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Spruch
I.
Der Kurzform Rätsel stelle ich eine andere Kurzform an die Seite, die wir gewöhnlich Sprichwort nennen. Inwieweit damit eine besondere Vergegenwärtigung gemeint ist, und inwieweit wir von ihr aus auf eine Einfache Form werden schließen können, muß sich im Laufe der Untersuchung herausstellen. Unter dem Namen Sprichwort ist hauptsächlich das gesammelt, was wir an erster Stelle für die Untersuchung. brauchen. Und zwar setzen diese Sammlungen schon früh ein - viel früher als von einem Wissenschaftszweig, der sich Volkskunde nennt, die Rede ist, - auch mit ganz anderen Zielen. Die ersten wissenschaftlichen Sammlungen dieser Art des späten Abendlandes fallen mit dem Humanismus zusammen und sind in einem bestimmten Sinne philologisch-pädagogisch. Ich erinnere nur an Erasmus, an Sebastian Franck, an Agricola, an Heinrich Bebel - und auch daran, daß Luther sich zu eigenem Gebrauch eine Sprichwörtersammlung angelegt hat. Wir finden darüber Näheres in dem vortrefflichen Buche, von dem ich bei unseren Betrachtungen ausgehen werde, in der ‘Deutschen Sprichwörterkunde’ von Friedrich Seiler, das in der Reihe der Handbücher des deutschen Unterrichts an höheren Schulen (Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1922) erschienen ist. Ein Hinweis auf diese in jeder Hinsicht vollständige Arbeit enthebt mich der Mühe, die Sprichwörtersammlungen und Lexika der Neuzeit zu nennen.
So günstig aber Seilers Vorarbeit ist, so gibt es doch auch hier wieder manches, was wir anders fassen müssen.
Seilers Bestimmung des Sprichwortes lautet: ‘Im Volksmund umlaufende, in sich gesehlossene Sprüche von lehrhafter Tendenz und gehobener Form.’
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Kurz ehe die große ‘Sprichwörterkunde’ erschien, hatte Seiler in einem kleineren Buche eine Definition gegeben, die etwas anders lautete:
‘Sprichwörter sind im Volksmund umlaufende Sprüche von lehrhaftem Charakter und einer über die gewöhnliche Rede gehobenen Form.’
Wenn jemand eine Begriffsabgrenzung ändert, so bedeutet das, daß seine Gedanken an der betreffenden Stelle geschwankt haben. Hier finden wir, daß der lehrhafte ‘Charakter’ durch eine lehrhafte ‘Tendenz’, das weiter ausgreifende Wort von einem vorsichtigeren, ersetzt worden ist. Bei ‘lehrhaft’ scheint sich Seiler also etwas unsicher gefühlt zu haben. Hinzugekommen ist in der zweiten Definition das ‘in sich Geschlossene’. Den beiden Definitionen gemeinsam ist: 1. daß ein Sprichwort ‘im Volksmunde umläuft’, 2. daß es ein ‘Spruch’ ist, 3. daß es eine ‘gehobene’ Form zeigt.
Sehen wir uns dieses ‘Umlaufen im Volksmund’ oder die Volkläufigkeit, wie später dieses Hauptmerkmal genannt wird, etwas näher an. Daß der Ausdruck ‘Volk’ hier heikel ist, hat Seiler wiederum selbst gefühlt. Zwar wird erst gesagt: ‘der Gedanke muß faßlich und nicht allzu hoch sein, die Worte allgemein bekannt und dem Volke vertraut’, und es werden deshalb Sätze wie: In der Liebe haben alle Frauen Geist, oder Alles Irdische ist vergänglich, vom Sprichwort abgetrennt; aber gleich darauf heißt es: ‘Damit, daß das Sprichwort ein wirkliches Volkswort sein muß, ist aber durchaus nicht gesagt, daß jedes Sprichwort im ganzen Volke gangbar sein müsse. Viele Sprichwörter sind nur in einzelnen Orten, Landschaften. oder Volksstämmen heimisch und erscheinen dann häufig im Dialekt.’ Und wieder etwas weiter heißt es: ‘Manche Sprichwörter sind ferner aus bestimmten Berufskreisen hervorgegangen: Soldaten-, Handwerker-, Bauern-, Studentensprichwörter. Auch die geistige und sittliche Bildung bewirkt einen Unterschied im Gebrauch der Sprichwörter. Es gibt Sprichwörter, die mehr in den höheren, und solche, die mehr in den niederen Schichten eines Volkes zu Hause sind. Die ersten nähern sich der Grenze, wo das Sprichwort aufhört und der Denkspruch anfängt.’
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Wir hätten uns demnach eigentlich drei Schichten vorzustellen: die niedere, die höhere und die allerhöchste. In den beiden ersten befindet sich das Sprichwort, in der letzten der Denkspruch. Wie aber diese Schichten nun in dem Gesamtkomplex ‘Volk’ gelagert sind, wie sie sich zueinander verhalten, und wie demzufolge das Verhältnis vorn niederen Sprichwort zum höheren, vom höheren zum Denkspruch zu denken ist, oder wie diese zusammen sich wiederum verhalten zu den früher erwähnten Sprichwörtern aus Berufskreisen, erfahren wir nicht. Meint man, diese Denksprüche seien Produkte der Litteratur, so ist auch dies nicht ganz richtig, denn gleich darauf wird gesagt: ‘diese Trennung zwischen höheren und niederen Sprichwörtern pflegt dann einzutreten, wenn sich von der Volksprache eine Schriftsprache loslöst.’ Schon das höhere Sprichwort fällt also mit der Schriftsprache zusammen.
Nun wird aber diese Trennung zwischen höherem und niederem Sprichwort gleich wieder aufgehoben - oder doch jedenfalls nicht als maßgebend betrachtet, denn dazwischen befindet sich wiederum etwas anderes: ‘Zwischen beiden Klassen liegt nun aber, beide an Zahl übertreffend, eine breite Mittelschicht von solchen Sprichwörtern, deren sich alle Schichten des Volkes ohne Unterschied bedienen.’
Es wird sogar gesagt, wann diese Mittelschicht entstanden ist: ‘Diese stammen zum Teil aus einer Zeit, in der das geistige Leben des Volkes, seine Empfindungs- und Ausdrucksweise noch einheitlich und nicht nach Ständen und Gesellschaftsklassen geschieden war.’
Es scheint mir nicht ganz leicht, sich jene Zeit ohne Trennung nach Klassen, Ständen usw. sprachlich oder soziologisch vorzustellen. Ich wage es sogar, die Möglichkeit eines solchen kulturhistorischen Idylls zu bezweifeln. Zum Teil stammen aber auch die Sprichwörter der Mittelklasse aus einer anderen Zeit: ‘sie sind aus der oberen Schicht in die untere hinuntergesickert.’ Aber jedenfalls gehören dieser Mittelklasse ‘nicht nur die verbreitetsten, sondern auch die meisten Sprichwörter an.’
Ein genaues Bild dessen, was hier mit Volk gemeint ist,
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oder wo in diesem Volke das Sprichwort entsteht und gelagert ist, bekommen wir jedenfalls in dieser Weise nicht.
Es gibt aber mit diesem Begriffe ‘Volk’ noch wieder andere Schwierigkeiten, sobald wir zu dem Kapitel - es ist das zweite - gelangen, das von der Entstehung des Sprichwortes handelt und wo wir über das Wie orientiert werden sollen. Hier werden die Sprichwörter ihrem Ursprunge nach in zwei Klassen geteilt: die litterarischen und die aus dem Volke hervorgegangenen. Die Litteratur scheint also eigentlich nicht zum ‘Volke’ zu gehören. Die litterarischen Sprichwörter, sagt Seiler ‘sind weit zahlreicher, als man gewöhnlich annimmt. Es sind zugleich die verbreitetsten und gehaltvollsten.’
Da von den litterarischen in einem besonderen Buche gesprochen werden soll, will Seiler sich in seiner Sprichwörterkunde ausschließlich mit den aus dem Volke selbst hervorgegangenen beschäftigen. Zunächst aber muß eine ‘romantisierende Ansicht’ beseitigt werden. ‘Lange Zeit hat die Ansicht geherrscht, das Volkssprichwort habe ebenso wie das Volkslied, das Volksmärchen, die Volkssage seinen geheimnisvollen Ursprung in den Tiefen der Volksseele.’ Diese Ansicht, die schon bei Aristoteles zu finden sein soll und unabhängig von Aristoteles später von Rousseau und Herder zu allgemeiner Geltung gebracht ist, kann, heißt es, neueren Forschungen nicht standhalten: auch die populären Sprichwörter sind keineswegs auf eine geheimnisvolle Weise aus der Tiefe der Volksseele erwachsen. ‘“Das Volk” als Ganzes kann überhaupt nichts schaffen. Jede Schöpfung, Erfindung, Entdeckung rührt immer von einer Einzelpersönlichkeit her. Irgendwo und irgendwann muß jedes Sprichwort einmal zuerst ausgesprochen worden sein. Wenn es dann denen, die es hörten, gefiel, so gaben sie es als geflügeltes Wort weiter; es wurde wohl auch noch umgemodelt und zurechtgestutzt, bis es eine allen bequeme Gestalt bekommen hatte und so zum allgemein bekannten Sprichwort wurde.’
Auch dieser Prozeß ist nicht ganz klar. Jedes Sprichwort soll ein geflügeltes Wort gewesen sein. Das Volk als Ganzes kann nichts schaffen - aber es scheint wohl etwas Vorhandenes so ‘ummodeln’ und ‘zurechtstutzen’ zu können, daß
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es eine Gestalt bekommt, die allgemeine Gültigkeit besitzt. Sprichwort aber wird ein geflügeltes Wort nur dann, wenn es in dieser Weise vom Volke die allgemein gültige Gestalt bekommen hat usw.
Es ist hier nicht meine Absicht, gegen Seilers Buch zu polemisieren. Was ich mit dieser Auseinandersetzung zeigen will, ist nichts anderes, als daß wir methodisch mit diesem Begriff Volk nicht mehr anfangen können, als daß wir sagen: was wir Sprichwort nennen, scheint in allen Schichten des Volkes, den höheren, den niederen, den mittleren, und in allen Klassen und Ständen, aus denen sich dieses Volk zusammensetzt, Bauern, Handwerkern, Gelehrten, vorhanden zu sein.
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II.
Wir wenden uns also dem zweiten begründenden Merkmal zu: das Sprichwort ist ein Spruch. Damit ist im allgemeinen gesagt, daß ein Sprichwort selbst kein Grundbegriff ist, sondern auf einen Grundbegriff zurückgeführt werden muß. Damit ist nach unserer Auffassung gesagt, daß es eine Einfache Form gibt, die wir Spruch nennen, und daß sich diese Einfache Form vergegenwärtigt in einem Sprichwort. Ob sie sich in diesem Falle noch anders vergegenwärtigen kann, davon wird später die Rede sein.
Da nun nicht nur im westlichen Abendlande, sondern auch in der Antike Sprichwörter immer und überall vorhanden sind, da wir sie nicht wie das eigentliche Rätsel zu suchen oder wie Sage und Legende zu verdolmetschen haben, sondern ihnen täglich und stündlich begegnen, können wir von dieser Bekanntschaft aus unmittelbar die Geistesbeschäftigung zu bestimmen versuchen, aus der sich die Einfache Form Spruch und ihre Vergegenwärtigung Sprichwort ergibt, ohne einen historischen Punkt zu behandeln, an dem sie sich in ausgeprägter Besonderung befände.
Wenn wir die Welt begreifen als eine Mannigfaltigkeit von Einzelwahrnehmungen und Einzelerlebnissen, ergeben zwar diese Wahrnehmungen und Erlebnisse, reihenweise erfaßt und zusammenfaßt, jeweilig die Erfahrung, aber auch die Summe dieser Erfahrungen bleibt eine Mannigfaltigkeit von Einzelheiten. Jede Erfahrung wird jedesmal selbständig begriffen, ein Erfahrungsschluß ist in dieser Weise und in dieser Welt nur in sich selbst und aus sich selbst bindend und wertbar. Es ist eine zeitlose Welt, nicht weil sich in ihr die Augenblicke - wie in der Welt, wo es keine Erfahrung mehr gibt - zu einer Ewigkeit zusammenschließen, sondern weil die Augenblicke in ihrer vereinzelten Eigenheit nicht imstande sind, zu- | |
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sammen als Zeit zu verlaufen. Es ist eine Welt, in der die vierte Dimension fehlt, eine asymptotische Welt, eine Welt des Isolierten, eine Welt, die zwar zu addieren, aber nicht zu multiplizieren versteht.
Es ist unmöglich, sich diese Welt begrifflich durchzudenken, denn gerade das begriffliche Denken ist es, wogegen diese Welt sich stemmt, und was seinerseits diese Welt zerstört. Zwar gibt es auch hier ein Trennen und Verbinden, ein Vergleichen und Beziehen, ein Gliedern und Ordnen, aber in den Bindungen überwiegt die Trennung, in den Bezogenheiten bleibt das Nebeneinander, in den Ordnungen die Sonderung der Glieder bestehen. Kurz, diese Welt ist nicht Kosmos, sie ist Sonderung, sie ist Empirie.
In diese Welt aber können wir uns aus anderen Welten zurückziehen, in ihr verläuft ein Teil unseres Daseins, und sooft wir uns in ihr befinden, ist die Form, die sich dann aus unserer Geistesbeschäftigung und dem mit ihr zusammenhängenden Gedankengang ergibt, die Einfache Form, die wir Maxime oder lieber - auch wenn wir wissen, daß wir damit das Wort im Sprachgebrauch einschränken - Spruch nennen.
Spruch heißt in dieser Morphologie also die litterarische Form, die eine Erfahrung abschließt, ohne daß diese damit aufhört, Einzelheit in der Welt des Gesonderten zu sein. Sie bindet diese Welt in sich, ohne sie durch ihre Bündigkeit der Empirie zu entheben.
Im Sprichwort vergegenwärtigt sich diese Form - aber wir können im Gegensatze zu anderen Formen, bei denen wir die Weisen der Vergegenwärtigung weniger genau unterscheiden konnten, feststellen, daß hier andere Vergegenwärtigungen erkennbar sind, daß Sittensprüche, Sentenzen, Geflügelte Worte, sprichwörtliche Redensarten, Apophthegmata in ihrer jeweiligen Eigenart hierher gehören.
Wir werden uns indessen hauptsächlich auf die Vergegenwärtigung Sprichwort, die das Wesen der Form zur Genüge erklärt, beschränken.
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III.
Sehen wir aber erst den Spruch als solchen noch einmal an. Wenn etwas, was gelingen konnte, nicht gelungen ist und wir schreiben das Mißlingen einem uns aus der Erfahrung bekannten und mit unserem Wesen zusammenhängenden Mangel an Möglichkeiten des Gelingens zu, so sagen wir trübselig: man muß Glück haben.
Wenn dagegen etwas gelungen ist, was nicht zu gelingen brauchte, und wir schreiben das Gelingen einem gewissen Wagemute zu, der, wie die Erfahrung lehrt, zum Ziele führt, so sagen wir wiederum, aber in einem ganz anderen Tone: man muß Glück haben.
So tritt der Spruch jedesmal im Leben und in der Kunst auf, wenn eine Erfahrung in der oben besprochenen Weise gefaßt wird. Es ist aber schon in diesen Fällen klar, daß wir die Situation keineswegs kritisch beurteilen oder daß wir in eine Erörterung eintreten, die etwa lauten könnte: ‘wenn ich anders gehandelt hätte, wäre vielleicht ... usw.’ Wir sondern die Tatsache oder den Sachverhalt ab, wir reihen ihn sozusagen auf der Schnur der Erfahrung auf, die lauter solche einzelne Perlen durchzieht.
Wir reden von einer Welt der Erfahrung, aber es ist deutlich, daß diese Welt, gerade weil sie empirisch ist, sich je nach den Interessen, den Beschäftigungen, den Erfahrungen einzelner Klassen und Stände teilt und daß diese Erfahrungen sich in Sonderwelten zusammenschließen. Die Erfahrungen, gerade in der gesellschaftlichen und handwerklichen Besonderung gesammelt, schließen sich am leichtesten zu Sprüchen oder Maximen zusammen. So ist es zu erklären, daß wir die Kreise, von denen Seiler redet, Soldaten, Handwerker, Bauern, Studenten, im Spruche gesondert erkennen. Daneben steht der Spruch anderer Schichten, der humanistische, der schriftstellerische Spruch
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und auch der Spruch jener großen Mittelklasse, in dem die Erfahrungen vieler Einzelner zusammenkommen. So wird, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, die Erfahrung, daß man die Gelegenheit benutzen soll, als Erfahrung des Schmiedes heißen: ‘man soll das Eisen schmieden, wenn es heiß ist’, als Erfahrung des Liebhabers: ‘wenn uns die Gelegenheit anlacht, so muß man sie küssen’ - und beide können in dem, was Seiler Mittelklasse nennt, als Spruch eine Erfahrung absondern und einreihen.
Damit sind wir aber bei einem Worte angekommen, das Seiler, wie wir gesehen haben, in der zweiten Definition selbst schon eingeschränkt hat und das nach meiner Meinung überhaupt zu streichen ist, bei dem Wort ‘lehrhaft’. Der Spruch ist nicht lehrhaft, er hat keinen lehrhaften Charakter, er hat selbst keine lehrhafte Tendenz. Damit ist nicht gesagt, daß wir nicht aus der Erfahrung lernen können, wohl aber, daß in der Welt, von der wir reden, die Erfahrung nicht als etwas aufgefaßt wird, aus dem wir lernen sollen. Alles Lehrhafte ist ein Anfang, etwas, worauf weiter gebaut werden soll - die Erfahrung in der Form, in der sie der Spruch faßt, ist ein Schluß. Ihre Tendenz ist rückschauend, ihr Charakter ist resignierend. Dasselbe gilt von ihrer Vergegenwärtigung. Auch das Sprichwort ist kein Anfang, sondern ein Schluß, eine Gegenzeichnung, ein sichtbares Siegel, das auf etwas aufgedrückt wird und womit es seine Prägung als Erfahrung erhält.
Wir sehen das am deutlichsten dort, wo die sprachliche Form des Sprichwortes mit der Redeform, in der eine Lehre, ein Gebot gegeben wird, übereinstimmt. Der Imperativ in: ‘Üb immer Treu und Redlichkeit’ oder in ‘Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh usw.’ ist ein anderer als der Imperativ in ‘was du nicht willst, das man dir tu', das füge keinem andern zu’ oder in ‘Schuster, bleib bei deinem Leisten’. Die ersten Imperative - man kann sie kategorische Imperative nennen - zielen in die Zukunft; in den zweiten überwiegt eine Vergangenheit, die den Schluß veranlaßt hat. Wir sagen auch nicht aus heiterem Himmel: ‘Trau, schau, wem’, sondern nur dann, wenn jemand beim Trauen vergessen hat, zu schauen wem; wir sagen, ‘du sollst den Tag
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nicht vor dem Abend loben’, wenn durch unvorsichtiges Loben, das erfahrungsgemäß Unglück bringt, das Glück des Tages, die Fortuna hujusce diei, sagten die Römer, schon ins Schwanken geraten ist. Auch hier fügen wir etwas, das schon geschehen ist, durch einen Schluß anderen gleichartigen Geschehnissen empirisch hinzu. Der Mangel an Moral, der oft in Sprichwörtern bemerkt und bemängelt wird, erklärt sich daraus, daß in der Welt der Empirie der Begriff Moral fehlt. In jedem Sprichwort deckt man den Brunnen zu - aber erst, wenn das Kind ertrunken ist.
‘Das echte volksmäßige Sprichwort’, sagt Wilhelm Grimm, ‘enthält keine absichtliche Lehre. Es ist nicht der Ertrag einsamer Betrachtung, sondern in ihm bricht eine längst empfundene Wahrheit blitzartig hervor und findet den höheren Ausdruck von selbst.’
Auch Sebastian Franck spielt auf diesen Schlußcharakter an, wenn er das Sprichwort ‘ein kurtze weise Klugred’ nennt, ‘die Summ eines gantzen Handels’. Klugrede ist ein schönes Wort für den Spruch und seine Vergegenwärtigung, das leider aus der Sprache verschwunden ist. In Klugrede liegt aber auch etwas von dem, was wir im Niederdeutschen klugschnacken nennen, und auch das gehört zu den nachtragenden und nachträglichen Eigenschaften des Sprichworts.
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IV.
Wir sind damit schon bei den Vergegenwärtigungen angelangt. Und hier kommt wieder unsre übliche Frage: wie geschieht diese Vergegenwärtigung, wie wird aus der Geistesbeschäftigung, die wir mit dem Kennwort Empirie oder Erfahrung angedeutet haben - und eigentlich ging es hier schon über ‘andeuten’ hinaus -, die Gegenwärtige Form? Oder in der Praxis, wie wird aus der Erfahrung im Leben, die wir als ‘man muß Glück haben’ zusammenfaßten, das Sprichwort: ‘Wer das Glück hat, führt die Braut heim’, ‘De't Glück will, de kalwt de Osse’, ‘Wer das Glück hat, der wärmt sich ohne Feuer und mahlt ohne Wind’, ‘Wer das Glück zur Mutter hat, dem ist die ganze Welt Vetter’; - oder umgekehrt: ‘Wer Unglück hat, kann sich den Daumen in der Westentasche brechen’?
Seiler stellt sich, wenn wir dieses Wie zunächst etwas allgemeiner nehmen, die Sache, wie wir gesehen haben, so vor, daß die Vergegenwärtigung den Weg durch eine Persönlichkeit nimmt. Wie jede Schöpfung, Entdeckung, Erfindung so rühre auch das Sprichwort, wie wir gehört haben, von einer Einzelpersönlichkeit her. Er beschreibt selbst diese Persönlichkeit genauer, er nennt sie ‘einen hellen, mit gutem Mutterwitz ausgestatteten Geist, dem zugleich die Gabe des treffenden Wortes verliehen ist.’
Abgesehen von der Neigung, die ich in der Einführung besprach, in der Litteraturgeschichte überall von einem Dichter als formender und gestaltender Kraft auszugehen, ist es eine besondere Tatsache, die Seiler und andere zu dieser Überzeugung brachte. Wir besitzen in der Tat Vergegenwärtigte Sprüche, die von nennbaren und erkennbaren Persönlichkeiten herstammen, es sind, wie ich schon sagte, die sogenannten Geflügelten Worte. Dieser Ausdruck, der bekanntlich
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aus Homer stammt, wurde von Georg Büchmann neugeprägt, der 1864 zuerst eine Sammlung solcher Sprüche zusammenstellte und beleuchtete - er ist vielleicht nicht ganz glücklich gewählt, aber er hat sich eingebürgert, und wir wollen ihn deshalb beibehalten.
Die Erfordernisse eines Geflügelten Wortes sind nach Büchmann:
1. | daß sein litterarischer Ursprung oder sein historischer Urheber nachweisbar ist; |
2. | daß es nicht nur allgemein bekannt ist, sondern auch in den Gebrauch der deutschen Sprache überging und
allgemein gebraucht oder angewendet wird; |
3. | daß Gebrauch und Anwendung nicht nur zeitweilige, sondern dauernde sind, wobei natürlich ‘Dauer’
nicht ‘Ewigkeit’ heißen soll. |
Wir haben hier wirklich Vergegenwärtigungen des Spruches vor uns, die von Persönlichkeiten stammen - zweifelsohne auch von Persönlichkeiten mit Mutterwitz, denen die Gabe des treffenden Wortes verliehen war. Und es ist mit diesen Persönlichkeiten auch so, daß sie zwar nachweisbar, aber damit keineswegs allgemein bekannt waren. Wer weiß, wenn er von einem Anderen sagt: ‘er schweigt in sieben Sprachen’, daß dieses Wort von Schleiermacher stammt und auf eine besondere Persönlichkeit gemünzt war? Wer ahnt, wenn er sagt: ‘muß es gleich sein?’, daß dieses Wort aus einem Couplet von Nestroy umgemodelt wurde? So muß es, meint Seiler, allen Sprichwörtern ergangen sein, sie stammen von einer Person, einem Dichter, der unbekannt geworden ist - und er schreckt nicht vor der Konsequenz zurück, alle Sprichwörter ursprünglich Geflügelte Worte zu nennen.
Demgegenüber können wir nun folgendes feststellen. Büchmann hat für das, was wir hier einmal ‘landläufige’ oder ‘mundläufige’ Sprichwörter nennen wollen, nirgends einen Verfaßer nachgewiesen. Ich kenne ihre Zahl nicht annähernd, will aber darauf hinweisen, daß der erste Band von Wanders Deutschem Sprichwörter-Lexikon zirka 45 000 deutsche Sprichwörter enthält, und daß das ganze Werk fünf Bände
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umfaßt. Wenn nun darin auch Wiederholungen und verschiedene Schattierungen desselben Sprichwortes vorkommen, so bleiben immer noch ein paar mal hunderttausend übrig - ein merkwürdiger Zufall, daß bei allen diesen die Persönlichkeit verloren gegangen ist. Weiter - Buchmann hat aber auch nicht versucht, die Verfasser dieser ‘landläufigen’ Sprichwörter zu finden. Und warum nicht? Weil er sehr genau wußte, daß ein Geflügeltes Wort kein Sprichwort ist; weil er sie auf den ersten Blick unterscheiden konnte, weil er begriff, daß es hier einer anderen Gattung galt, daß er es mit einer anderen Weise der Vergegenwärtigung zu tun hatte. Dann und wann waren die Grenzen fließend, es gab Redewendungen, die bei einer besonderen Gelegenheit oder in einer bestimmten Situation gebraucht worden waren, die von dort aus wieder allgemein benutzt oder angewendet wurden, die man also als Geflügelte Worte betrachten konnte und die dennoch auf ältere, allgemeinere Vergegenwärtigungen zurückgingen - aber diese Fälle waren in einer ganz geringen Minderzahl. Bei der sehr großen Mehrzahl waren Sprichwort und Geflügeltes Wort nicht zu verwechseln. Eine solche Redewendung, die auf ältere Vergegenwärtigungen zurückgeht, ist zum Beispiel ‘ein Sturm im Glase Wasser’, das angeblich zuerst bei Montesquieu auftaucht. Büchmann weist aber nach, daß Montesquieu es humanistischen Redensarten entnommen hat, die ihrerseits auf antike zurückzuführen sind.
Ich bin hier auf Einzelheiten eingegangen, um zu zeigen, daß wir methodisch mit Seilers Begriff ‘Persönlichkeit’ ebensowenig anfangen können, wie wir es mit seinem Begriffe ‘Volk’ konnten. Da das ‘Volk’ als schaffende Kraft nicht anerkannt werden konnte und die ‘Volksseele’ zum Gerümpel romantisierender Begriffe geworfen werden mußte, wurde als schaffende Kraft die Persönlichkeit mit Mutterwitz eingesetzt. Aber nun mußte diese Persönlichkeit wieder vergessen, ihr Eigentum mußte Gesamtbesitz werden, und vor allem mußte, um Gesamtbesitz werden zu können, dieses Eigentum wieder ‘umgemodelt’ und ‘zurechtgestutzt’ werden. Wo und wie das geschah, blieb unbekannt. Wenn man den Satz ausspricht: ‘Irgendwo und irgendwann muß jedes Sprichwort einmal zuerst ausgesprochen
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worden sein’, so kann man natürlich auch sagen: irgendwo und irgendwann muß jedes umgemodelte Sprichwort einmal zuerst ausgesprochen worden sein. Man kann hinzufügen: irgendwo und irgendwann muß jedes Wort zuerst ausgesprochen worden sein. Und so weiter - ad infinitum. Ich leugne nicht, daß es einen Kreislauf von Persönlichkeit und Volk gibt - ich bezweifle auch nicht, daß diesem Kreislauf Bedeutung für die Litteraturwissenschaft zukommt. Ich leugne aber, daß es möglich ist, aus diesem Kreislauf das Wesen und den Sinn einer Form zu bestimmen, ich leugne das auch deshalb, weil es uns hier auf falsche Wege geführt hat. Ein Sprichwort ist kein Geflügeltes Wort und ein Geflügeltes Wort kein Sprichwort. Das persönlich Geprägte kann seine Beziehung zu der Einzelperson, die es geprägt hat, verlieren, aber nicht sein Gepräge selbst; der Name des Verfassers kann - wie das auch bei Kunstformen so oft geschieht - vergessen werden, aber erhalten bleibt das unterscheidende Bewußtsein, daß ein Verfasser da war.
Gemeinsam haben Sprichwort und Geflügeltes Wort, daß sie zur gleichen Geistesbeschäftigung gehören. Wenn wir Übereinstimmung und Unterschied feststellen wollen, so bleibt uns auch hier nur die Methode, sie dort zu beobachten, wo wir aus dieser Geistesbeschäftigung die Form hervorgehen sehen, wo sie sich verwirklicht und wo wir ihre Vergegenwärtigung beobachten können: in der Sprache. Und gerade hier hat nun wieder Seiler unschätzbare Vorarbeit geleistet, indem er die Sprachvorgänge im Sprichwort erschöpfend dargestellt hat. Es bleibt die Aufgabe, den Sinn dieser Vorgänge an einigen Beispielen zu erläutern.
Im allgemeinen ist die Art, wie ein Spruch einen Sachverhalt meint, aussagend. Darin liegt ein Gegensatz zur Mythe und zum Rätsel, in denen sich die Form in Frage und Antwort vollzieht und deren Art wir deshalb gesprächig oder dialogisch genannt haben. Die Aussage schreitet aber im Spruch nicht verknüpfend oder schließend von Vorstellung zu Vorstellung, von Urteil zu Urteil, sondern sie bezieht sich in einer einmaligen, unbedingten Weise auf einen Sachverhalt - wir nennen deshalb diese Art im Gegensatz zur durch-
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laufenden oder diskursiven: behauptend oder apodiktisch. Es ist klar, daß diese behauptende Art die einzige ist, in der das, was wir Erfahrung genannt haben, zum Ausdruck kommen kann.
Sehen wir uns die Sprache des Vergegenwärtigten Spruches im Sprichwort nun weiter an.
Zunächst das Wort und die Wortart. Wir nehmen ein Beispiel: Ehrlich währt am längsten. Was ist hier das Wort: ehrlich? Ein Substantiv? Gewiß nicht. Ein Adjektiv? Doch wohl auch nicht. Ein substantiviertes Adjektiv? Das stimmt auch nicht ganz. In der Weise, wie es hier auftritt, läßt es sich nicht auf die üblichen grammatischen Kategorien zurückführen. Es enthält von beiden Arten etwas, aber es hat hier eine Eigenart, die es von der allgemeinen Bestimmung entfernt. Man kann sagen, daß es sich hier an dieser Stelle wehrt gegen die Verallgemeinerung des Begriffs, daß es, mit einer leichten Übertreibung, nur hier und an dieser Stelle so gebraucht werden kann.
Von Wort und Wortart kommen wir zur Syntax. Wir brauchen auch hier nur ein Beispiel herauszugreifen: Je näher der Kirche, je weiter von Gott. Wir kennen dieses Schema aus vielen Sprichwörtern, wir wissen außerdem, daß es auch noch bei einer Art der Spruchdichtung - im Schnadahüpfel beliebt ist. Man kann es eine Periode in einer streng ausgeglichenen Parataxe nennen - aber jedenfalls haben die Teile der Verbindung weder Subjekt, noch Objekt, noch Prädikat in gewöhnlichem Sinne. Auf die Gefahr hin, ein Wortspiel zu machen, könnte man hier eher von Satzgegenteilen als von Satzteilen reden. Dieses ganze Schema vertritt statt einer Syntax des Einheitlichen eine Syntax des Mannigfaltigen, wo aus den selbständigen Gegensätzen die Bedeutung sprunghaft hervorgeht - das, was Wilhelm Grimm meinte, als er von einer Wahrheit sprach, die blitzartig hervorbrechend den höheren Ausdruck von selbst findet.
Ebensowenig wie wir dieses Schema mit je ... je ... als eine Verbindung von Relativ- und Demonstrativsatz auffassen können, ebensowenig gelingt es uns, in der gleichfalls allgemein bekannten Sprichwort-Periode, die mit Wer
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anfängt, ein Gefüge von Hauptsatz und Relativsatz zu erkennen. Wer keine Hand hat, kann keine Faust machen, ist wiederum keine Hypotaxe. Es ist ein scharfes Nebeneinander, in dem von Überordnung und Unterordnung nicht die Rede sein kann, und wo ‘wer keine Hand hat’ gleiche Funktion hat wie ‘ehrlich’ in dem Sprichwort: Ehrlich währt am längsten. Die geringste Änderung, die auf Verallgemeinerung zielt, bricht hier den Wert der Vergegenwärtigten Form. Wir bemerken sofort, daß das Sprichwort seine Kraft einbüßt, wenn wir sagen: Einer, der keine Hand hat usw. oder: Wer keine Hand hat, der kann usw.
Noch einmal dasselbe sehen wir, wenn wir nach den Stilmitteln Periode fragen. Man könnte vielleicht Heute rot, morgen tot ein Asyndeton nennen. Aber wir fühlen sogleich, daß wir hier hinausgehen über das, was wir sonst unter diesem Stilmittel verstehen. Das Asyndeton, das die Bindung zwischen den Gliedern der Rede aufhebt, hört dort auf, wo man von vornherein von einer Bindung nicht sprechen kann. Im Sprichwort ist alles asyndetisch, und deshalb verliert hier der Begriff seinen Sinn. Äußerlich scheint Jedermanns Freund, jedermanns Narr eine Anapher. Betrachten wir es aber genauer, so sehen wir, daß jedermann hier nicht wie bei der Anapher als Mittelpunkt aufgefaßt werden kann, um den die Glieder der Rede sich gruppieren, sondern daß trotz der Wiederholung die anderen Worte ihm gegenüber die gleiche Freiheit bewahren.
Wiederum Ähnliches zeigt sich in der klanglichen Bewegung des Sprichwortes. Wir sahen schon, wie ein Periodenschema verschiedenen Sprichwörtern gemeinsam sein kann. Ebenso kann man von einem rhythmischen Schema reden, und Seiler hat auch dies genau untersucht. Wenn man sagt, Allzu klug ist dumm; Selber ist der Mann; Wie mans macht, ists falsch, so sind die drei sehr verschiedenen Sprichwörter nach einem gleichen metrischen Schema (-⁀-⁀-) gebaut. Ebenso nach einem komplizierteren Schema: Wer den Heller nicht ehrt, ist des Talers nicht wert und Wenn die Hoffnung nicht wär', ei so lebt' ich nicht mehr. (⁀⁀-⁀⁀-|⁀⁀-⁀⁀-). Aber während ein rhythmisches Bewegungsschema in Kunstformen
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die Aufgabe hat, Sprachgebilde bindend weiterzutragen, haben diese Bewegungsschemata offenbar die Aufgabe, die Form bindend abzuschließen. Hebung und Senkung steigern hier die Vereinzelung, die wir in der Syntax schon beobachteten, Metrum und Reim sind an dieser Stelle keine auf- und niederwogenden Wellen - sie muten uns viel eher an wie Latten in einem Zaun.
Endlich das ‘Bild’, die Trope. Lügen haben kurze Beine. Über die Wortart von Lügen sind wir uns hier einig, es ist ein Substantiv; auch haben wir hier Subjekt, Objekt und Prädikat. Was geschieht hier aber mit dem Substantiv? Es wird etwas von ihm ausgesagt, das nicht unbedingt zu ihm gehört, das auf einer anderen Ebene liegt. Lügen sind nichts Körperliches, Beine wohl. Nun erinnere ich an das, was ich beim Rätsel von der Sondersprache gesagt habe, wo wir von dem Wort ‘Fuß’ ausgingen. Haben hier Beine die Bedeutungsart, die wir für ‘Fuß’ in der Sprache des Rätsels fanden? Sind es Sachverhalte gleicher Art, die in der Vieldeutigkeit eines Wortes sich zusammenfinden? Keineswegs! Letzten Endes und streng genommen wird nicht einmal gesagt, daß Lügen Beine haben - es wird nur gesagt, daß sie kurze Beine haben. Es ist nicht gemeint, daß, so wie in der Sondersprache ‘Fuß’ etwas bedeutet, dessen ganzes Wesen darin besteht, zu stützen und zu tragen, Beine hier etwas bedeutet, dessen Wesen in einem Sichfortbewegen, einem Weglaufen besteht; zwei nicht zusammengehörige Dinge - Lügen und kurze Beine - werden einmal unvermittelt in einer Weise zueinander gestellt, daß sich daraus die Bedeutung des einen - Lügen - ergibt, aber daß dieses damit zugleich aus der Allgemeinheit hinweggerissen wird und nur als Erfahrung Bestand hat. Von einem Plural, der abstrakt scheinen könnte: Lügen, sagen wir etwas damit unvereinbares Körperliches aus - wir heben damit die Möglichkeit der Abstraktion auf, wir entfernen das Wort aus dem Begrifflichen und werfen es unter die endlichen Dinge.
Und wenn das ganze Sprichwort selbst ein Bild scheint, wenn wir, statt: man muß die Gelegenheit benützen, sagen: man muß das Eisen schmieden, wenn es heiß
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ist, so tun wir wiederum das gleiche. Wir vergleichen keineswegs Gelegenheit mit Eisen, benutzen mit schmieden, wir setzen nicht einen Begriff für einen anderen ein, sondern aus einer - ich wiederhole die Worte von Wilhelm Grimm - längst bekannten Wahrheit bricht im Augenblicke, da sie wieder einmal Erfahrung wird, blitzartig die Form hervor, die sie der Allgemeinheit entreißt, ihr die Möglichkeit, abstrakt zu werden, nimmt - sie in die Empirie zurückweist.
Fassen wir, was wir in den Sprachvorgängen des Sprichwortes beobachtet haben, noch einmal zusammen, so können wir es folgendermaßen umschreiben: die Sprache des Sprichwortes ist so, daß alle seine Teile einzeln, in ihrer Bedeutung, in ihren syntaktischen und stilistischen Bindungen, in ihrer klanglichen Bewegung in Abwehr gegen jede Verallgemeinerung und jede Abstraktion stehen.
In Einzelheiten und im Ganzen entspricht die Sprache des Sprichwortes der Geistesbeschäftigung, die zum Spruch führt. In jener Welt, wo die Mannigfaltigkeit der Erlebnisse und Wahrnehmungen sich zwar zu Erfahrungen zusammenreiht, aber die Summe der Erfahrungen dennoch eine Mannigfaltigkeit von Einzelheiten bleibt, haben auch die Worte in ihrer Bedeutung und in ihrem Zusammenhang nur empirischen Wert. In den Bindungen überwiegt die Trennung, in den Bezogenheiten bleibt das Nebeneinander, in den Ordnungen die Sonderung der Glieder bestehen. Jedes Wort, jeder Satzteil, jedes Glied der Rede ist neben anderen immer und ausschließlich ein hic et nunc. Wie in dieser Welt die Sachverhalte wie einzelne Perlen auf eine Schnur gezogen werden, so und nicht anders macht es hier die Sprachgebärde.
Wir haben zu Anfang gesagt, daß wir einen Teil unseres Daseins in dieser Welt verbringen, daß sie unserm täglichen Leben geläufiger ist als die Welt von Sage oder Legende, vor allem auch als die eigentliche Welt des Rätsels. Es ist auch begreiflich, weshalb wir sie brauchen: wir wehren in ihr alle jene ermüdenden Folgen und Folgerungen ab, zu denen uns die Erfahrung überall dort zwingt, wo sie zum begrifflichen Denken veranlaßt, zur Erkenntnis werden will: wir ruhen in
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ihr aus, wenn uns der Zusammenhang einer sittlichen Weltordnung langweilt, sie ist uns eine Welt der Nüchternheit.
Und diese Welt beschwört jedesmal das Sprichwort im Leben herauf. Wir haben auch darauf schon öfter beiläufig hingewiesen, daß diese Formen nicht nur aus der Geistesbeschäftigung ableitbar sind, sondern daß sie auch selbstverständlich, wo sie in den Vergegenwärtigungen auftreten, in die Geistesbeschäftigung hineinführen. Die Form Sage ergibt sich aus der Geistesbeschäftigung mit der Welt als Stamm und Blutsverwandtschaft - aber sobald wir eine Saga lesen, können wir unsrerseits die Welt nicht anders begreifen. In der Form Mythe liegt die höchste Freiheit der Welt, sich selber Schöpfung zu sein - aber auch, wenn wir einen Mythus lesen, der nicht unser ist, atmen wir auf. Bei dem lebendigen Sprichwort empfinden wir das sehr stark - wir gebrauchen es in buchstäblichem Sinne, sooft wir eine Erfahrung, ohne sie in sich selbst aufzuheben, sozusagen ad acta legen - aber auch, wenn es von anderen ausgesprochen wird, fühlen wir uns jedesmal der Mühe enthoben, Erlebnisse und Wahrnehmungen zu erarbeiten: Ende gut, alles gut!
Daß wir, wie ich schon sagte, außer dem Sprichwort so viele andere Weisen der Vergegenwärtigung des Spruches kennen, liegt wiederum in der Fähigkeit dieser Geistesbeschäftigung, abzusondern und zu vereinzeln; sie gehören in der Einfachen Form zusammen, trennen sich aber in der Vergegenwärtigung voneinander und werden sogar einzeln benannt.
Wir wollen sie hier nicht näher betrachten; da ich aber das Geflügelte Wort nun einmal erwähnt habe, möchte ich darüber noch einiges sagen. Wenn wir das bei Buchmann Gesammelte im großen und ganzen einteilen, so gelangen wir zu zwei Kategorien: erstens Geflügelte Worte aus Schriftstellern, also Zitate, die zu Geflügelten Worten geworden sind; und zweitens Geflügelte Worte, die von irgendeiner Person in einer besonderen Situation ausgesprochen worden sind; er nennt sie historische Geflügelte Worte, besser wäre hier vielleicht das griechische Apophthegmata. Beide Formen gehören zur Geistesbeschäftigung des Spruches. In dem Geflügelten Wort: Ich warne Neugierige, ist nicht ein Verbot
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gemeint, sondern eine bestimmte Situation wird im Spruch völlig isoliert, sie wird erfahrungsmäßig vereinzelt. Bei den Geflügelten Worten, die aus einem litterarischen Kunstwerk stammen, die sozusagen ein litterarisches Kunstwerk fallen läßt, liegt das Gleiche vor. Auch im Kunstwerk entstehen bestimmte Situationen, die spruchartig gefaßt werden müssen. Oft ist das gerade bei einem Kapitelschluß der Fall. Auch diese in bestimmten Situationen entstandenen Erfahrungen werden in der Empirie durch den Spruch gefaßt, auch dieser Spruch vereinzelt sich wieder; gerade weil die Erfahrung Spruch geworden ist, ist sie vereinzelbar. So kann der Spruch das Kunstwerk verlassen, er fällt heraus und bleibt liegen, er steht für sich, wie im Sprichwort die Worte des Satzes ihre syntaktische Bindung aufgeben. Wenn wir diesen Vorgang so fassen, dann kommen wir zu dem Geflügelten Wort, dessen Verfasser unbekannt geworden ist.
Emblema nannten die Alten ‘einen kleinen Gegenstand, der an einem größeren - meistens aus verschiedenem Material - angebracht war’. Das dem wilden Obstbaum aufgepfropfte Edelreis, der Holzpflock, welcher die eiserne Spitze des römischen pilum am Schaft festhielt, eine in den Schuh eingelegte Sohle sind Emblemata. Jeder von diesen kleinen Gegenständen kann darauf hinweisen, daß das Ganze, in das sie hineingefügt, in das sie ‘hineingeworfen’ worden sind, aus einer Mannigfaltigkeit von verschiedenen Einzelheiten besteht. Emblemata sind aber auch die einzelnen eingesetzten Steinchen des Mosaikbildes; hier sind die Einzelheiten nicht verschieden, sondern die gleichen, und dennoch weist jedes Steinchen darauf hin, daß sich das Ganze aus gesonderten Einheiten zusammenfügt. Endlich sind auch die toreutischen Bildwerke, die auf dem Boden einer Trinkschale befestigt werden, Emblemata, denn wiederum zeigen sie, daß hier eine Zweiheit von Kunstwerk und Gebrauchsgegenstand vorliegt, die sich von dem einheitlichen Kunstwerk, das die Schale durch die Vollendung ihrer Form werden kann, unterscheidet.
Sooft nun ein Emblema nicht nur auf die Zusammensetzung eines Ganzen aus einer Mannigfaltigkeit von Einzel- | |
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heiten hinweist, sondern von sich aus die Mannigfaltigkeit in ihrer gesonderten Zusammensetzung auch bedeutet, haben wir in ihm den Gegenstand, der, wiederum mit der Geistesbeschäftigung geladen, sie in der Welt der Gegenstände vertritt.
Emblem hat, wie Symbol, die allgemeine Bedeutung von Sinnbild bekommen. Nach unserer Auffassung ist es erstens kein Bild, sondern ein Gegenstand. Zweitens aber vertritt es keineswegs den Sinn eines Ganzen so, daß die Bedeutung dieses Ganzen als Ganzes in ihm vertreten wäre, sondern so, daß aus ihm hervorgeht, daß der Sinn eines Ganzen nur als Zusammensetzung gesonderter Einheiten verstanden werden kann.
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