praktisch zu verwerten, während von der pädagogischen Tätigkeit eines August Hermann Francke schon eher die Rede war. Basedow war der Gründer der sogenannten Philantropine, wo die Ideen Lockes und Rousseaus sich in der Praxis bewähren sollten. Auch Bahrdt, Salzmann und Campe haben mit mehr oder weniger Glück ähnlichen Anstalten vorgestanden. Besonders Salzmann und Campe haben sich durch Schriften bekannt gemacht, die auf der Grenze der Literatur stehen, die pädagogisch Tendenz aber zu deutlich zeigen um sie ohne weiteres derselben zuzuzählen. So ist z.B. Campe's Robinson, der in viele Sprachen übersetzt wurde, ein Muster dieser Gattung, die durch das Medium einer möglichst fesselnden Geschichte der Jugend allerhand Kenntnisse beibringen wollte. Gleichfalls mustergültig und äußerst beliebt war Christian Felix Weisze's Zeitschrift Der Kinderfreund, eine Sammlung pädagogisch wertvoller Geschichten. Will man nun aus dem bisher Angeführten die Physiognomie des Zeitalters, in dem Gellert ein berühmter Mann war, bestimmen, dann kommt man zu dem Schluß, daß es hier noch wenig zu bestimmen gibt. Es ist alles noch im Flusse, man fühlt das Vordrängen einer neuen Zeit, spürt emsiges Streben und Suchen auf allen Gebieten des geistigen Lebens, bemerkt aber, daß die Klärung der Verhältnisse durch den Sieg neuer Ideen einer folgenden Periode vorbehalten bleibt. |
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