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Märchen
I.
Der Gebrauch des Wortes Märchen als Bezeiehnung für eine litterarische Form ist eigentümlich beschränkt. Die Worte Sage, Rätsel, Sprichwort sind in mehreren germanischen Sprachen zu finden; das Wort Märchen in dieser Bedeutung gibt es nur im Hochdeutschen; selbst das Niederländische, das sonst in den Bezeichnungen der Formen mit dem Hochdeutschen im allgemeinen gleichläuft, hat hier einen anderen Namen: sprookje. Das Französische benutzt eine Besonderung von conte, Erzählung: conte des fées; das Englische hat fairy-tale.
Märchen hat seine Bedeutung als Name für eine bestimmte litterarische Form eigentlich erst, seitdem die Gebrüder Grimm ihre Sammlung Kinder- und Hausmärchen nannten. Sie benutzten dabei allerdings ein Wort, das schon lange im Gebrauch gewesen war, auch für solche Erzählungen, wie sie sie sammelten. Man redet bereits im 18. Jahrhundert von Feenmärchen, von Zauber- und Geistermärchen, von Märchen und Erzählungen für Kinder und Nichtkinder, von Sagen, Märchen und Anekdoten. Musäus gibt seine Volksmärchen der Deutschen heraus, Wieland, Goethe, Tieck, Novalis benutzen das Wort in einer jedesmal anders schattierenden, aber im wesentlichen doch übereinstimmenden Weise - und dennoch sind es die Gebrüder Grimm gewesen, die das viele Vorhergehende durch ihre Sammlung zu einem einheitlichen Begriff zusammengebracht haben, so wie denn ihre Sammlung als solche grundlegend wurde für alle späteren Sammlungen des 19. Jahrhunderts und so wie die eigentliche Märchen- | |
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forschung bei sehr verschiedener wissenschaftlicher Anschauung immer noch in der Art verfährt, in der die Gebrüder Grimm begonnen haben.
Man könnte beinahe sagen, allerdings auf die Gefahr hin, eine Kreisdefinition zu geben: ein Märchen ist eine Erzählung oder eine Geschichte in der Art, wie sie die Gebrüder Grimm in ihren Kinder- und Hausmärchen zusammengestellt haben. Die Grimmschen Märchen sind mit ihrem Erscheinen, nicht nur in Deutschland sondern allerwärts, ein Ma¿stab bei der Beurteilung ähnlicher Erscheinungen geworden. Man pflegt ein litterarisches Gebilde dann als Märchen anzuerkennen, wenn es - allgemein ausgedrückt - mehr oder weniger übereinstimmt mit dem, was in den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen zu finden ist. Und so wollen auch wir, ehe wir den Begriff Märchen von uns aus bestimmen, zunächst allgemein von der Gattung Grimm sprechen.
Beim Märchen kommt es also auf die Grundbedeutung des althochdeutschen mâri und des gotischen mêrs, ‘bekannt, berühmt’, nicht mehr an, ebensowenig darauf, daß das Substantiv ‘Märchen’ eine verschlechternde Verkleinerung zu ‘Märe’, Erzählung, Bericht, Überlieferung ist und demnach eine kleine Erzählung bedeutet oder auch nur ein weitergetragenes unbestimmtes Gerücht, bei dem man im Unklaren bleibt, ob es zutrifft. Für uns kommt eine Form in Betracht, die in verschiedenen Sprachen sehr verschiedene Namen trägt, aber deren Wesen allgemeiner Anerkennung gemäß in der Grimmschen Sammlung zum Ausdruck gebracht ist.
Die Kinder- und Hausmärchen erschienen 1812. Sie stehen - ohne Fortsetzung zu sein - im engsten Zusammenhang mit einer anderen Sammlung, die einige Jahre früher erschienen war, mit Arnims und Brentanos ‘Des Knaben Wunderhorn’, das seinerseits den Strömungen des vergangenen Jahrhunderts folgt, den Lebensströmungen der Romantik, die von ‘Hunger und Durst nach der lebendigen Kraft und inneren Schönheit heimischen Volkstums’ zeugten, die weit über Deutschland hinausgingen, aber bei uns ihre Vertretung, ja Verkörperung in Herder fanden. So wie nun Arnim und Brentano die im Volkstum lebende Lyrik und Musik sammelten,
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machten sich Jacob und Wilhelm Grimm ihrerseits daran, die Volkserzählung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen niederzuschreiben.
Und doch bestand - und hier müssen wir die Dioskurenpaare auflösen - zwischen Achim von Arnim einerseits und Jacob Grimm andererseits ein sehr beträchtlicher Gegensatz in der Art, wie sie grundsätzlich von dem, was sie aufzeichneten, von Dichtung überhaupt, dachten. Dieser Gegensatz ist auch für unsere Formbetrachtung und die Grundlagen unserer Formbestimmung so wichtig, daß wir auf ihn eingehen müssen. Wir bestimmen von diesem Gegensatz aus, der in der Romantik aktuell war, unsererseits das Verhältnis von Sprache und Dichtung, zu dessen Bestimmung jeder Gegensatz in der Art, wie er zwischen Arnim und Grimm vorlag, führen muß. Gerade das Märchen verlangt eine Voruntersuchung, die zu einer grundlegenden Auseinandersetzung über Sprache und Dichtung führt und die Abschluß, aber zugleich Einleitung aller Einfachen Formen bedeutet.
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II.
In dem Briefwechsel zwischen Arnim und Jacob Grimm (Achin von Arnim und Jacob und Wilhelm Grimm. Bearbeitet von Reinhold Steig) spielt um 1811 ein Meinungskampf hin und her, den wir kurz darstellen müssen und der um die Stichworte Naturpoesie und Kunstpoesie geht. Der Gegensatz dieser Begriffe, jener ‘Lieblingsunterschied’ Jacob Grimms, existiert für Arnim nicht. ‘Nach dieser meiner Überzeugung’, schreibt Arnim (S. 110), ‘wirst Du es in mir begreiflich finden, daß ich sowohl in der Poesie wie in der Historie und im Leben überhaupt alle Gegensätze, wie sie die Philosophie unsrer Tage zu schaffen beliebt hat, durchaus und allgemein ableugne, also auch kein Gegensatz zwischen Volkspoesie und Meistergesang ...’ Demgegenüber stellt Jacob Grimm in seiner Antwort fest: ‘Die Poesie ist das was rein aus dem Gemüth ins Wort kommt, entspringt also immerfort aus natürlichem Trieb und angeborenen Vermögen diesen zu fassen, - die Volkspoesie tritt aus dem Gemüth des Ganzen hervor; was ich unter Kunstpoesie meine, aus dem des Einzelnen. Darum nennt die neue Poesie ihre Dichter, die alte weiß keine zu nennen, sie ist durchaus nicht von einem oder zweien oder dreien gemacht worden, sondern eine Summe des Ganzen; wie sich das zusammengefügt und aufgebracht hat, bleibt unerklärlich, wie ich schon gesagt habe, aber ist doch nicht geheimnisvoller, wie das, daß sich die Wasser in einen Fluß zusammenthun, um nun miteinander zu fließen. Mir ist undenkbar, daß es einen Homer oder einen Verfasser der Nibelungen gegeben habe’ (S. 116).
Ich erwähne beiläufig, daß Jacob Grimm auch Formen, die wir Kunstformen nennen, in die Volks- oder Naturpoesie hineinbezieht. Darauf kommt es jedoch hier nicht an, für uns ist die Einstellung der beiden wichtig, wie sie sich aus diesem Gegensatz ergibt.
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Aus dieser Einstellung heraus entwickeln sich im Verlaufe ihrer brieflichen Auseinandersetzung deutlich eine Anzahl Begriffsgegensätze.
Für Jacob Grimm ist Kunstpoesie eine ‘Zubereitung’, Naturpoesie ‘ein Sichvonselbstmachen’ (S. 118), die ‘neue Dichtung’ ist etwas von der ‘alten Dichtung grundsätzlich Verschiedenes’; deshalb darf an der ‘alten Dichtung’, wo wir sie finden, auch kein Tüttelchen oder kein Jota geändert werden, deshalb sind alle Umgestaltungen, zu welchem Zwecke sie auch vorgenommen werden, vom Übel, deshalb sind Übersetzungen, auch die Umschreibung in Worten der Neuzeit völlig wertlos! Wir haben hier keinen ängstlichen Philologen vor uns, der an seinem Text und den Buchstaben seines Textes klebt, sondern einen überzeugten Denker, der sich weigert, Ungleichartiges zu vermischen.
Demgegenüber Arnim - er fühlt sich persönlich etwas getroffen, denn er weiß, wie in ‘Des Knaben Wunderhorn’ manches Tüttelchen geändert und vieles hinzugefügt worden ist, das keineswegs zur ‘alten Poesie’ gerechnet werden kann. Aber auch er ist seiner Sache sicher: Volksdichtung im Sinne Grimms gibt es nicht, es gibt nur Dichter; ‘je weniger ein Volk erlebt hat, desto gleichförmiger ist es in Gesichtszügen und Gedanken; jeder Dichter, der als solcher anerkannt wird, ist ein Volksdichter ...’ (S. 134). Verfassernamen werden vergessen, gehen verloren. Selbstverständlich ist es Aufgabe des Dichters, aus dem Volke heraus zu dichten oder das, was er dichtet, dem Volke nahe zu bringen: (S. 135) ‘Ich würde es als einen Segen des Herren achten, wenn ich gewürdigt würde. ein Lied durch meinen Kopf in die Welt zu führen, das ein Volk ergriffe, aber das bleibt auch ihm anheimgestellt, ich bin mit meiner Lebensthatigkeit zufrieden, wenn auch nur wenige Menschen in meinen Arbeiten etwas gefunden, was auch sie geahndet, gesucht haben, ohne es aussprechen zu können ...’
Dem setzt sich Grimm entgegen und antwortet umgehend: ‘Glaubst Du mit mir, daß die Religion von einer göttlichen Offenbarung ausgegangen ist, daß die Sprache einen ebenso wundervollen Ursprung hat und nicht durch Menschenerfindung zuwege gebracht worden ist, so mußt Du schon darum glauben
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und fühlen, daß die alte Poesie und ihre Formen, die Quelle des Reims und der Alliteration ebenso in einem Ganzen ausgegangen ist, und gar keine Werkstätten oder Überlegungen einzelner Dichter in Betracht kommen können’ (S. 139).
Ich erinnere daran, daß Seiler in seiner Sprichwörterkunde von einer ‘romantisierenden Ansicht’ spricht, nach der Volkslied, Volksmärchen usw. ihren ‘geheimnisvollen Ursprung in den Tiefen der Volksseele’ haben sollen. Dieser Briefwechsel zeigt, wie auch die andere Ansicht, die den Dichter als schöpferische Kraft hinstellt, als romantisierend hätte bezeichnet werden können - soweit ihr Vertreter der unverdächtige Romantiker Arnim ist. ‘Kunstpoesie’ und ‘Naturpoesie’ und alles, was sich aus ihnen ergibt, sind romantisch gefaßte Begriffe des Gegensatzes, der hier vorliegt und der Tieferliegendes bedeutet.
Eine Weile ruhte der Federstreit. Arnim besuchte mit seiner jungen Frau Bettina 1811 die Brüder Grimm in Kassel. Dort bekam er die neue Sammlung zu sehen - und war begeistert. Er berichtete darüber an Brentano, er drängte auf möglichst schnelle Veröffentlichung, er übernahm später in Berlin die Verhandlungen mit dem Verleger. - Als Wilhelm Grimm nach Arnims Tode Bettina die Kinder- und Hausmärchen widmete, schrieb er: ‘Er war es, der uns ... zur Herausgabe angetrieben hatte ... Von unsern Sammlungen gefielen ihm diese Märchen am besten ...’
Indessen - die Gegensätze waren nicht überbrückt. 1812 beginnt, ausgehend von den Märchen, von neuem der Streit über die alte und neue Dichtkunst. Jacob Grimm ist erfreut, daß Arnim die Kinder- und Hausmärchen besser gefallen als die Märchenbearbeitungen von Brentano: ‘Da¿ Dir Clemens Verarbeitung nicht recht ist, freut mich sehr und ich bedauere nur seinen darauf verwendeten Fleiß und Geist; er mag das alles stellen und zieren, so wird unsere einfache, treu gesammelte Erzählung die seine jedesmal gewißlich beschämen’ (S. 219). Nun läßt er sich aber zu einem Angriff verführen: ‘Meine Ehrfurcht vor dem Epischen, das ich für unerfindlich halte, steigt täglich höher, und ich könnte vielleicht einseitig werden, und nichts anderes mehr mögen: das ist die gute reine
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Unschuld, und steht so ganz von selbst da; ihr neuen Dichter könnt mit aller Gewalt keine neue Farbe aufbringen, sondern sie blos untereinander mischen, ja ihr könnt sie nicht einmal ganz rein auftragen ...’
Das läßt sich Arnim nicht gefallen; er wirft in seiner Antwort Jacob Grimm vor, daß er die neuen Dichter nicht kenne. Nicht in dem Sinne, daß er sie nicht gelesen hätte, sondern in dem, daß er sie nicht verstehe. Dann nimmt er, obwohl er dessen Fehler sehr gut kennt, Clemens Brentano in Schutz. Brentanos Märchen sind nicht ‘etwas, das im Kinderkreise gelebt ohne weitere Verdauung unmittelbar zu den Kindern übergehen kann, sondern ein Buch, das in den Ältera die Art der Erfindsamkeit anregt, die jede Mutter, die recht gebildeten etwa ausgenommen, im Nothfalle zeigt, ihren Kindern irgend einen Umstand, dessen Reiz sich ihnen entdeckt hat, in einer längeren Erzählung zu einer dauernden Unterhaltung zu machen’ (S. 223). In dieser Anregung zur Erfindsamkeit liegt für Arnim die Bedeutung des Märchens. Wenn es uns nicht anregt, uns nicht zeigt, wie wir erzählen müssen, verliert das alte Märchen seinen Wert und seinen Reiz. Ganz scharf wird betont: ‘Fixierte Märchen würden endlich der Tod der gesammten Märchenwelt sein’ (S. 223). Der Wert des Alten bestehe überhaupt darin, daß es das Neue anregt und weiterführt - ‘die Poesie ist weder jung noch alt und hat überhaupt keine Geschichte, wir können nur etwa von ihren Äußerlichkeiten gewisse Folgen von Beziehungen angeben’ (S. 225). So arbeitet der neue Dichter zeitlos fort an dem, was der alte gedichtet hat. Erst hier kommt Arnims Standpunkt vollkommen klar heraus, jener Standpunkt, von dem aus er auch ‘Des Knaben Wunderhorn’ zusammenstellte. Das Neue ist da, es ist das Wesentliche, es soll mit allen Mitteln angeregt, weiter vervollkommnet werden - auch durch die Tradition, auch durch das Alte, das Volkstümliche.
Nicht um seiner selbst willen wird Altes gesammelt, sondern nur eben zu diesem Zweck.
Daß Grimm nun seinerseits sich getroffen fühlt, ist sehr verständlich. Er faßt Arnims Meinung in seinen Worten zusammen und sagt; ‘Eine Geschichte der Poesie gebe es also
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nicht, Unterschied zwischen Natur- und Kunstpoesie sei ein Spaß ... Damit greifst Du mir in mein Liebstes ... all meine Arbeit, das fühle ich, beruht darauf, zu lernen uhd zu zeigen, wie eine große, epische Poesie über die Erde bin gelebt und gewaltet hat, nach und nach von den Menschen vergessen und verthan worden ist, oder nicht einmal ganz so, sondern wie sie immer noch davon zehren’ (S. 234). Und nun folgt das Grimmsche poetische Glaubensbekenntnis in sechs Absätzen, das mit den Worten: ‘ich glaube’ im tiefsten Ernst anfängt und dessen erster Satz lautet: ‘Wie das Paradies verloren wurde, so ist auch der Garten alter Poesie verschlossen worden, wiewohl jeder noch ein kleines Paradies trägt in seinem Herzen ...’ (S. 235).
Ich wiederhole: dieser Streit ist identisch mit unserer eigenen begrifflichen Scheidung; die Frage, die vor mehr als einem Jahrhundert die beiden Romantiker Arnim und Jacob Grimm beschäftigt hat, ist auch für unsre Zeit von höchster Wichtigkeit, es ist die Frage nach Dichtung und Sprache. Was ich mit diesen Formbestimmungen beabsichtige, ist der Versuch, eine neue Fassung dieser beiden Gegensätze zu finden, durch eine Morphologie die Begriffe, die damals Naturpoesie und Kunstpoesie hießen und die sich für uns als Einfache Formen und Kunstformen darstellen, zu bestimmen und damit das Problem seiner Lösung näherzubringen.
Es kommt nun in dem Briefwechsel zu einer eigentümlichen Feststellung, die uns auf das Märchen zurückbringt. Arnim erwidert - er bleibt bei seinem Dichter, ja, er dreht gewissermaßen den Spieß um -: was die Gebrüder Grimm bei ihrem Märchensammeln getan haben, ist Dichterarbeit: ‘Den Gelehrten wird das Letzte, was er geschichtlich erreichen kann, nur befriedigen: der eigentliche Zuhörer des Dichters, der ungelehrte Zeitgenosse, versteht nur allein diese Vergegenwärtigung eines Allgemeinen. Ich möchte Dich nicht verwunde(r)n mit einer Behauptung und doch kann ich sie nicht vermeiden: ich glaube es Euch nimmermehr, selbst wenn Ihr es glaubt, daß die Kindermärchen von Euch so aufgeschrieben sind, wie Ihr sie empfangen habt, der bildende fort schaffende
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Trieb ist im Menschen gegen alle Vorsätze siegend und schlechterdings unaustilgbar. Gott schafft und der Mensch, sein Ebenbild, arbeitet an der Fortsetzung seines Werks. Der Faden wird nie abgeschnitten, aber es kommt nothwendig immer eine andre Sorte Flachs zum Vorschein ...’ (S. 248).
Und damit hatte Arnim getroffen, denn Jacob Grimm war ein viel zu ernster Philologe und ein zu aufrichtiger Mensch, um nicht einzusehen, daß darin etwas Wahres steckte, wenn es auch letzten Endes weder seine eigentliche Absicht noch seine tiefste Anschauung berührte. Er antwortet - es ist das letzte Zitat, das ich aus diesem Briefwechsel geben möchte-: ‘Wir kommen hier auf die Treue. Eine mathematische ist vollends unmöglich und selbst in der wahrsten, strengsten Geschichte nicht vorhanden; allein das thut nichts, denn daß Treue etwas wahres ist, kein Schein, das fühlen wir und darum steht ihr auch eine Untreue wirklich entgegen. Du kannst nichts vollkommen angemessen erzählen, so wenig Du ein Ei ausschlagen kannst, ohne daß nicht Eierweiß an den Schalen kleben bliebe; das ist die Folge alles menschlichen und die Façon, die immer anders wird. Die rechte Treue wäre mir nach diesem Bild, daß ich den Dotter nicht zerbräche. Bezweifelst Du die Treue unseres Märchenbuches, so darfst Du die letztere nicht bezweifeln, denn sie ist da. Was jene unmögliche angeht, so würde ein anderer und wir selbst großentheils mit andern Worten nochmals erzählt haben und doch nicht minder treu, in der Sache ist durchaus nichts zugesetzt oder anders gewendet’ (S. 255).
Wir halten fest und betonen, daß Jacob Grimm im Märchen eine ‘Sache’ erkannt hat, die vollkommen sie selbst bleiben kann, auch wenn sie von anderen mit anderen Worten erzählt wird. Ehe wir nun von uns aus diese ‘Sache’ als Einfache Form Märchen fassen und die Geistesbeschäftigung bestimmen, die ihr zugrunde liegt, wollen wir Umschau halten, wo die ‘Gattung Grimm’ sonst noch in der Welt des Abendlandes zu finden ist.
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III.
Ich habe es an anderer Stelle unternommen, die Geschichte des Märchens in der abendländischen Litteratur in ihrer Gesamtheit darzustellen; hier wo es um die Form geht, können wir uns mit einem Auszug begnügen. Wo bei anderen Einfachen Formen von einer Geschichte noch nicht die Rede sein kann, da besitzen wir für das Märchen genügend Daten, um wenigstens einen Teil seiner Geschichte beobachten zu können. Der tiefere Grund dieser Geschichte aber liegt in dem Zusammengehen von Einfacher Form Märchen und Kunstform. Das wird uns diesmal von einer anderen Seite her wieder zu unserem Gegensatz Sprache - Dichtung, Einfache Form - Kunstform führen.
Seit dem 14. Jahrhundert setzt in Europa eine Form der Kurzerzählung in Prosa ein, die wir gewohnt sind Kunstform Novelle zu nennen. Ausgangspunkt dieser Form scheint Toscana zu sein, jedenfalls ist die Weise, wie sie zuerst im Dekamerone des Boccaccio auftritt, für die Geschichte der Novelle maßgebend. Wir haben sie deshalb die toscanische Novelle genannt. Sie wird in der jeweiligen Landessprache geschriebeu - in bezug auf die wenigen lateinischen Beispiele können wir mit gutem Gewissen behaupten, daß Latein die Landessprache der Humanisten bedeutet.
Alsbald ergeben sich zwei Abarten der Novelle. Wir finden sie als Novellen - Sammlung und als vereinzelte Novelle. Als Novellensammlung hat sie meistens die Form des großen Vorgängers, des Dekamerone: die einzelnen Erzählungen werden durch einen Rahmen zusammengehalten, der außer vielem anderen auch zum Ausdruck bringt, wo, bei welcher Gelegenheit und von wem diese Novellen erzählt. worden sind. Daß diese Form der Rahmenerzählung älter ist als die toscanische Novelle, brauche ich nicht zu erwähnen.
Von Toscana aus verbreitet sich nun die Rahmenerzählung wie die Einzelerzählung über alle Länder des litterarischen Abendlandes; sie erfahren gewisse Abänderungen, sie münden
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hier und da in andere Kunstformen, sie sind aber als solche immer deutlich zu erkennen. Ohne auf alle Einzelheiten einzugehen, möchte ich hier im allgemeinen sagen, das die toscanische Novelle versucht, eine Begebenheit oder ein Ereignis von eindringlicher Bedeutung in einer Weise zu erzählen, die uns den Eindruck eines tatsächlichen Geschehens gibt und zwar so, daß uns dieses Ereignis selbst wichtiger erseheint als die Personen, die es erleben.
Innerhalb des Stromes der toscanischen Novelle finden wir schon im 16. Jahrhundert etwas anderes. Es ist notwendig zu betonen, daß dieses Andere sich in der Gesamtform eng an das erste Beispiel der toscanischen Novelle, an das Dekamerone des Boccaccio, anschließt. Giovanni Francesco Straparola veröffentlicht 1550 in Venedig eine Rahmenerzählung - Piacevoli notti - die sich in Hinsicht auf den Rahmen durchaus an das Vorbild hält. Auch hier finden wir Damen und Herren, die besondere Umstände zusammengeführt haben und die sich mit Erzählen die Zeit im sehr buchstäblichen Sinne vertreiben. Der Unterschied zu der toscanischen Rahmenerzählung besteht darin, daß ein Teil der Erzählungen keine Novellen sind in dem soeben umschriebenen Sinne, sondern Erzählungen, wie wir sie aus Grimms Sammlung kennen, Erzählungen die keineswegs den Eindruck eines tatsächlichen Geschehens machen. Wir finden hier sogar eine Anzahl Stoffe, die wir in den Kinder- und Hausmärchen oder anderen Sammlungen späterer Zeit wieder antreffen, wie: Der gestiefelte Kater, die dankbaren Tiere, Der Meisterdieb usw.
Diese Erscheinung bleibt vereinzelt - die Novelle verfolgt ihren Weg. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts wiederholt sich aber dasselbe noch einmal. 1634/36 erscheint eine nachgelassene Rahmenerzählung in neapolitanischem Dialekt von Giambattista Basile - Cunto de li Cunti, später unter dem Namen Pentamerone bekannt. Wiederum schließt sich der Verfasser eng dem Dekamerone an. Ein Unterschied ist nur, daß auch der Rahmen nicht den Eindruck eines tatsächlichen Geschehens macht, sondern der Grimmschen Gattung angehört, und daß hier sämtliche Einzelerzählungen gleichfalls zu dieser Gattung gerechnet werden müssen. Es hat den An- | |
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schein, als ob der Verfasser, der in seinem Rahmen Boccaccio parodiert, aber dabei bestrebt ist, möglichst viele Ausdrücke aus dem Volksmunde aufzuzeichnen und Volksgebräuche zu beschreiben, absichtlich diese Art der Erzählung der veralteten toscanischen Novelle gegenüberstellt - und so kann man bei Märchenforschern des 19. Jahrhunderts lesen, daß Basile der erste Märchensammler gewesen sei. Wir können hinzufügen, daß sich auch bei ihm Erzählungen finden, wie: Aschenbrödel, Die sieben Raben, Dornröschen, die uns aus den Kinder- und Hausmärchen bekannt sind.
Für die Gebrüder Grimm beginnen, wie im dritten Band der Kinder- und Hausmärchen gesagt wird, die ‘eigentlichen Märchensammlungen’ in Frankreich zu Ende des 17. Jahrhunderts mit Charles Perrault. Wir überschlagen also Lafontaine, der in seiner Histoire de Psyché etwas aus dem Altertum in einer neuen Gestalt gegeben hatte, das mit den Erzählungen der Kinder- und Hausmärchen vergleichbar ist, und kommen zu Perraults Contes de ma mère I'Oie. Ehe diese Prosaerzählungen erschienen waren, hatte Perrault zwischen 1691 und 1694 drei Verserzählungen geschrieben: Griselidis, Peau d'âne und Les trois souhaits ridicules. In der äußeren Gestalt schlossen sich diese Verserzählungen an die berüchtigten Contes von Lafontaine an. Während aber Lafontaines Contes Umdichtungen von Novellen zum größten Teil aus der toscanischen Schule waren, finden wir in der ‘Eselshaut’ nun wieder jene Grimmsche Gattung. Danach erscheinen 1697 die Erzählungen von Mutter Gans mit dem Haupttitel Histoires ou Contes du temps passé avec des Moralités. Eigentlich ist das Büchlein keine Rahmenerzählung mehr, aber etwas von einem alten Rahmen schimmert noch durch: Perrault stellt es so dar, als ob die Erzählungen von einer alten Amme seinem Sohne erzählt worden wären und er selbst sie wieder von seinem Sohne gehört hätte. Jedenfalls gehören die Contes du temps passé zu den Erzählungen der Kinder- und Hausmärchen, und wir finden auch dort wieder Geschichten wie Rotkäppchen, Dornröschen, Frau Holle.
Sehr bald nach dem Erscheinen von Perraults Contes platzt nun ein Gewitter von ähnlichen Erzählungen über Frank- | |
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reich und Europa los. Man kann ruhig sagen, daß zu Anfang des 18. Jahrhunderts die Litteratur von dieser Gattung beherrscht wird: sie ersetzt einerseits die Großerzählung des 17. Jahrhunderts, den Roman, andrerseits alles, was noch von der toscanischen Novelle übrig war. Die Zahl dieser Erzählungen ist kaum abzuschätzen. Dazu kommt 1704 bis 1708 nun auch die orientalische Erzählung durch die erste Übersetzung der Tausendundeinen Nacht von Galland, und so ist die ganze Litteratur des 18. Jahrhunderts mit Erzählungen dieser Art durchsetzt. Man braucht nur Wielands Werke daraufhin nachzuschlagen, um sich ein Bild zu machen, wie bedeutend und vielseitig die Gattung wirkte.
Und gerade Wieland gibt uns in den vielen Äußerungen, die wir von ihm über diese Gattung besitzen, ein deutliches Bild von der Art, wie das 18. Jahrhundert sie auffaßte: das Märchen - auch er benutzt das Wort - ist eine Kunstform und zwar eine Kunstform, in der sich zwei entgegengesetzte Neigungen der menschlichen Natur, die Neigung zum Wunderbaren und die Liebe zum Wahren und Natürlichen, vereinigen und als solche gemeinsam befriedigt werden können. Da nun sowohl die Neigung zum Wunderbaren wie auch die Liebe zum Wahren der Menschheit von Anbeginn eingeboren sind, gibt es überall Märchen, gibt es sehr alte Märchen. Aber alles kommt in dieser Kunstform darauf an, diese beiden in ein richtiges Verhältnis zueinander zu bringen; fehlt dieses, so verliert das Märchen seinen Reiz und seinen Wert - und dieses Verhältnis herzustellen, ist Sache des Geschmacks, Sache des Künstlers. Wieland drückt sich scharf aus: ‘Producte dieser Art müssen Werke des Geschmackes sein, oder sie sind nichts. Ammenmärchen, im Ammenton erzählt, mögen sich durch mündliche Überlieferung fortpflanzen, aber gedruckt müssen sie nicht werden.’
Wir könnten nun noch bis in die Romantik gehen. Daß für Novalis diese Gattung Anderes, Höheres bedeutet als für Wieland, brauche ich nicht zu erwähnen; aber so verschieden ihre Ansicht ist und so sehr Dichtung und Dichter bei Novalis einen tieferen Sinn bekommen: Märchen ist auch für ihn eine Kunstform und ‘der echte Märchendichter ist ein Seher in die Zukunft’.
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IV.
Für uns spitzt sich nun nach diesem kurzen Überblick die Frage zu: ist das Märchen eine Einfache Form?
Wir besitzen auf der einen Seite eine Form, von der wir gesagt haben, daß sie bestrebt ist, eine Begebenheit oder ein Ereignis von eindringlicher Bedeutung zu erzählen in einer Weise, daß sie uns den Eindruck eines tatsächlichen Geschehens gibt, und zwar so, daß uns das Ereignis selbst wichtiger erscheint als die Personen, die es erleben.
Wir sehen, wie sich dem in einem litterarischen Geschichtsablauf erst schüchtern, aber dann immer bestimmter eine andere Form gegenüberstellt. Diese zweite Form hat, obwohl sie sich zunächst in Äußerlichkeiten der ersten anschließt, doch von vornherein eine andere Tendenz. Sie ist, wenn wir uns zunächst negativ ausdrücken, erstens nicht mehr bestrebt, ein Ereignis von eindringlicher Bedeutung zu geben, denn sie gibt von Ereignis zu Ereignis springend ein ganzes Geschehen, das sich erst zuletzt in einer bestimmten Weise zusammenschließt; und sie ist zweitens nicht mehr bestrebt, dieses Geschehen so darzustellen, daß es uns den Eindruck eines tatsächlichen Geschehens macht, sondern sie arbeitet unausgesetzt mit dem Wunderbaren.
Wir nennen die erste Form Novelle und rechnen sie zu den Kunstformen; wir nennen die zweite Märchen und behaupten von ihr, daß sie eine Einfache Form ist. Oder um die Terminologie Jacob Grimms noch einmal zu benutzen: wir sagen von der ersten Form, daß sie Kunstpoesie und ‘eine Zubereitung’, von der zweiten, daß sie Naturpoesie und ‘ein Sichvonselbstmachen’ ist.
Daß aus der Art, wie die beiden Formen in der litterarhistorischen Situation des Abendlandes seit dem 16. Jahrhundert vor uns liegen, dieser Unterschied nicht festzustellen
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ist, ist klar. Sowohl die Novelle wie das Märchen sind mit Verfassernamen verbunden, die Novelle mit Namen wie Boccaccio, Sacchetti, Bandello, das Märchen mit Namen wie Straparola, Basile, Perrault, Madame d'Aulnoy, Wieland.
Ebensowenig dürfen wir sagen, der Unterschied beruhe darauf, daß die Märchen nachgewiesenermaßen im Volke im Umlauf wären und erst aus dem Volksmunde in die Litteratur übergingen, während die Novellen von ihren Verfassern frei erdacht wären. Wir wissen, daß, um bei Boccaccio zu bleiben, mindestens neunzig von seinen hundert Novellen schon in anderen litterarischen Werken niedergeschrieben waren; wir wissen darüber hinaus, daß er diese wieder zum größten Teil nicht in jenen indischen, arabischen, lateinischen Quellen gelesen hatte, sondern daß sie ihm mündlich zugetragen worden waren, daß er sie vom ‘Hörensagen’ kannte.
Wollen wir dennoch nicht mit Wieland annehmen, daß sowohl die eine wie die andere eine litterarische Kunstform sei und daß in der Novelle bloß eine menschliche Neigung, die zum Natürlichen und Wahren zum Ausdruck komme, während sich im Märchen zwei menschliche Neigungen, die zum Natürlichen und Wahren und die zum Wunderbaren entsprechend mischen - sondern wollen wir bei unserer Behauptung bleiben, daß hier ein grundsätzlicher Formunterschied vorliegt, so muß sich dieser Unterschied aus der Form selbst, unabhängig von der litterarhistorischen Situation, nachweisen lassen.
Überschauen wir das Gebiet der Novelle, so sehen wir eine unendliche Verschiedenheit von Begebenheiten verschiedenster Art; was sie zusammenhält, ist die Weise, in der sie dargestellt sind. Wir sehen weiter, wie andere Begebenheiten, wofern sie den Anforderungen entsprechen, eine gewisse Eindringlichkeit besitzen, immer wieder in dieser Weise dargestellt werden können, um in dieser Weise Novelle zu werden. Boccaccio entnahm Begebenheiten und Ereignisse dieser Art einer litterarischen Überlieferung - wir wissen aber, daß es ebensogut möglich ist, frei zu wählen: unsere Form der Novelle an einen Teil der Welt heranzubringen, und daß sich, sooft wir das tun, jedesmal dieser Teil als Novelle darstellt. Noch weiter: wir wissen, daß unsere Wahlfreiheit so
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groß ist, daß wir vermöge unsrer Einbildungskraft ein litterarisches Gebilde herstellen können, das freistehend diesen Teil der Welt in dieser Form selbständig vertritt.
Überschauen wir das Gebiet des Märchens, so erkennen wir auch hier eine Fülle von Begebenheiten verschiedener Art, die wiederum von einer bestimmten Darstellungsweise zusammengehalten zu werden scheinen. Versuchen wir nun aber, diese Form in derselben Weise an die Welt heranzubringen, so spüren wir sofort, daß das unmöglich ist - nicht weil im Märchen die Begebenheiten wunderbar sein müssen, während sie es in der Welt nicht sind, sondern weil Begebenheiten, so wie wir sie im Märchen finden, überhaupt nur im Märchen selbst denkbar sind. Kurz gesagt: wir können wohl die Welt an das Märchen heranbringen, aber nicht das Märchen an die Welt.
Betrachten wir die Tätigkeit der Novelle, so sehen wir, wie sie gestaltend in die Welt eingreift, einen Teil dieser Welt festlegt, ihn bindet in einer Weise, daß nun durch diese Form dieser Teil endgültig und schlechterdings vertreten wird.
Reden wir von der Tätigkeit des Märchens, so sehen wir, daß es an erster Stelle sich selbst gestaltet und nun bereit ist, in dieser Gestalt die Welt in sich aufzunehmen.
Wir können das so zusammenfassen: Sowohl Novelle wie Märchen ist Form - die formende Gesetzlichkeit der Novelle ist jedoch so, daß wir durch sie sämtliche Ereignisse, überlieferte, tatsächliche oder erfundene, sofern sie das gemeinsame Kennzeichen der Eindringlichkeit besitzen, bündig gestalten können; die formende Gesetzlichkeit des Märchens dagegen ist so, daß, wo immer wir es in die Welt hineinsetzen, die Welt sich nach dem nur in dieser Form obwaltenden und nur für diese Form bestimmenden Prinzip umwandelt.
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V.
Was wir hier aber für Märchen und Novelle sagen, läßt sich verallgemeinern: es ist der Unterschied zwischen Einfacher Form und Kunstform überhaupt. Es ist auch der Unterschied, den Jacob Grimm meinte. Wo wir mit einer Form an die Welt herangehen, gestaltend in sie hineingreifen, einen Teil von ihr, der durch ein gemeinsames Kennzeichen zusammengehörig erscheint, bündig machen, da redet er von Zubereiten; wo wir dagegen die Welt in eine Form eingehen lassen, die sich nach einem nur in dieser Form obwaltenden und für diese Form bestimmenden Prinzip gebildet hat, und wo sich die Welt nun gemäß dieser Form umwandelt, da nennt er es ein Sichvonselbstmachen. Wir erkennen mit ihm den grundsätzlichen Unterschied der formenden Gesetzlichkeiten an - andrer Meinung sind wir darin, daß wir nicht zugeben, daß die eine Form einer Vergangenheit, die andere einer Gegenwart angehören sollte. Wäre das der Fall, so könnte man die eine beobachten, die andre jedoch nur sammeln. Grimm hat auch diese Konsequenz gezogen. Unserer Meinung nach sind sie beide unentwegt und allseitig wirksam, und es gehört zu den ersten Aufgaben der Litteraturwissenschaft, sie in ihrer Unterschiedlichkeit, aber auch in ihren Beziehungen zu beobachten.
Wenn wir nun noch einen Augenblick über die Richtungen reden, in denen sich Novelle und Märchen bewegen, so stellen wir folgendes fest: der Novelle, die einen Teil der Welt abschließt, kommt es darauf an, alles in diesem bündigen Abschluß fest, besonders, einmalig zu gestalten; in dem Märchen dagegen, das sich der Welt offen gegenüberstellt und die Welt in sich aufnimmt, behält die Welt auch in ihrer Umwandlung ihre Beweglichkeit, ihre Allgemeinheit und das, was ich ihre Jedesmaligkeit nennen möchte.
Wiederum dürfen wir sagen, daß dieser Satz nicht nur für Novelle und Märchen, sondern für Kunstform und Einfache
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Form überhaupt gilt, und können dabei an das erinnern, was wir über das Verhaltnis von Kasus und Kunstform gesagt haben.
Sehen wir uns zunächst die Sprache an, so kann man sagen, daß in der Kunstform die Sprache so sehr bestrebt ist, fest, besonders, einmalig zu sein, daß wir sie uns letzten Endes nur als die Sprache eines Einzelnen vorstellen können, eines Einzelnen, der durch eine ausgesprochene Begabung in der Lage ist, in einem endgültigen Abschluß die höchste Bündigkeit nur hier und nur so zu erreichen, und der diesem Abschluß obendrein die feste, besondere, einmalige Prägung seiner Persönlichkeit verleiht. Wir drücken das so aus, daß die Kunstform sich endgültig letzthin nur durch einen Dichter verwirklichen kann - wobei selbstverständlich Dichter nicht als schöpferische, sondern als vollziehende Kraft gemeint ist.
Dagegen bleibt auch in der Einfachen Form die Sprache beweglich, allgemein, jedesmalig. Wir pflegen zu sagen, daß man ein Märchen, eine Sage, eine Legende ‘mit seinen eigenen Worten’ wiedererzahlen kann. Daß diesen ‘eigenen Worten’ unter Umständen äußerst enge Grenzen gezogen sind, haben wir bei Spruch und Sprichwort und auch im Rätsel gesehen. Auch bei Legende, Sage und Märchen ist es doch wohl so, daß, wenn wir das, was wir Sprachgebärde genannt haben, abänderten oder wegließen, die Form jedesmal ihre Gültigkeit verlieren würde. Und dennoch liegt in dem Erzählen mit eigenen Worten insoweit etwas Wahres, als es jedenfalls nicht die Worte eines Einzelnen sind, In denen sich die Einfache Form verwirklicht, als nicht als letzte vollziehende Kraft ein Einzelner die Form einmalig zur Verwirklichung bringt und ihr obendrein seine persönliche Prägung verleiht, sondern, daß die vollziehende Kraft hier die Sprache ist, in der sich die Form jedesmalig verwirklichen lassen kann. Sowohl bei der Kunstform wie bei der Einfachen Form können wir von ‘eigenen Worten’ reden, bei der Kunstform jedoch meinen wir die eigenen Worte des Dichters, in denen sich die Form einmal endgültig vollzieht, bei der Einfachen Form die eigenen Worte der Form selbst, in der sie sich jedesmal von neuem in derselben Weise vollziehen kann.
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Was wir hier an der Sprache gezeigt haben, läßt sich auf alles, was wir in den beiden Formen finden, ausdehnen, auf Personen, auf Örtlichkeit, auf Begebenheiten. Wir wollen das hier nicht im einzelnen ausführen, es genügt, wenn wir sagen, daß sie in der Einfachen Form den Charakter des Beweglichen, Allgemeinen, Jedesmaligen bewahren - man stelle eine Prinzessin im Märchen neben eine Prinzessin in der Novelle und man spürt den Unterschied.
Wir haben öfters das Wort Vergegenwärtigung benutzt - auch dieser Begriff läßt sich auf beide Formen anwenden. Denn es ist durchaus denkbar, daß derselbe Teil der Welt von einem anderen Dichter in einer Kunstform zum Abschluß gebracht wird. Aber wir sehen dann wieder, daß auch in diesem Abschluß das Bestreben liegt, fest, besonders, einmalig zu sein, daß dahingegen die Vergegenwärtigung einer Einfachen Form immer wieder auf das Bewegliche, Allgemeine, Jedesmalige der Form selbst zurückweist.
Mit diesem letzten sind wir nun aber auf die litterarhistorische Situation zurückgekommen, die durch das Erscheinen des Märchens in der abendländischen Litteratur entstanden war und die wir so umschreiben können: eine sich seit Jahrhunderten mit Kunstformen beschäftigende Zunft von Dichtern und Schriftstellern glaubt eine Einfache Form in derselben Weise vergegenwärtigen zu müssen und zu können, wie sie ihre Kunstformen vergegenwärtigt; eine Reihe von Novellisten versucht das Märchen wie eine Novelle zu behandeln, es in derselben Weise zum Abschluß zu bringen, es fest, besonders, einmalig zu gestalten, es persönlich zu prägen. Was im allgemeinen geschehen kann, und was jeweilig geschieht, wenn eine bestimmte Einfache Form und eine Kunstform in der Litteratur zusammenkommen, kurz, was sich aus solchen Kreuzungen ergeben kann, dies festzustellen ist eine Untersuchung von größter litterarwissenschaftlicher Bedeutung, auf die wir hier nicht eingehen können. An dieser Stelle können wir nur sagen, daß sich in diesem Falie die Einfache Form gegen das Zusammengehen sträubt, daß sie einer Ummodelung in diesem Sinne widerstrebt, daß sie sie selbst bleibt. Sie sträubt sich so sehr, sie bleibt sich so gleich, daß trotz der zahllosen Umbildungen und
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Verschiebungen die Einsichtigen, die mit Sprach- und Formgefühl begabten Männer wie Herder oder Grimm das Hybridische, das Unzusammengehörige in der Mischung entdecken, die Einfache Form als solche erfassen und nun zu Trennungen kommen, wie sie uns in ‘Stimmen der Völker’, ‘Natur- und Kunstpoesie’ vorliegen.
Damit sind wir wieder bei dem letzten Teil des Federstreites zwischen Jacob Grimm und Arnim angekommen. Jedesmal wenn sich eine Einfache Form vergegenwärtigt, tut sie einen Schritt in eine Richtung, die zu einer Verendgültigung, wie wir sie in der Kunstform schließlich besitzen, führen kann, betritt sie den Weg zur Festigkeit, Besonderheit, Einmaligkeit und büßt dabei etwas von ihrer Beweglichkeit, Allgemeinheit, Jedesmaligkeit ein. Wir haben das, als wir das Verhältnis von Legende zu Vita, von Sage zu Saga, von Mythe zu Mythus besprachen, schon gesehen. Hier setzt der Vorwurf, den Arnim Jacob Grimm macht, an, indem er sagt ‘ich glaube es Euch nimmermehr ... daß die Kindermärchen von Euch so aufgeschrieben sind, wie Ihr sie empfangen habt’. - In unserer Ausdrucksweise würde das heißen: jede Vergegenwärtigung lenkt von dem, was die Einfache Form zu geben bestrebt ist, ab. Darauf antwortet Grimm: ‘Wir kommen hier auf die Treue’ und er benutzt das Bild des ausgeschlagenen Eies; dieses würde in unsere Terminologie umgesetzt heißen: um die Vergegenwärtigung kommen wir nicht herum, aber diese Vergegenwärtigung muß so sein, daß sie möglichst unmittelbar auf die Einfache Form als solche zurückweist, möglichst wenig auf die Festigkeit, Besonderheit und Einmaligkeit der Kunstform gerichtet ist.
Deshalb gab Jacob Grimm die Beschäftigung mit dem Märchen, so wie es in der Litteratur lag, auf - er ging zum Volke. Inwieweit nun die Kinder- und Hausmärchen in diesem Sinne ‘treu’ sind, inwieweit doch noch beeinflußt von litterarischen Vorgängen des 18. Jahrhunderts, müßte in einer eigenen Untersuchung festgelegt werden. Sicher ist, daß, wie auch die Gestalt der Kinder- und Hausmärchen ausgefallen sein mag, Jacob Grimm das Märchen selbst als Einfache Form erkannt hat.
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VI.
Wir haben gesagt, daß sich im Märchen die Welt nach einem nur in dieser Form obwaltenden und nur für diese Form bestimmenden Prinzip umwandelt. Dieses Prinzip haben wir in allen Einfachen Formen als die Geistesbeschäftigung bezeichnet. Wir wollen das auch hier tun und nun versuchen, die Geistesbeschäftigung des Märchens zu bestimmen.
Eigentümlich ist, daß dort, wo sich in dem Lauf der Litteraturgeschichte, den wir geschildert haben, das Märchen der Novelle gegenüber oder an die Seite stellt, mit einer gewissen Vorliebe betont wird, daß das Märchen eine moralische Erzählung sei. Wir brauchen das hier nicht in Einzelheiten zu verfolgen, es genügt, wenn wir daran erinnern, daß Perrault seine Erzählungen Histoires ou Contes du temps passé avec des Moralités nannte, daß er jedes einzelne Märchen auch wirklich mit einer gereimten Moralité abschloß und daß er in seiner Einleitung sagt: Überall wird die Tugend belohnt, das Laster bestraft. Diese Erzählungen wollen zeigen, wie großen Nutzen es bringt, anständig, geduldig, besonnen, arbeitsam, gehorsam zu sein ... und wie schlechte Folgen es hat, wenn man das nicht ist. So leichtsinnig und sonderbar in ihren Begebenheiten (aventures) diese Geschichten sind, es ist gewiß, daß sie in den Kindern das Verlangen wachrufen, denen, die hier glücklich werden, ähnlich zu sein, und zugleich die Furcht vor dem Unglück, dem die Bösen durch ihre Bösheit anheimfallen ... Die Erzählungen sind wie ein ausgestreuter Samen, zunächst erwachsen aus ihm Freude und Trübsal, aber aus ihnen erblühen wiederum die Neigungen zum Guten.
Zunächst entdecken wir hierin einen gewissen Widerspruch: wenn die Erzählungen leichtsinnig (frivole) sind, wie sollen sie dann den guten Samen in die Herzen der Jugend streuen, wenn sie sonderbar (bizarre) sind, wie sollen sie zum
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Beweis einer feststehenden Lebensregel dienen? Sehen wir genauer zu, so bemerken wir allerdings, daß hier gewisse Personen glücklich werden, aber inwieweit hier ausgerechnet Tugend belohnt, Laster bestraft wird, ist mehr als fraglich. Nehmen wir den Gestiefelten Kater. Woraus ergibt sich denn, daß der Müllerbursche anständig, geduldig, besonnen oder arbeitsam ist? Gehorsam ist er freilich, denn er tut alles, was der Kater ihm befiehlt. Und dieser Kater selbst: er lügt und betrügt vom Anfang bis zum Ende, er zwingt auch andere durch Überredung und Drohung zu lügen, er frißt zuguterletzt einen Zauberer, der ihm wenig oder nichts zu Leide getan hat. Ist Dornröschen so besonders tugendhaft oder der Prinz, der mir nichts dir nichts Küsse von schlafenden jungen Mädchen raubt? Auch Däumling und Rotkäppchen scheinen mir keine unbedingten Tugendhelden zu sein. Andererseits können wir aber auch nicht sagen, daß der listige Kater oder der leichtsinnige Prinz uns einen unmoralischen Eindruck machen.
Wenn nun aber Personen und Begebenheiten des Märchens auch nicht den Eindruck des eigentlich Moralischen machen, so kann man doch nicht leugnen, daß sie eine Befriedigung gewähren - und diese Befriedigung beruht weniger darauf, daß hier unsre ‘Neigung zum Wunderbaren’ zugleich mit unsrer ‘Liebe zum Natürlichen und Wahren’ befriedigt wird als darauf, daß es in diesen Erzählungen so zugeht, wie es unserem Empfinden nach in der Welt zugehen müßte.
Im Gestiefelten Kater sehen wir einen armen Müllerssohn; er steht seinen Brüdern gegenüber, die beide etwas Wertvolles geerbt haben: die Mühle und den Esel; er selbst hat dagegen etwas Wertloses bekommen: die Katze. An und für sich ist dieses Datum oder dieser Zustand nicht unmoralisch, aber sie geben uns doch das Gefühl der Ungerechtigkeit und das Gefühl, daß diese Ungerechtigkeit ausgeglichen werden muß. Im Laufe der Erzählung erfolgt nun diese Befriedigung - und zwar in einer Weise, daß gerade dieses Wertlose, die Katze, das Mittel zum Ausgleich wird, und daß zuletzt das Glück des Benachteiligten das Glück seiner Brüder um soviel übertrifft, als es zu Anfang geringer war. Das ist gewiß keine Ethik im philosophischen Sinne; was und wer tugendhaft ist,
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was und wer nicht, wird nirgends gesagt; es heißt nicht, daß der Müller böse ist, der seine älteren Söhne besser behandelt als den jüngeren; auch die beiden Brüder sind in diesem Märchen nicht schlechter als der dritte - das Ganze heißt nichts anderes, als daß unser Gerechtigkeitsgefühl durch einen Zustand oder durch Begebenheiten ins Schwanken geraten ist und daß es nun durch eine Reihe von Begebenheiten, durch ein Geschehen besonderer Art wieder ins Gleichgewicht gebracht, befriedigt wird. Etwas schärfer wird die Situation durchgeführt in Aschenbrödel, wo ein armes Mädchen einer bösen Stiefmutter und zwei bösen Stiefschwestern gegenübergestellt wird, aber auch hier wird weniger das eigentlich Böse der Verwandten betont als das der Ungerechtigkeit; und die Befriedigung, die wir zuletzt empfinden, entsteht wiederum nicht so sehr dadurch, daß ein fleißiges, gehorsames, geduldiges Mädchen belohnt wird, als daraus, daß das ganze Geschehen der Erwartung und den Anforderungen, die wir an einen gerechten Lauf der Welt stellen, entspricht.
Diese Erwartung, wie es eigentlich in der Welt zugehen müßte, scheint uns nun für die Form Märchen maßgebend zu sein: sie ist die Geistesbeschäftigung des Märchens. Perrault und andere haben wohl recht gesehen, daß sie ‘moralisch’ ist, aber sie ist nicht moralisch im Sinne einer philosophischen Ethik. Sagen wir mit Kant, daß die Ethik antwortet auf die Frage: ‘was muß ich tun?’ und daß unser ethisches Urteil demzufolge eine Wertbestimmung des menschlichen Handelns umfaßt, so gehört das Märchen nicht hierher. Sagen wir aber, daß es darüber hinaus eine Ethik gibt, die antwortet auf die Frage: ‘wie muß es in der Welt zugehen?’ und ein ethisches Urteil, das sich nicht auf Handeln, sondern auf Geschehen richtet, so sehen wir, daß dieses Urteil in der Form Märchen von der Sprache ergriffen wird.
Im Gegensatz zur philosophischen Ethik, zur Ethik des Handelns, nenne ich diese Ethik die Ethik des Geschehens oder die naive Moral, wobei ich das Wort naiv in demselben Sinne gebrauche wie Schiller, wenn er von naiver Dichtung redet. Unser naiv-ethisches Urteil ist ein Gefühlsurteil; es ist nicht ästhetisch, da es apodiktisch und
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kategorisch zu uns spricht; es ist weder utilitaristisch noch hedonistisch, weder das Nützliche noch das Angenehme sind hier Maßstab; es steht außerhalb des Religiösen, denn es ist undogmatisch und unabhängig von einer göttlichen Führung - es ist ein rein ethisches und zwar ein absolutes Urteil. Bestimmen wir nun von hier aus unsere Form, so können wir sagen, daß in dem Märchen eine Form vorliegt, in der das Geschehen, der Lauf der Dinge so geordnet sind, daß sie den Anforderungen der naiven Moral völlig entsprechen, also nach unserem absoluten Gefühlsurteil ‘gut’ und ‘gerecht’ sind.
Als solches steht nun das Märchen im schärfsten Gegensatz zu dem, was wir in der Welt als tatsächliches Geschehen zu beobachten gewohnt sind. Der Lauf der Dinge entspricht in den seltensten Fällen den Anforderungen der naiven Moral, er ist meistens nicht ‘gerecht’ - das Märchen stellt sich also einer Welt der ‘Wirklichkeit’ gegenüber. Indessen diese Welt der Wirklichkeit ist nicht die Welt, in der den Dingen ein allgemein güitiger Seinswert zuerkannt wird, sondern eine Welt, in der das Geschehen den Anforderungen der naiven Moral widerspricht, eine Welt, die wir naiv als unmoralisch empfinden. Man kann sagen, daß hier die Geistesbeschäftigung nach zwei Seiten wirksam ist, einerseits greift und begreift sie verneinend die Welt als eine Wirklichkeit, die der Ethik des Geschehens nicht entspricht, andererseits gibt sie bejahend eine andere Welt, in der alle Anforderungen der naiven Moral erfüllt werden.
Wir nennen diese Welt des naiv Unmoralischen, diese ‘wirkliche’ Welt, die hier verneint wird, tragisch, und meinen auch hier wieder kein ästhetisches Urteil, sondern ein Urteil, das kategorisch und apodiktisch zu uns spricht: ein Gefühlsurteil. Tragisch, so hat man einmal kurz, aber vollkommen zutreffend gesagt, ist: wenn sein muß, was nicht sein kann, oder: wenn nicht sein kann, was sein muß. Tragisch, so können wir hier sagen, ist der Widerstand zwischen einer naiv unmoralisch empfundenen Welt und unsren naiv ethischen Anforderungen an das Geschehen.
Man könnte nun erwarten, daß aus dieser zweifach gerichteten Wirksamkeit der Geistesbeschäftigung sich auch
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zwei Formen ergeben würden, daß wir neben der Form, in der der Lauf der Dinge so geordnet ist, daß sie den Anforderungen der naiven Moral völlig entsprechen, eine Form finden würden, in der die naiv unmoralische Welt, die Welt des Tragischen, sich verdichtet - kurz es muß ein Antimärchen geben. In der Tat ist dies wirklich der Fall. Nehmen wir die Geschichte der beiden Königskinder, die nicht beisammen kommen konnten, weil das Wasser viel zu tief war, und die mit dem Tod endet, oder die Geschichte von Pyramus und Thisbe und dem Löwen, so haben wir hier die deutliche Vergegenwärtigung dieser Einfachen Form vor uns. Sie entsprechen der Welt des Tragischen; der tragische Lauf der Dinge wird hier in einer Sprachgebärde zusammengezogen, die viel zu tiefes Wasser, Löwe heißt: die Trennung und Tod in sich tragen. Es wäre nicht schwer, eine Anzahl dieser Antimärchen, oder wenn wir eine contradictio in adjecto benutzen wollen, dieser tragischen Märchen zu finden; gerade im Altertum scheinen sie mir häufig zu sein, ebenso stecken sie im Keltischen. Daß die Form als solche nicht erkannt worden ist und demzufolge auch keinen Namen besitzt, liegt erstens daran, daß sie in neuerer Zeit - wie wir es schon aus unseren Beispielen sahen - meistens mit Kunstformen zusammengekommen und uns nur in dieser Vergegenwärtigung geläufig ist, und zweitens daran, daß die zweite Form, die sich aus der Geistesbeschäftigung der naiven Moral ergibt, und in der die zweifach gerichtete Wirksamkeit sich auch als Ganzes verwirklicht, die einseitig wirkende Form verdrängt hat. Sind wir einmal bei den Kunstformen angekommen, so werden wir sehen, wie nötig es ist, auch das tragische Märchen als Einfache Form zu unterscheiden.
Die Form Märchen ist eben die Form, in der sich die Geistesbeschäftigung in ihrer Doppelwirkung ergibt, die Form, in der sowohl das Tragische hingestellt wie auch aufgehoben wird. Wir sehen das schon aus der Zusammenstellung der Daten und Begebenheiten. Mit Vorliebe werden Zustände und Ereignisse gewählt, die unserm Empfinden des gerechten Geschehens widersprechen: ein Knabe erbt weniger als seine Brüder, ist kleiner, dümmer als seine Umgebung; Kinder
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werden von armen Eltern ausgesetzt oder von Stiefeltern mißhandelt; der Bräutigam wird von der richtigen Braut getrennt; Menschen geraten in die Gewalt böser Unholde, sie haben übermenschlich schwere Aufgaben zu erfüllen, sie müssen fliehen, werden verfolgt - aber immer wird das alles im Laufe des Geschehens aufgehoben, kommt es zu einem Ende, das unserm Empfinden des gerechten Geschehens entspricht. Mißhandlung, Verkennung, Sünde, Schuld, Willkür - sie treten im Märchen nur auf, um nach und nach endgültig aufgehoben und durch die naive Moral gelöst zu werden. Alle armen Mädchen bekommen zum Schluß den rechten Prinzen, alle dummen und armen Knaben ihre Prinzessin - ja, der Tod der in gewissem Sinne einen Gipfel der naiven Unmoral bedeutet, wird im Märchen aufgehoben: ‘wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch.’ -
Aus diesem inneren Bau des Märchens erwächst nun die moralische Befriedigung, von der wir sprachen: sobald wir in die Welt des Märchens eintreten, vernichten wir die als unmoralisch empfundene Welt der Wirklichkeit.
In allen Einzelheiten wird diese Vernichtung durchgeführt. Sie gibt zunächst die Erklärung jenes Wunderbaren, das auch die Dichter, die sich mit dem Märchen beschäftigten, schon als Kennzeichen anführten. Wo in einer Geistesbeschäftigung Wirklichkeit das Naiv-Unmoralische heißt, da darf keine Begebenheit der Wirklichkeit gleichen. So entsteht das scheinbare Paradoxon, das die eigentliche Grundlage des Märchens bildet: das Wunderbare ist in dieser Form nicht wunderbar, sondern selbstverständlich. Wir können das Märchen hier mit der Legende vergleichen. Das Wunder war dort die einzig mögliche Bestätigung einer Tugend, die tätig geworden, sich vergegenständlicht hatte; das Wunderbare ist hier die einzig mögliche Sicherheit, daß die Unmoral der Wirklichkeit aufgehört hat. Wie wir im Wunder erst die Legende als solche verstehen, wie das Wunder dort das Notwendige und Selbstverständliche ist, so wird erst im Wunderbaren das Märchen begreiflich. Es ist nicht wunderbar, daß die ärmlich gekleidete Aschenbrödel die schönsten Kleider bekommt oder daß die sieben Geißlein wieder
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aus dem Bauche des Wolfes hervorgehen, es ist das, was wir erwarten, was wir in der Form beanspruchen; es wäre wunderbar, das heißt in der Form sinnlos, wenn es nicht geschähe und damit das Märchen und seine Welt ihre Gültigkeit verlören.
Eine zweite Eigenschaft, die man im Märchen erkannt hat, erklärt sich in derselben Weise. Die Örtlichkeit liegt ‘in einem fernen Lande, weit, weit von hier’, die Zeit ist ‘lange lange her’; oder der Ort ist nirgends und überall, die Zeit nie und immer. Sobald das Märchen historische Züge bekommt - und es geschieht das manchmal dort, wo es mit der Novelle zusammentrifft -, büßt es etwas von seiner Kraft ein. Historische Örtlichkeit, historische Zeit nähem sich der unmoralischen Wirklichkeit, brechen die Macht des selbstverständlich und notwendig Wunderbaren.
Dies gilt auch von den Personen, auch sie müssen jene unbestimmte Sicherheit besitzen, an der eine unmoralische Wirklichkeit zerschellt. Wenn der Prinz im Märchen den Namen eines historischen Prinzen trüge, so würden wir sofort von der Ethik des Geschehens in die Ethik des Handelns übergeführt werden. Wir würden nicht mehr fragen: und was geschah da mit dem Prinzen?, sondern wir würden fragen: was tat der Prinz? und somit würden schon Zweifel an der Notwendigkeit sich einstellen. So ist es auch mit jenen Wesen, die im Märchen eine so wichtige Rolle spielen, daß es in Frankreich und England ihnen seinen Namen verdankt: mit den Feen und den mit ihnen zusammengehörigen Unholden und Ogern. Auch sie sind deutliche Gebilde der Geistesbeschäftigung, die sie in den beiden Richtungen vertreten. Der Unhold, das Ungeheuer, der Menschenfresser, die Hexe vertreten die Richtung zum Tragischen; hilfreiche Feen mit allem was dazu gehört, sind mit ihren Wundergaben wieder das sicherste Mittel der Wirklichkeit zu entfliehen. Beide sind sie wunderbar, beide sind sie keine eigentlich handelnden Personen, sondern Vollzieher des ethischen Geschehens, das durch die eine Sorte gehemmt werden kann, durch die andere in die Richtung unseres Gefühlsurteils gelenkt wird. So steht denn unser Gestiefelter Kater keinem Wesen gegenüber, das ihm wenig oder gar nichts zu Leide getan hat und das er nun listig umbringt, sondern das Mittel,
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durch das der gerechte Ausgleich stattfinden muß, die wertlose Katze, durch die der arme Müllerbursche mehr bekommt, als ihm sein Schicksal vorenthalten hat, siegt hier über ein Wesen, das seiner Art nach dem gerechten Geschehen, dem Glück im Wege steht; die Schätze des bösen Zauberers gehören nicht ihm - sie gehören dem, der zuerst zu wenig bekam.
Endlich die sprachliche Gebärde des Märchens. Sie tritt so stark hervor, in ihr ordnet sich das Geschehen in so bestimmter Weise an, daß man sie als den eigentlichen ‘Inhalt’ des Märchens hat betrachten wollen. Das Wort Motiv, das wir aus früher angegebenen Gründen vermieden haben, wird von der Märchenforschung mit außerordentlicher Vorliebe benutzt; es sind die ‘Märchenmotive’, nach denen man die Märchen einzuteilen pflegt. Man ist sogar so weit gegangen, zu behaupten, daß das Märchen nichts anderes wäre als eine ziemlich beliebige Zusammensetzung solcher Motive, daß man es sozusagen in seine Motive zerlegen und aus anderen Motiven wieder aufbauen könnte, daß man ein Märchen wie ein Mosaik aus Motiven herstellen könnte. Wir brauchen darüber nicht viele Worte zu verlieren. Märchen ist Geschehen, Geschehen im Sinne der naiven Moral; entfernen wir dieses Geschehen mit seinem tragischen Anfang, seinem Fortschreiten in der Richtung der Gerechtigkeit, seinen tragischen Hemmungen, seinem ethischen Schluß, so bleibt irgendein sinnloses Skelett, das uns keine moralische Befriedigung gewähren kann und das höchstens als mnemotechnisches Mittel zu einer Wiederherstellung der Form dient. Wohl aber können wir sagen, daß dieses Geschehen, das als Ganzes die Form bildet, die sich aus der Geistesbeschäftigung ergibt, sich selbst wieder in nicht teilbare Einheiten teilt und das diese vom Ganzen geladenen und geschwängerten Einheiten als sprachliche Gebilde erfaßt werden. Wie nun in der Legende die sprachlichen Gebärden mit Tugend und Wunder geladen sind, in der Sage mit Verwandtschaft und allem was sich aus Verwandtschaft ergeben kann, so sind sie es im Märchen mit dem Tragischen und Gerechten im Sinne der naiven Moral. In diesem Sinne
heißt Ungerechtigkeit dumm sein, in Lumpen gekleidet
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sein; Tragik: In einer Nacht einen Haufen der verschiedensten Getreide aussuchen und sichten; eine endlose Reise unternehmen; ein Ungeheuer bekämpfen; Gerechtigkeit: einen Schatz bekommen; einen Prinzen heiraten. Aber immer ist diese sprachliche Gebärde zugleich geladen mit dem, was die unmoralische Wirklichkeit vernichtet, immer bedeutet sie, wie Zeit, Ort und Personen, in irgendeiner Weise das Wunderbare.
Gibt es auch bei dem Märchen einen Gegenstand oder Gegenständliches, die mit der Macht der Form geladen sind? Gerade weil das Märchen sich im Gegensatz befindet zu dem, was wir in der Welt als tatsächliches Geschehen zu beobachten gewohnt sind, weil die Welt des Märchens von einer Welt der Wirklichkeit radikaler getrennt ist als die Welt irgendeiner andern Form, gerade deshalb wird es schwer, Gegenständliches zu finden, das in einer als Wirklichkeit begriffenen und deshalb verneinten Welt, mit der Macht des Märchens geladen, das Märchen in derselben Weise vertreten könnte, wie eine Reliquie die Form Legende oder eine Rune die Form Rätsel. Dennoch scheint es mir, daß auch hier Ähnliches vorliegt bei Gegenständen, die das Märchen einer Wirklichkeit entnimmt, um sie nach den Gesetzen des Wunderbaren umzugestalten. Wenn in Perraults Cendrillon der größte Kürbis aus dem Garten kein Kürbis sondern eine Kutsche ist, wenn die Mäuse aus der Mausefalle keine Mäuse sondern Pferde sind, oder wenn in andern Märchen eine Nuß keinen Nußkern sondern ein wunderbares Kleid oder eine goldene Henne mit Küchlein enthält, so möchte ich das nicht ganz zur Sprachgebärde rechnen, sondern lieber sagen, daß Kürbis, Mäuse oder Nuß hier Gegenstände der Wirklichkeit bleiben, die nach den Bedürfnissen der naiven Moral in besonderer Weise so wunderbar geladen werden, daß sie die Wirklichkeit selbst nicht mehr als ihr Eigentum anerkennt.
Ich muß indessen gestehen, für Gegenständliches dieser Art keinen Namen gefunden zu haben.
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