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Kasus
I.
Ich habe bisher Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch eingehend besprochen und bestimmt. Von allen diesen Formen sind uns wenigstens Name und Existenz bekannt gewesen. Wir verbanden bisher mit diesen Namen keine eng umschriebenen Begriffe, wir wußten nicht genau, was eine Sage ist und was eine Legende - aber daß es diese Dinge gibt, haben wir nicht bezweifelt. Und von diesen Namen und dieser Überzeugung aus haben wir versucht, das, was uns dunkel vorschwebte, genauer zu ergründen, was nicht zusammengehört, zu trennen, die Begriffe zu bestimmen, kurz, Wesen und Sinn der einzelnen Formen zu erfassen.
Es bleiben noch zwei Formen, die wir ebenfalls dem Namen nach kennen, die Formen Märchen und Witz. Ehe ich zu diesen letzten uns bekannten Formen übergehe, muß ich die Frage stellen: ist mit jenen uns bekannten Namen auch die Zahl der Formen erschöpft? Oder kennen wir nicht noch andere Bezeichnungen, mit denen wir, zwar nur verschwommen, einen Begriff verbinden, aber die eigentlich Formen meinen, die in unsere Reihe hineingehören?
Wenn wir von einer Reihe sprechen, so ist klar, daß wir damit ein System im Sinne haben, eine abgeschlossene Reihe, daß also der Begriff der Einfachen Form - er ist so geartet, daß in jeder der Einfachen Formen sich die Welt in einer bestimmten Weise verwirklichen kann - nur eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten zuläßt.
Sollen, praktisch gesprochen, diese Einfachen Formen die Grundlage der Litteraturwissenschaft bilden, jenen Teil der Litteraturwissenschaft umfassen, der zwischen
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Sprache als solcher und jenen Gebilden liegt, in denen sich als Kunstform etwas letztmalig und endgültig verwirklicht, so müssen sie vollständig sein, so müssen sie in ihrer Gesamtheit jene Welt, die sie verwirklichen, erschöpfen - ebenso wie die grammatischen und syntaktischen Kategorien in ihrer Gesamtheit die Welt ausmachen, wie sie sich in der Sprache als solcher verwirklicht.
Es gibt zwei solche Formen, die wir bei einer genauen Untersuchung unterscheiden können, die wir in der Welt beobachten, deren Geistesbeschäftigung wir erkennen, deren Wirkung wir auf der dritten Stufe, auf der Stufe der Kunstformen, verfolgen, kurz, die dem geschlossenen System unsrer Einfachen Formen ohne Zweifel angehören, und für die wir dennoch eigentlich keine geläufigen Namen besitzen, so daß wir sie gewissermaßen neu zu benennen haben.
Daß es sich mit diesen Formen genau so verhält wie mit allen anderen Einfachen Formen, daß sie unter der Herrschaft einer Geistesbeschäftigung sich im Leben und in der Sprache verwirklichen, sich, mutatis mutandis, in demselben Aggregatzustand befinden wie Legende oder Spruch und deshalb - soll unser System vollständig sein - in unsere Reihe aufgenommen werden müssen, will ich in den nächsten Kapiteln beweisen.
Ich möchte auch hier nicht rein theoretisch vorgehen, sondern unmittelbar zeigen, wie und wo diese - als solche nicht allgemein anerkannten - Einfachen Formen wirksam sind. Deshalb gehe ich von einem möglichst naheliegenden Beispiel aus.
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II.
In Nr. 3 des Jahrganges 1928 der ‘Berliner Illustrirten Zeitung’ findet sich ein kleiner populärer Aufsatz, den der Verfasser - er nennt sich Balder - ‘Groteske and Tragik im Strafrecht’ betitelt. Es werden hier in Verbindung mit dem Strafgesetz Fälle erzählt, Fälle gesammelt. Ich greife gleich den ersten heraus:
‘Ein Taschendieb stiehlt mir im Gedränge der Großstadt meine Brieftasche, in der hundert Mark in kleinen Scheinen waren. Mit seiner Geliebten, der er von dem glücklichen Fang erzählt, teilt er seine Beute. Werden beide gefaßt, so wird die Geliebte als Hehlerin bestraft.
Angenommen, ich hatte in der Brieftasche nur einen Hundertmarkschein. Der Dieb läßt das Geld wechseln und gibt dann erst der Frau fünfzig Mark, so ist sie straffrei. Denn Hehlerei ist nur an den unmittelbar durch die strafbare Handlung erlangten Sachen möglich, nicht an den gewechselten Scheinen.’
Dieser Fall bezieht sich auf zwei Paragraphen unseres Strafgesetzbuches.
§ 242 lautet: ‘Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, wird wegen Diebstahls mit Gefängnis bestraft...’
§ 259: ‘Wer seines Vorteils wegen Sachen, von denen er weiß oder den Umständen nach annehmen muß, daß sie mittels einer strafbaren Handlung erlangt sind, verheimlicht, ankauft, zum Pfande nimmt oder sonst an sich nimmt oder zu deren Absatze bei anderen mitwirkt, wird als Hehler mit Gefängnis bestraft.’
Was geschieht hier? Beschränken wir unsere Betrachtungen zunächst auf den ersten der beiden Teile, in die diese kleine Geschichte deutlich zerfällt.
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Wir sehen, wie eine Regel, ein Gesetzesparagraph, in Geschehen übergeht, ein Geschehen wird und dadurch, daß es von der Sprache ergriffen wird, als Geschehen Gestalt bekommt. Betrachten wir den Vorgang noch etwas genauer: wir haben es mit Verbrechen zu tun.
Der Begriff Verbrechen hat schon bei unserer Untersuchung der Form Legende und Antilegende eine Rolle gespielt; und ich möchte an dieser Stelle und bei dieser Gelegenheit zeigen, wie in einem Lebensvorgang im gleichen Lebenskreis Einfache Formen zueinander gelagert sind, ohne sich zu vermischen.
Wir erinnern uns, wie in der Geistesbeschäftigung, aus der sich die Form Legende ergab, in der Geistesbeschäftigung der imitatio, Verbrechen strafbares Unrecht genannt werden konnte, insoweit dort das Böse sich vergegenständlichte, etwas Selbständiges, ein crimen, wurde. Ich habe aber schon damals auf die grundlegende Bestimmung unseres Strafgesetzes hingewiesen: nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege, und gesagt, daß das Gesetz in diesem Sinne sowohl Norm der zu bestrafenden Handlung wie Norm der Bestrafung wird.
Wir sehen nun aber, daß das Verbrechen zweierlei und zwar ganz Verschiedenes bedeuten kann, je nachdem wir es, wie in der Antilegende, selbständig gegenständlich oder, im juristischen Shine, als Verstoß gegen eine Regel, als gesetzwidrige Handlung erfassen.
Ich erinnere noch einmal an die Figur des Don Juan. Seine Handlungen werden keineswegs danach beurteilt, inwieweit sie alles das verletzen, was in dem 13. Abschnitt des 2. Teiles unseres Strafgesetzbuches, das von Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit handelt, zu finden ist, sondern wir sehen in seinem Handeln ein tätiges Unrecht, etwas unbedingt Strafbares, was von Paragraphen unabhängig, durch sie nicht zu fassen ist. Ebenso ist Ahasver nicht ein Mensch, der gegen das Gebot: Liebe deinen Nächsten, verstößt, sondern auch in ihm vergegenständlicht sich jenes Unrecht, das nicht von einer Norm bedingt ist, das absolute Unrecht. Schließlich hat man auch, wie wir erwähnt haben, den Pakt Fausts mit dem Teufel auf seine juristische Gültigkeit hin untersucht, aber wir spüren
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sofort, daß damit die Form Antilegende gelöst wird, daß auch die Gültigkeit dieses Pakts nicht nach Regeln eines Übereinkommens zweier Kontrahenten beurteilt werden kann, sondern daß auch hier die Bündigkeit an sich gegenständlich ist.
Noch deutlicher sahen wir das in der Legende selbst. Es gab in ihr keine lex, es gab keine Norm, auf die die tätige Tugend bezogen werden konnte, es gab nur Zeugen und Überzeugung, es gab nur das Wunder, das die gegenständlich gewordene Tugend absolut bestätigte.
Hier aber, und damit kommen wir auf unseren Fall zurück, liegt keine Legende oder Antilegende vor, sondern Verbrechen oder Vergehen werden bezogen auf eine Vorschrift, deren Gültigkeit und deren Ausdehnung in einem bestimmten Kreise nicht bezweifelt werden kann und nicht bezweifelt werden darf. Verbrechen oder Vergehen bedeuten dann eine Verletzung der Vorschrift, einen Verstoß gegen die Norm. Tätig und gegenständlich werden hier nicht Tugend und Unrecht, sondern tätig und gegenständlich werden in diesem Falle Gesetz und Norm, auf die Handlungen aller Art bezogen werden und von denen aus sich das Urteil über deren Beschaffenheit als strafbar oder straflos bildet.
Wir haben gesagt, daß in der Geistesbeschäftigung der Legende und Antilegende zwischen dem Heiligen und dem guten Menschen einerseits, zwischen dem Antiheiligen und dem gewöhnlichen Verbrecher andererseits ein qualitativer Unterschied besteht. In der Geistesbeschäftigung, in der wir uns jetzt befinden, herrschen nur quantitative Unterschiede, die durch die größere Entfernung, die größere Annäherung von und zu der Norm bedingt sind. In der Geistesbeschäftigung der Legende wird qualitativ, in dieser letzten Geistesbeschäftigung quantitativ gemessen, oder sagen wir lieber, gewogen.
Man kann hier das Bild einer Wage gebrauchen: Wage hängt mit Wagen, mit bewegen zusammen. Auf der einen Schale ruht ein Gesetz; sobald etwas auf die andere Schale gelegt wird, bewegt dieses sich nach oben oder unten und wird, indem es sich bewegt, selbst gewogen.
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Wir sehen nun aber, daß nicht nur Handlungen aller Art, seien es böse, seien es gute, nach einem Gesetz gewogen, nach einer Norm gewertet werden, wir sehen außerdem, daß diese Norm die Fähigkeit besitzt, aus ihrer Allgemeinheit herauszutreten, sich selbst zu veranschaulichen, kurz, in einer Sprachgebärde sich in bestimmter Weise zu verwirklichen.
Das ist im ersten Teil unserer Geschichte geschehen. Diebe haben sich an dem Eigentum anderer vergriffen; Mithelfer haben das mittels einer strafbaren Handlung Erlangte an sich genommen, obwohl sie die Herkunft kannten; sie haben es in ihre Halle, in ihre Höhle, in ihre Hölle gebracht, sie haben es verhüllt: sie sind Hehler. In einer juristischen Norm ist das Strafbare dieser Handlung festgelegt, die Norm Gesetzesparagraph ist von nun an das Gewicht, mit dem alle derartigen Handlungen gewogen werden. In unserem Falle entspringen dieser Norm: ein neuer Dieb, ein neuer Hehler, die es nicht mehr im Sein, sondern im Bewußtsein gibt: ein Dieb und ein Hehler in der Sprache, die die Norm vertreten, in denen sich die Norm verwirklicht.
Wesentlich sind hier vier Punkte:
1. | daß ein Mensch eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, |
2. | daß diese fremde bewegliche Sache hier aus einer Geldsorte besteht, die, so wie sie ist, geteilt werden kann, |
3. | daß dieser Mensch einem anderen Menschen von seiner Handlung erzählt und daß diesem zweiten Menschen dadurch bekannt wird, daß die betreffende Sache mittels einer strafbaren Handlung erlangt worden ist, |
4. | daß diese letzte Person ihres Vorteils wegen diese Sache an sich bringt. |
Wenn wir nun diese vier Daten in der Ausdrucksweise der Norm Gesetzesparagraph zusammensetzen, indem wir sagen:
Jemand nimmt mit der Absicht, sie sich rechtswidrig zuzueignen, einem anderen eine teilbare Geldsumme weg, er teilt diese Tatsache einer dritten Person mit, die, obwohl sie weiß, daß diese Sache mittels einer strafbaren Handlung erlangt ist,
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einen Teil dieser Summe an sich bringt - so haben wir zwar ein sehr schönes Juristendeutsch, aber keineswegs eine Form vor uns. Stellen sich dagegen jedesmal die Worte ein, die jene Handlungen bezeichnen, die sie veranschaulichen, das heißt werden die nicht weiter teilbaren Einheiten der Norm zu Sprachgebärden, so vergegenwärtigen sich - im ersten Teil unseres Falles - die Paragraphen so, daß der Fall zwar einmalig erscheint, aber daß in dieser Einmaligkeit das Gewicht des Gesetzes, die wertende Kraft der Norm vollkommen ausgedrückt und gedeutet wird.
Es ist.
1. | ein Dieb, der |
2. | eine mehrere Scheine enthaltende Brieftasche stiehlt, |
3. | seiner Geliebten davon erzählt und mit ihr teilt und sie |
4. | dadurch zur Hehlerin macht. |
In diesem Zusammenhang ist alles nach der betreffenden Norm gewertet; aus diesem Zusammenhang ergeben sich das Bestehen, die Ausdehnung und die Gültigkeit der Vorschrift.
Wir haben uns bisher auf den ersten Teil des Falles beschränkt und dabei - um genau beobachten zu können, wie in ihm die Norm anschaulich wurde und sich verwirklichte - den zweiten Teil vorläufig außer Acht gelassen. Indessen, die beiden Teile gehören zusammen, sie bilden im Sinne der Form, die wir untersuchen, ein Ganzes. Besäßen wir nur jenen ersten Teil, so könnten wir mit Recht fragen: weshalb hat ihn der Verfasser in eine Sammlung, die er ‘Groteske und Tragik im Strafrecht’ nennt, aufgenommen? Für sich betrachtet könnten dieser Teil als Exempel oder als Beispiel aufgefaßt werden.
Was ich mit Exempel oder Beispiel meine - ich gehe bei dieser Gelegenheit auf Dinge ein, die nicht Einfache Formen sind, um zu zeigen, wogegen wir diese abzugrenzen haben - erklärt am besten die Definition Kants, die sich auch im Grimmschen Wörterbuch zitiert findet:
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‘Beispiel ist mit Exempel nicht von einerlei Bedeutung. Woran ein Exempel nehmen und zur Verständlichkeit eines Ausdrucks ein Beispiel anführen sind ganz verschiedne Begriffe. Das Exempel ist ein besonderer Fall von einer praktischen Regel, sofern diese Tunlichkeit oder Untunlichkeit einer Handlung vorstellt. Hingegen ein Beispiel ist nur das Besondere als unter dem Allgemeinen nach Begriffen enthalten vorgestellt und bloß theoretische Darstellung des Begriffes.’
Ich wiederhole: für sich betrachtet könnten in jenem ersten Teil der Dieb, die Brieftasche mit Geld, die Geliebte sowohl als besonderer Fall von der praktischen Regel, die wir in dem Diebstahls- beziehungsweise Hehlereiparagraphen niedergelegt finden, aufgefaßt werden, wie auch als theoretische Darstellung der Begriffe Diebstahl und Hehlerei gelten. Bringen wir aber jenen ersten Teil wieder mit dem zugehörigen zweiten zusammen, fassen wir, wie beabsichtigt ist, die zwei als ein Ganzes, so sehen wir, daß die Möglichkeit, von Exempel oder Beispiel zu reden, aufhört.
In diesem zweiten Teile hat sich nur wenig geändert. Gleichgeblieben sind Dieb, Diebstahl, Brieftasche, Mitteilung, Geliebte. Nur die fremde bewegliche Sache, die sich der Dieb rechtswidrig zueignete, hat sich gewandelt; sie ist nicht mehr als solche teilbar, es sind keine Scheine mehr, es ist ein Schein. Aber dadurch ist nun sofort die Geliebte nicht mehr Hehlerin - sie ist nicht mehr strafbar. Ihre Handlung und ihre Haltung sind die gleichen geblieben. Aber durch die Weise, in der dieser Gesetzesparagraph abgefaßt wurde, kann ihre Handlung nicht mehr wie im ersten Teile gewertet werden.
Das, was sie an sich gebracht hat, ist nach dem Buchstaben des Gesetzes nicht mehr die Sache selbst, die der Dieb gestohlen hat, obwohl sie wußte, daß es mittels einer strafbaren Handlung erlangt war.
Was sich in diesem zweiten Teile zeigt, ist im Gegensatz zum ersten Teile nicht die positive, sondern die negative Seite des § 259; was im ersten gegeben war, wird im zweiten aufgehoben. In ihrer Gesamtheit weisen diese beiden Teile nicht auf ein Gesetz, sondern auf eine Lücke des Gesetzes hin.
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Was sich in dieser Gesamtheit verwirklicht, ist die Tatsache, daß hier ein Gewicht nicht richtig wägt, ein Maßstab nicht richtig mißt. Zugleich aber geschieht noch etwas anderes. Indem sich die Unzulänglichkeit des § 259 verwirklicht, verwirklicht sich eine höhere Norm, und zwar folgendermaßen: die Geliebte ist nach § 259 nicht mehr strafbar, aber sie ist dennoch schuldig. Sie ist schuldig, wenn man sie wägt nach jener höheren Norm, aus der die unzulängliche Norm hervorgegangen sein muß: an ihrer Schuld möchten wir auch jetzt ihre Strafbarkeit gemessen sehen. In dieser Gesamtheit wird also nicht mehr die Geliebte nach einer Norm gewertet, sondern jene Norm selbst wird nach einer anderen Norm gewertet. Praktisch gesprochen, der Zusammenhang des ersten und zweiten Teiles, das Ganze, beabsichtigt zu zeigen, daß § 259, gewogen nach der Norm unseres moralischen und rechtlichen Bewußtseins, zu leicht befunden ist, daß der Maßstab des Gesetzes hier ein ungenügender Wertmesser ist - aus dieser Absicht entspringt die Form.
Für eine solche Form möchte ich den Namen wählen, den sie in ihren Vergegenwärtigungen, in der Jurisprudenz, der Morallehre und auch noch anderswo, besitzt: ich möchte sie Kasus oder Fall nennen. Das, was in diesem Ganzen der widersprechenden Teile vor uns liegt, zeigt den eigentlichen Sinn des Kasus: in der Geistesbeschäftigung, die sich die Welt als ein nach Normen Beurteilbares und Wertbares vorstellt, werden nicht nur Handlungen an Normen gemessen, sondern darüber hinaus wird Norm gegen Norm steigend gewertet. Wo sich aus dieser Geistesbeschäftigung eine Einfache Form ergibt, da verwirklicht sich ein Messen von Maßstab an Maßstab. Bleiben wir bei dem Bilde der Wage, so liegt letzten Endes auf jeder Schale ein Gewicht, und diese Gewichte werden gegeneinander gewogen.
Damit haben wir auch den Kasus scharf von Beispiel und Exempel getrennt. Wäre es bei dem ersten Teile unseres Kasus geblieben, so hätte sich darin nur der besondere Fall einer praktischen Regel oder die theoretische Darstellung eines Begriffs veranschaulicht. Veranschaulichung aber führt nicht zur Form - Form heißt Verwirklichung. Deshalb war im ersten
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Teil schon alles darauf gerichtet, daß sich aus seinem Zusammenhang mit dem zweiten Teil, aus der Ganzheit, etwas verwirklichen konnte; und was sich verwirklichte, können wir als Divergenz oder, wie wir lieber sagen wollen, als Streuung der Normen bezeichnen.
Ehe ich zur Verdeutlichung dessen, was ein Kasus bedeutet, noch andere Fälle heranziehe, komme ich noch einmal auf den vorliegenden zurück, um bei dieser Gelegenheit zu zeigen, wie Einfache Form, Vergegenwärtigte Einfache Form und Kunstform, beim Kasus wie bei den Einfachen Formen überhaupt, sich zueinander verhalten.
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III.
So wie der Aufsatz ‘Groteske und Tragik im Strafrecht’ den ersten Fall gibt, enthält er einiges, was über die die Norm veranschaulichenden vier Daten hinausgeht. Wir hörten, daß die Handlung ‘im Gedränge der Großstadt’ stattfand, es war nicht eine Brieftasche, sondern ‘meine’ Brieftasche. Für das, was die Form zu geben hat, sind diese Hinzufügungen äußerlich und nebensächlich, sie liegen nicht im Wesen der Sache. Sie haben aber einen erkennbaren Zweck: das Gewicht des Gesetzes sollte in einer Einmaligkeit gedeutet werden - diese an sich unwesentlichen Hinzufügungen steigern das Empfinden der Einmaligkeit, erhöhen die Eindringlichkeit des Falles.
Noch ein zweites kann man von diesen Hinzufügungen ausagen: sie sind auswechselbar. Wir können statt ‘im Gedränge der Großstadt stiehlt mir ein Taschendieb’ zum Beispiel sagen ‘ein Taschendieb stiehlt einem schlafenden Herrn, mit dem er sich im gleichen Eisenbahnabteil befindet, seine Brieftasche...’, ohne daß der Kasus sich dadurch ändert. Was wir die Eindringlichkeit genannt haben, wird nur in anderer Weise erhöht.
Wodurch unterscheiden sich nun in litterarischer Hinsicht diese Hinzufügungen von den eigentlichen Bestandteilen des Kasus?
Ein Bestandteil wie Dieb muß sich unbedingt aus der Form selbst ergeben - nur durch dieses Wort, diese Sprachgebärde, läßt sich das in der Norm Begriffene, das ‘wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen’ vergegenwärtigen. Dagegen ergibt sich ein Bestandteil wie ‘im Gedränge der Großstadt’ nicht unbedingt aus der Form; er bleibt bis zu einer gewissen Höhe frei, besser gesagt, er ist - bis zu
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einem gewissen Grade - der persönlichen Wahl anheimgestellt.
Auswechselbare Bestandteile sind im Sprichwort nicht vorhanden. Wir können bei ‘trau, schau, wem’ nichts hinzufügen, nichts auswechseln, ohne daß es aufhörte, es selbst, ohne daß es aufhörte, Sprichwort zu sein, der Geistesbeschäftigung, die zum Spruch führt, zu entsprechen. Das Sprichwort ist, wie Seiler gesagt hat, ‘in sich geschlossen’, ‘es findet’ - nach Wilhelm Grimm - ‘den höberen Ausdruck von selbst’. Dieses In-sich-Geschlossensein in der Art des Sprichworts fehlt dem Kasus; er kann, um sich selbst auszudrücken, Hilfe von außen annehmen.
Wir befinden uns hier an einer Grenze der Welt der Einfachen Formen. Denn was hier geschieht oder geschehen kann, bedeutet, daß in dem Kasus, obwohl er an sich Einfache Form ist, über die Vergegenwärtigte Einfache Form hinaus, der Weg zu einer Kunstform offenliegt, ja, bis zu einer gewissen Höhe vorgezeichnet ist. Denn etwas, was auswechselbar ist, was der persönlichen Wahl anheimgestellt bleiben kann, was persönliches Eingreifen ermöglicht, kann zu jenen Formen führen, die wir Kunstformen nennen. Wir verstehen unter Kunstformen solche litterarische Formen, die gerade durch persönliches Wählen, durch persönliches Eingreifen bedingt sind, die eine letztmalige Verendgültigung in der Sprache voraussetzen, wo sich nicht mehr etwas in der Sprache selbst verdichtet und dichtet, sondern wo in einer nicht wiederholbaren künstlerischen Betätigung die höchste Bündigkeit erreicht wird.
Praktisch gesprochen steht dieser Kasus durch die Hinzufügungen, die seine Eindringlichkeit steigern, schon auf der Grenze jener Kunstform, die ihrerseits ein eindringliches Ereignis in seiner Einmaligkeit zeigt, die es nun aber gerade, weil sie Kunstform ist, nicht mehr als Kasus meint, sondern um seiner selbst willen: einer Kunstform, die wir Novelle nennen. Der Dieb und die Hehlerin, seine Geliebte und der Diebstahl, die als Einfache Form der Norm entsprungen sind, die Norm verwirklichen, haben durch diese leichten Hinzufügungen schon ein so persönliches Ansehen bekommen, daß das, was sich dort abspielt, fast aufhört, die Norm oder den Gesetzesparagraphen
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zu vertreten. Es bedürfte nur noch geringer Hinzufügungen, die den ersten Teil und den zweiten Teil unseres Kasus verbinden, um ihm völlig seinen Charakter als Einfache Form zu nehmen.
Kehren wir von diesen auswechselbaren Hinzufügungen, die nicht im Wesen der Sache liegen, zu den Bestandteilen zurück, deren Notwendigkeit feststeht, weil sie zusammen als Einfache Form den vier Gegebenheiten der Gesetzesparagraphen entsprechen, so finden wir, daß auch diesen trotz ihrer Notwendigkeit keine unbedingte Festigkeit eigen ist. Der Dieb muß als solcher Dieb bleiben, aber die Hehlerin braucht nicht ‘Geliebte’ zu sein, es könnte auch ein Hehler sein, ein Bruder, ein Freund des Diebes; es brauchen nicht ‘hundert’ zu sein, es könnte sich auch um fünfzig Mark handeln, die Brieftasche könnte eine Geldtasche mit kleinem Silbergeld sein usw. Im selben Sinne auswechselbar wie die Hinzufügungen sind diese Bestandteile nicht - das Wesen der Sache liegt in ihnen ausgedrückt, man bemerkt, daß Brieftasche, Hundertmarkschein, Geliebte bestrebt sind, dieses Wesen möglichst scharf zu bezeichnen, und dennoch ist hier die Sprachgebärde nicht so zwingend, sie greift nicht mit so unbedingter Sicherheit zu, wie sie es bei den anderen Einfachen Formen tut. Die Sprachgebärden in unserem Kasus erscheinen blaß, verglichen mit denen der Legende, in denen Geschehen unwiderstehlich zusammengewirbelt wurde: das Rad mit scharfen Klingen, Götter die zerspringen, oder mit denen der Mythe: der Berg als feuerspeien der Riese. Wir werden zu untersuchen haben, ob es nicht doch Kasus gibt, bei denen die Sprachgebärde straffer gezogen ist.
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IV.
Wir kehren zunächst zur Geistesbeschäftigung des Kasus zurück, und ich gebe, damit wir die Verschiedenheit der Lagerung der Maßstäbe noch besser beobachten können, zwei weitere Fälle aus dem Aufsatz ‘Groteske und Tragik im Strafrecht’.
‘Strafbar ist heute noch der Versuch am untauglichen Objekt mit untauglichen Mitteln: wenn eine Frau, die gar nicht schwanger ist, sich aber einbildet, schwanger zu sein, einen völlig harmlosen Kräutertee nimmt, um die Frucht, die nur in ihrer Einbildung existiert, zu beseitigen, so ist sie der versuchten Abtreibung schuldig zu sprechen.’
Wir haben es hier erstens zu tun mit einem Verbrechen oder Vergehen wider das Leben und zwar gegen das ‘keimende Leben’ (StGB. II. Teil, Abschnitt 16), also mit § 218:
‘Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft.
Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein...’
Hier liegt nun das Verbrechen oder Vergehen nicht vor, aber der Versuch eines Verbrechens oder Vergehens (StGB. I. Teil, Abschnitt 2), § 43:
‘Wer den Entschluß, ein Verbrechen oder Vergehen zu verüben, durch Handlungen, welche einen Anfang der Ausführung dieses Verbrechens oder Vergehens enthalten, betätigt hat, ist, wenn das beabsichtigte Verbrechen oder Vergehen nicht zur Vollendung gekommen ist, wegen Versuches zu bestrafen...’
Es handelt sich, wie auch von dem Verfasser des Aufsatzes erwähnt wird, um die in juristischen Kreisen lebhaft umstrittene Frage, ob ‘an einem untauglichen Gegenstand oder
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mit einem untauglichen Mittel’ ein verbrecherischer Versuch möglich sei. Das ist natürlich gerade für die praktische Gesetzgebung eine äußerst heikle Frage. Man kommt da auf sehr schwer zu begrenzende Begriffe, wie ‘absolut untauglich’ (Mordversuch an einer Leiche, Vergiftungsversuch mit Zuckerwasser) oder ‘relativ untauglich’ (Mordversuch mit einer Stickschere, Vergiftungsversuch mit einer ungenügenden Dosis). Man könnte das Schwergewicht auf die ‘Gefährlichkeit’, das heißt auf die Möglichkeit des Erfolgeintritts der Handlung legen; das Reichsgericht hat aber in einem Plenarbeschluß (24. Mai 1880) den Nachdruck auf die verbrecherische Absicht gelegt und den ‘Versuch mit untauglichen Mitteln am untauglichen Gegenstand’ für strafbar erklärt. Aus dieser zur Norm gewordenen Auffassung springt nun wieder ein Kasus heraus: er bildet eine eingebildete Schwangere, wie § 242 einen Taschendieb bildete.
Man kann hier nicht von einer Lücke des Gesetzes sprechen. Im Gegenteil! Bei der Geliebten, die das Geld tatsächlich bekommen, um das Verbrechen tatsächlich gewußt hatte, war die Vorschrift so abgefaßt, daß, obwohl das Bewußtsein ihrer Schuld allgemein vorhanden war, sie dennoch dem Paragraphen nach nicht als Hehlerin betrachtet werden - demgemäß nicht bestraft werden konnte. Bei dem Beschluß des Reichsgerichts liegt die Sache so: daß, obwohl die Handlung der eingebildeten Schwangeren nicht nur keine Folgen hatte, ja, auch keine tatsächliche Handlung im eigentlichen Sinne war, sie dennoch nach einer höheren Norm, das heißt nach der Absicht gewertet werden - demgemäß auch bestraft werden mußte. Aber wiederum wird bier eine Norm an einer anderen gemessen.
In beiden Fällen verwirklicht sich das Wägen im Kasus. In dem zweiten Teil des ersten zeigte der Kasus, daß Ausdehnung und Gültigkeit der bestehenden Vorschrift - in diesem Falle § 259 -, gemessen an der Norm Schuld, unzulänglich waren; in dem letzten zeigt er, wie die bestehende Vorschrift - in diesem Falle die im Reichsgerichtsbeschluß vorliegende Wertung des Begriffs ‘Versuch’ nach dem Begriff ‘Absicht’ - Gültigkeit und Ausdehnung bekommt auch dort, wo alles Tatsächliche aufzuhören scheint.
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Ich gebe noch einen dritten Kasus aus diesem Aufsatz:
‘Eine Schauspielerin besucht mit liebenswürdigstem Lächeln ihre Kollegin, die in aller Eile für den kommenden Abend eine neue Rolle einstudieren muß. Mit Findigkeit benützt sie einen Augenblick, als sie allein im Zimmer ist, um das Rollenmanuskript hinter den Kleiderschrank zu praktizieren. Die Kollegin kann ihre Rolle, die sie trotz rastlosen Suchens nicht mehr findet, nicht studieren, erlebt einen glänzenden Durchfall und verliert ihr Engagement. Gegen ein Strafgesetz hat sich die tückische Rivalin nicht vergangen.’
Der Verfasser leitet diesen Fall mit folgendem Satz ein, der sozusagen einen Kommentar gibt, uns den Kasus erklärt: ’Fälle bodenloser Gemeinheit und Niedertracht bleiben unter Umständen ungesühnt, da sie kein Strafgesetz verletzen, heute und künftig.’
Dieser Fall geht noch um einiges über die vorhergehenden hinaus. Im ersten Teil des ersten Kasus verwirklichte sich die Norm selbst, im zweiten Teil des ersten und im zweiten Kasus verwirklichte sich der Kampf zweier Normen im Gesetze, der Kampf dessen, was wir den Geist and den Buchstaben des Gesetzes nennen. Bei der Hehlerin wurde durch den Buchstaben dieser Geist gelähmt; bei der eingebildeten Schwangeren erlangte durch den Geist der Buchstabe eine unvorhergesehene Wirkung. Hier endlich zeigt sich, wie Ausdehnung und Gültigkeit des Gesetzes überhaupt unzulänglich sind: eine Handlung, durch die mit Vorsatz und Überlegung jemand auf das Gefährlichste geschädigt wird, kann nach den in dem Strafgesetzbuch enthaltenen Normen nicht als solche gefaßt werden. Das Bewußtsein, daß hier, auch im Sinne des Gesetzbuches, Schuld vorliegt, ist allgemein - und dennoch ist die Handlung nicht strafbar.
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V.
Nachdem wir die Einfache Form Kasus und die Geistesbeschäftigung, aus der sie hervorgeht, aus Beispielen unserer eigenen Zeit abgeleitet haben, halten wir weitere Umschau, ob und wo wir sie sonst treffen, wo sie sich häuft.
Ich greife zunächst zu einem Beispiel aus der indischen Litteratur. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts faßte ein Inder, Somadeva, eine große Anzahl Erzählungen, die in Kaschmir und anderswo in Umlauf waren, von neuem zusammen und nannte die von ihm bearbeitete Sammlung ‘Kathāsaritsāgara’, den Ozean der Ströme der Erzählungen. Diese Zusammenfassung läßt sich vergleichen mit Sammlungen, die wir aus anderen Zeiten und anderen Gegenden kennen: mit den Gesta Romanorum, Tausendundeine Nacht, Dekamerone. Innerhalb dieses ‘Ozeans’ finden wir nun wieder zusammengehörige Erzählungen, die in ihrer Zusammengehörigkeit das bilden, was wir eine Rahmenerzählung nennen - ein Begriff, den man zur Not auch auf den ganzen ‘Ozean’ anwenden kann.
Eine dieser eingeschalteten Rahmenerzählungen heißt: Vetālapāncavimsātika, die fünfundzwanzig Erzählungen des Vetāla.
Zu dem berühmten König Trivikramasena war täglich ein Bettler gekommen und hatte ihm als Huldigung jedesmal eine Frucht geschenkt. Nach zehn Jahren entdeckte der König, nachdem eine Affe eine dieser Früchte zum Spielen genommen hatte, daß in den Früchten unschätzbare Juwelen verborgen waren, die sich im Schatzhause, durch dessen Fenster sie der Schatzmeister immer zu werfen pflegte, zu einem großen Haufen angesammelt hatten. Als der König den Bettler fragte, weshalb er ihm so verschwenderisch huldigte, erzählte ihm dieser unter vier Augen, daß er die Beihilfe eines Helden - der König im indischen Sinne ist Held - zur Vollbringung eines Zaubers brauche. Auf die Gaben und die Bitten des Bettlers hin muß
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der König seine Beihilfe zusagen - der König im indischen Sinne muß helfen, wenn er gebeten wird, wenn man ihm huldigt -, und der Bettler bittet ihn, abends in der Zeit des abnehmenden Mondes auf den Begräbnisplatz zu kommen. Der König erscheint an der verabredeten Stelle auf dem Leichenplatz, der voll ist von lodernden Scheiterhaufen und greulichen Gespenstern, und wird von dem Bettler zu einem weit entfernten Feigenbaum geschickt, an dem die Leiche eines Mannes hängt; diese Leiche soll er dem Bettler bringen. Der König geht hin und schneidet den Leichnam ab, der, als er auf die Erde fällt, kläglich zu schreien anfängt. Zuerst glaubt Trivikramasena, einen Lebenden vor sich zu haben, und beginnt ihn zu reiben; da lacht die Leiche gellend auf und der König erkennt, daß sie von einem Vetāla, einem Unhold, bewohnt ist. Als er sie aber unerschrocken anredete, hing sie plötzlich wieder aufrecht am Baume. Da verstand der König, daß er zu schweigen hatte, stieg wiederum auf den Baum, schnitt den Leichnam wieder ab, lud ihn auf seine Schulter und ging schweigend mit ihm von dannen. Da sagte plötzlich der Vetāla zu ihm, er wolle ihm eine Geschichte erzählen, um ihm den Weg zu kürzen. Er erzählt, und es zeigt sich, daß diese Geschichte eine Frage enthält - sie ist ein Kasus -: es handelt sich darum, festzustellen, wer schuld war am Tode zweier Menschen. Zu Ende der Erzählung fordert der Vetāla den König auf, seine Meinung zu sagen, indem er ihm mit einem Fluche droht: sein Kopf solle zerspringen, wenn er ein Urteil wisse, es aber verschweige. Dieser Fluch ist die Bestätigung einer Pflicht, die Verdoppelung eines Zwanges, unter dem der König als König steht: der König im indischen Sinne ist Weiser, er muß in Streitigkeiten das Urteil
fällen, er muß die Frage des Vetāla entscheiden. Dieser Pflicht kommt der König nach. Damit aber hat er das ihm auferlegte Schweigen gebrochen - und die Leiche hängt wieder am Feigenbaum.
So geht es dreiundzwanzigmal, bis ihm der Geist in der vierundzwanzigsten Erzählung einen Fall vorlegt, den er nicht entscheiden kann; well er ihn aber nicht entscheiden kann, verletzt er durch sein Schweigen die Pflicht nicht. Der Vetāla ist nun so überzeugt von dem Mut und der Weisheit des Königs,
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daß er ihm den Rat gibt, den Bettler, der ihn opfern wollte, um die Herrschaft über die Geister zu erlangen, zu töten und damit selbst die Herrschaft über die Geister des Himmels zu gewinnen. So geschieht es; und die Rahmenerzählung schließt damit, daß der König sich wünscht, die Erzählungen des Vetāla sollten überall berühmt werden, und daß der Vetāla ihm zusagt, böse Geister sollten keinen Zutritt haben, wo auch nur ein Teil dieser Erzählungen gelesen oder gehört werde.
Der Wunsch des Königs ist zum Teil in Erfüllung gegangen: eine Anzahl dieser Kasus ist in der ganzen Welt bekannt geworden. Ich gebe ein Beispiel, das uns den Kasus zeigt, und wähle dazu die zweite Erzählung.
Ein Brahmane hat eine schöne Tochter. Kaum ist sie erwachsen, so kommen drei Freier, gleich an Geburt und an Trefflichkeit. Jeder von ihnen will lieber sterben, als sie einem der zwei anderen vermählt sehen. Der Vater fürchtet seinerseits, die anderen zu beleidigen, wenn er sie dem einen gibt, und so bleibt die Schöne eine Zeitlang unvermählt. Plötzlich erkrankt sie und stirbt. Sie wird eingeäschert, und der erste Liebhaber baut sich über ihrer Asche eine Hütte, in der er von nun an lebt. Der zweite sammelt ihre Knochen und trägt sie zum heiligen Strome, zum Ganges. Der dritte durchwandert die Welt als Pilger. Dieser dritte kommt eines Abends zu einer Brahmanenfamilie; ein Kind ist bei Tische unartig und schreit. Die Mutter wird böse und schleudert es ins Feuer, wo es verbrennt. Großes Entsetzen seitens des Pilgers! Aber der Vater beruhigt ihn, er holt ein Zauberbuch, spricht die Formel, und das Kind sitzt wieder da, genau wie vorher. In der Nacht stiehlt nun der dritte Liebhaber das Buch. Er kommt nach Hause und erweckt die Jungfrau wieder zum Leben. Da sie durch das Feuer gegangen ist, ist sie noch viel schöner als vorher. Nun streiten die drei Freier von neuem, aber zwischen dem früheren Streit, wo alle gleich waren, und dem jetzigen liegt etwas, liegt eine Handlung: jeder hat nach einer bestimmten Norm getan, was er glaubte, als Liebhaber und Brahmane tun zu müssen. Jetzt wird es möglich sein zu bestimmen, wer sie bekommen soil. ‘Und nun. König.’ - sagt der Vetāla - ‘entscheide du ihren Streit.’
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Was muß der König tun? Er wägt die Handlungen gegeneinander ab, er deutet sie. Der sie zum Leben erweckte, ist ihr Vater; der ihre Knochen zum Ganges trug, tat, was nach indischer Sitte Kinder für die Eltern zu tun haben, er ist also ihr Sohn; endlich der Mann, der bei ihr blieb, bei ihr ruhte, treu bei ihr harrte, der ist ihr Gatte. Der König hat gesprochen - die Leiche hängt wieder am Feigenbaume - alles kann von Neuem beginnen - ein neuer Kasus. -
Ich babe schon darauf hingewiesen, daß Somadeva in seiner Sammlung ältere Geschichten bearbeitet hat. Und so gibt es auch von dem eben geschilderten Kasus zahlreiche frühere und spätere Fassungen in Indien. Er fehlt auch in Europa nicht. Sobald sich in Italien die Novelle regt, sehen wir ihn erscheinen. Die Wandlungen dieses Kasus sind zusammengestellt in einem Aufsatz von W.H. Farnham ‘The Contending Lovers’ (Publications of the Modern Language Association of Amerika, XXXV, 1920). Verblaßt und abgeschwächt erkennen wir ihn in Uhlands ‘Es zogen drei Burschen wohl über den Rhein’.
Uns kommt es nicht darauf an, der Erzählung auf ihren Wandlungen durch die Litteraturgeschichte zu folgen, sondern sie in ihrem Charakter als Kasus zu verstehen.
Erstens zeigt uns dieser Kasus etwas, was zwar auch in unserer Sammlung von Rechtsfällen vorlag, was wir aber dort nicht so deutlich beobachten konnten: auch im Kasus steckt wiederum ein Verhältnis zur Frage. In der Mythe gibt sich in Frage und Antwort die Welt in ihren Erscheinungen bekannt, wird sie von ihrer Beschaffenheit aus Schöpfung. In dem Rätsel wird in Frage und Antwort die Zugehörigkeit zur Weihe geprüft und kundgegeben. In dem Kasus ergibt sich die Form aus einem Maßstab bei der Bewertung von Handlungen, aber in der Verwirklichung liegt die Frage nach dem Werte der Norm. Bestehen, Gültigkeit und Ausdehnung verschiedener Normen werden erwogen, aber diese Erwägung enthält die Frage: wo liegt das Gewicht, nach welcher Norm ist zu werten?
Diese Frage wird in dem Kasus der ‘Nebenbuhler’ regelrecht gestellt. Die Pflicht der Entscheidung wird in der gegen- | |
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wärtigen
Erzählung dem Weisen, dem König, auferlegt, aber sie liegt in dem Kasus als solchem zugleich tiefer und allgemeiner. Auch in unserem ersten Rechtsfall spüren wir diese Pflicht der Entscheidung, auch die Geschichte von der Geliebten, die keine Hehlerin und doch Hehlerin war, brachte uns, obwohl die Frage als solche nicht gestellt wurde, zu Erwägungen: Wie nun? soll sie bestraft, soll sie nicht bestraft, soll unser Strafgesetzbuch so bleiben oder soll es geändert werden? Soll der Buchstabe, soll der Geist des Gesetzes gelten?
Das Eigentümliche der Form Kasus liegt nun aber darin, daß sie zwar die Frage stellt, aber die Antwort nicht geben kann, daß sie uns die Pflicht der Entscheidung auferlegt, aber die Entscheidung selbst nicht enthält - was sich in ihr verwirklicht, ist das Wägen, aber nicht das Resultat des Wägens. Das Gerät mit den zwei Schalen heißt auf lateinisch bilanx, woraus die romanischen Bezeichnungen für Wage, balance, bilancia, hervorgehen. Wir haben daher das Verbum balancieren übernommen, auch mit der Bedeutung: versuchen das Gleichgewicht zu finden. In dem Kasus liegen die Reize und die Schwierigkeiten des Balancierens vor uns - wollen wir deutsche Wörter, so können wir sagen, daß sich in dieser Form das Schwanken und Schwingen der wägenden und erwägenden Geistesbeschäftigung verwirklicht.
Und so ist es dann auch die Eigentümlichkeit des Kasus, daß er dort aufhört, ganz er selbst zu sein, wo durch eine positive Entscheidung die Pflicht der Entscheidung aufgehoben wird. Dies ist das zweite, was wir in den Geschichten des Vetāla beobachten können und was in der Erzählung als Ganzes zum Ausdruck kommt.
Wir haben im Anschluß an den ersten Kasus, dem vom Diebe und der Hehlerin, festgestellt, daß der Kasus eine Neigung besitzt, sich zur Kunstform zu erweitern - wir fügten hinzu, Novelle zu werden. Das ist in den Vetāla-Erzählungen geschehen. Damit zerstörte aber die Kunstform in ihrer Eigengesetzlichkeit die Einfache Form, aus der sie gewachsen war. Die Entscheidung war gefallen - damit hörte der Kasus auf, Kasus zu sein. Nun aber schreitet die Rahmenerzählung fort, und wie es im Leben in der Welt der Normen zu geschehen
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pflegt, kaum ist der eine Kasus entschieden, so erscheint schon wieder ein anderer, ja, sogar das Verschwinden des Einen verursacht das Erscheinen des Anderen - was in der Erzählung heißt: die Leiche hängt wieder am Feigenbaume, der König muß wieder von neuem anfangen. Mit erstaunlicher Feinheit ist hier die Welt des Kasus gegriffen, denn auch die Handlungen des Königs im Rahmen werden von dieser Form aus bestimmt: ob er dem Vetāla antwortet oder nicht antwortet, ist Kasus, denn Antworten heißt seine Königspflicht erfüllen, Nichtantworten das Gebot zu schweigen einhalten - und schließlich schneidet er jedesmal die Leiche ab, weil er wiederum eine Pflicht dem Bettler gegenüber übernommen hat. So kann dann das Ganze nur damit enden, daß ein Kasus Kasus bleibt und nicht entschieden wird, aber nun auch eigentlich nicht zur Novelle wird - und das geschieht in der vierundzwanzigsten Erzählung, wo der König nicht entscheiden kann. Da heißt es dann: ‘Der König erwog die Frage des Vetāla immer und immer wieder, er fand keine Antwort. So schritt er in tiefem Schweigen weiter.’ Hier banlanciert alles - wir kennen wenig Beispiele aus der Litteraturgeschichte, wo eine Form sich so in allen Einzelheiten verwirklicht.
Noch ein drittes zeigen uns die Vetāla-Erzählungen: wo wir den Kasus zu suchen haben, wann wir uns in der Welt der Wage befinden.
Mehr als andere Völker hat der Inder das Bedürfnis, nach Normen zu leben. Nirgends ist der Begriff ‘Leitfaden’ im Sinne einer Sammlung von Regeln so lebendig als in Indien. Es gibt nicht nur Lehrbücher zur Erreichung und Verknüpfung der drei großen Lebensziele, es gibt Lehrbücher für noch ganz andere Dinge, und überall und immer wird in diesen Sūtras und Śāstras nach Normen gewertet. In einem bekannten indischen Drama - Mrcchakatika - sehen wir auf der Bühne, wie ein Einbrecher einen Einbruchsdiebstahl ausführt. Könnten wir nun in unserer eigenen Umgebung bestimmen, nach welchen Paragraphen des Gesetzbuches dieser Mensch sich strafbar macht, so geht es hier beträchtlich weiter. Dieser Einbrecher bricht ein nach den Regeln eines ‘Leitfaden für Diebe’ - er zitiert, während er arbeitet - denn Diebstahl ist seine Arbeit - | |
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die einzelnen Paragraphen dieses ‘Gesetzbuches’, er folgt der Regel, er arbeitet nach der Vorschrift. Wir besitzen dieses rechtswidrige Handbuch leider nicht mehr - ob es wirklich existiert hat, dürfen wir bezweifeln. Aber aus einer solchen Welt, in der sich das Leben als ein nach Normen Wertbares und Beurteilbares vollzieht, muß der Kasus überall hervorgehen. Tatsächlich sind eine große Anzahl der Kasus, die sich im Umlauf befinden und trotz ihrer Abgeschlossenheit zum Teil noch erkennbar sind, indischen Ursprungs.
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VI.
Im Abendlande vollzieht sich unser Leben in etwas anderer Art - aber auch hier finden wir die Form Kasus jedesmal, wenn in dieser Weise gewogen wird.
Die Geschichte des Kasus und der Wanderungen und Wandlungen einzelner Kasus, auf die ich hier verzichte, wäre eine schöne Aufgabe. Es gibt einige, die außerordentlich verbreitet sind. Ich erinnere an die Prinzessin auf der Erbse, oder an die Geschichte von den Feinschmeckern, die die Qualität eines Fasses uralten Weines beurteilen sollen; der eine stellt einen leichten Eisengeschmack, der andere einen ebenso leichten Ledergeschmack fest: tatsächlich findet man, als das Faß zur Neige geht, auf dem Boden ein winziges Schlüsselchen mit einem Lederstreifchen, das beim Keltern hineingefallen sein muß. Diese beiden Fälle mit ihren zahllosen Varianten zeigen uns ein Gebiet, wo schwer gewertet werden kann und wo man doch nach Normen verlangt, das Gebiet der Sinneswahrnehmungen, des Gefühls und des Geschmacks.
Auch aus den Normen der Logik tritt schon im Altertum der Kasus hervor. So verwirklicht sich in ihm der tragische Trugschluß, den wir die Crocodilina nennen. Ein Krokodil hat ein Kind geraubt und der Mutter versprochen, es ihr zurückzugeben, wenn sie ihm darüber die Wahrheit sagen würde. Die Mutter sagt nun: du gibst mir mein Kind nicht wieder. Das Krokodil antwortet: nun erhältst du das Kind keinesfalls, sei es, wenn du wahr sprachst auf Grund deines Ausspruches, sei es, wenn du die Wahrheit nicht sagtest, auf Grund unsres Vertrages. Die Frau sagt: Ich muß mein Kind in jedem Falle erhalten, wenn ich die Wahrheit sagte, kraft unseres Vertrages, oder aber, wenn das von mir Behauptete nicht zutrifft, gemäß meiner Aussage. Die Varianten ergeben sich hier von selber.
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Noch auf anderen Gebieten sehen wir, wie in der Kultur des Abendlandes sich der Kasus in bestimmten Zeiten häuft, wie die Kasus wie Pilze aus dem Boden schießen.
Ich denke an die Zeit der großen Minnekultur, die Zeit, da eine gewisse Art der Liebe das Leben gestaltet, da fast alle Handlungen mit dieser Liebe in Zusammenhang gebracht werden, von der Liebe aus ihre Wichtigkeit, ihre Wucht bekommen. Wo die Minne wertet, da ergeben sich die Normen der Minne, die Regeln der Minne, der Gesetzeskodex der Minne mit seinen Paragraphen, da finden wir den Minnehof, wo über Vergehen gegen die Minne geurteilt wird, wo die Fragen der Minne erwogen, wenn möglich entschieden werden. Die Spannung der Minne wird klingend im Liede, die Weise der Minne veranschaulicht sich im Beispiel und Exempel, die Wertung der Minne, ihr Wägen und Erwägen, verwirklicht sich im Kasus.
So sind dann in verschiedenartiger Überlieferung die Kasus der Minne auf uns gekommen. Wir haben sie in ihren ersten Anfängen, wo sie noch theoretische Fragen sind wie: soll ein Mann die Frau, die in Stand und Reichtum über ihm steht, lieben oder die Frau, die in dieser Hinsicht unter ihm steht? Oder: was ist dem Minnenden größerer Genuß, an die Geliebte zu denken, oder die Geliebte zu sehen? Wir sehen dann, wie die Frage allmählich zur Form wird: ein Mädchen wird von zwei jungen Männern geliebt, sie nimmt den Kranz des Einen und setzt ihn sich selber auf, während sie ihren eigenen Kranz dem Anderen schenkt. Wem hat sie den größten Beweis ihrer Huld gegeben? Allmählich prägt sich die Form immer deutlicher aus, der Kasus rundet sich: Ein junger Mann liebt ein Mädchen. Durch die Hilfe einer alten häßlichen Kupplerin kommt es zu einer Zusammenkunft, aber sie werden dabei von den Brüdern des Mädchens überrascht. Die Brüder schenken dem Liebhaber das Leben unter der Bedingung, daß er ein Jahr lang mit dem Mädchen, aber auch ein Jahr lang mit der Kupplerin leben soll. Man erwartet die Frage: wird er das Leben annehmen? - in der Quelle jedoch, aus der ich zitiere, heißt sie: mit wem von beiden soll er das erste Jahr verbringen? Oder: Ein Mädchen wird von zwei jungen Männern geliebt;
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sie wird durch unglückliche Umstände zum Scheiterhaufen verurteilt und kann nur erlöst werden, wenn ein Ritter mit den Waffen ihre Unschuld beweist; der erste Jüngling ist bereit, für sie zu streiten; der zweite aber, der erst später von dem Zweikampf gehört hat, tritt als Gegner auf und läßt sich besiegen. Wer hat den größten Beweis seiner Liebe gegeben?
Ein Teil dieser Minnekasus ist so verzwickt und gekünstelt, daß wir glauben könnten, hier Bezogene Formen vor uns zu haben - es ist indessen schwer, sich eine Lebensgestaltung wie die Minne in allen ihren Folgen und ihren Normen durchzudenken. Jedenfalls sehen wir aus den letzten Fällen, wie auch hier, wie in unseren ersten Rechtsfällen, der Kasus auf die Novelle zustrebt, aber wie auch hier die Novelle, indem sie die Entscheidung bringen muß, den Kasus aufhebt. Tatsächlich ist die Kunstform, die wir im besonderen toscanische Novelle nennen, zum guten Teil aus dem Minnehof und dem Minnekasus hervorgegangen. Aber das gehört nicht hierher.
Wir sprechen von ‘Minnehof’, von ‘Vergehen gegen die Minne’, von ‘Urteil’. Es sind das alles Ausdrücke, die sich hier auf die wertende Liebe beziehen, die aber andererseits auch Begriffe aus der wertenden Gerechtigkeit bezeichnen. Wir sehen, wie die gleiche Ausdrucksweise Domänen vereinigt, auf denen sich jedesmal die Geistesbeschäftigung des Wertens, des Wägens und Erwägens, der Normen und Maßstäbe einstellt. Es sind dies wiederum keine Übertragungen oder bildliche Ausdrücke, sondern wir haben hier die Sondersprache der wertenden Welt vor uns. Sie ist nicht ganz die gleiche wie im Rätsel, aber wir erkennen sie doch in ihrer Vieldeutigkeit. Mustern wir weiter die Ausdrücke der Minnesprache, so sehen wir, daß sie durch ihre Bedeutung auch noch ein anderes Gebiet als das der Liebe und Gerechtigkeit in sich hineinbeziehen kann: das der Religion, vielmehr der Theologie. Worte wie Gnade, Dienst, Lohn, die uns da auf Schritt und Tritt begegnen, kommen auch in der Sprache der Theologie vor - auch dort haben sie eine wertende Bedeutung. Wie sich einerseits Gerichtshof und Minnehof zusammenstellen lassen, wie in beiden einem König oder einer Königin als höchstem
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Richter die Pflicht der Entscheidung obliegt, so kann man andererseits Minnedienst und Gottesdienst nebeneinander stellen. Ich fasse zusammen: es ist die Eigentümlichkeit der kasuistischen Sondersprache, daß sie die Gebiete, wo nach Normen gewertet wird, in sich zusammenzieht. Und zugleich: es ist der Reiz der Sprache der Minne, daß wir in ihr auch die Sprache der Gerechtigkeit und die Sprache der Theologie mitklingen hören.
Verglichen mit der Musik gibt die Gemeinsprache Töne, die Sondersprache Akkorde - ein solches Zusammenstimmen haben wir im Minnesang.
Wir müssen aus diesen Ausdrücken, aus diesen Sprachgebärden des Kasus noch eine hervorheben: Lohn. Lohn kann Gegenstand sein, und gegenständlich kann er wiederum mit der Macht des Kasus, mit allem, was der Kasus bedeutet, geladen sein. Lohn in diesem Sinne kann sowohl das Schwingen und Schwanken im Kasus, wie die Entscheidung vertreten. Belohnung, Liebeslohn, Gotteslohn verhalten sich als Gegenstand zum Kasus, wie Reliquie zur Legende, wie Symbol zur Mythe.
Damit sind wir aber auf ein Gebiet gekommen, wo der Kasus in Leben und Litteratur des Abendlandes eine sehr beträchtliche Rolle gespielt hat - auf das Gebiet der Theologie, im besonderen der Moraltheologie, der Lehre von den Pflichten.
Hier sind nun Kasus in Hülle und Fülle gesammelt. Die Bücher, die sie umfassen, bilden eine Bibliothek. Ja, das Wort Kasuistik bedeutet, wo man es im allgemeinen benutzt, meistens die moraltheologische Tätigkeit, wie sie sich in der katholischen Kirche hauptsächlich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts entfaltet hat. Diese Kasuistik hat oft in sehr schlechtem Ruf gestanden, und seit Pascal pflegten diejenigen innerhalb und außerhalb der Kirche, die sich mit ihr auseinanderzusetzen hatten, mit Vorliebe von dieser Kasuistik als Waffe Gebrauch zu machen. Die Kasuistik gilt als Wertmesser der katholischen Moral überhaupt; wenn wir Kasuistik sagen, meinen wir reservatio mentalis oder Jesuitismus im bösen Sinne.
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Ich kann auf diese Kasuistik als solche natürlich nicht eingehen. Nur ganz in kurzem möchte ich zeigen, wie sich hier - wie vorher in der Minne - die Form Kasus verwirklicht. Im Gegensatz zu einer Moral, wie sie in den Geboten als absoluten Normen gegeben ist, und zu einer Moral, die die freie sittliche Triebkraft des Glaubens vertritt, haben wir hier eine Moral, die verschiedene Normen gegeneinander wägt, eine Moral mit beweglichen Wertungen, eine - ich benutze das Wort durchaus in ernstem Sinne - balancierende Moral. Der Gegensatz dieser Moral zu einer Scholastik, die Tugenden und Laster möglichst gegenständlich zu fassen suchte, scheint mir deutlich und ebenso, daß dieses Werten durchaus human gemeint war, daß es nicht nur das Beichtkind gegen individuelle Auffassungen und Launen des Beichtvaters schützte, sondern es auch vor Verzweiflung der absoluten, der Todsünde, gegenüber behütete und den Weg zum Himmel erleichterte.
Indessen mußte die Kasuistik ihrer Art nach zu vielen Streitigkeiten führen. Eine sehr genaue Übersicht über diese Kontroversen findet sich in dem Buch von I.v. Döllinger, Geschichte der Moralstreitigkeiten in der römisch-katholischen Kirche seit dem 16. Jahrhundert (Nördlingen 1889). Ich greife aus den vielen Begriffen, mit denen gearbeitet wurde, zu unserem Zwecke nur einen heraus, den wichtigsten, den des Probabilismus.
‘In manchen Fällen’, heißt es, ‘ist keine volle Gewißheit über die Pflichtmäßigkeit, Erlaubtheit oder Unerlaubtheit zu erlangen; es stehen sich dann zwei Ansichten gegenüber, von denen jede sich auf Gründe stützt, keine certa, jede nur probabi1is ist. In diesem Falle können nun entweder beide gleich viele Gründe für sich haben, aeque probabiles sein, oder die eine hat mehr Gründe für sich als die andere, die eine ist probabilior, die andere minus probabilis; wenn das Gewicht der Gründe für die eine bedeutend größer ist als für die andere, ist die eine probabilissima, die andere tenuiter probabilis. Die Probabilität kann sich entweder auf innere Gründe stützen, probabilitas intrinseca, oder auf äußere, d.h. die Autorität von solchen, die für
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Sachverständige gehalten werden, probabilitas extrinseca’ (I, 3).
Und so weiter - noch einmal, wir wollen die praktischen Konsequenzen dieser Anschauungsweise hier nicht verfolgen, das Zitat genügt, um uns die Geistesbeschäftigung, von der wir ausgegangen sind, noch einmal auf einem bestimmten Gebiet in vollem Umfange und in aller Deutlichkeit zu zeigen. Wir brauchen kaum etwas hinzuzufügen. Aus dieser Geistesbeschäftigung muß im Leben und in der Litteratur der Kasus als solcher hervorgehen, die moralische Welt, die hier vor uns liegt, kann sich nur in dieser Form verwirklichen.
Die Kasus, die sich aus den Moralstreitigkeiten ergeben haben, sind, insoweit sie nicht von Gegnern benutzt oder ausgenutzt wurden, in einem kleinen Kreis geblieben. Und dennoch scheint mir, daß ihre Wirkung auf die Litteratur im allgemeinen von Wichtigkeit gewesen ist. Oder vielleicht müssen wir sagen, daß sich das, was sich in der katholischen Kirche auf dem begrenzten Gebiet der Moraltheorie zeigte, auch in der Litteratur in ihrer Gesamtheit auswirkte. Was wir in der Litteratur des 18. und 19. Jahrhunderts Psychologie zu nennen gewohnt sind, das Wägen und Messen der Beweggründe einer Handlung nach inneren und äußeren Normen, dieses bewegliche Kriterium der Beurteilung der Charaktere im Kunstwerk und des Kunstwerkes als solchem, scheint mir eine große Verwandtschaft zu besitzen mit dem, was wir in der katholischen Kasuistik vor uns sehen. Aber auch dies gehört nicht in eine Morphologie der Einfachen Formen.
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