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Sage
I.
Ehe ich zur Einfachen Form Sage übergehe, schiebe ich eine kurze Vorbemerkung über die Wortbedeutung ein.
Legenda, ein neutrum pluralis, das ‘zu lesende Sachen’ bedeutet, wird im Mittelalter ein femininum singuralis mit Genitiv -ae: legenda. Es weist auf eine halb rituelle Tätigkeit hin: die Vita des Heiligen wird bei bestimmten Gelegenheiten feierlich vorgelesen oder auch im allgemeinen als persönliche Erbauungslitteratur betrachtet - wie sehr auch dieses Lesen im Sinne der imitatio ist, verstehen wir jetzt. Das Wort erhielt in der Bedeutung einer Folge mehrerer Viten dazu etwas den Sinn von legere = sammeln, auslesen. Legende hat nun aber daneben die Bedeutung einer Geschichte bekommen, die historisch nicht beglaubigt ist, und dem Adjektiv legendarisch haftet diese Bedeutung sehr stark an; es bezeichnet geradezu etwas, was im historischen Sinne nicht wahr ist.
Was in diesem Bedeutungsübergang geschieht, ist klar. Alles was zu einer bestimmten Geistesbeschäftigung und zu der ihr entsprechenden Form gehört, hat nur innerhalb dieser Form Gültigkeit. Die Welt einer Einfachen Form ist nur in sich gültig, in sich bündig; sobald wir etwas aus dieser Welt herausnehmen und in eine andere Welt herübertragen, verliert es diese Zugehörigkeit zu seinem bisherigen Kreise und wird ungültig.
Sprechen wir hier einen Augenblick von der Welt der Historie - wir werden später sehen, welche Welt wir damit meinen -: in ihr wird alles, was in einer anderen Form bedeutsam war, bedeutungslos, und so wird hier alles, was zur Legende gehört, von der Form Historie aus nun auch unglaubwürdig, zweifelhaft, schließlich unwahr.
Wir werden dasselbe bei den Formen Mythe und Märchen beobachten können, auch sie bedeuten vom Historischen aus
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das Unbeglaubigte oder das Unwahre. Und in besonderem Maße gilt das von der Sage.
Sage bedeutet nach dem Grimmschen Wörterbuch: 1. im Sinne von Sprache Fähigkeit zu sprechen, Tätigkeit des Sprechens. 2. Das was gesagt wird in allgemeiner Anwendung: Ausspruch, Mitteilung, Aussage usw. und dann in besonderer Wendung eine Aussage vor Gericht, ein urkundliches Zeugnis, eine Prophezeiung usw.
Zum dritten aber finden wir: auf mündlichem Wege verbreiteter Bericht über etwas, Kunde von etwas. Und hier wird geteilt. Sage kann sich a) auf ‘ungefähr’ - der Ausdruck stammt aus dem Wörterbuch - Gleichzeitiges beziehen; und der Bearbeiter (der Band ist im Seminar von Moritz Heyne redigiert worden) fügt hinzu: ‘Leicht verbindet sich mit Sage die Vorstellung des Unsicheren, Unglaubwürdigen, auch des Verleumderischen, doch wird es auch ohne eine solche Modifizierung des Begriffes gebraucht’. - Sage kann sich b) auf Vergangenes beziehen und heißt dann: ‘Kunde, Bericht über Vergangenes und zwar besonders über weit in der Vergangenheit Zurückliegendes, wie es von Geschlecht zu Geschlecht sich fortpflanzt.’ Nun heißt es weiter: α) daß in der älteren Sprache die Vorstellung des Unhistorischen noch nicht unlösbar mit dem Begriff Sage verknüpft sei. Aber - dann β) ‘mit der wachsenden Kraft der Kritik entwickelt sich der moderne Begriff von Sage als Kunde von Ereignissen der Vergangenheit, welche einer historischen Beglaubigung entbehrt’, - und schließlich: er ‘wird nachher ausgebildet als der naiver Geschichtserzählung und Überlieferung, die bei ihrer Wanderung von Geschlecht zu Geschlecht durch das dichterische Vermögen des Volksgemütes umgestaltet wurde, freier Schöpfung der Volksphantasie, welche ihre Gebilde an bedeutsame Ereignisse, Personen, Stätten anknüpfte; eine strenge Scheidung gegen die Begriffe Mythus und Märchen ist dem Sprachgebrauche fremd.’ -
Wir müssen nun zunächst bemerken, daß das, was in diesem letzten Abschnitt gegeben wird, keineswegs die Bedeutung des Wortes Sage ist, sondern eine Definition des Begriffes Sage. Und zwar die Definition einer bestimmten
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Schule, die die Sage fast ausschließlich in ihrem Verhältnis zu einem anderen Begriff sieht, den sie Historie nennt. Von dieser Historie aus deutet und begrenzt sie die Sage. Es ist, hauptsächlich für den Mitarbeiter eines Wörterbuches, recht gefährlich, Definition und Bedeutung zu verwechseln. Hier hat die Verwechslung die Folge gehabt, daß ein Fremder, der den Artikel nachschlägt, auf den Gedanken kommen könnte, das Wort Sage hätte in der deutschen Sprache eigentlich eine negative Bedeutung und wir gebrauchten es, um etwas zu bezeichnen, was ‘einer historischen Beglaubigung entbehrt’. Das ist schlechterdings unrichtig. Wenn wir das Wort Sage gebrauchen, meinen wir - sooft wir es nicht ausdrücklich in Gegensatz zur Geschichte setzen - etwas durchaus Positives. Es kann sein, daß wir das Wort falsch - nicht seiner ursprünglichen Bedeutung gemäß - gebrauchen; es kann auch sein, daß der Begriff, den wir damit verbinden, etwas verschwommen ist - aber dennoch bedeutet es für uns eine positive Form. Wenn ich von der Burgundersage spreche, meine ich keineswegs diejenige Darstellung der Ereignisse im Burgunderreiche, die der historischen Beglaubigung entbehrt, oder auch nicht eine freie Schöpfung der Volksphantasie, die an bedeutsame Ereignisse im Burgunderreiche anknüpft, sondern ich meine eben jenes Gebilde Burgundersage, das faßbar und abgerundet vor mir liegt, das in sich bündig ist und Gültigkeit besitzt.
Indessen, ich hätte bei Heynes Lapsus nicht so lange verweilt, wenn er uns nicht so deutlich bestätigte, was wir schon gesagt haben: die Form, die wir vorläufig ‘Historie’ genannt haben, wirkt als Feind der Sage, sie bedroht sie, sie stellt ihr nach, die verleumdet sie und verdreht ihr die Worte im Munde. Von der einen Geistesbeschäftigung aus wird das, was in der anderen Geistesbeschäftigung positiv war, negativ, was Wahrheit war, wird Lüge. Die Tyrannei der ‘Historie’ bringt es sogar fertig, von der Sage zu behaupten, sie existiere eigentlich gar nicht, sondern sie bilde nur eine Art schüchterner Vorstufe zur ‘Historie’ selbst. So verliert im Sprachgebrauch das Wort Sage immer mehr von seiner Bedeutungskraft und wird schließlich, wie das Grimmsche Wörterbuch behauptet, zusammengeworfen mit Worten wie Mythus und Märchen, die
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auch von der ‘Historie’ aus gesehen nur das Nicht-Historische bedeuten sollen.
Stellen wir dem deutschen Wörterbuch das englische gegenüber, so bekommen wir ein anderes Bild. Das Englische kennt das Wort Sage nicht, wohl aber Saga. Für Saga gibt das Oxford-Wörterbuch die folgenden Bedeutungen: 1. any of the narrative compositions in prose that were written in Iceland or Norway during the middle ages. Danach 1 b, übertragen: a narrative having the (real or supposed) characteristics of the Icelandic Sagas.
Zunächst weist also das englische Wort auf eine litterarische Gattung eines bestimmten Landes in einem bestimmten Zeitabschnitt hin. Dann aber folgt: 2. in incorrect uses (partly as the equivalent of the cognate german sage): a story, popularly believed to be matter of fact, which has been developed by gradual accretions in the course of ages, and has been handed down by oral tradition; historical or heroic legend, as distinguished both from authentic history and from intentional fiction. Eine Geschichte also, von der das Volk glaubt, daß sie wahr ist, die sich im Laufe der Jahrhunderte allmählich entwickelt und vergrößert hat und die mündlich überliefert wurde: eine historische oder heroische ‘Legende’ - wir sehen beiläufig, daß auch im Englischen das Wort Legende gebraucht wird für irgend etwas, was nicht ‘wahr’ ist -, die sich einerseits von der authentischen Geschichte und andererseits von absichtlicher Erdichtung unterscheidet.
Eine Umschreibung, die der deutschen Umschreibung nahe kommt; aber, ich betone es noch einmal ausdrücklich, dies ist incorrect use: ein fehlerhafter, ein ungenauer Gebrauch des Wortes. Und dieser für das Englische fehlerhafte Gebrauch entspricht dem deutschen Wort Sage.
Von England werden wir nach Norden getrieben, und hier haben wir nun im Nordischen wirklich zwei Worte, das eine sagn, das im allgemeinen dem entspricht, was wir in dem letzten Abschnitt des Grimmschen Wörterbuches gesehen haben und was das Oxford-Wörterbuch incorrect use von Saga nennt, und das zweite saga, das eben jene isländische litterarische Gattung meint.
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II.
Wir finden uns demnach auf einen ähnlichen Weg gewiesen wie bei unserer Betrachtung der Legende. So wie wir diese zunächst in ihrer Besonderung in der Welt der mittelalterlichen Legende untersucht haben, sehen wir uns jetzt, da wir das Wesen der Sage bestimmen wollen, vorerst jene altnordische Gattung Saga genauer an.
Es handelt sich um Prosaerzählungen in der Volkssprache, die uns in Handschriften des 13. bis 15. Jahrhunderts vorliegen. Daß diese Prosaerzählungen auf mündliche Überlieferung zurückgehen, daß sich ihre Gestalt aus mündlichen Erzählungen gebildet hat, läßt sich aus Daten verschiedenster Art schließen.
Zuerst unterscheiden sie sich stilistisch und syntaktisch von anderen Prosawerken, des sogenannten gelehrten Stils, sie zeigen keinerlei Beeinflussung des Lateinischen. Zweitens berufen sie sich selbst auf ihren Ursprung, die Wendung ‘es wird erzählt’ oder ähnliche kommen oft vor. Drittens werden sie nicht als eigentliche litterarische Kunstwerke betrachtet, soweit man sie keinem bestimmten Verfasser, keinem Dichter zuschreibt, sie bilden eine namenlose Überlieferung. Endlich besitzen wir auch Nachrichten darüber, daß schon einige Jahrhunderte früher bei feierlichen und anderen Gelegenheiten wirklich in dieser Art ‘erzählt’ wurde.
Wie weit diese Überlieferung zurückreicht, läßt sich auf historischem Wege wie auch aus dem Inhalt der sǫgur feststellen. Wir kommen zurück bis auf das Ende des ersten Drittels des 10. Jahrhunderts, bis auf die Zeit, zu der die Besiedlung Islands abgeschlossen war. Wir können also sagen, daß die sǫgur-Handschriften die Niederschrift dessen enthalten, was sich seit 930 im Laufe des 10., 11. und der folgenden Jahrhunderte durch festgefügte, in sich geschlossene mündliche Erzählungen herausgebildet hatte.
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Betrachten wir diese Erzählungen von der stofflichen Seite, auf ihren Inhalt hin, so lassen sich drei Gruppen unterscheiden.
Eine erste Gruppe umfaßt Erzählungen über die isländischen Siedler, über ihre Nachbarn und Zeitgenossen, ihre Abkunft, ihr Verhältnis zueinander und über das, was ihnen Natürliches und Übernatürliches begegnete. Es ist keineswegs die Geschichte der Besitznahme Islands durch die Norweger, sondern jedesmal die Geschichte von Einzelpersonen, die als Einzelpersonen wieder zu einer Familie gehören. Da wird gesagt, wo diese Familie das Haus, den Hof baute, wie der Familienbesitz zunahm, wie sie mit anderen Familien des gleichen Distrikts in Berührung kam, sich zankte, sich verglich, in Fehde oder Eintracht lebte, wieviel Söhne und Töchter sie zählte, woher die Söhne ihre Frauen holten, wo die Töchter einheirateten. Manchmal wird die Familie von einer Person, ihrem Oberhaupt, aus gefaßt, manchmal tritt sie als Ganzes auf.
Diese Erzählungen schreiten rüstig vorwärts, sie bieten nur Handlung; wenn ein Haus gebaut wird, gibt der Erzähler gerade so viel, wie nötig ist, um die Tatsache des Hausbaues als Ereignis zu zeigen, er verweilt nicht aus eigenem Antriebe bei dem Hause selbst. Alles Gegenständliche ordnet sich der Handlung unter; nie werden Attribute zu schmückenden Beiwörtern, die einen Gegenstand als solchen aus der Handlung herausheben und verendgültigen. Ebenso ordnet sich die Landschaft ein. Diese Prosaerzählungen machen meist auch Gebrauch von Versen und Gedichtreihen.
Eine zweite Gruppe behandelt nicht die Familiengeschichten im engeren Sinne, sondern Königserzählungen. Aber diese Königserzählungen sind weit entfernt von dem, was wir historia politica nennen. Der König handelt eben wie ein nordgermanischer König, er ist Wikinger, er erobert, er kämpft; aber alles, was wir zum Begriffe Staat rechnen, fehlt. Er kämpft als Person, als Teil einer Familie; auf seiner anderen, seiner königlichen Ebene steht er nicht anders, als das Familienoberhaupt aus der ersten Gruppe auf seiner bäuerlichen Scholle. In Stil und Syntax unterscheidet sich diese zweite Gruppe nur insoweit von der ersten, als sie anderes und andersartiges zu beschreiben hat.
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Die historische Grenze dieser beiden Gruppen darf nicht über die Mitte des 11. Jahrhunderts hinausgeschoben werden. Spätere Ereignisse finden wir in ihnen nicht. Ihr Schauplatz umfaßt die Insel Island, die Küste Norwegens, Grönland, die Färöer und jene Teile der Welt, die die nordischen Wikingerkönige auf ihren Zügen berührten. Nach der Einführung des Christentums hören sie auf.
Zu diesen Gruppen gesellt sich nun eine dritte, die weit über das hinausgreift, was wir in der ersten und der zweiten fanden. Erstens ist sie zeitlich und örtlich viel weniger gebunden, sie umfaßt und ergreift Stoffe, die weit vor der Besiedlung Islands liegen. Sie kennt Helden, die gewiß nicht ursprünglich auf Island oder überhaupt bei den Nordgermanen zu Hause sind. Und schließlich gehen diese Erzählungen auch noch darüber hinaus und erzählen Dinge, die wir, ganz allgemein gesprochen, zu Gattungen rechnen, die überhaupt nicht örtlich oder zeitlich bestimmbar sind, Gattungen, die bei uns mit ‘vor langer, langer Zeit, weit, weit von hier’ anfangen. Aber - und das ist für uns das Wichtige - sie geben auch diese Stoffe so, daß sie sich von den vorhergehenden nicht trennen lassen, sie erzählen sie gewissermaßen, als ob die Personen die gleichen seien, die Ereignisse vergleichbar mit dem, was sich in einer isländischen Siedlerfamilie abgespielt hat. Auch in Stil und Syntax sind sie von den übrigen Gruppen nicht zu trennen.
Wir nennen die erste Gruppe Islendinga sǫgur (sǫgur von Isländern), die zweite Koninga sǫgur (sǫgur von Königen), die dritte Fornaldar sǫgur (sǫgur aus der alten Zeit).
Es liegt auf der Hand, daß man sich von litterarhistorischer Seite aus schon früh bemüht hat, diese Gruppen in ein historisches Nacheinander zu ordnen. Und es liegt ebenso auf der Hand, daß eine Zeit, die einesteils stoffgeschichtlich eingestellt, andernteils im Evolutionismus befangen war, jene Gruppe, die die ältesten Stoffe enthält, für die älteste halten mußte und nun von dieser Gruppe aus eine Entwicklung zu den anderen, also jüngeren zu konstatieren suchte. So glaubte man denn sagen zu können, daß Stoffe, die schon im frühen und frühesten Mittelalter bei den Germanen oder Iren vorhanden waren, von
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den Isländern im 10. Jahrhundert in ihren Fornaldar sǫgur nacherzählt wurden, und daß danach die Isländer die Geschichten ihrer Könige und ihrer Siedler in der gleichen Weise erzählten.
Hier hat nun Andreas Heusler eingegriffen, und dieser Eingriff ist einer der wichtigen Momente in der Geschichte der morphologischen Methode. Heusler mit seinem starken Formgefühl brachte in einer Akademie-Abhandlung von 1913, Die Anfänge der isländischen Saga (Berlin 1914), den wie mir scheint unwiderlegbaren Nachweis, daß die Form der Islendinga sǫgur den Ausgangspunkt für die anderen Gruppen bilden mußte, und er gab damit mehr als diesen einzelnen Nachweis, er bewies, daß es zu Irrtümern führen muß, wenn man Probleme wie diese auf dem Wege der stoffgeschichtlichen Methode zu behandeln sucht. Irrtümer, die - ich übertreibe nicht allzusehr - sich vergleichen lassen mit solchen, die entstehen würden, wenn man sagte, die Romane von Willibald Alexis müßten vor dem Werther liegen, oder die Romane Scotts vor Fielding, da bei Alexis und Scott mittelalterliche Stoffe vorliegen, in Werther und Tom Jones dagegen zeitgenösische.
Heusler, der in seinem ‘Lied und Epos’ in der brennenden Frage - wie verhält sich die Kunstform Epos zu anderen Formen, wie ‘Lied’? - schon vieles klargestellt hatte, greift hier auf einem kleineren Gebiet noch schärfer zu. Er weist nach, daß die eigentliche Form Saga, so wie sie in Island in einer bestimmten Periode sich ausgebildet hat, gerade jene Form ist, die uns in den Familiengeschichten der ersten Gruppe vorliegt; daß sie dort zu sich gekommen ist, und daß sie erst, nachdem sie so ihre Bündigkeit erlangt hatte, nach anderen Stoffen übergegriffen hat; daß sie aber - mochte sie Saga der Könige, mochte sie Fornaldar saga werden - immer ihre erste Form bewahrte und von dieser Form aus ihr Gepräge den anderen Stoffen aufdrückte. Heusler zeigt weiter - was wir oben schon angedeutet haben - daß diese Form mündlich zustande kam und daß sie sich in ihrer mündlichen Überlieferung hier auf Island schon so weit gefestigt und abgerundet hatte, daß sie ohne Schwierigkeit und ohne große
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Abänderungen übergehen konnte in eine schriftliche Fixierung, die ihrem Charakter entsprach.
Ich betone das alles um so mehr, als Heusler selbst später andere Wege gewählt hat, die, ohne in die alte Stoffgeschichte zurückzuverfallen, doch die morphologische Seite der Probleme viel weniger berücksichtigen, und als gerade in letzter Zeit von vielen Seiten das dringende Bedürfnis empfunden wird, zu dem früheren Heusler zurückzukehren. ‘Auch hier scheint es mir nötig,’ sagt de Boor in einer Besprechung von Nibelungenstudien (Zeitschrift für Deutsche Philologie, 52), ‘den allzu eng auf deutsche Interessen eingeschränkten Blick freizugeben und anzuerkennen, daß die Saga ihr eigenes Recht auf wissenschaftliche Fragestellung hat. Wir rechnen auch hier dauernd an einer Gleichung mit zwei Unbekannten. Man wende sich lieber der einfacheren Gleichung zu und stelle die Formfrage der Saga, für deren Beantwortung positive Mittel vorhanden sind.’ | |
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III.
Für uns kommt es nun darauf an, den Vorgang, den Heusler an dieser einen Stelle - in Island vom 10. bis 11. Jahrhundert - genau beobachtet hat, als Ganzes und in seiner vollen Tragweite zu begreifen.
Wir stellen zunächst fest: was uns in den isländischen Handschriften des 13. bis 15. Jahrhunderts vorliegt, ist natürlich an und für sich ebensowenig Einfache Form, wie die Viten, die in den Acta Sanctorum gesammelt wurden. Auch hier haben wir, was wir Vergegenwärtigung einer Einfachen Form oder aktuelle Form genannt haben. Aber darüber hinaus ist auch die gefestigte mündliche Überlieferung, die in den Handschriften schriftlich fixiert wurde, noch keine Einfache Form - auch sie verhält sich, obwohl ungeschrieben, zu dem was wir suchen wie Vita zu Legende; auch sie ist gegenwärtig und damit in gewissem Sinne schon Kunstform. Um zu der Einfachen Form durchzudringen, aus der sich die gegenwärtigen erzählten und geschriebenen sǫgur herausbildeten, müssen wir wieder die Geistesbeschäftigung suchen, in deren Welt die Form gültig ist.
Was liegt in der Islendinga saga vor? Ich habe es, als ich die Gruppe im allgemeinen besprach, schon angedeutet, ich muß es hier näher ausführen: man pflegt sie Familiengeschichte zu nennen. Aber ist die Zusammenstellung Familien-Geschichte nicht mißverständlich? Wir haben bereits festgestellt, daß der Begriff Geschichte mehreren Einfachen Formen feindlich gegenübersteht: wir haben das Wort Geschichte mit Vorsicht anzuwenden. Für den, dessen Vorstellungen sich in ‘historischen’ Gedankengängen bewegen, kann es so aussehen, als ob diese sǫgur tatsächlich den historischen Bericht über eine Familie geben - dem, der sie unbefangen und ohne Vorurteil zu verstehen sucht, erscheinen sie anders. Sie geben im Grunde
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nicht die Geschichte einer Familie, sondern zeigen, wie Geschichte nur als Familiengeschehen existiert, wie Familie Geschichte macht. Aber ich will lieber das Wort Geschichte überhaupt vermeiden und sagen: der innere Bau der Islendinga saga wird bedingt durch den Begriff: Familie.
Das Verhältnis der Personen der Saga untereinander ist an allererster Stelle das Verhältnis von Vater zu Sohn, von Großvater zu Enkel, von Bruder zu Bruder, von Bruder zu Schwester, von Ehemann zu Eheweib. Das Band des Blutes ist das, was die Personen untereinander bindet; Stamm, Abstammung und das Angestammte stellen die Beziehungen her. Kommt die Familie mit Außenstehenden in Berührung, so werden diese wieder von dem Stamm aus begriffen und gewertet; die Fremden bilden entweder unter sich wieder eine Familie, oder es sind einzelne, die in die Familie aufgenommen oder von ihr zurückgewiesen werden können. Alles was Untergebener heißt, wird in die Familie einbegriffen, gehört zu ihrem Verantwortungsbereich.
Die Menschen der Islendinga sogur - wie sie Heusler umschrieben hat- sind keine Norweger, die ausgezogen sind und sich in Island angesiedelt haben, eigentlich aber auch keine Isländer, es sind Menschen, die hier auf diesem Hügel, dort an jener Bucht wohnen. Sie bilden kein Reich, keine Nation, keinen Staat, ihre Gesamtheit ist wie eine algebraische Summe, in der sich die Summanden nicht zu einer einheitlichen Zahl zusammenschließen lassen. Sie haben natürlich vieles gemeinsam, aber gemeinsam heißt hier nur das, was jeder einzelne ausnahmslos für sich besitzt. Auch da, wo mehrere zusammenkommen, auf dem Thing, um sich gemeinsam zu besprechen, gemeinsame Beschlüsse zu fassen, kommen sie als Familienhäupter.
Ihre Gesetzgebung regelt an erster, fast an einziger Stelle Eingriffe in die Rechte einer Familie, Zwistigkeiten in der Familie; der Strafvollzug ist nicht Aufgabe einer bestimmten Behörde, sondern wird der betroffenen Familie übertragen. Eine der schwersten Strafen ist die Ächtung, das heißt hier nicht Ausstoßung aus dem Staatsverband, sondern Ausstoßung
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aus sämtlichen Familienverbänden. Sooft die Ächtung von einer anderen Familie nicht anerkannt und der Geächtete geschützt wird, gehört er nun wieder zu jener Familie. Besitz befindet sich in buchstäblichem Sinne dort, wo die Familie sitzt, er ist das, was sich in der Familie vererbt, was in der Familie zurückgelassen wird.
In einer Sage wie der von den Leuten vom Seetal folgen wir einem Stamme durch sechs oder sieben Generationen. Die Erzählung ist jedoch so aufgebaut, daß der Ruhm und die Macht des Stammes in einer Generation gipfeln und in dieser Generation wieder von einer Person besonders vertreten werden. Ingimund, der Mann, der von Norwegen nach Island übersiedelt und die Stätte in Besitz nimmt, nach der die Sage benannt ist, bildet diesen Glanzpunkt. Von den Personen aus gesehen könnte man das Ganze die Sage Ingimunds, der Ingimundsahnen, der Nachkommen Ingimunds nennen. Je näher die vorhergehenden und die folgenden Generationen diesem Vertreter des Stammes, in dem sich der Stamm am mächtigsten zeigt, stehen, um so schärfer umrissen zeichnet sie die Sage. Neben Ingimund ist es sein Vater Thorstein, sind es seine drei Söhne, die wir am deutlichsten sehen. Sein Großvater und seine Enkel sind nur skizzenhaft angedeutet, seine Urenkel sind schattenhaft verwischt. Zwischen der 5. und 6. Generation verlegt sich die Macht des Stammes auf eine Seitenlinie, ein Kebssohn tritt in die Familie ein und vertritt nun die Familie. Er ist es, der das Christentum annimmt, mit ihm tritt der Stamm in eine neue Phase ein und endet das, was in Ingimund gipfelte. Beim Lesen dieser ganzen Sage empfinden wir auf jeder Seite, wie Begriffe, die wir in historischem Sinne vom Volke aus zu fassen gewohnt sind, Begriffe wie Eroberung, Niederlage, Unterdrückung, Befreiung, sich hier keineswegs auf ein Volk beziehen, sondern immer auf einen Stamm, eine Sippe, eine Familie. Nationales Bewußtsein heißt hier Familienzusammengehörigkeit, Recht und Pflicht richten sich nicht nach der Gesellschaft, der res publica, sondern nach dem Wohlergehen des Stammes, nach dem, was Verwandschaft erfordert. Bürgerliches Zusammengehen heißt, hier Band des Blutes. Blutsverwandtschaft, Blutrache, Blutfehde,
Ehe, Sippschaft, Gesamtheit der An- | |
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gehörigen, Erbe, Erbschaft, Erblichkeit bilden hier die Grundlage, den Grundriß.
Damit sind wir, von dem aus, was wir an einer zeitlich und örtlich bestimmbaren Stelle, in einer Gegenwärtigen Form vorgefunden haben, durchgedrungen zu dem allgemeinen, das wir gesucht haben. Es gibt eine Geistesbeschäftigung, in der sich die Welt als Familie aufbaut, in der sie in ihrer Ganzheit nach dem Begriff des Stammes, des Stammbaums, der Blutsverwandtschaft gedeutet wird. Diese Geistesbeschäftigung und ihre Welt sind auch an anderen Stellen als in Island im 10. und 11. Jahrhundert deutlich erkennbar; und diese Welt meinen wir, wenn wir das Wort Sage gebrauchen. Diese Welt, nur diese Welt wollen wir von nun an mit Sage bezeichnen.
Ich weiß, daß dieser Gebrauch des Wortes Sage auf größere Schwierigkeiten stoßen wird als der des Wortes Legende, so wie wir dort die Form gefaßt haben. Wir haben gesehen, daß der Sprachgebrauch, wie wir ihn aus den Bedeutungen und Definitionen der Wörterbücher kennengelernt haben, anders vorgeht; es gibt vieles, was Sammelwerke, wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Darstellungen gewohnt sind, ‘Sage’ zu nennen und was für uns als Sage ausscheidet. Was in Grimms Deutschen Sagen oder in Dähnhardts Natursagen zusammengetragen worden ist, entspricht nur zum kleinsten Teile dem, was wir Sage nennen. Aber es ist eine der Aufgaben der Morphologie, vielleicht nicht ihre geringste, mit ihrer Formbestimmung und Formbesinnung einem gelockerten und nachlässigen Sprachgebrauch entgegenzutreten. Wenn ich also von Heldensage rede, meine ich keineswegs die mündliche Ürberlieferung über einen Hergang, der mir historisch nicht ganz bekannt oder der historisch nicht beglaubigt ist, und ebensowenig eine historische Persönlichkeit, die durch das dichterische Vermögen des Volksgemütes umgestaltet wurde, sondern ich meine den heroischen Vertreter eines bestimmten Stammes, den erblichen Träger der großen Eigenschaften seines Geschlechts.
Sage ist für uns die Einfache Form, die - in einer Besonderung in der Islendinga saga - erst mündlich, dann schrift- | |
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lich gegenwärtig geworden ist und sich so stark ausgeprägt hat, daß sie im Stande war, ursprünglich nicht Zugehöriges von sich aus umzuprägen. Aus dieser Vergegenwärtigung können wir die formgebende Geistesbeschäftigung und ihre Gedankengänge ablesen und erfassen. Bei der Sage deuten wir die Geistesbeschäftigung mit den Kennworten Familie, Stamm, Blutsverwandtschaft an.
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IV.
Ich möchte an dieser Stelle das, was wir Geistesbeschäftigung genannt haben, genauer betrachten. Nicht überall, wo uns in einem Geschehen Familie, Familienverhältnisse, Familienkatastrophen vorliegen, bildet sich die Form Sage.
Ein Beispiel: Heinrich Tudor vereinigt durch seine Ehe mit Elisabeth von York die Ansprüche der beiden Häuser Lancaster und York, die sich seit mehreren Jahrzehnten als ‘rote und weiße Rose’ mit Bürgerkrieg, Meuchelmord, Aufruhr und Verrat belämpft haben, und besteigt den englischen Thron. Er hat zwei Töchter, Margarete und Maria, und einen Sohn, Heinrich, der sein Nachfolger wird. Dieser Nachfolger, Heinrich VIII., verheiratet sich sechsmal. Zweimal wird seine Ehe geschieden, zwei Frauen läßt, er hinrichten, eine Frau stirbt bei der Geburt des einzigen Sohnes, die letzte Frau überlebt ihn. Dieser Sohn, Eduard VI., ist zehn Jahre alt, als sein Vater stirbt. Zwei Herzöge leiten nacheinander die Regierung, der letzte von diesen verheiratet seinen eigenen Sohn mit einer Enkelin der zweiten Tochter Heinrichs VII. und versucht, als König Eduard mit sechszehn Jahren gestorben ist, dieses Ehepaar auf den Thron zu bringen. Der Versuch mißlingt, die Beteiligten werden hingerichtet. Statt ihrer wird eine Tochter aus der ersten Ehe Heinrichs VIII. Königin, Maria die Grausame. Als diese ohne Kinder stirbt, wird ihre Schwester aus zweiter Ehe, mit der sie in Feindschaft gelebt hat, ihre Nachfolgerin: Elisabeth. Einer der bekanntesten Konflikte aus dem Leben dieser Fürstin ist der Streit mit der Enkelin ihrer Tante Margarete, Maria Stuart, die, durch ihre Ehe mit dem schottischen König selbst Königin von Schottland, ihrerseits dreimal verheiratet war, einmal mit einem französischen König, einmal mit einem Vetter und einmal mit
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einem dritten Mann, der den zweiten umgebracht hatte. Elisabeth läßt Maria hinrichten. Als sie kinderlos stirbt, wird Marias Sohn ihr Nachfolger.
Familienverhältnisse, Familienverwicklungen, wie sie verschlungener nicht denkbar sind. Nichtsdestoweniger würden wir die Stoffgeschichte, die wir aus der Tür unserer Litteraturwissenschaft hinausgewiesen haben, durch das Fenster wieder hereinlassen, wenn wir behaupteten, daß in dem, was im Geschehen im Hause Tudor in England im 16. Jahrhundert in Erscheinung tritt, sich die Form Sage in irgendeiner Weise verwirklichte. Es wird weder von den Beteiligten als Sage gelebt, noch von den Zeitgenossen als Sage erlebt. Es ist ebensowenig Sage wie in dem Märchen ‘Aschenbrödel’ die gute Tochter aus erster Ehe and die böse Stiefmutter mit ihren zwei hochmütigen Töchtern eine Sage bilden.
Weshalb nicht? Weil sich weder Heinrich VIII. noch Eduard VI. noch Maria noch Elisabeth an erster Stelle als Nachkommen Heinrichs VII., als Angehörige der Familie, des Stammes Tudor betrachten, weil weder bei der Hinrichtung der Jane Grey noch bei der Hinrichtung der Maria Stuart das Gefühl, daß hier eine Blutsverwandte, eine zum Stamme Gehörige gettötet wird, herrschend ist; weil bei der Entfernung zwischen Maria, der Katholikin, und Elisabeth, der Protestantin, Katholizismus und Protestantismus nicht als Dinge gedeutet werden, die zwei Schwestern trennen, die durch Bande der Verwandtschaft gebunden sein sollten, sondern weil vielmehr die beiden Frauen als Vertreterinnen zweier sich widerstrebender Religionen aufgefaßt werden. Weil endlich wiederum das englische Volk dies alles nicht beobachtet, nicht miterlebt, weil es nicht eingreift und sich auf die Seite des einen oder des anderen stellt als Teilnehmer an einem Familienstreit, sondern weil es das alles von staatlichen oder religiösen Überzeugungen aus deutet. Es fehlt die Geistesbeschäftigung, die sich in der Form Sage verwirklicht.
Fehlt sie ganz und gar? Gewiß nicht. Daß der Thron erblich ist, ist eine Sprachgebärde; sie zeigt den Punkt, wo sich Geschehen zu Form verdichtet hat und in der Geistesbeschäftigung von Stamm und Blutsverwandtschaft Sprache
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geworden ist. Aber in unserm Falle ist zwar der Thron erblich, aber er ist nicht das Erbe. Der Thron gehört nicht zum Hause Tudor, sondern das Haus Tudor gehört zum Thron. Der Thron ist hier nicht ein Gegenstand, der das Ansehen und die Würde einer Familie vertritt, ein Ding, in dem die Macht eines Stammes sich vergegenständlicht und das nun von sich aus mit der Macht der Familie geladen wäre: dieser Thron verhält sich nicht zur Form Sage wie die Reliquie zur Form Legende. Dieser Thron hier bedeutet England, das Reich England, den Staat England; und obwohl die Familie Tudor England regiert und ihre Mitglieder erblich berechtigt sind, England zu regieren, ist England dennoch weder in den Augen der Engländer noch für die Tudors Familienbesitz, Erbe.
Wir sehen, die Form Sage ist schwerer zu fassen als die Form Legende. Wie das deutsche Wort Sage von einer anderen Einstellung her angegriffen, verdünnt, vereitelt wurde, so geschieht es auch mit der Form. Ein Staatsbegriff oder ein nationales Bewußtsein verdrängt hier eine nach der Geistesbeschäftigung Familie aufgebaute Welt.
So ist es kein Zufall, daß die Islendinga saga dort aufhört, wo das Christentum, besser gesagt die christliche Kirche, einsetzt. Die christliche Kirche bindet ihre Bekenner zu einer Gemeinde, sie bringt eine andere Verwandtschaft, die Verwandtschaft von Mensch zu Mensch; sie übernimmt dabei sogar die Sprache der Sage, sie holt die Sprachgebärde der Sage zu sich heran, sie nennt ihren Priester pater, ihre Mitglieder Brüder und Schwestern, die in einer geistlichen Gemeinschaft Lebenden fratres - aber sie zerstört mit ihrem Analogon die eigentliche Form der Sage, die nur Blut und Blutsverwandtschaft kennt. Was in der Sage, in der Familie bedeutsam war, Geburt, Ehe, Tod, das führt die Kirche jedesmal durch ein Sakrament in eine andere Geistesbeschäftigung über und entreißt es somit der Sage.
Diesem Beispiel stelle ich nun ein anderes gegenüber.
Im 2. Buch der Ilias (Vers 100 ff.) ist das ganze Volk der Griechen zu einer wichtigen Versammlung zusammengetreten, Beschlüsse von größter Bedeutung sollen gefaßt werden. Es ist darüber zu entscheiden, ob das Unternehmen gegen
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Troja aufgegeben, ob es durchgeführt werden soll. Nun erhebt sich der oberste Heerführer Agamemnon - er der den Herrscherstab hält, das σϰῆπτϱον. Hephaestos hatte es mit Kunst gebildet und er übergab es Zeus Kronion. Zeus übergab es Hermes, und Hermes übergab es dem rossebezwingenden Pelops, Pelops übergab es dem Völkerhirten Atreus, und Atreus überließ es sterbend dem lämmerreichen Thyestes. Thyestes gab es Agamemnon und mit ihm viele Inseln und die Herrschaft über ganz Argos.
Wir haben gesehen, wie der heilige Georg auf dem Altar steht, kennbar durch das Rad, mit dem er gemartert wurde, oder durch Pferd und Lanze, mit denen er den Drachen bekämpft hat; wie das, was in seiner Legende sprachliche Gebärde war, in seiner himmlischen Gestalt Attribut wurde. Hier sehen wir Ähnliches, wir sehen den Herrscher in einem entscheidenden Moment, gestützt auf ein Attribut. Dieses Szepter ist von Göttern hergestellt und bei den Göttern von Hand zu Hand gegangen. Dann ist es zu den Menschen gekommen, zu einem Stamm, und in diesem Stamm ist es wieder gewandert von Vater zu Sohn, von Bruder zu Bruder, von Onkel zu Neffe. In diesem Stamm bedeutet es Herrschermacht innerhalb and außerhalb des Stammes. Agamemnon steht hier als Herrscher, weil die Götter seiner Familie Herrschertum verliehen haben und weil er selbst innerhalb dieser Familie das Haupt, der Träger des Szepters ist.
Agamemnon spricht in diesem Augenblicke zu den übrigen Griechen, weil seiner Familie ein Unrecht angetan wurde: die Frau seines Bruders ist geraubt worden. Die Familie des Räubers hat diese Tat nicht gutgeheißen, aber da sie Familie ist, bleibt der Räuber ihr angehörig, trifft sie, solange sie ihn als angehörig betrachtet, die Verantwortung für seine Taten, teilt sie rein Schicksal. So steht Familie gegen Familie und zwischen ihnen ist Frauenraub, Fehde, Rache - die Sprachgebärden der Sage.
Wir dürfen nun wieder nicht sagen, daß jenes Ganze, was wir Ilias nennen, nichts anderes als Sage sei. Erstens liegt hier die Kunstform Epos vor, die eigene Gesetzlichkeit besitzt. Zweitens ist innerhalb dieses Epos die Geistesbeschäftigung
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der Sage leicht abgewandelt - wir finden hier schon etwas vom Volke; die Bundesgenossen, die sich ursprünglich den Familien nur als Familien angeschlossen haben, fangen an sich national zu färben, es liegt in der Ilias bereits etwas von Griechen gegen Trojaner, von Westen gegen Osten, die Ilias ahnt schon Hellas gegen Asien. Aber die Sage bleibt noch mächtig, überwiegt noch, und an vielen Stellen beherrscht sie den Gedankengang entscheidend. Hier an der Stelle, wo wir sie gefaßt haben, sehen wir sie in der einfachsten Weise gegenwärtig werden, sehen wir, wie in dem Geschlecht des Pelops unter den Atriden sich im Stamme die Macht vererbt, wie sie verknüpft ist mit dem Szepter, das von den Göttern stammt und unter den Menschen von Geschlecht zu Geschlecht sich vererbt. Jede Person ist hier der Erbe, jedes Ding kann in seiner gegenständlichen Bedeutsamkeit das Erbe sein. Noch einmal: diese neun Verse bilden für uns die Gegenwärtige Form einer Sage schlechthin - und wir erkennen an ihr die Einfache Form als solche.
Wollten wir nun das, was in der Ilias in ganz schlichter Weise gegeben wird, die Sage des Pelopsgeschlechtes, die Sage von Atreus und den Atriden, weiter in der griechischen Welt in Einzelheiten verfolgen, so würden wir einen äußerst verschlungenen, vielfach verknoteten Sagenknäuel finden, der sich jedesmal wieder anders vergegenwärtigt, aber der in seinen zahllosen Erscheinungen fast alles enthält, was Sage überhaupt umfassen kann. Ich kann das, so sehr ich überzeugt bin, daß dieser Knäuel einmal entwirrt werden muß, hier nicht tun. Ich will nur Einiges herausgreifen, das uns Sage veranschaulicht.
Da hören wir, wie die Pelopssöhne Atreus and Thyestes mit Hilfe ihrer Mutter Hippodameia einen natürlichen, unebenbürtigen Sohn ihres Vaters ermorden und seinen Leichnam in einen Brunnen werfen, und wie dann der Vater einen Fluch über seinen Stamm ausspricht, der bis in die spätesten Geschlechter wirksam bleibt. Hier erscheinen die Sprachgebärden, die Einheiten, zu denen sich Sage verdichtet. Sie heißen einerseits uneheliches Kind, Bastard, Kegel, der Fremdkörper innerhalb der Familie, das was vom Vater stammt, blutsverwandt
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ist und doch nicht zur Familie gehört, die Familie sprengt; andererseits Fluch, das, worin sich Haß und Widerwillen gegen den eigenen Stamm vergegenständlichen, das was wiederum Macht hat in der Familie über das Leben der Person hinaus, vergleichbar mit den Wundern des Heiligen nach seinem Tode, aber hier ein Erbe, das sich selbst vererbt.
Wir hören weiter, daß die Brüder miteinander in Streit geraten, über die Herrschaft, über Frauen, über Besitz. Wir lesen in der Ilias (II. 106) von dem πολύαϱνι Θυέστῃ, dem schafreichen Thyestes. Später heißt es in einer Verdichtung, daß einer der Brüder ein goldenes Lamm bekam, mit dem die Herrschaft verbunden war. Der andere Bruder verführt nun seine Schwägerin und stiehlt mit ihrer Hilfe das Lamm. Ehebruch greift in die Familie ein.
Weiter: Atreus ermordet aus Rache die Söhne des Thyestes und setzt sie dem Bruder Thyestes, den er selber durch einen Herold von seiner Flucht zurückgerufen hat, als Speise vor. Nach dem gräßlichen Mahle werden dem Vater die Hände und Füße gezeigt: Verwandtenmord, gesteigert zum Zwang, sein eigenes Blut zu verschlingen. Und endlich zeugt Thyestes mit seiner eigenen Tochter einen Sohn, der später den Sohn des Atreus mit Hilfe von dessen Gattin umbringen wird. Blutschande in der Familie - unentwirrbare Verknotung des Stammnetzes.
Die Frage, inwieweit wir mit diesen letzten wildesten Zügen in eine sehr späte oder in eine sehr frühe Verwirklichung der Sage hineingeraten sind, braucht uns hier nicht zu kümmern. Diese Beispiele bezwecken nur, die Welt der Sage in ihrer äußersten Durchführung zu zeigen.
Woher kennen wir diese Geschichten, die sich jedesmal wandeln, überall in Einzelheiten voneinander abweichen, hier so, dort etwas anders erscheinen? Zunächst aus kurzen Erwähnungen, aus Randbemerkungen, aus Glossen und Scholien, dann aus späteren Historikern, die versucht haben, das Zerstreute irgendwie zu einigen und in Zusammenhang zu bringen, aus Schriftstellern, die unsern Sammlern vergleichbar sind. Endlich aus Kunstwerken, die jedesmal ein Stück. einen Ausschnitt ergreifen and dieses Stück an und für sich in einer Kunstform
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einmalig verwirklichen. Nirgends aber ist das Ganze der Sage dieses Stammes als Einheit zutage getreten. Wir besitzen wiederum kein Epos, das die Schicksale der Nachkommen des Pelops im Zusammenhange darstellt.
Was beweist das? Daß auch hier die Sage mündlich überliefert wurde, daß sie von Mund zu Mund in der griechischen Welt - und wohl schon früher - fortkroch, daß sie überall bekannt war, aber daß sie nirgends so wie auf Island im 11. Jahrhundert in festgefügter Erzählung gegenwärtig wurde, daß sie - ich bleibe in unserer Terminologie - den Übergang von Sage zu Saga nicht fand. Deshalb blieb sie vielgestaltig, wechselte ihre äußere Form von Fall zu Fall, erzählte man sie zu einer Zeit und an dem einen Orte anders als später oder anderswo, deshalb ließ sie sich nicht in einer bestimmten Weise schriftlich fixieren. Nur von ihrem inneren Bau, von ihrer inneren Form aus blieb sie beständig, nur als Einfache Form war sie unveränderlich, nur als Sage erhielt sie sich. - Hervorgegangen aus der Geistesbeschäftigung mit Familie, Stamm, Blutsverwandtschaft baute sie aus einem Stammbaum eine Welt, die sich in hundert schillernden Spielarten gleichblieb, eine Welt von Ahnenstolz und Vaterfluch, von Familienbesitz und Familienfehde, von Frauenraub und Ehebruch, von Blutrache und Blutschande, Verwandtentreue und Verwandtenhaß, von Vätern und Söhnen und Brüdern und Schwestern, eine Welt der Erblichkeit. Und eine Welt, in der Gut und Böse, Mut und Feigheit ebensowenig Eigenschaft des Einzelnen sind, wie Besitz Eigentum des Einzelnen ist, sondern wo alles nur von der Familie aus gilt, wo das Schicksal der Personen immer wieder auf den Stamm zurückfällt.
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V.
Wenn dies alles so ist, so wäre es doch sehr gefährlich, wenn wir nach der Methode der Stoffgeschichte versuchten, zu einem sogenannten ‘Urtypus’ der Atridensage durchzudringen, das heißt wenn wir aus den zahllosen ‘Varianten’, in denen sie jedesmal gegenwärtig geworden ist, eine einzige ableiten und sogar wieder herstellen wollten und dann behaupten, sämtliche anderen seien ‘spätere’ Abwandlungen von dieser Einen; oder gar meinen, wir könnten in dieser Weise dieselbe ‘Erzählung’ in ihren verschiedenen ‘Entwicklungsstufen’ beobachten.
Bei der Atridensage liegt diese Gefahr nicht vor; aber bei anderen griechischen Sagen und vor allem bei unsern deutschen Sagen hören die Versuche in dieser Richtung nicht auf. Das kommt daher, daß diese Sagen im Gegensatze zur Sage von Atreus und Thyestes einmal ihre letzte, endgültige Prägung bekommen haben, als sie einmalig von einer Kunstform erfaßt wurden. Sie heißen nun nicht mehr Sage, sondern sie heißen Epos. Und in diesem Epos, in dieser Kunstform, die durch eigene Mittel mit eigenen Gesetzen alles umreißt, alles klar gestaltet, alles verendgültigt, hat auch die Sage einen so sicheren Umriß bekommen, daß wir uns bei unsrer Ergriffenheit von der neuen Form schlechterdings nicht vorstellen können, daß einmal die Sage als Einfache Form beweglich, vielgestaltig, wogend und auch in ihren Vergegenwärtigungen noch wandelbar und veränderlich gewesen ist. Wir glauben es ihr nicht, daß sie nicht ehedem eine einheitliche Geschichte war, die bestimmte Vorgänge in einer bestimmten Weise darstellte.
In diesem Unglauben werden wir in Deutschland noch bestärkt durch das, was sich bei einem Teil der Germanen zugetragen hat, durch das, was auf Island im 10. und 11. Jahr- | |
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hundert geschehen ist. Dort hat sich Sage in mündlicher Überlieferung stetig, ununterbrochen, lückenlos zur Saga herausgebildet: zur Islendinga saga. Dort hat die Sage mit ihrer Form andere Stoffe ergriffen. Dort konnte sie mühelos schriftlich niedergelegt werden. Deshalb, so schließen wir, wird es auch bei den übrigen Germanen so gewesen sein. Und von dieser Ergriffenheit im Epos einerseits, von unserem Unglauben andererseits aus fangen wir nun an der Sage wissenschaftlich ins Handwerk zu pfuschen, indem wir selber sie durch eine Hypothese vergegenwärtigen, das heißt, indem wir von ihrer inneren Beschaffenheit, von dem, was in ihr beharrlich ist, schließen auf eine Gegenwärtige Form, die zwar fehlt, die verschwunden und nirgends zu finden ist, aber die es nach unserer Überzeugung gegeben haben muß und die wir glauben in irgendeiner Weise wiederherstellen zu können, ja herstellen zu müssen. Ich sage noch einmal: darin liegt die große Gefahr - die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, daß wir mit unseren selbstgezimmerten Gegenwärtigen Formen die Urform, mit unserer künstlichen Saga die Sage vergewaltigen und daß wir uns mit jedem dieser Gebäude den Weg zum Begriff verbauen. Nicht wie eine Saga ausgesehen haben kann, sondern was Sage bedeutet, müssen wir wissen, - müssen wir auch wissen, um zu begreifen, wie Sage im Epos wirksam wird. Der Weg dazu ist nicht, daß wir das Veränderliche in seinen Veränderungen beobachten, sondern
daß wir aus dem Vergleich des Veränderlichen mit dem, was beharrt, die Bedeutung des Beharrlichen erschließen.
Wenn wir der Meinung sind, daß in Werken der Kunstform Epos manchmal die Einfache Form Sage wirksam ist, so haben wir nicht an erster Stelle zu fragen, welche Gegenwärtige Form, welche Saga nun wohl im Nibelungenlied oder in der Ilias zu finden ist, und wiederum, wie diese Saga, ehe das Epos von ihr Besitz ergriff, in ihrer Gegenwärtigkeit ausgesehen haben kann, sondern wir haben zu allererst zu fragen, wie sich die Einfache Form, die sich aus der Geistesbeschäftigung: Familie, Stamm, Blutsverwandtschaft ergibt, zu der eigengesetzlichen Kunstform verhält und wie
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sie in dieser Kunstform ihre neue, eigene, gegenwärtige Prägung bekommt.
Wir haben bei der Legende gesehen, wie ein Teil der großen Bewegungen der abendländischen Völker sich selbst in der Geistesbeschäftigung der imitatio begreift, wie die Kreuzzüge im Zeichen der Legende stehen. Wir können hier hinzufügen, daß ein anderer, früherer Teil jener Bewegung in der gleichen Weise mit dem Begriff Sage verknüpft ist. Viel von dem, was wir Völkerwanderung nennen, vollzieht sich im Sinne dieser Geistesbeschäftigung - es ist keine durch imitatio im Ganzen und in jedem Einzelnen gerichtete Bewegung, sondern es sind wandernde Stämme, die sich als einzelne, als Familien fühlen und in denen die einzelnen Familien wiederum das sind, was den Stamm zusammenhält. Und so wird hier alles Geschehen Sage: Untergang eines Volkes heißt Untergang der Familie, Sieg eines Volkes wird mit einer Sprachgebärde verdichtet zum Sieg des Familienhauptes, des Sagenhelden, und auch das Zusammenprallen zweier Völker, sei es nun, daß sich die Wandernden begegnen, sei es, daß sie mit Seßhaften zusammenstoßen, kann immer wieder nur in dieser Weise gedacht werden. Wie in diesem Erleben Sprache erzeugt, schafft, deutet, ist klar - ebenso aber, daß hier vieles gegenwärtig wird, aber sich als Gegenwärtiges in dem Getümmel und Gewimmel nicht so ausgestaltet, wie das bei der gemächlichen Besiedlung Islands von Norwegen aus der Fall sein konnte.
Diese bewegliche Vielfältigkeit ist im Epos wiedergekehrt - so wie im Epos immer etwas früher Geschehenes wiederkehrt. Sie ist in ihm nicht als Saga, sondern als Sage erhalten. Nirgends sind die Leidenschaften und die Schicksale einer Familie so unentwirrbar und so sprechend, wie im Nibelungenliede. Hier ist alles Familie. Gibichungen, Walisungen, Nibelungen, Burgunden sind Familien. Aber auch die Hunnen sind es, sie bilden kein feindliches Volk, sie bilden Etzels Stamm. In Etzel ist nichts von dem nationalen Feind der Germanen oder von dem flagellum Dei - er ist Ehemann, er ist Familienhaupt, er ist durch sein Eheweib an den Zwist einer andern Familie gebunden, oder er ist lüstern nach dem Schatz, in dem
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sich Familienbesitz vergegenständlicht. - Und wiederum trifft hier alles zusammen, was zur Familie gehört: Besitz und Fehde, Blutrache, Verwandtenmord, Brudertreue, Eifersucht, Frauenzank, Beischlaf - steigert es sich ins Ungeheure, löst es sich, wo es sein muß, fast in das Komische.
So liegt das Nibelungenlied vor uns: viel mehr aus germanischer Sage als aus einer bestimmbaren, geschweige denn wiederherstellbaren germanischen Saga gewachsen, und so können wir es unterscheiden in seiner Geistesbeschäftigung von seinem romanischen Nebenbuhler, vom Rolandslied, wo das alles fehlt, wo es ersetzt ist von der Geistesbeschäftigung der Legende. Das Epos der Völkerwanderung neben dem Epos der Kreuzzüge - als Kunstform ebenbürtig. aber auf einer anderen Geistesbeschäftigung gewachsen.
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VI.
Nachdem wir die Sage bei den Germanen und den Griechen beobachtet haben, möchte ich nur kurz einen dritten Punkt anweisen, wo sich Sage in besonderer Weise verdichtet hat, und wo wiederum ein gauzes Volk als Familie begriffen wird und sich begreift. Wir lesen in einer Überlieferung, die im Kanon des Alten Testamentes erhalten ist, wie die Israeliten sich als die nach Gottes Befehl sich schnell vermehrende Familie Abrahams darstellen und wie zwölf Stämme auf ebensoviele Brüder zurückgeführt werden. Auch hier sind alle Personen die Erben und der Besitz ist das Erbe. Die schwerste Probe, die einem Vater auferlegt werden kann, ist das Opfer seines Sohnes und in ihm seiner Familie. Der Segen des Vaters ist hier so gegenständlich, so mit Macht geladen, daß er sich auswirkt in dem Geschlechte dessen, für den er nicht bestimmt war, daß er wie etwas Greifbares geraubt wird. Der Gott ist hier ein Gott der Väter, ein Gott von Abraham, Isaak und Jakob. Und wiederum kehren Brudertreue and Bruderzwist, Familienhader, Eifersucht und alles, was dazu gehört, zugleich als Erleben der Personen, der Helden, in denen sich die Sage verdichtet hat, und als Sprachgebärden zurück.
Ich möchte, da ich auch hier nicht beabsichtige, eine Geschichte der Sage zu geben, auf die israelitische Sage nicht weiter eingehen. Ich verweise nur einerseits auf die Ereignisse aus der Sage der Erzväter, der Patriarchen und andererseits auf das, was sich in dem Hause Davids begibt und was im 2. Samuelis und 1. Könige erzählt wird. Wir finden wieder bei einer Vergleichbarkeit des Stoffes eine völlige Unvergleichbarkeit der Geisteseinstellung, der Geistesbeschäftigung, und wir sehen, daß die Form, aus der sich die Patriarchen und ihre Nachkommen ergeben, eine andere ist als die Form, in der Königssöhne zu Davids Zeit lebten und erlebt wurden. Hier
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wird die Familiengeschichte, die Königsfrage vom Staate Israel aus gedeutet.
Wohl aber möchte ich wiederum wie bei der Legende die Frage berühren, ob und wie weit die Sage jetzt noch wirksam ist.
Wo wir sie bis jetzt gefaßt haben, king sie mit einer Völkerbewegung zusammen. Es waren wandernde Semiten, bei denen wir sie fanden, und wandernde oder übersiedelnde Germanen. Es muß die Zeit der dorischen Wanderung gewesen sein, in der die Atridensage sich bildete - ja es scheint sogar, als ob die griechische Sage hier etwas faßt, das älter war als die Wanderer selbst und das von den Wanderern in bestimmter Weise aufgenommen wurde. Die Sage wurde von den Dorern aus umgedeutet, verschlechtert, auf Böses zurückgeführt - wir haben einen ähnlichen Vorgang wie bei der Bildung der Antilegende vor uns. Andererseits haben wir gesehen, daß etwas, was ich sehr im allgemeinen einmal Staatenbildung oder Staatsbegriff nennen will, der Sage feindlich ist, so wie das, was wir ebenfalls sehr allgemein Reformation nannten, die Legende ausschaltete.
Sehen wir uns in unserer eigenen Umgebung um. Daß im Norden die Saga nicht aufgehört hat, sich aus der Geistesbeschäftigung Familie zu bilden, hat Knut Liestøl nachgewiesen (Norske Aettesogor, Kristiania 1922). Aber ist es bei unseren Bauern nicht auch noch Sage, die gelebt wird - werden nicht auch bei ihnen Besitz und Handeln und Recht und Geschehen nach den Begriffen Familie, Stamm, Blutsverwandtschaft begriffen und gewertet? Wer mit dem Lande vertraut ist, wird diese Sage kennen; in der Litteratur liegt sie noch heute in der Bauernerzählung vor. Nur, daß hier die Verdichtung geringer ist, daß die Sprache hier weniger mächtig eingreifen konnte, daß alles abgeblaßt ist und daß die große Gebärde hier in doppeltem Sinne fehlt.
Und in größerem Umfange? An einem Punkte hatte das Christentum, so sehr es, da in ihm alle Menschen Brüder wurden, die Sage in ihrem Wesen bekämpfte, doch wiederum Sage in sich aufnehmen müssen - in dem Begriff der Erbsünde. In der großen Gemeinschaft, die das Christentum bildete, vererbte
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sich doch wieder Etwas - Etwas was in den ersten Eltern, in den ältesten Ahnen, entstanden war, was sich vergegenständlicht hatte, was von Geschlecht zu Geschlecht Macht besaß, wie der Vaterfluch in einem Stamm, und was nur in bestimmtem Sinne dadurch aufgehoben wurde, daß die Gottheit selbst sich wie in einer Sage spaltete in Vater und Sohn. So sehr eine andere Geistesbeschäftigung sich bemühte, die Einheit dieses Paares durchzuführen, indem sie sie in einem Dritten, nicht zur Familie Gehörigen, band, und so sehr man später versuchte, die Mutter auszuschalten - es blieb in diesem Verhältnis die Sage wirksam; und sowohl in der vererbten Sünde selbst, wie in dem erlösenden Gottessohn lagen Sprachgebärden, in denen sich die Form verdichtet hatte und in denen sie sich erhielt.
Es ist, glaube ich, richtig gesehen, wenn wir diesen Begriff der Erbsünde, wie es jüngst in einer Doktorarbeit geschehen ist, unmittelbar in Verbindung bringen mit dem Begriff der Erblichkeit, so wie er sich im 19. Jahrhundert in Erblichkeit von Eigenschaften, Erblichkeit von Krankheiten aller Art, in erblicher Belastung, kurz in allem, was wir Heredität nennen, dargestellt hat und für die Wissenschaft ein Ausgangspunkt verschiedenartigster Untersuchungen wurde. Wie sehr hat man sich bemüht, diese Erblichkeit in allen Einzelheiten zu beobachten und selbst zu berechnen. Erblichkeit wurde die Grundlage eines natürlichen Systems, das man nach einem hervorragenden Vertreter Darwinismus zu nennen gewohnt ist. Damit wurde die Natur Sage - wurde alles Lebende zu Stammbäumen, zu einem Stammbaum zurückgebracht, auf seine Verwandtschaft hin untersucht, wurde nach seiner Verwandtschaft gedeutet in der Sprache der Verwandtschaftsbegriffe. Naturlehre wurde Abstammungs-, Deszendenzlehre - und es war wie ein Opfer, das diese Wissenschaft sich selber brachte, als sie in voller Hingegebenheit an diese Grundlage die Schlußfolgerung zog, daß des Menschen nächster Verwandter der Affe sei.
Wiederum zeigte sich die Folge dieser Geistesbeschäftigung in Kunstformen. Es ist die Großerzählung in Prosa, die diese Begriffe von Erblichkeit und Abstammung erfaßt, die von dieser Sage Besitz ergreift. Ich erinnere nur daran, daß Zola seinen
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Romanzyklus Les Rougon-Macquart: Histoire naturelle et sociale d'une famille sous le second Empire nennt, und daß Galsworthy bei seinem Zyklus dem englischen Sprachgebrauch gemäß und keineswegs in ‘incorrect use’ auf die Islendinga saga zurückgegriffen hat und sein Werk Forsyte-Saga nennt. Andere Beispiele anzuführen erübrigt sich.
Ich bin mit der Sage zu Ende. Wir haben gesehen. daß sie deshalb schwerer festzulegen ist, weil sie sich enger in ihrer Geistesbeschäftigung verschließt, bei ihrer Vergegenwärtigung - mit wenigen Ausnahmen - meistens weniger sicher, weniger ausgeprägt ist als die Legende, weil, um es noch einmal zu sagen, das Verhältnis von Sage zu Saga nicht in jeder Hinsicht dem Verhältnis von Legende zu Vita entspricht. Auch ihre Sprachgebärde ist weniger verdichtet, nicht so klar und leuchtend. Und weil sie im Wesen schüchterner ist, wird, wie wir gesehen haben, ihre Ausdrucksweise leichter disqualifiziert.
Immerhin, als Einfache Form steht sie vor uns, sowohl in ihrer sprachlichen Form wie in ihren Personen, die hier Erben, und in ihren Gegenständen, die das Erbe bedeuten.
Solche Gegenstände sind der Hof des Geschlechts, der Schatz der Familie, das Schwert des Vaters; solche Personen sind außer dem Stammeshelden und seinen Anverwandten auch noch die gespenstige Ahnfrau, die die ganze Familie vertritt und sich zeigt, wenn ihr Unglück droht - oder in den sǫgur die Fylgjen.
Ein Knabe wird ausgesetzt, in einer anderen Familie erzogen. Unbekannt tritt er in ein Zimmer, wo sich sein eigener Großvater befindet - er stolpert und der Großvater lacht und sagt: ich sah, was du nicht sahest. Als du hereinkamst, lief ein junger Eisbär vor dir her, aber als er mich sah, blieb er stehen; du aber warst zu rasch und stolpertest über ihn. Nun glaube ich, daß du nicht der Sohn Krumms bist, sondern edleren Geschlechts.
Eine solche Fylgja, einen jungen Eisbären, der sie ungesehen begleitet, aber in dem, sobald sich ein Verwandter naht, dieser die Zugehörigkeit zum Stamme erkennt. führt im Grunde jede Person der Sage bei sich.
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Mythe
I.
Die Seminarschüler, die auch den M-Band des Grimmschen Wörterbuches bearbeiteten, hatten, als sie endlich bei ‘my’ angelangt waren, vermutlich Eile nach Hause zu kommen. Sie schreiben:
‘Mythe, f. Sage, unbeglaubigte Erzählung, aus dem griech. μῦϑος umgebildet, das geschlecht nach sage, geschichte, fabel, erzählung u. ähnl. geändert.’
Dann ein magerer Beleg aus Uhland - das ist alles.
Demgegenüber finden wir in der 2. Auflage von Eislers Handwörterbuch der Philosophie folgendes:
‘Mythus (μῦϑος, Rede, überlieferte Erzählung) ist die, einen Bestandteil der auf bestimmter Entwicklungsstufe stehenden Religion bildende, phantasiemäßige, anthropomorphe, auf ‘personifizierender Apperzeption’ und ‘Introjektion’ (s.d.) beruhende Lebens- und Naturauffassung, Naturdeutung. Im Mythus, der ein Produkt der Phantasie ist, aber auch eine eigenartige Logik enthält, liegt die primitive Weltanschauung, gleichsam die ‘Protophilosophie’ vor; aus dem Mythus, zum Teil aber im Gegensatz des erstarkenden begrifflichen Denkens hervorragender Persönlichkeiten zur phantasievoll - anthropomorphen Auffassung desselben, haben sich Wissenschaft und Philosophie entwickelt...’
Vergleichen wir die zwei miteinander, so sehen wir, daß die Verhältnisse hier noch verwickelter sind als bei der Sage. Auf der einen Seite wird in dem Grimmschen Wörterbuch durch die einfache Gleichung: Mythe = Sage -= unbeglaubigte Erzählung Mythe vom Historischen aus entwertet. In dem philosophischen Wörterbuch wird nun der Mythus noch von
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einer anderen Seite angegriffen und wiederum in seiner Selbständigkeit nicht ganz anerkannt. Mythus, so heißt es in dem ersten Satz, ist eine Lebens- und Naturauffassung, eine Naturdeutung. Aber Mythus bildet nur einen Bestandteil der Religion auf einer bestimmten Entwicklungsstufe und kann nur als solche verstanden werden. Dann heißt es im zweiten Satz, daß im Mythus eine ‘primitive’ Weltanschauung vorliege - wobei nicht gesagt wird, ob ‘primitiv’ hier ursprünglich, einfach, unentwickelt, oder niedrig stehend heißen soll, was es nach Eislers Handwörterbuch (siehe unter primitiv) doch alles bedeuten kann. Jedenfalls aber wird Mythus von diesem ‘primitiv’ aus wiederum zur Vorstufe gemacht, dieses Mal nicht zur Vorstufe der Historie, sondern zur Vorstufe der Philosophie, zur ‘Protophilosophie’ allerdings sollen sich Wissenschaft und Philosophie aus ihm ‘entwickelt’ haben.
So besitzt Mythe außer ‘Historie’ noch einen zweiten Feind, der ihr Eigenheit abspricht, der sie zu einer Vorstufe, zu einem frühen Glied in einer auf Höheres gerichteten Entwicklung macht. Wir werden Gelegenheit haben, diesen Gegner kennenzulernen.
Indessen möchte ich - und wäre es nur, um uns von den Wörterbüchern zu erholen - noch ein drittes Zitat hinzufügen.
1835 widmete Jacob Grimm seine Deutsche Mythologie dem Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, dem ersten, der sich in neuerer Zeit mit einer der Quellen, die auch Grimm benutzt - mit Saxo Grammaticus - eingehend beschäftigt hat. Was in dieser Widmung, die zugleich erste Einleitung ist, über unsere Formen gesagt wird, darf ich, da es tiefer geht als das, was in Wörterbüchern gesagt werden kann, als Ganzes nicht vorenthalten.
‘Sage und Geschichte sind jedwedes eine eigne Macht, deren Gebiete auf der Grenze in einander sich verlaufen, aber auch ihren gesonderten, unberührten Grund haben. Aller Sage Grund ist nun Mythus, d.h. Götterglaube, wie er von Volk zu Volk in unendlicher Abstufung wurzelt: ein viel allgemeineres, unstäteres Element als das Historische, aber an Umfang gewinnend was ihm an Festigkeit abgeht. Ohne solche mythische Unterlage läßt sich die Sage nicht fassen, so wenig
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als ohne geschehne Dinge die Geschichte. Während die Geschichte durch Thaten der Menschen hervorgebracht wird. schwebt über ihnen die Sage als ein Schein, der dazwischen glänzt, als ein Duft, der sich an sie setzt. Niemals wiederholt sich die Geschichte, sondern ist überall neu und frisch, unaufhörlich wiedergeboren wird die Sage. Festes Schrittes am irdischen Boden wandelt die Geschichte, die geflügelte Sage erhebt sich und senkt sich: ihr weilendes Niederlassen ist eine Gunst, die sie nicht allen Völkern erweist. Wo ferne Ereignisse verloren gegangen wären im Dunkel der Zeit, da bindet sich die Sage mit ihnen und weiß einen Theil davon zu hegen; wo der Mythus geschwächt ist und zerrinnen will, da wird ihm die Geschichte zur Stütze. Wenn aber Mythus und Geschichte inniger zusammen treffen, und sich vermählen, dann schlägt das Epos ein Gerüste auf und webt seine Faden. Treffend gesagt haben Sie: [gemeint ist Dahlmann in der betreffenden Abhandlung] so sehr unterliegt die Geschichte, welche kein Fleiß der Gleichzeitigen aufzeichnet, der Gefahr im Gedächtnisse der Menschen ganz zu verschwinden, oder falls die Sage sich ihrer bemächtigt zwar erhalten, aber zugleich in dem Grade verwandelt zu werden, wie die härteste Frucht in die weichste, die herbeste in die süßeste durch Kunst der Zubereitung fast willkürlich übergeht. Die Verwandlung, den Übergang räume ich ein, nicht die Zubereitung. Denn zubereitet nennen dürfen wir nicht was durch eine stillthätige, unbewust wirksame Kraft umgesetzt und verändert wurde. Es gibt doch nur wenig ersonnene Sagen, keine, deren Trug vor dem Auge der Critik nicht zuletzt schwände, wie die verfälschte Geschichte weichen muß einer weit größeren Macht der wahren...’
Wie weit sind wir in diesem Abschnitt von der verflachten Sprache der Wörterbücher entfernt! Er ist ein vortreffliches Beispiel von Jacob Grimms Sprache, von seinem Stil, von seiner Anschauungsweise. Wir sehen sie vor uns: Sage und Geschichte in ihrem verschiedenen Charakter. in der Art, wie jede einzeln auftritt und sich hervortut. Und dennoch - ist es recht klar geworden, was nun eigentlich Sage heißt und wie sie sich genau zur Geschichte verhält? Haben wir aus diesen schönen Bildern, die besagen, daß Sage wie ein Schein
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glänzt und sich wie ein Duft an etwas setzt, begriffen, wie das nun vor sich geht? Oder wie sich Sage mit fernen Ereignissen bindet? Und weiter - verstehen wir, was Mythus hier bedeutet? Mythus ist aller Sage Grund, und Mythus heißt selber: ‘Götterglaube, wie er von Volk zu Volk in unendlicher Abstufung wurzelt.’ Dürfen wir nun schließen, daß jeder Götterglaube Mythus sei - oder auch nur, daß Mythus immer Götterglauben bedeute? Und weiterhin wird an einer Stelle, wo wir das Wort Sage erwarten würden, plötzlich das Wort Mythus eingesetzt und gesagt, daß nun Mythus der Geschichte zur Stütze wird. Sind nun Mythus und Sage hier nicht mehr begrifflich unterscheidbar? Ist Mythus gleich Sage? Mythus und Geschichte vermählen sich, und wo sie sich vermählen, schlägt Epos ein Gerüste auf und webt. Bleiben wir bei den Bildern - ich habe meinerseits hier das dringende Bedürfnis, Braut und Bräutigam sehr viel näher kennenzulernen, ehe ich ihnen zu ihrer Ehe gratuliere; ich verspüre eine brennende Neugierde nach der Zusammensetzung dieses Webstuhls: ich muß wissen, wie Schuß und Kette hier beschaffen sind.
Man glaube nur eins nicht: man glaube nicht, daß es mir in irgendeiner Weise an Ehrfurcht vor den Gedanken Jacob Grimms mangelt. Ich habe gerade diesen Abschnitt gezeigt, um zu beweisen, daß eine dünkelhafte Verschiebung der Bedeutung, sei es nun von der Historie, sei es von der Philosophie aus, bei ihm nicht vorliegt, daß bei ihm jeder Begriff eine eigene Macht und, wie er selbst sagt, seinen ‘gesonderten, unberührten Grund’ hat. Ich weiß auch, wie sehr dem Zögling des deutschen Idealismus Sprache und Dichtung ein großes gemeinsames Geschehen in der Volksseele bedeuteten, ja das Größte, was je in der Volksseele geschehen war oder geschehen konnte - und daß es ihm hier in diesem Vorwort nicht so sehr darauf ankam, Einzelheiten zu bestimmen, sondern daß er eine Gesamtheit geben wollte, in der man die Elemente nur ahnte. Mythus, Sage, Geschichte und Epos sollten hier nicht ganz und nicht scharf getrennt werden, sie sollten zusammen Vertreter und Vertreterinnen sein jener ‘stilltätigen, unbewußt wirksamen Kraft’, die
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gerade für Jacob Grimm ‘himmelweit etwas anderes als die Kraft eines späten Dichters, und wäre er der stärkste’ bedeutete.
Daß ich aber das alles weiß, ist kein Grund, dabei stehen zu bleiben. Im Gegenteil - wenn wir wirklich überzeugt sind, daß jene Begriffe ihren ‘gesonderten, unberührten Grund’ haben, so ist es unsere Aufgabe, die Sonderung durchzuführen, die Gründe abzustecken. Wir haben das bei der Legende und bei der Sage versucht - daß es bei der Mythe schwieriger sein wird, verhehle ich mir nicht. Trotzdem - es muß auch hier möglich sein, bis zur Form durchzudringen, es muß möglich sein, das, was Jacob Grimm bildhaft andeutete, dem Wesen nach genau zu bestimmen.
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II.
Was die katholische Legende des abendländischen Mittelalters und was die isländische Saga des 10. und 11. Jahrhunderts uns gaben - das fehlt uns bei der Mythe. Wir reden von griechischer und von germanischer Mythologie, von Mythen der Inder und von Mythen der Naturvölker - aber mir ist kein Punkt bekannt, wo wir aus dem Gewirr von Götterlehre, Schöpfungserzählungen, Heroengeschichten, von Verwandlungen, Jenseits- und Weltuntergangsvorstellungen - kurz aus alledem, was man als Mythologie zusammenzufassen gewohnt ist, die Mythe oder den Mythos so deutlich und so vereinzelt herausfühlen, daß wir sozusagen gezwungen werden, unsre Untersuchung dort anzusetzen.
Wir gehen von einem verworrenen Gesamtbild aus - und müssen versuchen zu sichten. Deshalb möchte ich hier gleich mit einem Beispiel beginnen. Ich wähle dazu einige Sätze aus Genesis.
‘Da sprach Gott: Es sollen Leuchten entstehen an der Veste des Himmels, um den Tag und die Nacht voneinander zu trennen, und sie sollen dienen zu Merkzeichen und (zur Bestimmung von) Zeiträumen und Tagen und Jahren. Und sie sollen dienen als Leuchten an der Veste des Himmels, um die Erde zu beleuchten. Und es geschah so. Da machte Gott die beiden großen Leuchten: die große Leuchte, damit sie bei Tage die Herrschaft führe, und die kleine Leuchte, damit sie bei Nacht die Herrschaft führe, dazu die Sterne. Und Gott setzte sie an die Veste des Himmels, damit sie die Erde beleuchteten und über den Tag und über die Nacht herrschten und das Licht und die Finsternis voneinander trennten. Und Gott sah, daß es gut war.’
Was haben wir hier vor uns? Schon in der Übersetzung hören wir, daß hier keine reine Aussage, keine Erzählung oder
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einfache Schilderung vorliegt. In der erhaben bekräftigenden, man könnte sagen: beruhigenden Art, wie die Perioden hingesetzt sind, klingt etwas wie ein Zwiegespräch. Es ist etwas vorangegangen, und dieses Etwas war eine Frage, waren viele Fragen. Man hat den festen Himmel geschaut, man hat gesehen, wie am Tage die Sonne, in der Nacht der Mond ihn stätig wiederkehrend beleuchten. Schauen wurde Staunen, Staunen Fragen. Was heißen diese Lichter des Tages und der Nacht? Was bedeuten sie uns in der Zeit und den Zeiträumen? Wer hat sie dahin gestellt? Wie war es, ehe die Welt von ihnen beleuchtet wurde, ehe Tag und Nacht getrennt, ehe die Zeit eingeteilt war? Und nun geht dem Fragenden eine Antwort zu. Diese Antwort ist so, daß keine weitere Frage gestellt werden kann. so, daß im Augenblicke, da sie gegeben wird, die Frage erlischt; diese Antwort ist entscheidend, sie ist bündig.
Wer fragt? Der Mensch. Der Mensch will die Welt verstehen, die Welt als Ganzes und in ihren Erscheinungen, wie Sonne und Mond. Aber das heißt nicht, daß er sie schüchtern und zögernd beobachtet, daß er suchend und tastend in sie hineindringen, daß er sie von sich aus erkennen will - der Mensch steht der Welt, die Welt dem Menschen gegenüber und er fragt. Ich erinnere daran, daß fragen - von der germanischen Wurzel *frē̆eh - sowohl begehren, wie forschen, wie auch fordern bedeutet. Der Mensch fordert von der Welt, und ihren Erscheinungen, daß sie sich ihm bekannt geben sollen. Und er bekommt Antwort, das heißt, er bekommt ihr Widerwort, ihr Wort tritt ihm entgegen. Die Welt und ihre Erscheinungen geben sich ihm bekannt.
Wo sich nun in dieser Weise aus Frage und Antwort die Welt dem Menschen erschafft - da setzt die Form ein, die wir Mythe nennen wollen.
Stellen wir uns einen König vor, der im Zweifel ist, ob er einen Krieg anfangen soll. Er kann sich die Frage nach allen Seiten überlegen: genügen meine Streitkräfte, reichen meine Geldmittel aus, werden meine Bundesgenossen mir treu sein? - oder: wie steht es um meinen Gegner, sind nicht seine Streitkräfte größer, seine Mittel ergiebiger, wird es ihm nicht gelingen, meine Freunde zu bestechen? Hoffnungen, Bedenken.
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Befürchtungen jagen sich. Aber nun gibt es eine Stelle, wo sich die Welt - hier die Welt als Geschehen - selbst bekannt gibt, sich zu sich selbst bekennt, wo also auf die Frage: was wird geschehen? die Antwort da ist. Nicht in der Weise, daß man an jener Stelle mit außergewöhnlichen Mitteln, die dem gewöhnlichen Sterblichen nicht zugänglich sind, etwas mehr erfahren oder besser erkennen könnte als anderswo, sondern so, daß sich eine Frage in einer Antwort selbst löst; daß aus Frage und Antwort sich das Gegenständliche selbst erschafft. Wir nennen dies Orakel - und wir denken sofort an das griechische Orakel, an das Orakel von Delphi, an Geschichten, wie sie uns Herodot von dem Krieg zwischen dem Lyderkönig Kroesos und dem Perserkönig Kyros oder von Themistokles erzählt. Nehmen wir die Sache möglichst allgemein: es liegt auch bei dem Orakel von Delphi nicht so, daß zukünftiges Geschehen, sei es nun durch den Willen der Gottheit, sei es durch irgendeine Weltordnung, von vornherein festgelegt wäre und daß es nun zu Delphi eine Stelle gäbe, wo man, auf besonderem Wege von der zukünftigen Lage der Dinge unterrichtet, bereit wäre, zu gewissen Bedingungen über diese Lage Auskunft zu erteilen - sondern wir haben das Orakel so zu verstehen, daß es an einer heiligen Stelle die Möglichkeit gibt, durch eine Frage die Zukunft zu zwingen, sich selbst bekanntzugeben, oder mehr noch, daß in Frage und Antwort Zukünftiges sich selbst erschafft.
Mythe und Orakel gehören zusammen, sie gehören zur gleichen Geistesbeschäftigung. Beide sagen wahr. Das Wort wahrsagen richtet sich - wie auch das Wort weissagen - für uns auf das Zukünftige, deshalb sind wir eher geneigt, es für die Geschichte des Lyderkönigs zu gebrauchen als für das, was wir im Anfang des Buches Genesis über Sonne und Mond finden. Aber wir müssen auch das wahr und wahrsagen hier tiefer nehmen; wir müssen daran denken, daß wahr mit währen verwandt ist - daß die Welt die sich uns gewährt, indem sie von sich wahr sagt: währt, und daß in dieser Welt demzufolge Vergangenheit und Zukunft nicht geschieden sind. Und wenn wir in dieser Weise Mythe und Orakel in dem Ausdruck wahr-sagen zusammen- | |
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gebracht haben, dürfen wir daran erinnern, daß die Wurzel, die in fragen liegt, im Angelsächsischen erkennbar ist in friht und frihtrung, die ‘orakel’ bedeuten, und in frihtrian, wahrsagen.
Noch ein anderes Wort könnte man hier gebrauchen: Offenbarung. Aber Offenbarung ist ein gefährliches Wort, es ist von der Theologie zu verschiedenen Zeiten in sehr verschiedener Weise gebraucht worden. Oft versteht sie darunter ein unmittelbares Tun Gottes - in dem Sinne, daß die Gottheit sich von sich aus den Menschen zeigt. In dieser Weise ist Offenbarung weder Mythe noch Orakel. Der ‘redende Gott’, der sich des menschlichen Redens und Denkens bedient und von sich aussagt, damit wir ihn im Geiste erkennen, wie es im 1. Kor. 2, 9/10 ausgedrückt wird, gehört nicht in diesen Gedankengang.
Noch einmal: Sonne und Mond, wie wir sie in Genesis sehen, wurden zunächst als Erscheinungen beobachtet; jeden Tag erschien die Sonne und erhellte den Tag; wenn sie unterging, konnte der Mond erscheinen und sein Licht spenden - in ihrem an sich wieder stätig währenden Wechsel vollzog sich die Zeit in Tagen und Jahren. Da entstand das Verlangen, sie zu verstehen, und die Wißbegierde äußerte sich in einer Frage. Sie antworteten, und indem sie antworteten, sagten sie wahr; indem sie wahr sagten, wurden sie - auch dieses Wort möchte ich in der tieferen Bedeutung geben: wahr-genommen.
Beachten wir die Form: es ist hier wiederum nicht so, daß die Gottheit von sich aus mitteilt: ‘ich habe die Leuchten dahin gestellt, damit sie Tag und Nacht voneinander trennen’. Was Gott gesprochen hat, sprach er nicht zu den Menschen; es bezog sich auf Sonne und Mond selber. Danach ist es geschehen: Gott hat sie aufgestellt - nun erfüllen sie ihre Aufgabe, nun sind sie ganz sie selbst geworden. Sie sind so sehr sie selbst, daß die Gottheit in gewissem Sinne ausgeschaltet wird; auch Gott steht ihnen gegenüber, auch er sieht sie - sieht: ‘daß sie gut sind’. Will dieser Satz, der wie ein Kehrreim in jenem Prolog zum Buche Genesis wiederkehrt, besagen, daß Gott an der Güte seiner Schöpfung gezweifelt habe? Selbstverständlich nicht. Dieser Satz besagt, daß jedes- | |
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mal in der Schöpfung und durch die Schöpfung Alles: Licht und Finsternis. Himmel und Erde, Trocknes und Gewässer, Sonne und Mond, bündig geworden, demnach selbständig ist; er ist darüber hinaus eine letzte Antwort, eine erhabene Wahr-sage der Schöpfung selbst, die sich ihrem Schöpfer als ‘gut’ bekannt gibt.
Mythus als Form ist hier in sich vollkommen abgeschlossen. Nach Sonne und Mond wird gefragt; Sonne und Mond antworten. Es ließe sich über die Gottheit, die die Leuchten an der Veste des Himmels entstehen läßt, natürlich noch vieles andere sagen, man könnte sie anders fassen, sie mit andern Attributen ausstatten. Aber gerade das geschieht hier nicht. Sonne und Mond sind von der Gottheit aufgestellt, und die Gottheit ist hier keine andere als diejenige, die Sonne und Mond aufgestellt hat. Nur eine Erscheinung gibt sich in dem Mythus vollständig bekannt und trennt sich in ihrer Selbständigkeit von allen anderen Erscheinungen.
Damit ist aber nicht gesagt, daß nicht andere Erscheinungen sich in der gleichen Weise in Mythen gleicher Art bekannt geben können. Ich muß wieder hervorheben, daß ich auch hier, so wie bei Legende und Sage, einen Unterschied mache zwischen der Einfachen Form als solcher und ihrer Vergegenwärtigung. Ich tue das, indem ich Mythe und Mythus trenne: Mythe heißt die sich aus unserer Geistesbeschäftigung ergebende Einfache Form, dagegen ist die Form, in der sie vereinzelt jedesmal gegenwärtig vor uns liegt. Mythus oder ein Mythus.
Gerade nun das größere Stück, das denn ersten Bibelbuch vorangestellt ist - ich meine Genesis 1, 1 bis 2, 1, die Einleitung, die die Exegeten mit P(riesterkodex) bezeichnen -, und aus dem wir den Mythus von Sonne und Mond genommen haben, zeigt uns deutlich eine Anzahl solcher vereinzelter aber gleichartiger Mythen. Man nennt es als Ganzes ‘Weltschöpfung’ oder ‘Schöpfungsgeschichte’, aber beide Worte sind mißverständlich; denn die Welt ist hier in ihre Erscheinungen zerlegt, und die Tage, durch die die Schöpfung geteilt ist, bilden vielmehr eine Trennung, als eine chronologische Reihenfolge. Jede Erscheinung hat ihren eigenen Mythus - pie werden aber
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dadurch zusammengehalten, daß sich jedesmal dieser Mythus mit der gleichen Gebärde vollzieht.
Indessen sind wir mit dem Begriff Schöpfung schon über die einzelnen Mythen hinausge kommen. Mythe ist Schöpfung. Ich nehme das Wort wieder in seiner tieferen Bedeutung und erinnere an die germanische Basis *skap, die sowohl in schöpfen als in schaffen steckt, und die auch in dem Suffix - schaft ihre Bedeutung noch bewährt. Wir haben schon gesagt, daß sich in der Mythe aus Frage und Antwort der Gegenstand erschafft - wir können das auch so ausdrücken: in der Mythe wird ein Gegenstand von seiner Bechaffenheit aus Schöpfung.
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III.
Damit beobachten wir aber zugleich, was der Mythe gegenübersteht: das, was wir, als ich aus einem philosophischen Lexikon die Begriffsbestimmung zitierte, den Feind der Mythe nannten. Erkennen und Erkenntnis als Vorgang, der Wille, die Welt von sich aus aktiv zu verarbeiten, das Hineindringen in die Welt, um selbst Einsicht in ihre Beschaffenheit zu gewinnen - jener Vorgang, bei dem nicht Gegenstände sich schaffen, sondern bei dem sie erzeugt werden, er ist es, der mit der Mythe in unaufhörlicher Fehde lebt.
Wir würden diesen Gegensatz von Mythe und Erkenntnis schon aus einem genauen Vergleich der Worte μῦϑος und λόγος im Griechischen ablesen können. Aber auch dies gehört zu den Dingen, die wir uns versagen müssen. Nur einige wenige Beispiele aus Homer mögen verdeutlichen, was μῦϑος heißt und wie es sich zu unserer Form Mythe verhält.
Telemachos rüstet sich (Odyssee II) zum heimlichen Aufbruch. Er läßt sich von der Wirtschafterin Eurykleia Wein und Mehl aus dem Vorratshaus zurechtlegen (339 ff.); abends begibt er sich zu seinem Schiffe und befiehlt seinen Gesellen die Vorräte zu holen (410 ff.). Die Mutter und die anderen Sklavinnen wissen nichts: μία δ' οἴη μῦϑον ἄχουσεν - ‘nur eine weiß, wie sich die Sache wirklich verhält’, könnten wir übersetzen oder besser noch: ‘nur eine weiß das Wort, das wahr sagt’.
Nun kehrt Telemachos (Odyssee IV) von seiner Reise nach Pylos und Sparta zurück, und die Freier beschließen, ihm aufzulauern und ihn zu töten (663 ff.). Aber bald erfährt Penelope durch den Herold Medon, was die Freier beabsichtigen, und was sie erfährt ist wieder μῦϑος, wieder das Wort, das die. Wahrheit enthält. (675/76).
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Endlich (Odyssee XX) ist Odysseus unbekannt nach Hause zurückgekehrt und findet die Freier, die an seinem Tische schlemmen. Unter ihnen befindet sich auch Ktesippos aus Same, ein übermütiger Knabe. Dieser verhöhnt den fremden Bettler, sagt ihm, daß er schon zur Genüge bekommen habe, aber daß er ihm noch ein Ehrengeschenk darbringen wolle, damit er die Mägde, die ihn baden, oder sonst jemanden seinerseits damit beschenken kann. Dann wirft er ihm einen Kuhfuß an den Kopf. Nur indem er ausweicht, entgeht Odysseus der Schmach (292 ff.). Da wandeln sich die Verhältnisse: Odysseus hat den Bogen gespannt, er steht mit seinen Freunden den verängstigten Freiern gegenüber (Odyssee XXII). Einer nach dem andern fällt. Da tötet nun auch der Rinderhirt Philoitios den Ktesippos. und er sagt ihm (285 ff.), er solle nicht mehr töricht und unbesonnen reden, sondern er solle ϑεοῖσιν μῦϑον ἐπιτϱέψαι, μπεὶ ἦ πολὺ φέϱτεϱοί εἰσιν - er solle den Göttern, da sie mächtiger sind, den μῦϑος überlassen. Übermut, Dummheit, heißt es hier, daß Ktesippos gemeint hat, der Bettler, der sich zwischen den Freiern befand, wäre wirklich ein Bettler, daß er gemeint hat, ihn von sich aus als Bettler erkennet? zu können, daß er ihn dieser Erkenntnis gemäß als Bettler behandelt hat. Mythos ist, daß dieser Bettler kein Bettler, sondern Odysseus war. Ktesippos hat, von der Erkenntnis ausgehend, die innere, die eigentliche Beschaffenheit des Bettlers verkannt: den Mythos, der
den Göttern bekannt war.
Μῦϑον ἐπιτϱέψαι ϑεοῖς, das Wort, das wahr sagt, den Göttern überlassen, ist den späteren Griechen Spruch - vielleicht war es schon so in der Odyssee. Wie dem auch sei, jedenfalls bedeutet diese Redensart keineswegs, daß man die Frage, die zum Mythus führt, nicht stellen solle, sondern sie bedeutet, daß Erkenntnis eitel ist, daß jeder Versuch des Menschen, in die Welt hineinzudringen und sie von sich aus zu verstehen, jeden Augenblick auf Fehlschlüsse und Irrtümer auslaufen kann, weiterhin aber, daß die Götter das Wort kennen, das wahr sagt, daß der Mythus göttlich und daß göttliches Wissen, das die Dinge aus den Dingen heraus versteht, Mythe ist.
Es ist, nicht leicht, ein Kennwort zit finden, das die Geistes- | |
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beschäftigung, aus der sich die Einfache Form Mythe ergibt, andeutet. Wir könnten Wissen, Wissenschaft wählen, aber wir müssen dabei fest im Auge behalten, daß nicht jenes Wissen gemeint ist, auf das sich Erkenntnis letzten Endes richtet, und selbst nicht jenes von vornherein Gewisse, streng Notwendige, allgemein Gültige, das Erfahrung und Erkenntnis bedingt und begründet und das jeder Erkenntnis vorangeht, sondern daß wir es hier mit jenem unbedingten Wissen zu tun haben, das sich nur ergibt, wenn in Frage und Antwort ein Gegenstand sich selbst erschafft und sich durch das Wort, durch die Wahrsage, bekannt gibt und bewährt.
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IV.
Ich möchte dem Mythus aus Genesis als zweites Beispiel einen griechischen Mythus an die Seite stellen. Ich wähle dies Beispiel wieder aus Pindar, aus dem Anfang des 1. Pythischen Epinikions; nicht aus dem Teil, der hier die Legende enthält, sondern aus dem vorhergehenden, in dem der Ort des Festes, der Kulthandlung festgelegt wird. Mit einem Lob der goldenen Phormix, des Gesanges, setzt das Lied ein. Alles beruhigt der Gesang, auch den Blitz des Zeus, er schläfert den Adler auf dem Götterszepter ein, er bezaubert selbst Ares, den Krieg. Nur Feinde des Göttlichen erschrecken bei dem Sang der Musen, so auch der hundertköpfige Götterfeind Typhon. Und nun folgt die ausführliche Beschreibung jenes Riesen Typhon und seiner Strafe. Sein gewaltiger Körper liegt ausgestreckt von Kyme auf der italienischen Küste bis hinab nach Sizilien, dort liegt der Berg Aetna mit seinem eisigen Schnee wie eine himmlische Säule auf seiner Brust, und nun speit er aus des Abgrunds Tiefen bei Tag und bei Nacht das Feuer, die hochwirbelnden, purpurnen Flammen empor. Ein Wunder zu sehen, ein Wunder schon, wenn man davon hört.
Vor uns liegt der Berg mit seinen drei Zonen: unten die Reben, in der Mitte die Wälder, oben der kahle, während des größeren Teils des Jahres mit Eis und Schnee bedeckte Gipfel. Aber der Berg ist nicht wie andere Berge, er speit Feuer. Hier setzt die Frage ein - hier wird sie in einer Antwort gelöst. Bei Pindar in doppelter Weise. Es sind wieder wie in Genesis, aber hier weniger scharf getrennt, zwei Mythen. Erstens, was ist ein Berg überhaupt? Die Antwort, in einer Sprachgebärde begriffen, lautet: Säulle des Himmels. Aber dann: weshalb sprüht aus diesem Berge Feuer? - und da heißt es: unter ihm und von ihm festgehalten liegt der götterfeindliche hundertköpfige Riese, der Erzfeind. Aber schon hier
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interpretieren vir etwas zu weit - der Berg, der Himmelspfeiler, ist selbst wiederum von oben bis unten der Riese, der Feind. Zweimal antwortet diese Erscheinung, zweimal bekennt sie sich, bezwungene von einer Frage, zu sich selbst, zweimal erschafft sie sich, verdichtet und dichtet sie sich in Sprachgebärden. Die Stütze des Himmels wird zum feuerspeienden Götterfeind.
Wie wenig würden wir den Vorgang, die Form als Form, begreifen, wollten wir sagen, die Griechen waren zu jenen Zeiten allzu ungenügend über Berge, Himmel oder vulkanische Erscheinungen orientiert, oder wollten wir von einer auf ‘personifizierender Apperzeption’ beruhenden ‘Naturdeutung’ sprechen. Es ist keineswegs Natur in unserem Sinne, was hier gedeutet wird. Feuerspeiende Berge sind in der Welt unserer Geistesbeschäftigung keine Natur - damals nicht und auch heute nicht. Und es gibt auch keinen unmittelbaren Weg, der von dem Mythus ‘Aetna’ - von dem Bekenntnis des Berges - zur Erkenntnis geologischer Erscheinungen führte.
Wohl aber gibt es eine geistige Umstellung, man könnte sagen, eine Bekehrung: ein Sich-Abwenden von der Form und ein Versuch, von sich aus an die Erscheinung heranzukommen, von sich aus über sie ein Urteil zu bilden, von sich aus den Gegenstand aus seinen Bedingungen zu erzeugen. Aber diese Bekehrung heißt Übergang vom Mythos zum Logos.
Hieron, der Sieger, den Pindar besingt, hatte am südlichen Abhang des Berges eine Stadt gegründet oder neu gegründet, die ebenfalls Aetna hieß. Er hatte sie mit Bewohnern von Syrakus und Katana bevölkert. In dieser Stadt, die von seinem Sohne Deinomenes verwaltet wurde, fand auch zu Ehren dieses Sohnes die Siegesfeier statt. Hier wurde das Epinikion gesungen. Dies war der Ort, den Pindar festzulegen hatte. Sobald er mit seinem Bergmythus zu Ende ist, knüpft er an diese Stadt an. Noch einmal stellt sich der Mythus ein. Ein Berg, eine Säule des Himmels, ist wiederum Sitzder Gottheit. Stätte, wo sie waltet; und so ist Aetna zugleich Himmelsstütze, Götterfeind und überdies Stätte des waltenden Zeus. Von jenem Mythus aus erfolgt nun in dem Epinikion ein Gebet ami diese Gottheit, die Gründung des Hieron zu schützen, ihr Frieden
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und Wohlgedeihen zu gewähren. Dann wendet sich das Lied zu den Siegern. Ohne daß es ausdrücklich gesagt wird, werden die Kriegstaten des Heron in Verbindung mit dem Vorhergehenden gebracht, und es ist, als ob wir in den Siegen des sikelischen Tyrannen über Etrurien und Karthago ein Echo hören von Zeus' Sieg über den feuerspeienden Riesen. Aber gerade hier spüren wir die Umstellung, von der wir soeben gesprochen haben: Pindar knüpft an den Mythus an, aber indem er anknüpft, verläßt er den reinen Mythus. In doppeltem Sinne leitet er den Mythus ab. Wenn wir, was er nur andeutet, aussprechen, so müssen wir sagen: Was zwischen Hieron und seinen Gegnern geschieht und was zwischen Zeus und Typhon geschah, kann gegenseitig aufeinander bezogen, kann verglichen werden. Damit aber stellt er nicht mehr unbedingt die Frage, die sich in einer Antwort lösen kann.
Hier schleicht sich Erkenntnis ein. Pindar beurteilt von sich aus die Taten des Hieron, er vergleicht sie mit der Typhonfesselung, er, bezieht sie sogar auf den Mythus, er erkennt einen Zusammenhang - aber damit ist eben kein Hieronmythus geschaffen.
Überlegen wir uns, wenn wir in dieser Weise Mythos und Logos nebeneinander sehen, was für eine seltsame Zusammensetzung die griechischen Wörter μυϑολγέω, μυϑολόγημα und μυϑολγία enthalten, wie sie ‘das Widrige zusammengießen’. Ich möchte das Wort ‘Mythologie’ and liebsten aus der Reihe unserer Begriffe streichen; wollte ich es aber dennoch gebrauchen, so würde Mythologie das andeuten, was Pindar hier macht.
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V.
Wir müssen hier, damit auch dieser Vorgang verständlich wird, eine dritte Weise erklären, in der sich unsere Formen scheinbar hervortun.
Bisher haben wir sie als reine Einfache Form und als deren Vergegenwärtigungen gesehen. Wir haben gefunden, daß es neben Legende Vita, neben Sage Saga gibt. Wir haben in diesem Sinne Mythe und Mythus unterschieden. Nun beobachten wir aber, daß es möglich ist, irgend etwas, was nicht eigentlich zur Geistesbeschäftigung gehört, dennoch von außen her, von der äußeren Gestalt aus, auf sie zu beziehen. Schon Jacob Grimm redete von einer ‘ersonnenen Sage’. Und ich erinnere an eine andere Form, auf die wir später zurückkommen: wir wissen alle, daß es sogenannte Kunstmärchen gibt. Darunter verstehen wir im allgemeinen irgendeine Erzählung, die in ihrer äußeren Gestalt absichtlich an das Märchen angelehnt, ihm angeähnelt ist, aber die wir von innen heraus dennoch nicht zum Märchen zählen. Es ist bekannt, daß es auch in der Sprachwissenschaft Ähnliches gibt, daß Worte anderen Worten äußerlich angepaßt, nachgestaltet werden können. Die wenig ertragreiche Notiz über Mythe im Grimmschen Wörterbuch hat uns zum mindesten gezeigt, daß das griechische Maskulinum μῦϑος bei seiner Verdeutschung zu Mythe das Geschlecht von Sage, Geschichte, Fabel usw. annahm und unter dem Einfluß dieser Wortreihe ein Femininum wurde, daß es sich in dieser Hinsicht jenen Worten anähnelte. Zu den Formen, die unmittelbar aus einer Geistesbeschäftigung hervorgehen, und die sich danach vergegenwärtigen, kommt nun diese dritte Weise hinzu, wo etwas nicht unmittelbar zur Geistesbeschäftigung Gehöriges dennoch die Gestalt jener Formen annimmt: zu der Einfachen Form und der Gegenwärtigen Form gesellt sich das Analogon, die Bezogene Form.
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Nehmen wir für die Mythe ein recht deutliches Beispiel. Feuerkohle, Strohhalm und Bohne gehen zusammen auf Reisen. Sie haben einen Bach zu überschreiten, und der Strohhalm legt sich dienstbereit darüber. Die Bohne kommt glücklich auf die andere Seite. Die Feuerkohle kommt bis zur Mitte. Da erschrickt sie vor dem Wasser, bleibt stehen, verbrennt den Strohhalm und plumpst zischend und erlöschend in die Feuchtigkeit. Die Bohne findet das so komisch, daß sie zu lachen anfängt - sie lacht, bis ihr der Rücken platzt. Glücklicherweise kommt ein Schneider des Weges, der Nadel und Faden bei sich trägt; er näht die Bohne, aber leider war der Faden dunkel, und seitdem haben alle Bohnen hinten eine schwarze Naht.
Wir haben auch hier Frage und Antwort. Warum hat die Bohne eine schwarze Naht? In der Antwort wird sogar die Frage endgültig gelöst: sie war geplatzt; sie ist mit schwarzem Zwirn genäht. Und dennoch spüren wir, daß hier - auch abgesehen vom Format - die Sache anders liegt als in Genesis und bei dem Aetnamythus. Wir spüren, daß hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Die Frage wird nicht von innen heraus gelöst. Die Bohne bekennt sich nicht von sich aus zu ihrem Merkmal: sondern der neugierig Fragende bringt selbst eine Antwort an die Bohne heran. Allerdings nimmt der Fragende dabei die Haltung an, als ob die Antwort nicht von ihm stammte; während er selbst antwortet, tut er, als ob die Bohne antwortete. Aber man merkt die Absicht; es ergibt sich hier keine Mythe, sondern es wird ein Mythus herangezogen. Die Geschichte der geplatzten und genähten Bohne bedeutet nicht, daß sich eine Erscheinung dem Menschen auf seine Frage bekannt gibt, sondern sie stammt von einem Menschen, der bestrebt ist, eine von ihm beobachtete Erscheinung, die seine Neugierde geweckt hat, zu deren Erklärung jedoch seine Kenntnisse nicht ausreichen, nach der Art der Mythe, in der Form eines Mythus zu erläutern. Und eben das ist es, was wir ein Analogon, einen Bezogenen Mythus nennen: ein Mythus, der nicht eigentlich wahr-sagt, sondern der abgeleitet und dadurch nur wahr-scheinlich ist.
Überall wo sich aus einer Geistesbeschäftigung eine Einfache Form zwingend und bündig ergibt und sich vergegen- | |
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wärtigt, finden wir daueben die Bezogenen Formen. Wo sie unser Formgewissen unterscheidet, pflegen wir - ich habe schon darauf hingewiesen - immer das Präfix ‘Kunst’ voranzustellen, von ‘Kunstmärchen’, ‘Kunsträtseln’ zu reden. Wir drücken damit aus, daß wir eingesehen haben, daß hier nicht die Geistesbeschäftigung als solche vorliegt, sondern daß sie uns nur vorgespiegelt, vorgespielt wird. Nicht immer sind sie leicht von den eigentlichen Vergegenwärtigungen Einfacher Formen zu unterscheiden, hauptsächlich dann nicht, wenn die Geistesbeschäftigung, aus der sich eine Einfache Form ergibt, uns aus irgendeinem Grunde fernergerückt ist. Wir werden nicht immer Gelegenheit haben, auf diese Analogien einzugehen, sie sind zum größten Teile für uns von geringer Bedeutung, hier aber müssen wir sie erwähnen, da sie zu der Mythe in einem besonderen Verhältnis stehen.
Das kleine Spiel von Bohne, Feuerkohle und Strohhalm zeigt uns, wo sich Pindar befindet, wenn er in seinem Epinikion von der Mythe zur Mythologie schreitet, darüber hinaus aber gibt es uns eine leise Ahnung von dem ungeheuren Kampf, den der Mensch seit dem Augenblicke, da er zu denken anfing, zu bestehen hat.
Der Wille zur Erkenntnis geht auf die Erfassung des Seins und der Beschaffenheit der Dinge; Erkenntnis ist gegenständlich gerichtet, sie sucht Einsicht in den Zusammenhang der Dinge, sie will eine Bestimmung des Seins und des Soseins der Objekte und ihrer Beziehungen. Erkenntnis faßt sich in Urteilen. Jedes Urteil soll Allgemeingültigkeit besitzen. So besteht die eigentliche Leistung der Erkenntnis darin, daß sie ihren Gegenstand aus seinen Bedingungen erzeugt.
Aber neben dem Willen zur Erkenntnis steht die Geistesbeschäftigung, in der sich aus Befragtwerden-wollen und aus Fragen, aus Antwort-heischen und Antwort-bereitschaft die Welt ergibt. Neben Erkenntnis steht die Form, in der sich aus dem Wort, das wahr sagt, die Dinge und ihre Zusammenhänge eigenst erschaffen.
Neben dem Urteil, das Allgemeingültigkeit beansprucht, steht die Mythe, die Bündigkeit beschwört.
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Noch einmal: es ist nicht so, daß zeitlich das Eine dem Andern vorangeht, daß Unzufriedenheit mit dem Einen mählich zum Andern führt, daß Entwicklung das Eine als unzulänglich auszuschalten vermag, um dem Andern Raum zu schaffen - sondern überall und immer stehen sie nebeneinander, und immer und überall sind sie, wie die Königskinder im Liede, getrennt durch ein Wasser, das viel zu tief ist, und können nicht ‘beisammen kommen’.
Wohl aber gehen hinüber und herüber Sehnsucht und Widerspruch. Erkentnis versucht - wir haben es schon gesehen - einerseits die Form Mythe herabzusetzen und zu leugnen; andererseits greift sie - auch das konnten wir beobachten - dort, wo sie sich ihrer Grenzen bewußt wird, leicht zum Analogon und versucht, sich selber in einem Bezogenen Mythus zu vollenden. Mythe ihrerseits strebt dort, wo sie ihre bindende Kraft einbüßt, oft danach, zur Erkenntnis hinüber zu lenken, sich auf dem Wege der Erkenntnis zu stützen und neu zu beleben. Erkenntnis mit der Maske der Mythe und die Mythe in der Larve der Erkenntnis sind sozusagen gern gesehene Erscheinungen bei dem Mummenschanz des menschlichen Denkens.
Wenn wir von unserer Litteraturgeschichte aus die Geschichte der Philosophie betrachten und das Schauspiel des Abstoßens und Anziehens von Mythe und Erkenntnis beobachten, so wird es uns klar, wie hier eine der schwierigsten Aufgaben unserer Morphologie vor uns liegt, aber zugleich, wie wenig wir bisher dieser Aufgabe gewachsen sind.
Vor nicht langer Zeit erschien von dem klassischen Philologen Karl Reinhardt ein treffliches Buch über Platons Mythen. Wir finden da nicht nur die vergegenwärtigten Mythen aus Platons Werken zusammengestellt und verglichen, sondern weit darüber hinaus können wir beobachten, wie die Form Mythe in Plato überhaupt wirksam ist. Von dem Augenblick an, da in dem Protagoras fast leichtsinnig, fast im Scherze den Zuhörern die Wahl gelassen wird, ob sie die Frage, ob Tugend ein zu Lernendes sei, auf dem Wege des Mythus oder auf dem des Logos beantwortet haben wollen, bis in die spätesten, ernstesten Dialoge sehen wir immerfort, wie
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die Geistesbeschäftigung, aus der sich die Form ergibt, die imstande ist, aus Frage und Antwort Gegenstände zu erschaffen, gegen den Willen zur aufklärenden Erkenntnis ringt. Und schließlich, wiederum über diese Einzelmythen, über diese Einzelkämpfe hinaus - was ist die Figur des Sokrates, so wie sie sich in dem platonischen Opus, in den Dichtungen des Plato ersehaffen hat, anderes als die litterarische Form, die wir suchen, was ist sie anderes als der platonische Mythus selber, das Orakel, durch das die befragte Welt gezwungen wird. bündig zu sein, indem sie von sich selbst wahr sagt!
Wollten wir an die Philosophie des Mittelalters, an die ‘ancilla theologiae’, an die Scholastik, herantreten, so würden wir erfahren, wie auch dort die Form Mythe dem Willen zur Erkenntnis gegenüber steht, aber wie auch dort ein nicht zu Ende gedachter Gedanke oft die Flucht in den Bezogenen Mythus ergreift.
Indessen - wo wir schon auf eine Geschichte der Legende und der Sage verzichten mußten, wollen wir uns hüten, mit der unendlich schwieriger zu schreibenden Geschichte der Mythe hier auch nur den Anfang zu machen.
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VI.
Wohl können wir uns fragen: wie arbeitet uusere Form? Wie faßt in der Geistesbeschäftigung des Wissens Mythe die Welt? Sowohl bei Sonne und Mond, wie bei dem Berg und dem feuerspeienden Berg haben wir gesehen, daß die Frage an erster Stelle herausgefordert wurde von, daß sie sich richtete nach allgemeinen Erscheinungen, die zugleich vielfach und stätig sind und die sich dadurch von der beweglichen Verschiedenheit des Alltäglichen abheben. Die Wett der Mythe ist keine Welt, in der es heute so und morgen anders zugeht, in der etwas kommen, aber auch ausbleiben kann; sie ist eine Welt, die Befestigung sucht, eine feste Welt. So ist die Sonne in Genesis keine Sonne, die heute scheint und morgen von Wolken getrübt ist, sondern sie ist jene Leuchte an der Veste des Himmels, die jedesmal wieder den Tag von der Nacht trennt und durch die die Stätigkeit der Zeiträume bestimmt wird. So ist auch der Berg das Feste, das in seiner Festigkeit den Himmel stützt. Auch der Vulkan ist nicht ein Berg, der mauchmal Feuer speit, sondern er ist der Berg, dem eine verderbliche Fähigkeit, die feindliche Macht. Feuer zu speien, stätig innewohnt. Wo nun in einer Antwort die Frage getilgt wird, wo, wie wir auch schon gesehen haben. diese Welt. Schöpfung wird, da findet sich immer ein Geschehen.
Das althochdeutsche scëhan, das mittelhochdeutsche schëhen haben noch die Bedeutung von ‘schnell einherfahren’, ‘dahin eilen’, ‘rennen’; das verwandte altslawische skokǔ heißt ‘Sprung’. Diese Bedeutung müssen wir uns vor Augen halten, wenn wir hier von Geschehen reden. Gerade das, was allgemein, aber im Vielfachen stätig ist, faßt die Mythe mit einem eiligen Sich-Ereignen, mit einem plötzlich eintretenden. unabweisbaren Geschehen: es springt zutage, es entspringt. ‘Und so geschah es’. heißt es in unserm
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Genesismythus, ‘da machte Gott die beiden großen Leuchten: die große Leuchte, damit sie bei Tage die Herrschaft führe, die kleine Leuchte, damit sie bei Nacht die Herrschaft führe, dazu die Sterne.’ Sonne, Mond und Sterne sind in diesem Geschehen aus dem Vielfachen zur Einheit zurückgebracht; es gibt nicht viele Sonnen: wenn die große Leuchte verschwindet und wiederkehrt, ist sie nicht neu, es ist immer die gleiche Sonne, weil sie in diesem einmaligen Geschehen bestätigt, unveränderliche Schöpfung geworden ist. So gibt es viele Sterne, aber sie sind in ihrer Vielheit stätig, sie sind in ihrer Vielheit von dem Punkte ihres Anfangs zur Einheit zurückgeführt. Und es gibt viele Berge, viele verschiedene Berge; aber wo ein Berg von sich selber aussagt, nennt er sich Pfeiler des Himmels, sagt er, daß er einmal aufgebaut ist, um den Himmel zu stützen, oder Sitz der Götter, das heißt, daß er einmal hingesetzt ist, damit sich die Gottheit auf ihn niederlassen soll. So gibt es für die Griechen nur einen Aetna, aber seine dauernde feindliche, zerstörende Macht ist in einem einmaligen Geschehen, der Versenkung des hundertköpfigen Ungeheuers, begründet.
Geschehen in diesem Sinne bestimmt die Sprachgebärde der Mythe.
Als wir von der Legende sprachen, beobachteten wir, wie sich unter der Herrschaft einer bestimmten Geistesbeschäftigung aus der Mannigfaltigkeit des Geschehens gleichartige Erscheinungen verdichteten, wie sie in ihrer Verdichtung von der Sprache zusammengewirbelt und als Gestalt umgriffen wurden. Bei der Mythe liegt die Sache etwas anders. Freilich hebt auch die Geistesbeschäftigung des Wissens aus einer Mannigfaltigkeit Gleichartiges hervor: die Form Mythe, wie wir sie bisher kennengelernt haben, richtete sich auf das, was in der beweglichen Verschiedenheit der sichtbaren Erscheinungen zugleich vielfach und stätig war, auf das sich gleichmäßig Wiederholende, wie Sonne und Mond, auf das Bleibende, wie Berg oder Vulkan. Aber so gefährlich es wäre, eine hierarchische Rangordnung der Einfachen Formen begründen zu wollen, wir können uns hier doch nicht verhehlen, daß das, womit sich der Geist in der Mythe beschäftigt, an sich
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eine andere Dichtigkeit, eine andere Würde, eine andere Selbständigkeit besitzt als das, womit sich der Geist in Legende oder Sage beschäftigt, und daß demzufolge auch der Sprachgebärde der Mythe eine andere Festigkeit, eine andere Gültigkeit und eine andere Machtvollkommenheit - wollten wir Fremdwörter gebrauchen, so würden wir sagen: eine andere dignitas und eine andere auctoritas - zustehen, als den Sprachgebärden von Legende und Sage. Deshalb möchte ich nicht sagen, daß die Sprachgebärde der Mythe gleichartige Erscheinungen zusammenwirbelt und als Gestalt umgreift. Die Sprachgebärde der Mythe ist zwingender: sie ist wie ein Nadelöhr. Alles, worauf sich die Geistesbeschäftigung des Wissens richtet, alles, was in der Welt stätig und vielfach ist, wird in der Form Mythe durch die Sprachgebärde zusammengerissen, zusammengepreßt, durch das einmalige Geschehen hindurchgezogen und empfängt in diesem Geschehen die Deutung seiner Vielheit und Stätigkeit. Wollten wir den Gegensatz der Form Mythe zur Legende und Sage etwas zuspitzen, so könnten wir sagen, daß sich in letzteren Bewegliches gestaltet, daß in der Mythe dagegen Gestalten in einem Geschehen beweglich werden.
Fassen wir noch einmal zusammen. Das, was wir Frage und Antwort genannt haben, läß sich genauer umschreiben. Die Frage geht nach dem Wesen und der Beschaffenheit alles dessen aus, was wir in der Welt als stätig und vielfach beobachten. Die Antwort greift alles dieses in dem Geschehen zusammen, das in seiner unbedingten Einmaligkeit die Vielheit und Stätigkeit zur Einheit zurückführt und sie als solche zugleich fest und beweglich gestaltet, in einem Geschehen, das zum Geschick und zum Schicksal wird.
Wollen wir auch die Bezogene Form noch einmal betrachten, so fällt uns auf, wie in der Erzählung von Bohne, Halm und Feuerkohle gerade das Geschehen das ist, was der Bezogene Mythus nachzuahmen sucht, ja, was er an dieser Stelle eigentlich parodiert. Warum haben die vielen Bohnen immer wieder eine Naht? Auch hier soll die Antwort ein Geschehen sein - sogar ein turchtbares Geschehen! Aber, noch einmal, wir spüren. wie dieses Geschehen von außen her heran- | |
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gebracht wird. Eine Naht hat, was genäht worden ist; genäht wird, was geplatzt war; platzen tut man vor Lachen. Alles das sind, wollen wir ein großes Wort benutzen: Erkenntnisurteile. Aber diese Erkenntnisurteile suchen sich von außen her einmalig in einem Geschehen zu befestigen und zu gestalten, und so werden auch noch der Spaziergang, der Bach und der Schneider mit dem schwarzen Zwirn zur Katastrophe herangezogen.
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VII.
Bisher war bei unseren Beispielen hauptsächlich von sichtbaren Erscheinungen die Rede. Es versteht sich, daß die Geistesbeschäftigung des Wissens und die Form, die in Frage und Antwort wahrsagt, sich zunächst auf jene vielfachen und stätigen Erscheinungen richten, die ein vom menschlichen unabhängiges, eigenes Dasein zu führen scheinen. An erster Stelle ist es die Natur, die in der Einfachen Form Mythe und in ihren Vergegenwärtigungen, den Mythen, von ihrer Beschaffenheit aus Schöpfung wird. Schon unser Handwörterbuch der Philosophie redete von ‘Naturdeutung’, und ich brauche wohl nicht daran zu erinnern, daß es eine Schule von Philologen, Ethnologen, Religionshistorikern und Volkskundlern gab und gibt, die alles, was sie unter dem Begriff Mythe zusammenfaßt, in Beziehung bringt und irgendwie zurückführt auf Naturerscheinungen, ja sogar auf eine einzige Naturerscheinung. Die Astralmythologen haben sich in dieser Hinsicht eine gewisse Berühmtheit erworben.
Wie wir die Form Mythe hier zu verstehen gesucht haben. beschränkt sich aber ihre Geistesbeschäftigung keineswegs auf die Natur.
Wir haben, als wir die Begriffe Frage und Antwort erörterten, auf die Zusammengehörigkeit von Mythe und Orakel hingewiesen. Es ist, nun wir die Wirksamkeit der Form genauer kennengelernt haben, möglich, diese beiden zu trennen und zu unterscheiden. Bei dem Orakel beziehen sich Frage und Antwort in ihrer Wahrsage auf einen Einzelfall, dagegen richten sie sich, wie wir festgestellt haben, bei der Mythe auf das Stätige. Darin liegt der Grund. daß die Wahrsage der Form Mythe, von einer Sprachgebärde gefaßt, sich in einer dauernden Vergegenwärtigung bestätigt. während die Wahrsage des Orakels, ohne
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eine allgemeine Form zu ergreifen, mit der Erledigung des Einzelfalles erlischt. Dennoch beweist das Orakel, daß Frage und Antwort sich auf anderes als auf Naturerscheinungen richten können. Die Form, die sich in einem Geschehen vollzieht und vollendet, kann sich auf ein Geschehen im allgemeinen Sinne richten.
Wo ein Tyrann über seine Mitmenschen herrscht und sie unterdrückt, Rechte und Sonderrechte des Volkes verschmäht, den Einzelnen mit sinnloser Grausamkeit quält, wo er Unmögliches fordert, die staatliche und persönliche Sicherheit vernichtet, bis alles im Leben nur von seiner augenblicklichen Willkür abhängig scheint, da kann der Mensch fragend und fordernd dem Wesen dieses Geschehens gegenüberstehen, da kann ihm ein Widerwort entgegentreten und da kann die Sprachgebärde die Summe des Stätigen und Vielfachen in diesem Geschehen in einem gesteigerten Geschehen umreißen. Da heißt es: der Wüterich zwingt einen Vater, einen Apfel von dem Haupte seines Sohnes zu schießen. Alle Einzeltaten der Willkür, jede Mißachtung dessen, was Menschen verbindet, wird in das Verhältnis Vater und Kind (die hier keine Sage bilden) eingepreßt; die grausame Forderung des Unmöglichen heißt Apfelschuß. Der Vater steht seinem Sohne mit der tödlichen Waffe gegenüber, das sinnlose Ziel, das er sich selbst nicht gesetzt hat, ist der kleine runde Gegenstand, der sich kaum vom Haupte des Knaben abhebt. Aber unmittelbar schließt sich dieser ersten Wahrsage eine zweite an, hebt ein neues Geschehen alles Vorhergehende auf: in dem Augenblick, da der Pfeil den Apfel zerspaltet, zerbricht die Welt des Ungerechten und bricht die Freiheit hervor. Lautete die Frage in dem ersten Teil des Mythus: was ist es, wenn ein Tyrann willkürlich ein freies Volk unterdrückt? und kam die Antwort: da wird ein Vater gezwungen, einen Apfel von seines Sohnes Haupt zu schießen, so wird sofort im zweiten Teil die Frage: und was geschieht, wenn ein Volk in diese Unterdrückung geraten ist?
beantwortet, und es heißt: ob der Schuß gelingt oder mißlingt, der nächste Pfeil muß das Herz des Tyrannen spalten. Aber der Schuß kann nicht mißlingen: das Unmögliche. was
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die Willkür gefordert hat, geschieht, und indem es geschieht, zerschmettert es die Gewaltherrschaft.
Vielleicht könnte man hier einen Einwurf machen. Wir könnten uns daran erinnern, daß erstens der Mythus des Tellschusses in der Schweizer Geschichte keineswegs gleichzeitig ist mit dem Geschehen, mit den Ereignissen. auf die er sich beziehen soll, daß er erst später erscheint, und daß zweitens ahnliche Erzählungen anderweitig zu finden sind, daß wir einen Egilschuß kennen, daß Saxo Grammaticus von Harald Blauzahn, von Toko und dessen Sohn ähnliches erwähnt. Ein genaueres Eingehen auf das Verhältnis dieser Vergegenwärtigungen würde uns von unseren allgemeinen Betrachtungen zu weit auf die Einzeluntersuchung führen. Wir wollen das vermeiden. Trotzdem aber läßt sich hier einiges sagen.
Zum ersten: Es ist nicht unbedingt nötig, daß das Geschehen im Augenblicke, da es geschieht, sich durch Mythe deutet, sich in einem Mythus vergegenwärtigt, sondern auch die Erinnerung an Überstandenes kann in dieser Form eine Vergangenheit schaffen und deuten.
Zum zweiten: Wenn wir eine Vergegenwärtigung finden, einen Mythus, der schon früher oder anderswo Antwort auf eine Frage bedeutet hat, so beweist das, daß die Sprachgebärde das Stätige, das sich immer gleicherweise Wiederholende richtig ergriffen hat, das heißt so ergriffen, daß es auch an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit noch als gültiger und bündiger Zusammenschluß von Frage und Antwort empfunden wird. Wer von einem Wandermythus redet, hat die Verpflichtung, sich von dem Begriff Wandern Rechenschaft zu geben. Ein Wandern im Sinne eines ziellosen Umherirrens, eines aus nicht zu erklärenden Gründen einmal hier dann wieder dort Auftauchens ist sowohl in sprachlicher wie in litterarischer Hinsicht undenkbar. Wo immer eine Form oder ihre Vergegenwärtigungen sich zeigen, bewähren sie sich als Bedeutungsträger.
Noch einmal ein Beispiel. Wenn ein Volk und sein gerechter Herrscher, sein Anführer, von Feinden umringt, von allen Seiten in die Enge getrieben, sich in höchster Not befinden, wenn keine Möglichkeit vorhanden scheint, einen Aus- | |
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weg zu finden, so erscheint ein rettendes Wesen. Dieses Wesen ist von höherer, von besonderer Art. Es ist kein Mann. es ist keine Frau, aber es kann in dieser Beschaffenheit verschieden gefaßt werden: es kann eine Jungfrau, es kann eine Hetäre sein, die beide nicht als ‘Frau’ betrachtet werden, es kann aber auch eine Art androgyne Gottheit sein, und es kann schließlich abwechselnd Züge dieser Drei tragen. Als Attribut besitzt es ein Gespann Pferde, die jenes aus Rädern, Achse und Deichsel fest und dauerhaft gefügte ‘Gerät’ ziehen, das wir Wagen nennen. Dieses Wesen hebt den bedrängten Führer auf den Wagen, ergreift die Zügel und führt den Helden unversehrt und siegreich durch die umringende Schar der Feinde. Wenn der Zweck erreicht, Fürst und Volk errettet sind, verschwindet es, geht zugrunde, es kann durch die Pferde selbst zu Tode geschleift werden.
Wir finden diesen Vorgang im 5. Gesang der Ilias. Die Griechen sind bedrängt; Diomedes, der die Schlacht führte, ist verwundet, die Troer dringen ungestüm vorwärts. Ares und Hektor treiben die weichenden Griechen zu den Schiffen. Da kommt Athena, sie hat das bunte Frauenkleid, das sie sich selber gemacht hat, abgestreift, sie legt den Panzer an, setzt den Helm auf, ergreift die Lanze - sie ist Mann-Frau geworden (V. 733 ff.). Nun spricht sie zu dem ermüdeten Helden, ermutigt ihn. Sie faßt den Wagenlenker Sthenelos bei der Hand und treibt ihn weg, sie selbst besteigt den Wagen, dessen Achse aus Buchenholz ächzt (V. 835 ff.). Und nun geht es vorwärts, quer durch die Feinde. Sie kämpft nicht selbst, aber sie wendet den Speer des Ares ab; Diomedes verwundet den Gott. Ares schreit wie neuntausend Männer und jammert vor Zeus - aber die Griechen sind gerettet aus der Bedrängnis, und Athena kehrt, nachdem sie den Verderber gehemmt hat, zum Olymp zurück.
Dieses selbe rettende Wesen finden wir in Indien im Rigveda. Es heißt Ushas und ist wiederum kein Mann und keine Frau, sondern hier eine göttliche Hetäre: ‘Aufgeblitzt ist sie mit Schminke im Türrahmen des Himmels. Das schwarze Gewand hat die Göttin abgedeckt. Aufweckend kommt mit rötlichen Rossen Ushas auf wohlgeschirrtem Wagen’ (R.V. 1,
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92, 14). Denn auch sie hat einen Wagen und ein Gespann: ‘Mit dem schön bemalten, glückbringenden Wagen, auf dem du stehst, Ushas, mit dem hilf heute dem ruhmreichen Volke, Tochter des Himmels’ (R.V. 1, 49, 2). Wir wissen außerdem, daß sie verwandt ist mit den Zwillingen, die ihrerseits wieder zu Pferden in Beziehung stehen und in Indien Ashwinen, in Griechenland Dioskuren heißen: ‘Kommt herbei mit einem Wagen, der schneller als das Manas ist, den euch die Ribhus gemacht haben, ihr Ashwinen, bei dessen Schirrung die Tochter des Himmels geboren wird’ (R.V. 10, 39, 12). Der Unterschied zwischen dem rettenden Wesen der Ilias und dem hilfreichen Wesen des Rigveda liegt darin, daß ihre rettende Macht dort aus einem Geschehen, hier aus einer Naturerscheinung hergeleitet ist. Wir übersetzen Ushas mit Tagesanbruch oder Morgenröte, und es ist nicht zweifelhaft, daß das, was die Sprachgebärde in Ushas gegriffen hat, das stätige, sich immer gleichmäßig wiederholende Erscheinen des siegreichen Morgens meint und bedeutet.
Wollen wir hier an eine Übertragung denken? Wollen wir versuchen, in irgendeiner Weise Ushas in Athena, oder Athena in Ushas überzuführen? Mir scheint, wenn wir die Geistesbeschäftigung des Wissens richtig verstanden und gesehen haben, wie sich in einer Einfachen Form aus Frage und Antwort eine Welt in einer Wahrsage erschafft, das Problem so zu liegen, daß der Antwort fordernde Mensch hier einen tiefen Zusammenhang durchschaut, daß er erfaßt, wie das frühe Licht, das durch die feindlich umringende Finsternis stößt und siegreich sich Bahn bricht, wesensverwandt ist mit der Retterin, die einem allerseits von Gegnern bedrängten Volk und seinem Anführer durch die Schar der Feinde hindurch den Ausweg zeigt, daß er beiden Erscheinungen, dieser aus der Natur, jener aus dem Geschehen, die er in ihrer Stätigkeit beobachtet hat, mit der gleichen Frage entgegentritt und daß sie mit dem gleichen Widerwort sich ihm bekanntgeben.
Fügen wir aus der Zahl der Vergegenwärtigungen Athena und Ushas noch zwei weitere hinzu.
Als sich, so lesen wir bei Herodot (I. 60), Pisistratus mit Megakles geeinigt und dessen Tochter geheiratet hatte, er- | |
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sannen sie, um den vertriebenen Tyrannen zurückzuführen, eine List. Ein schöngewachsenes, großes Weib aus dem paeanischen Demos - sie maß vier Ellen weniger drei Finger, sagen wir, fast zwei Meter, und hieß Phya - wappneten sie mit voller Rüstung, stellten sie auf einen Wagen und brachten ihr die schöne Haltung, in der sie sich zeigen sollte, bei. So fuhr Pisistratus mit ihr zur Stadt. Herolde sandten sie vor sich her, rufend: ‘Athener, nehmt wohlgesinnt Pisistratus auf, den Athena selbst am meisten unter den Menschen ehrt und den sie in ihre Burg zurückführt.’ Wo immer sie kamen, verkündeten es die Herolde, und alsbald verbreitete sich in den Demen das Gerücht, daß Athena Pisistratus heimführte. Die in der Stadt, überzeugt, daß das Weib die Göttin sei, beteten sie an und nahmen Pisistratus auf. Herodot findet das Ganze albern - verlacht den Aberglauben. Wir - die wir die Mythe erkennen, die der große Verehrer Homers, Pisistratus, hier zu seinem eigenen Vorteil im Leben zugleich verwirklicht und bezieht - wir verstehen auch das Volk, das diesen Mythus trotz seiner Bezogenheit erlebt.
Endlich: im Mai des Jahres 1429, als die englischen Heere überall in Frankreich stehen, als der englische König schon zum König von Frankreich ausgerufen ist, als das französische Volk und sein ungekrönter Dauphin sich in äußerster Not, in größter Bedrängnis befinden und kein Ausweg möglich scheint, kommt aus Lothringen ein rettendes Wesen. Sie ist weder Mann noch Frau, sie ist ‘Pucelle’; eine sachverständige Kommission hat es später festgestellt, und Zeugen sagen aus, daß sie keinen ‘weiblichen’ Eindruck macht, keine fleischlichen Begierden weckt. Sie ist Tochter Gottes, wie Athena und Ushas, ihre Umgebung nennt sie ‘fille de Dieu’. Sie legt die Frauenkleider ab, sie legt Männerkleider, den Panzer an, sie wird Mannfrau und das erste, was sie verlangt, ist ein Pferd; wir wissen sogar, was dieses Pferd gekostet hat. Nun reitet sie zwischen zwei Männern - wiederum kennen wir die Namen ihrer Dioskuren - ungesehen von den Gegnern zu dem bedrängten König. Sie entfernt die Männer, die bisher seine Wagenlenker waren, sie führt ihn selbst. Sie lenkt Schlachten und Belagerungen, aber ohne selbst Blut zu vergießen. Sie
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begleitet den König quer durch die Schar der Feinde; sie befreit das Volk. Und als sie ihr Ziel erreicht hat, wird sie vom Pferd gezogen, geht sie zugrunde, verschwindet sie. Wir haben es hier weder mit einem homerischen Epos noch mit vedischen Hymnen zu tun, wir stehen, wie man zu sagen pflegt, auf dem Boden der Geschichte, und dennoch erkennen wir - während wir uns davon überzeugen, daß hier keine Legende, sondern Mythe vorliegt - das hilfreiche Wesen wieder, das wir in der Ilias und im Rigveda fanden.
Die Lust, an Übertragungen zu denken, vergeht uns hier. Lagen Athena und Ushas in Kreisen, zu denen wir nur mit einiger intellektueller Anstrengung durchdringen konnten, bezog sich Pisistratus auf Homer, Johanna liegt in unserem eigenen Kreis: ‘An das Mädchen von Domremy’, so hat es ein Historiker der Neuzeit ungefähr ausgedrückt, ‘glauben wir’ Zwischen dem Geschehen und der Form, in der sich das Geschehen vergegenwärtigt, liegt hier - anders als in dem Tellschuß - kein Zeitabschnitt. Die Grenze, die man notgedrungen und zur besseren Erklärung zwischen einem ‘wirklichen’ Geschehen und dem ‘gesteigerten’ Geschehen der Mythe machen könnte, ist hier völlig aufgehoben. Was hier im Leben selbst geschieht, führt sich als Ganzes und in allen Einzelheiten aus einer Vielfältigkeit zur letzten Einheit zurück, es erzeugt Form und wird Form.
Wollen wir auch dies verallgemeinernd zusammenfassen, so können wir sagen: dort, wo lebendiges Geschehen alles in sich aufnimmt und sozusagen restlos in sich selber aufgeht. oder wie es ein Denker ausgedrückt hat, dort, ‘wo Geschehen Notwendigkeit als Freiheit bedeutet’. da wird Geschehen Mythe.
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VIII.
Ich habe nur noch wenig hinzuzufügen.
An erster Stelle kann die Frage gestellt werden, ob, wo in der Mythe Gegenstände von ihrer Beschaffenheit aus Schöpfung werden, dieselben Gegenstände durch die gleiche Geistesbeschäftigung von ihrer Beschaffenheit aus aufhören können Schöpfung zu sein. Oder wenn wir die Frage anders formulieren: Können Sonne und Mond, kann der Berg, ja, kann die Welt, so wie sie sich in der Mythe erschaffen, zugrunde gehen?
Sie können es, sie können es in der Mythe, sie können es sogar nur durch die Mythe. So wie der Legende eine Antilegende zur Seite steht, so finden wir neben der Mythe, die baut, eine Mythe, die vernichtet. Das Geschehen, das Vielfältiges zu seiner letzten Einheit zurückführt, kann aufgehoben werden von einem Geschehen, das diese Einheit in die chaotische Vielfältigkeit des Nichts zurückwirft. Neben Weltschöpfung steht Weltuntergang. Ich sagte damals, daß wir den Antichrist nicht eigentlich als Un-heiligen betrachten können; hier bei der Mythe ist die Stelle, wo wir die Vergegenwärtigung des Erzvernichters unterzubringen haben. Denken wir an Ragnarök, denken wir an die Apokalypse, so begreifen wir, wie sich hier die Frage nach den letzten Dingen, nach dem Untergang von Sonne, Mond und Sternen, von Welt und Leben, in einer Sprachgebärde beantwortet. Aber so wie der Unheilige sich zum Heiligen umwandeln kann, so kann der Mythus wiederum aus dem Chaos eine neue Welt bauen.
Weiter müssen wir, da wir bei Legende und Sage gesehen haben, wie die Einfache Form ihre Macht auf einen Gegenstand übertragen kann, und wie dann dieser Gegenstand seinerseits mit dieser Macht geladen ist, auch bei der Mythe einen solchen Gegenstand nachweisen. Ich möchte hier ein vielgebrauchtes - und oft mißbranchtes - Wort wählen: Einen solchen Gegen- | |
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stand nennen wir Symbol. So wie wir aber eine Reliquie durchaus nicht als Sinnbild aufgefaßt haben, als etwas Anschauliches, das einen Sinn vertritt, sondern so wie wir beobachteten, wie die Körperteile, die Kleider, die Marterwerkzeuge des Heiligen alles, was mit ihm und seiner Heiligkeit zusammenhing, in sich hineinziehen und es wieder ausstrahlen konnten, so wie sie selbst ‘heilig’ werden und Träger der Macht des Heiligen, so ist auch nach meiner Auffassung das Symbol kein Sinnbild. sondern ein Gegenstand, der tatsächlich mit Mythe geladen, nun selbständiger Träger der Macht der Mythe ist. Ich erinnere daran, daß auch ein Orakel, bei dem durch Frage und Antwort Zukünftiges sich erschafft, nicht an einer beliebigen Stelle zustande kommt, sondern daß es eines geheiligten Ortes bedarf, eines Ortes, an den die Macht der Wahrsage tatsächlich gebunden ist und dem sie innewohnt.
In Genesis 28 wird Jacob die Zukunft seines Volkes offenbart. Von der Sprachgebärde der Mythe ergriffen, heißt diese: ‘eine Leiter ist auf die Erde gestellt. deren oberes Ende bis zum Himmel reicht, und die Engel Gottes steigen auf ihr hinauf und herab.’ Sein Gott redet zu ihm. Als er am andern Morgen erwacht, fürchtet er sich und spricht: ‘Wie schauerlich ist diese Stätte! Ja, das ist der Wohnsitz Gottes und die Pforte des Himmels.’ Dann nimmt er den Stein, den er zu seinem Haupte gelegt hatte, stellt ihn aufrecht und salbt ihn. Dieser Stein nun ist kein Denkmal, das Vergangenes in Erinnerung bringt, und kein Anschauliches, das die Verheißung vertritt, er ist auch nicht nur ein Gegenstand, in dem der Sinn der Mythe ausgedrückt liegt, sondern er ist ein Gegenstand, in den die Macht der Mythe gebannt ist, von dem diese Macht selbständig getragen wird und aus dem sie jäh als tatsächliches Geschehen hervorbricht.
So kann auch ein farbiges Tuch Symbol sein, sobald es als Fahne die gegenständliche Antwort gibt auf die Frage: was ist die Partei, was ist die Gilde, was ist das Regiment, was ist das Vaterland.
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Rätsel
I.
Noch eine zweite Form erfüllt sich in Frage und Antwort: das Rätsel.
Was Rätsel und was Rätselraten heißt, wissen wir - allerdings wissen wir es meistens aus den Bezogenen Formen, in denen es auch in unserem Leben eine Rolle spielt; wir kennen sie aus den kindlichen Aufgaben, aus den Rätselecken unserer Zeitungen. Wir wissen auch, wie sehr das Rätsel als Betätigung unsre Gedanken beschäftigen, von uns Besitz ergreifen kann - ich erinnere nur daran, mit welcher Inbrunst sich vor wenigen Jahren Amerika und Europa auf das Kreuzworträtsel gestürzt haben.
Auch die Wissenschaft, die Volkskunde hat sich mit dem Rätsel eingehend beschäftigt. Eine mustergültige Veröffentlichung auf diesem Gebiete - wo sonst so viel gesündigt wurde - ist der Band Rätsel (Bd. I der Mecklenburgischen Volksüberlieferungen), den Richard Wossidlo 1897 (Wismar) publizierte. Ich weise weiter hin auf den Aufsatz von Wolfgang Schultz (Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie s.v. Rätsel, vgl. W. Schultz, Rätsel aus dem hellenischen Kulturkreis 1912), der die antiken Rätsel vortrefflich gesammelt und in ihrer Vielgestaltigkeit bearbeitet hat. Auch die Vergleichenden Rätselforschungen (F.F. Com. 26, 27, 28. 1918/20), in der das Haupt der finnischen Schule Antti Aarne ein gewaltiges Material zusammengebracht hat, möchte ich hier nennen. ‘Das Deutsche Volksrätsel’ hat Robert Petsch (Straßburg 1917) behandelt.
Sammlungen wie die von Wossidlo und Aarne bilden den Ausgangspunkt für unsere Untersuchungen - so wie wir bei der Legende von den Acta Sanctorum ausgegangen sind. In- | |
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dessen müssen wir hier wieder auf den methodischen Unterschied der Volkskunde und der Litteraturgeschichte hinweisen. Was uns in Sammlungen vorliegt, sind selbstverständlich Gegenwärtige Formen, Vergegenwärtigungen. In einer Sammlung, wie sie Wossidlo herausgibt, sind ganz ohne Vorurteil und mit, man kann wohl sagen, absoluter Vollständigkeit alle Vergegenwärtigungen zusammengetragen, die sich zu einer Zeit - der Zeit, da die Sammlung stattfand - in einem bestimmten Gebiet - wo gesammelt wurde. - im Umlauf befanden. Wir haben also hier den Rätselbestand in Mecklenburg zu Anfang des 20. Jahrhunderts sachlich vor uns.
In einer Sammlung, wie sie Aarne versuchte, liegt etwas anderes vor, wie schon aus dem Ausdruck ‘vergleichende Forschungen’ hervorgeht. Hier wird nicht von einem Gesamtbestand in einer bestimmten Gegend ausgegangen, sondern von gewissen Typen, und nicht von einem bestimmten Gebiet und einer bestimmten Zeit, sondern von sämtlichen Gebieten und sämtlichen Zeiten, wo Gegenwärtige Formen, die sich jenem Typus anschließen oder anzuschließen scheinen, aufzutreiben sind. Mit diesem sehr großen Material wird der Versuch unternommen, historisch und geographisch den Punkt zu bestimmen, wo ein solcher Typus entstanden sein kann. Da sich das rein historisch meist nicht genau feststellen läßt, wird ‘vergleichend’ vorgegangen, das heißt man schließt aus einer Anzahl Varianten desselben Datums auf die Urgestalt, die allen Varianten desselben Typus zugrunde liegen muß. Weiter versucht man, wieder historisch-geographisch, den Weg zu verfolgen, den diese Typen durch Zeiten und Völker genommen, und die Wandlungen zu beobachten, die sie auf ihrem Wege von Kultur zu Kultur durchgemacht haben. Die Gefahr, sich hier in einem Kreis zu bewegen, ist groß: man schließt aus historisch-geographischen Daten auf eine Urform; die Wandlungen dieser hypothetischen Urform werden dann wieder durch die gleichen historisch-geographischen Daten erklärt.
Aber auch, wenn dieser Kreis vermieden wird, bleibt die aus zahllosen Vergegenwärtigungen abgeleitete Urform selbst immer noch im besten Falle eine Gegenwärtige Form, im ungünstigsten eine Bezogene Form oder eine Kunstform - und
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auch wenn wir eine ziemlich vollständige Sammlung dieser sogenannten Urformen besäßen, bliebe es immer noch unsre Aufgabe, von ihnen aus zu der eigentlichen Einfachen Form durchzudringen und deren Bedeutung zu ergründen. So wertvoll also derartige Sammlungen für die litterarhistorisch-morphologische Methode bei ihrer Arbeit sind, so zieht sie es doch vor, auch hier zu versuchen, das Wesen der Einfachen Form und die Geistesbeschäftigung, aus der sie hervorgegangen ist, zu bestimmen. Gelingt ihr das, so wird es ihr möglich sein, jene Typen, jene historisch gegebenen Vergegenwärtigungen, zu unterscheiden und einzuordnen und darüber hinaus auch die neuen Vergegenwärtigungen, die sich aus der Geistesbeschäftigung immer wieder ergeben, nun ihrerseits mit den ‘historischen’ zu vergleichen.
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II.
Wenn wir Frage und Antwort im Rätsel mit Frage und Antwort in der Mythe vergleichen, fällt uns zunächst rein äußerlich auf, daß, so wie die Form Mythe die Antwort wiedergibt, die Form Rätsel uns die Frage zeigt. Mythe ist eine Antwort, in der eine Frage enthalten war; Rätsel ist eine Frage, die eine Antwort heischt.
Wie die Mythe also auch die Frage enthält, ebenso ist im Rätsel und durch das Rätsel die Antwort vorhanden. Ein Rätsel kann so gestellt sein, daß es dem Ratenden unmöglich ist zu raten, ja die richtige Lösung eines Rätsels kann verloren gegangen sein - und dennoch hat der Ratende das Bewußtsein, daß es jemanden gibt oder gegeben haben muß, der die Lösung kennt oder gekannt hat - ein unlösbares Rätsel ist eben kein Rätsel. Mehr noch - die Form des Rätsels ist nicht nur so, daß der Ratende weiß, daß die Lösung einem anderen bekannt ist oder gewesen ist, sie ist auch so, daß er aus dieser Form die Überzeugung gewinnt: er selbst kann die Lösung finden. Diese Überzeugung aber setzt sich sofort um in jene andere: er muß sie finden.
Auch hier können wir die Geistesbeschäftigung mit dem Kennwort Wissen andeuten. Aber es ist ein anderes Wissen und eine andere Wißbegierde. Bei der Mythe fragte der Mensch die Welt und ihre Erscheinungen nach ihrer Beschaffenheit, und die Welt gab sich ihm in ihrem Widerwort, in einer Wahrsage bekannt. Bei dem Rätsel besteht kein Verhältnis von Mensch zu Welt. Hier stellt ein Mensch, der weiß, einem anderen Menschen eine Frage - aber er stellt jene Frage so, daß sie den anderen zum Wissen zwingt. Einer ist im Besitze des Wissens, er ist als Person der Wissende, der Weise; ihm steht ein zweiter gegenüber, den er durch die Frage veranlaßt, seine Kraft und sein Leben daran zu setzen, gleichfalls in den
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Besitz des Wissens zu kommen und sich ihm als Weiser zu zeigen. Das Wissen selbst ist, im Augenblick da die Frage gestellt wird, schon vorhanden, es wird nicht, wie in der Mythe, aus Frage und Antwort erst errungen.
In der Form Mythe sind wir selbst die Fragenden - in der Form Rätsel werden wir gefragt, und zwar so gefragt, daß wir antworten müssen. Deshalb steht Mythe im Zeichen der Freiheit - Rätsel im Zeichen der Gebundenheit; deshalb ist Mythe Tätigkeit, Rätsel Leiden, deshalb bedeutet Mythe ein Aufatmen, Rätsel eine Beklemmung. Es ist kein Zufall, daß ein althochdeutsches Wort für Rätsel tunkal, das Finstere, lautet.
Der Bedeutungsknoten liegt sowohl bei der Mythe wie bei dem Rätsel dort, wo Frage und Antwort zusammen kommen, wo sich die Frage in einer Antwort löst. Aber bei der Mythe ist dieses Zusammenkommen eine Wahrsage, bei dem Rätsel eine Enträtselung.
Ich betone den Unterschied der Formen um so schärfer, als gerade die, die sich am eingehendsten mit dem Rätsel beschäftigten, die Beziehung zur Mythe zwar gespürt, aber das, was die Formen trennt, übersehen haben. So Wolfgang Schultz in den Studien, die ich zu Anfang genannt habe, so auch Ludwig Laistner in dem merkwürdigen Buche ‘Das Rätsel der Sphinx’, das der Verfasser bezeichnenderweise im Untertitel ‘Grundzüge einer Mythengeschichte’ genannt hat (Berlin 1889).
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III.
Trotzdem ist es gerade Laistner gewesen, der zuerst auf etwas hingewiesen hat, was uns im eigenen Leben die Form Rätsel klar zu machen imstande ist, auf den Begriff Examen. In der Tat, das Examen ist, wenn auch in anderem Format und auf einer anderen Ebene, ein Zustand, der sich dem Rätsel vergleichen läßt. Auch da ist jemand, der weiß, der die Frage stellt, der den anderen zwingt, zu wissen, die Frage zu beantworten oder zugrunde zu gehen, beziehungsweise ‘durchzufallen’. Hier handelt es sich aber nicht um eine sokratische Frage, eine Frage, die so gestellt wäre, daß sich in der Antwort eine Welt erschafft, sondern eine Frage, die schon von Wissen bedingt ist und Wissen zur Bedingung stellt. Vergleichen wir einen platonischen Dialog mit einem Katechismus, so fühlen wir den Unterschied noch stärker. Die Gesprächsform ist bei Plato das, woraus sich die Weisheit ergibt. Ein Katechismus ist auch ein Gespräch, ein Dialog; die Antworten sind aber dem Fragenden von vornherein bekannt; wenn der Gefragte richtig antwortet, so ergibt sich aus diesen Antworten nicht die Weisheit selbst, sondern das Wissen des Kandidaten. Der Gemütszustand im Examen kann es klarmachen, daß die fragende Person, die das Wissen besitzt und die wir den Weisen nannten, dämonisch gedacht werden kann, daß dieser Weise zugleich ein Ungeheuer ist, das uns mit Angst erfüllt, uns bedrückt, uns würgt.
Außer dem Examen - und das hat Laistner übersehen - gibt es im Leben einen anderen Zustand, ein anderes Geschehen, in dem das Rätsel als Form spürbar ist: die Gerichtssitzung. Und an dieser Stelle fassen wir sie nicht, wie in der Legende, vom Verfahren her, um festzustellen, wo tätige Tugend, strafbares Unrecht vorliegen, sondern wiederum als Verhältnis von Personen. Bei dieser Gerichtssitzung ist es der Richter, der
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wissen muß, der Angeklagte, der weiß. Auch hier ist es Lebenspflicht, Lebensnotwendigkeit des einen, das Wissen des anderen zu ergründen. Der Angeklagte gibt hier das Rätsel auf, gelingt es dem Richter nicht es zu raten, so hört er - jedenfalls hie et nunc - auf, Richter zu sein.
Die wenigen bekannten Fälle, da sich das Rätsel erweitert, da es eine Erzählung wird und in dieser Erzählung gewissermaßen einen Kommentar zu sich selbst liefert, zeigen ganz scharf, wie hier wirklich Rätsel als Einfache Form vor uns liegt, wie in diesen Verhältnissen die Geistesbeschäftigung des Rätsels gegeben ist.
Da ist einerseits eine Gruppe, die wir mit den Typologen als Sphinxrätselgruppe bezeichnen wollen. Die Beispiele sind bekannt; es gehören dazu die Sphinxgeschichte selber, Turandot, Kaiser und Abt, Andersens Reisekamerad mit den zahllosen Varianten. Hier examiniert ein mehr oder weniger grausames Wesen. Es kann auch eine verzauberte, mit bösen Mächten in Verbindung stehende Prinzessin sein oder ein König. Am harmlosesten ist der Kaiser, der die geistigen Fähigkeiten des Pfäffleins, dessen Schmerbauch drei Männer nicht urnspannen, prüfen will. Aber in allen Fällen heißt es: rate oder stirb! In allen Fällen ist es im tiefsten Sinne eine Examensfrage.
Dem steht eine andere Gruppe gegenüber, die man gewöhnlich nach einer häufig vorkommenden Vergegenwärtigung Ilorätsel nennt. Wossidlo schreibt: ‘Dieses Rätselmärchen’ - wir wollen lieber nur Rätsel sagen - ‘ist über das ganze Land verbreitet. Ich habe kein Dorf gefunden, in welchem es nicht irgendeinem der Bewohner bekannt war, öfter fand ich es in Einem Dorfe in drei-, vier-, ja fünffacher Gestalt.’ In seiner gewöhnlichen Fassung lautet es:
auf Ilo bin ich hübsch und fein,
rat't, meine herren, was soll das sein.
Eine der Erklärungen ist: ‘En mäten hett'n kind ümbröcht hatt; nu is dat jo früher so wäst, dat lüd', de to'n dod' ver- | |
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urteilt wäst sund, de richters hebben 'n rätsel upgäben künnt, wenn de dat nich lööst hebben, sünd se erlööst wäst. Ilomm hett dat mäten ehr hund heeten, von den'n sien fell hett se sik 'n poor schoh maakt. As nu de dach rankümmt, treckt se de schoh an un geit hen na de richters un bädt ehr dat rätsel vör. Dat hebben se nich raden künnt: dor is se fri kamen.’ (Wossidlo, S. 191.)
Außer dem Ilorätsel im engeren Sinne gehören zu dieser Gruppe zahllose andere Rätsel, die mit ähnlicher Erklärung aufgegeben und erzählt werden: ‘Zweibein saß auf Dreibein’. ‘Ungeboren’ usw.
Hier wird also ein Rätsel aufgegeben, das, wenn es nicht geraten wird, Freiheit und Leben bringt, Es ist die Frage des Angeklagten, und hier heißt es: gib ein Rätsel auf und lebe!
Es ist, als kämen diese zwei Gruppen von den beiden äußersten Grenzen der Geistesbeschäftigung aufeinander zu. Ein aufgegebenes Rätsel nicht lösen können, heißt Untergang - ein Rätsel aufgeben, das keiner rät, heißt Leben.
Gerade weil Tod und Leben hier von der Lösung des Rätsels abhängen, hat man diese Gruppen Halsrätsel oder Halslösungsrätsel genannt. Im Grunde aber sind alle Rätsel Halsrätsel, insoweit sie den Zwang in sich tragen, geraten zu werden. Es heißt, daß auf Hawai ehemals diejenigen, die ein Rätsel nicht lösten, in die Kochgrube geworfen und ihre Knochen als Siegestrophäen aufbewahrt wurden. Deshalb soll es Familien geben, die sich weigern, Rätsel zu lösen, weil ihre Ahnen in dieser Weise zugrunde gegangen sind - hier reiben sich Sage und Rätsel. Und deshalb sagen andere, wenn es ans Rätselraten geht: ‘Unser Einsatz sind unsre Knochen.’ Aber eigentlich können wir das überall, wo wir diese Einfache Form finden, nur wiederholen. Ob Examensrätsel, ob Gerichtsrätsel - wo das Rätsel seine tiefste Bedeutung erreicht, geht es an das Leben: sind unsre Knochen unser Einsatz.
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IV.
Wir haben zu Anfang das Rätsel hauptsächlich von der Seite dessen aus, der es raten mußte, betrachtet. Wir waren dazu berechtigt, da es uns in seiner Form als Frage gegeben ist, und da uns diese Frage eigentlich jedesmal gestellt wird. Die beiden Gruppen des Sphinxrätsels und des Ilorätsels wiesen uns auf die Bedeutung dessen hin, der das Rätsel aufgibt, des Fragestellers.
Die Tätigkeit des Ratenden haben wir mit dem Wort enträtseln angedeutet. Um jedoch enträtselt werden zu können, muß das zu Enträtselnde zunächst verrätselt sein. Und mit diesem Verrätseln können wir die Tätigkeit dessen bezeichnen, der das Rätsel aufgibt. Was aber ist die Absicht, der Zweck dieser Verrätselung?
Wir haben gesehen, daß der Aufgebende sich im Besitze des Wissens befindet, daß er weiß. Andererseits zeigt der Ratende, der geraten hat, daß er dem Aufgebenden ebenbürtig ist, daß er gleichfalls weiß. An erster Stelle ist also das Aufgeben des Rätsels eine Prüfung des Ratenden, eine Untersuchung seiner Ebenbürtigkeit. Darüber hinaus aber enthält die Frage einen Zwang. In seiner Gesamtheit ist also das Rätsel seitens des Aufgebenden sowohl eine Prüfung der Ebenbürtigkeit des Ratenden, wie auch ein Zwang für den Ratenden, sich ebenbürtig zu zeigen. Ich brauche auch hier nur an den Begriff Examen zu erinnern. Daß nun diese Prüfung und dieser Zwang nicht mit einer beliebigen Person bei einer gleichgültigen Gelegenheit vorgenommen werden, versteht sich von selbst: der Aufgebende muß einen Grund haben, weshalb er prüft und zwingt, der Gefragte, weshalb er sich der Untersuchung und dem Zwang unterwirft.
Hieraus ergibt sich, daß die Lösung an sich nicht der eigentliche und einzige Zweck des Rätsels ist, sondern das
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Lösen. Die Antwort war dem Aufgebenden bekannt - es kommt ihm deshalb nicht darauf an, sie noch einmal zu erhalten, sondern es kommt ihm darauf an, daß der Gefragte imstande ist, sie zu geben, es kommt ihm darauf an, den Gefragten zu veranlassen, sie ihm zu geben.
Noch einmal weise ich auf den wesentlichen Untersehied zur Mythe hin. Bei der Mythe liegt die Bedeutung der Antwort ausschließlich in der Antwort selbst. Im Gegensatz zur Mythe enthält das Rätsel eine Frage, die gestellt wird, um zu untersuchen, ob der Befragte eine gewisse Würde besitzt, und wenn diese Frage beantwortet wird, liefert sie den Beweis, daß der Befragte würdig ist.
Selbst in sehr oberflächlichen Begriffsbestimmungen des Rätsels, die meist für Bezogene Formen gelten, kann man lesen, daß das jetzige Rätsel ein Mittel sei, den Scharfsinn des Ratenden zu prüfen. In den tieferen Schichten, wo wir unsere Einfachen Formen zu suchen haben, ist der Zweck viel weniger unbestimmt. Wir können hier sagen, daß der Aufgebende - den Weisen haben wir ihn genannt - nicht allein steht, daß er nicht selbständig ist, sondern daß er ein Wissen, eine Weisheit vertritt, oder auch eine Gruppe, die durch Wissen gebunden ist. Der Ratende dagegen ist nicht Einer, der die Frage eines anderen beantwortet, sondern Einer, der zu jenem Wissen zugelassen, in jene Gruppe aufgenommen sein will und der durch seine Antwort beweist, daß er dazu reif ist. Die Lösung ist also eine Parole, ein Losungswort, das Zugang zu etwas Abgeschlossenem verleiht. Nicht wie in den vergegenwärtigten Rätselerzählungen, nicht wie bei dem Sphinxrätsel steht hier der Aufgebende dem Befragten als würgendes Ungeheuer gegenüber - und dennoch spüren wir auch hier den Zwang: der Zugang zu jenem Abgeschlossenen ist Lebensfrage, sowohl für den, dér um Einlaß bittet, wie für den, der Einlaß gewährt.
So wird von zwei Seiten das Rätsel bestimmt: der Aufgebende hat bei der Verrätselung dafür zu sorgen, daß der Ratende bei der Enträtselung seine Würde, seine Ebenbürtigkeit zeigt.
Fragt man, welcher Art eine solche durch Weisheit gebundene Gruppe sein kann. so wären hier viele Antworten
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möglich. Wir können sie zusammenfassen: jene Gruppen sind derart, daß sie aus Eingeweihten bestehen und daß, um in sie aufgenommen zu werden, eine Weihe nötig ist. Sie erstrecken sich also von dem Geheimbund in seiner einfachen Gestalt bis zum Reiche der Seligen, insoweit dies als Ort aufgefaßt wird, den man nur auf dem Wege der Weisheit erreichen kann.
Haben wir das Rätsel ein Losungswort genannt, so können wir hinzufügen, daß dieses Losungswort zur Einweihung führt, daß der Zugang. den es verschafft, jener zur geschlossenen Weihe ist.
Zweck und Aufgabe des Rätsels ist aber seitens des Aufgebenden: zu prüfen, ob der Gefragte reif ist, die Weihe zu empfangen, und ihm zugleich den Zugang zum Abgeschlossenen zu ermöglichen; seitens des Gefragten: seine Würde zu zeigen, zur Weihe zugelassen zu werden.
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V.
Damit stehen wir vor unsrer zweiten Frage: Was wird verrätselt?
Gehen wir von den zahllosen Rätseln aus, die täglich von Erwachsenen und Kindern aufgegeben werden, von den Rätselecken, den Rätselzeitungen, den Rätselbüchlein, so hat es den Anschein, als ob schlechterdings alles verrätselt werden könnte. Die Zahl der Gegenstände, die in sehr verschiedener Weise zum Rätsel umgebildet werden, ist hier unbeschränkt. Es ist aber deutlich, daß wir hier Bezogene Formen vor uns haben, in denen eine bestimmte Weise der Verrätselung auf beliebige Sachen angewandt wird. Solche Analogien können uns im besten Falle über das Wie der Verrätselung etwas lehren, für das Was im tieferen Sinne sind sie in keiner Weise maßgebend.
Der Unterschied zwischen den Rätseln einer Rätselecke und den Rätseln, wie sie die Volkskunde sammelt und die sie ‘wirkliche Rätsel’ (Petsch) oder Volksrätsel nennt, beruht wohl darauf, daß die ersten einmal geraten und wenn die Zeitungsnummer mit der Lösung erschienen, wieder vergessen werden, während die zweiten ‘sich im Volksmunde befinden’, ‘im Umlauf’ sind, das heißt immer wieder aufgegeben werden. Damit ist aber keineswegs gesagt, daß sich unter all dem, was in solchen Sammlungen zusammengetragen ist, keine Bezogene Form befindet oder daß das, was im Volksmunde lebt, immer als Gegenwärtige Form aufgefaßt werden darf, als Form, in der sich die Geistesbeschäftigung, die Einfache Form verwirklicht oder einmal verwirklicht hat. Die Beispiele bei Wossidlo zeigen, daß die Möglichkeit keineswegs ausgeschlossen ist, daß eine Bezogene Form gelegentlich den Weg zum Volksmund findet und in Umlauf gerät und daß so die Zahl der Verrätselungen auch im Volksrätsel erweitert wird. Aber das ist nur scheinbar. Wossidlos Sammlung beweist auch. daß die
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Zahl der verrätselten Gegenstände, wenn man sie überschaut, sehr zusammenschrumpft - daß bei einer bestimmten Weise der Verrätselung die gleichen oder ähnlichen Gegenstände immer wiederkehren. Und selbst bei scheinbarem Unterschied zeigt sich hier, daß sich die Gruppen zusammendrängen und auf einen noch erkennbaren Ausgangspunkt hinweisen. So hat Antti Aarne (F.F.C. 27) richtig nachgewiesen, daß eine Anzahl Rätsel aus den verschiedensten Gegenden mit den Lösungen: Katze, Hund, Pferd, Schwein, Ziege, Schaf, Kamel, Hase sämtlich zurückzuführen sind auf einen ‘Typus’, der Rind oder Kuh verrätselt.
Gehen wir nun unsererseits wieder den umgekehrten Weg und setzen bei der Geistesbeschäftigung, bei der Einfachen Form ein, so müssen wir uns sagen, daß die Fragen, in denen sich die Geistesbeschäftigung verwirklicht, die eigentlich Gegenwärtigen Rätsel, die der Eingeweihte dem Einzuweihenden aufgibt, nicht unbeschränkt und nicht willkürlich sein können. Verrätselt kann nur werden, was die Weihe umschließt - das Geheimnis des Bundes, das was in dem Bunde zugleich heimisch und heimlich ist. Ja, wir können sogar - von diesem Worte aus - von der Heimtücke des hämischen Rätsels reden. Was verrätselt wird, wird also von dem Sinn des Abgeschlossenen bestimmt.
Noch einmal müssen wir die Mythe berühren. Es ist möglich und es geschieht sehr oft, daß der Sinn des Bundes auf einem Fragen nach der Schöpfung und der Beschaffenheit der Welt und ihrer Erscheinungen beruht, die Heimlichkeit des Bundes auf der gemeinsam erhaltenen Wahrsage, auf der Offenbarung, und daß die Tätigkeit des Bundes in Handlungen besteht, in denen die Bedeutung dieser Offenbarung jedesmal von neuem ausgedrückt und wiederholt wird. Mit anderen Worten, wir haben eine Gemeinschaft vor uns, deren bindender Sinn Mythe ist und deren Handlungen wir Ritus nennen. In diesem Falle wird auch das Rätsel, das diese Gemeinschaft aufgibt, auf die Mythe Beziehung haben - es wird hier ein Mythus verrätselt werden. Aber ich betone hier Mythus, denn nicht die Einfache Form, sondern die Vergegenwärtigung ist es, die verrätselt wird. Die Geistesbeschäftigungen bleiben
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vollkommen getrennt. Ziel des Bundes ist jedesmal wieder, in Frage und Antwort die Welt zu erzeugen, Ziel des Rätsels bleibt, auch wenn das, was verrätselt wird, zu dieser Mythe in Beziehung steht, nur eine Prüfung des Gefragten seitens des Aufgebenden, die Antwort ist nie eine Wahrsage, immer eine Enträtselung.
Sehr nahe können diese beiden nebeneinander liegen, ohne sich je zu vermischen. Ich erinnere noch einmal an das Orakel. Es erschafft sich dort, wie wir gesehen haben, als Einfache Form aus Frage und Antwort zukünftiges Geschehen. Dieses aber ereignet sich im Orakel selbst. Ist nun aber derjenige, der das Orakel sozusagen ‘benutzt’, würdig, dieses Erschaffene zu kennen? Von vornherein steht das nicht fest, es muß geprüft, es muß bewiesen werden. Und wie wird es geprüft? Indem das Orakel seine Wahrsage selbst verrätselt.
Löst Kroisos in der Geschichte, die uns Herodot erzählt, und die wir bei der Mythe schon erwähnten, das Rätsel, dann hat er damit seine Würde bewiesen, dann ist er zum Abgeschlossenen durchgedrungen, dann gehört ihm das Orakel: enträtselt er es nicht und hat er die Prüfung zur Weihe nicht bestanden, dann - wir haben hier wie immer ein Halsrätsel vor uns - ist es um ihn geschehen. Andererseits zeigt sich Themistokles (Her. VII. 141 ff.) als Eingeweihter, indem er das Rätsel des τεῖχος ξύλινον löst und damit den Sinn des künftigen Geschehens erfaßt. Das Orakel als Mythe enthält die bündige, eindeutige Antwort, die Wahrsage; aber diese Wahrsage ist Heimlichkeit des Bundes. Zwischen das Orakel und den fremden Fragesteller, den Uneingeweihten, schiebt sich notwendig die Form des Rätsels in seiner Mehrdeutigkeit.
Mag es sich nun aber dabei um eine Mythe oder um etwas anderes handeln - fest steht, daß der Aufgebende sich im Besitze des Wissens befindet und daß er die Gruppe, den Bund vertritt; wir können es auch so sagen: der Sinn des Bundes und das, was dem Uneingeweihten verrätselt wird. heißt Wissen als Besitz.
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VI.
So kommen wir zur dritten Frage: wie wird verrätselt? Und das führt uns auf die eigentliche Form des Rätsels.
Wenn das, was verrätselt wird. von dem Sinn des Abgeschlossenen, von der Heimlichkeit des Bundes bedingt und bestimmt wird, so muß es vor allem in der Sprache des Bundes abgefaßt sein - man könnte also sagen: die Prüfung besteht an erster Stelle darin, zu ergründen, ob der Fremde die Sprache des Eingeweihten versteht.
Erinnern wir uns noch einmal an den Begriff Katechismus. Katechismus - das Wort stammt von dem griechischen ἠχέω, erklinge oder lasse erklingen - ist dem Rätsel verwandt, unterscheidet sich aber dadurch, daß hier die Spontaneität des Rätsels fehlt. Auch durch den Katechismus wird der Eintritt zu einer Gemeinschaft ermöglicht, die Weihe erlangt, aber die Fragen werden nicht aus sich heraus gelöst - die Antwort wird von dem Katechumenen erlernt. Wiederum sehen wir hier Wissen als Besitz. Wie sich Wissen in der Mythe vollzieht, wie es in der Erkenntnis erzeugt wird, haben wir gesehen. Wissen als Besitz aber kann nicht nur verrätselt, es kann auch erlernt werden. Auch die Rätselerzählungen sagen Ähnliches. In der Erzählung vom Dankbaren Toten erfährt der Ratende jedesmal die Lösung durch einen Anderen: er erlernt sie.
Indessen zeigt uns schon der Katechismus, daß zur Weihe ein bestimmtes Wort in einer gewissen Bedeutung genommen sein will, daß, wenn von Taufe die Rede ist, diese nicht allein schlecht Wasser ist, sondern das Wasser in Gottes Gebot gefasset und mit Gottes Wort verbunden...
Ähnliches finden wir nun sehr viel stärker im Rätsel. Wenn wir hören:
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Ein Baum steht in der ganzen Welt,
der zweiundfünfzig Nester hält,
in jedem Neste sieben Jungen,
doch sämtlich sind sie ohne Zungen -
so wissen wir von vornherein, daß Baum, Nest, Jungen hier nicht in der gewöhnlichen Bedeutung genommen werden, sondern daß wir sie anders fassen müssen. Oder wenn wir das Sphinxrätsel nehmen: Wer geht am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei, am Abend auf drei Beinen - so wissen wir auch hier, daß Morgen, Mittag und Abend nicht unbedingt Tageszeiten meinen, und Beine nicht auf Körperliches beschränkt sein kann.
Andererseits fühlen wir aber auch, daß diese Bedeutungen nicht dadurch zustande kommen, daß für irgendein verrätseltes Ding ein anderer Name als der übliche eingesetzt wird. Die Bedeutung, die hier die betreffenden Worte haben, unterscheidet sich in ihrem Bau grundlegend von andern sprachlichen Bedeutungen: während sprachliche Bedeutungen sonst nur einen Sachverhalt meinen, bezeichnen Worte wie Baum, Nest, Jungen, oder Morgen, Mittag, Abend hier aufeinander bezogene Sachverhalte.
Nun sind diese angeführten Beispiele frei schwebende Vergegenwärtigungen, Rätsel, die von Sammlern aus dem Munde des Volkes aufgezeichnet sind. Je näher wir an das Rätsel als Einfache Form herankommen, je besser wir es als Losungswort, das die Weihe zu einer bestimmten Gemeinschaft umschließt, begreifen, um so deutlicher können wir beobachten, daß diese Gleichheit, von der ich sprach, aus einem Sinn hervorgeht, der innerhalb dieser Gemeinschaft den Sinn der Welt bedeutet.
Porzig (Germanica, Festgabe Sievers, 1925, Halle) hat - um das Rätsel an einer Stelle zu greifen, wo es als Einfache Form noch lebendig ist - Rätsel des Rigveda im Zusammenhang untersucht und festgestellt, daß in diesen Rätseln Bewegliches (Sonne, Mond, Jahr, Fuß) Rad oder Wagen ist, Gleichgeordnetes (Tage, Monate) Brüder heißt; Erscheinungen in der Luft (Sonne, Funken, Blitz): sind Vögel: etwas, woraus ein anderes hervorgeht (Wolken,
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Morgenröte, Feuer) ist Kuh; Unteres heißt immer Fuß, oberes Haupt.
Wenn also die Sonne, die durch die Wolken scheint, verrätselt wird, heißt es:
‘Hier soll sagen, wer es wohl weiß, die verborgene Spur dieses lieben Vogels. Aus seinem Haupte melken die Kühe Milch, sich in Gestalt hüllend haben sie mit dem Fuße Wasser getrunken.’
Porzig hat dann weiter das Wesen dieser Sprache eingehend behandelt und damit einen Beitrag zum Kapitel Sondersprache gegeben. Denn jene Sprache, deren Kenntnis Zugehörigkeit zu einem abgeschlossenen Kreise verschafft und in der Heimlichkeit dieses Kreises den Sinn der Welt bedeutet, nennen wir Sondersprache.
‘Sondersprache wie Gemeinsprache konstituieren eine Welt, die eigentliche Welt der betreffenden Sprachgemeinschaft. Aber während die Gemeinsprache die Dinge unmittelbar als solche hinstellt, darum absolut und im strengen Sinne eindeutig ist, gibt die Sondersprache den Sinn der Dinge, ihre innere Verflochtenheit und tiefere Bedeutung wieder; darum wird sie so vieldeutig, wie die Welt von innen angesehen immer ist. Die Strukturlinien des Weltbilds der Gemeinsprache sind erst eingehender Untersuchung zugänglich, die Sprechenden haben eine Welt, aber sie kennen sie nicht. Die Welt der Sondersprache dagegen zeigt das Gerüst ihres Baus als allererstes, sie wird viel früher gewußt als sie in den Besitz ihrer Gemeinschaft übergeht. Auf den großen Hauptlinien liegt so viel Gewicht, daß darüber die Einzeldinge verblassen...’
Porzig zeigt dann die entgegengesetzten Richtungen der Gemeinsprache und der Sondersprache an einem Beispiel aus dem Gebiet der Bedeutungen. ‘Schon bei der Beschreibung des Charakters der Sondersprache ist deutlich geworden, daß sondersprachliche Bedeutungen sich innerhalb jeder gegebenen Sprache finden. Wenn wir vom Fuß des Berges, vom Fuß einer Lampe sprechen, so hat das Wort Fuß eine Bedeutung derselben Art, wie in den rigvedischen Rätseln von der Morgenröte, die die Sonne mit dem Fuß trägt, oder den Wolken, die mit dem Fnße Wasser trinken. Und wenn
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wir jede Erscheinung bis zu ihrem “Ursprung” zurückverfolgen, so hat dieses Wort ausgesprochene Sondersprachen-Bedeutung. Es sind dies die Vorgänge beim Bedeutungswandel, die man als “Übertragung”, als “bildlichen Ausdruck” zu bezeichnen pflegt. In Wirklichkeit handelt es sich um eine andere Art von Sprache mit andersartigen Bedeutungen. Fuß in der Gemeinsprache meint einen in bestimmter Weise gestalteten Körperteil als vorhandenes Ding; Fuß in der Sondersprache bedeutet etwas, dessen ganzes Wesen darin besteht, zu stützen und zu tragen. Wenn wir auf das Wesen des menschlichen Fußes reflektieren, so finden wir allerdings, daß es dasselbe ist, was die Sondersprache meint. Aber in der Gemeinsprache wird der Fuß eben nicht nach seinem Wesen, sondern nach seiner Erscheinung gemeint. Beide Bedeutungen liegen im heutigen Neuhochdeutschen ungestört nebeneinander und auch für den Rigveda wissen wir, daß alle Ausdrücke der Rätselsprache ebenso auch Ausdrücke der Gemeinsprache sind, nur mit veränderter Bedeutungsart. Gemeinsprache und Sondersprache sind also nicht zwei Sprachgebiete, die nebeneinander lägen und einander ausschlössen, sondern sie sind Schichten derselben Sprache, die sich übereinander lagern...’
Ich verweise für das Weitere auf den Aufsatz selbst - diese Ausführungen, auch über Syntax, sind von unbedingter Wichtigkeit für den Begriff des Rätsels. Aus dem Zitat sehen wir aber schon zur Genüge, daß es bei dieser Form möglich ist, das, was wir Sprachgebärde genannt haben, genauer zu bestimmen: die sprachliche Gebärde des Rätsels stammt ausnahmslos aus der Sondersprache.
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VII.
Wenn wir aber sagen, daß das Rätsel die Sondersprache einer Gruppe im allgemeinen enthält, so ist damit seine Form noch keineswegs bestimmt. Die sprachliche Gebärde des Rätsels ist Sondersprache, aber Sondersprache braucht nicht die Form des Rätsels anzunehmen - sie tut dies, um ein naheliegendes Beispiel zu wählen, in der Gruppe selbst, die sich ihrer bedient, nicht. Oder um ein Beispiel aus der gegebenen wirklichen Sprache, wo sich Gemeinsprache und Sondersprache durchdringen, zu geben: wenn ich vom Fuße des Berges rede, so ist das Sondersprache, aber kein Rätsel; ein Rätsel wird es, wenn ich frage: Wer hat einen Fuß und kann doch nicht gehen?
Wir müssen hier noch ein neues Moment, nach dem das Verhältnis des Aufgebenden und des Ratenden zu beurteilen ist, erwähnen. War der Zweck des Aufgebenden, festzustellen, ob der Ratende würdig war aufgenommen zu werden, so hat der Ratende, der die Lösung fand, die Abgeschlossenheit durchbrochen. Ob er nun die Absicht hat, seinerseits anderen gegenüber von dieser Abschließung Gebrauch zu machen, mit anderen Worten, ob er sich von nun an als Eingeweihten betrachten und betragen wird, ist dabei gleichgültig. Tatsächlich besteht in dem Augenblick, da er die Lösung ausspricht, die Heimlichkeit des Bundes nicht mehr. In den Rätselerzählungen kommt das dadurch zum Ausdruck, daß hier das Leben des Aufgebenden auf dem Spiele steht. Sobald das Rätsel der Sphinx geraten ist, stirbt sie. Auch dies aber bedingt die Form des Rätsels: es ist nicht nur eine Verrätselung der Heimlichkeit des Bundes, es ist auch eine Abwehr, und hierin liegt das, was ich schon die Heimtücke des Rätsels genannt habe.
Wir besitzen im Griechischen zwei Worte für Rätsel, αἶνος mit dem zugehörigen αἴνιγμα und γϱῖφος. Irre ich mich nicht, so liegt in dem ersten mehr die Tatsache der Verrätselung, in dem zweiten dagegen, das eigentlich Netz bedeutet - ein
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Netz, das uns fängt, in dessen Verknotungen wir uns verwirren -, die Heimtücke der Verrätselung ausgedrückt.
Aber wiederum ist es die Sondersprache, die auch die Heimtücke ermöglicht. Setzen die Bedeutungen der Sondersprache voraus, daß ein Begriff vom Ganzen der Welt bewußt vorhanden ist, daß es ein System der Vieldeutigkeit gibt, worin alles tatsächlich Eindeutige sich einordnen muß, so sind diese Bedeutungen dem Fremden nicht ohne weiteres begreiflich. Sondersprache einer Gruppe - wir sehen es deutlich, wenn wir Sondersprache im engeren Sinne, Jägersprache, Verbrechersprache nehmen - ist Fernerstehenden unverständlich. Diese Eigenschaft des Vieldeutigen, unverständlich sein zu können, ist es, die die Form Rätsel sozusagen absichtlich herauskehrt. Es ist nicht nur in der Sondersprache der Gruppe abgefaßt, es ist auch so abgefaßt, daß es diese Sondersprache dem Uneingeweihten unverständlich erscheinen läßt. Wir nannten es Sondersprache, wenn wir von dem Fuß des Berges redeten, Rätsel, wenn wir sagen: Wer hat einen Fuß und kann doch nicht gehen? Was tut nun hier das Rätsel? Es führt von der Sondersprache wieder in die Gemeinsprache über, von dem Fuß, der, vieldeutig, vieles stützen und tragen kann, zu dem eindeutigen Fuße des Menschen, dem Körperteil, mit dem er sich fortbewegt - und indem es vom Vieldeutigen ins Eindeutige überführt, macht es von der Gemeinsprache aus die Sondersprache unverständlich.
Die Form Rätsel eröffnet, aber verschließt zugleich, die Art, wie das Rätsel verrätselt, ist so, daß es zugleich etwas birgt und verbirgt, etwas enthält und vorenthält.
Zwischen Frage und Antwort liegt Streit. Wir finden das ausgedrückt in den Rätselwettkämpfen, die an gewissen Stellen noch stattfinden oder die - zum Beispiel aus dem Norden - litterarisch überliefert worden sind. In diesen Wettkämpfen muß nicht nur derjenige büßen, der das Rätsel nicht raten kann, sondern auch derjenige, dessen Rätsel geraten wird. Sphinxrätsel und Ilorätsel fallen hier zusammen. Es steht sozusagen Weihe neben Weihe, ein Eingeweihter einem Eingeweihten gegenüber. Wir wissen, daß solche Wettkämpfe, an denen sich sogar die Gottheit beteiligt. in der Regel damit enden, daß der
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Mächtigere ein Rätsel aufgibt, das zur allerhöchsten Weihe gehört. Odins Rätsel rät kein Sterblicher, und auch durch dieses Geheimnis hat der Gott unser Leben in seiner Hand.
Wenn aber der Ratende durch sein Erraten die Abgeschlossenheit durchbrochen hat, so hat ihm der Aufgebende durch das Rätsel dazu die Möglichkeit gegeben. Jede Vergegenwärtigung birgt nicht nur die Möglichkeit der Lösung in sich, sondern auch die Lösung selbst. Ich erinnere an das Rätsel: Wie heißt Kaiser Karls Hund?, bei dem die Lösung Wie heißt. Diese Form ist nur ein deutliches Beispiel für die allgemeine Tatsache, daß in jeder Vergegenwärtigung die Lösung irgendwie umschlossen liegt. Der Aufgebende, der verrätselt, verrät andererseits in seinem Rätsel. Wiederum schiebt sich hier - und die Art der Sondersprache, die die Welt der tatsächlichen Eindeutigkeit ausschaltet, erlaubt auch das - in das Rätsel ein neues Rätsel ein. Die Antwort schließt die Lücke, die Öffnung, die durch die Frage entstanden ist, wieder zu: auch diese Antwort ist Sondersprache, sie ist mehrdeutig. Die erste Lösung birgt und verbirgt eine zweite, auch sie gibt das Tiefste nicht preis. Das ist die Erklärung der oft beobachteten Tatsache, daß die ‘eigentlichen’ Rätsel - im Gegensatz zu den Bezogenen Formen der Jetztzeit - keine eindeutige Lösung besitzen.
In einem Teil unserer ‘Gesellschaftsrätsel’ wird diese doppelte Lösung zum Spiel. Es gibt Rätsel, die in Damengesellschaft eine harmlose, in Herrengesellschaft eine weniger harmlose Lösung besitzen. Aber wenn wir hier Herrengesellschaft sagen, so liegt darin schon eine Beziehung zu jenen Organisationen, die die Ethnographie als Männerbund zu bezeichnen pflegt. In der Damenlösung liegt wiederum etwas enthalten, was zugleich vorenthalten bleibt. Dem stehen - auch als Spiel - solche Rätsel gegenüber, die zu einer nicht harmlosen Lösung zu verführen scheinen, aber dann doch wieder eine sehr harmlose Lösung zulassen, deren Heimtücke darin besteht, daß sie etwas anderes zu eröffnen scheinen, als was sie in Wirklichkeit verschließen. In Wossidlos Sammlung sieht man, wie häufig diese Rätsel sind - sie erinnern uns daran, wie alt und weitverbreitet die Sondersprache des Geschlechtlichen ist.
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VIII.
Die Form des Rätsels habe ich somit in ihren vielen Verschlingungen zu zeigen versucht. Für unsere eigene Zeit haben wir gesehen, daß das Rätsel einerseits fortlebt in Bezogenen Formen, die sich von der Einfachen Form als solcher fast ganz losgelöst haben, und andererseits in Rätseln aus dem Volksmunde, die zwar auf die einstmalige Bedeutung hinweisen, und aus denen man die Einfache. Form noch erkennen und ableiten konnte, aber die doch keineswegs mehr in Beziehung zu ihrem ursprünglichen Ziel gesetzt wurden. Um die lebendige Verwirklichung der Einfachen Form beobachten zu können, mußten wir schon zu dem Rätsel des Rigveda greifen - in unserer eigenen Zeit sind sowohl das sogenannte ‘Kunsträtsel’ wie das sogenannte Volksrätsel Spiel. Woher kommt das? Wir haben schon bei Sage und Legende gesehen, wie zu bestimmten Zeiten unter gewissen Umständen eine Geistesbeschäftigung zurückgedrängt, weniger wirksam wird und wie dann auch ihre Vergegenwärtigungen sich verdünnen, schwerer erkennbar werden. Bei dem Rätsel liegt Ähnliches vor. Die Begriffe Bund und Heimlichkeit des Bundes sind aus unserer Gesellschaft, der Begriff Sondersprache in tieferer Bedeutung ist aus unserer Sprache weitgehend ausgeschaltet. Auch darüber findet sich Einiges bei Porzig. ‘Auch von unsern “abstraktesten” wissenschaftlichen Begriffen verlangen wir,’ sagt er, ‘daß sie einen Sachverhalt eindeutig bezeichnen. Daß wissenschaftliche Termini etwas anderes sein könnten oder gar sollten als Namen für Tatsächlichkeiten, wird von maßgebenden wissenschaftlichen Richtungen lebhaft bestritten: so stark ist innerhalb der abendländischen Kultur gegenwärtig noch die Strömung gegen die Sondersprache.’ - Wissen als
Allgemeinbesitz, als ein möglichst allseitig zu Erwerbendes, hat verrätseltes Wissen, Wissen als Macht verdrängt. In der Welt des 19. Jahrhunderts
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war für Rätsel kein Platz. Vielleicht gibt es noch mehr solche Stellen. Boas, der beste Kenner der nordamerikanischen Völkerkunde, teilt mit, daß in Nordostsibirien und in Amerika das Rätsel zu fehlen scheint.
Wo aber - und sei es nur als Restbestand - der Bund mit seiner Heimlichkeit sich noch findet, da treffen wir das eigentliche Rätsel wieder an. Es ist gerade in letzter Zeit häufig von einer Gemeinschaft die Rede gewesen, deren bindender Sinn Mythe sein soll, von einem Bunde, in dem sich Welt als Tempel bekannt gibt: Hier sehen wir, wie auch dieser Bund sich im Rätsel eröffnet und verschließt, und Maurer gibt hier ein gutes Beispiel der Sondersprache. Zugleich haben wir hier beobachten können, wie man von außen her bestrebt ist, die Abgeschlossenheit dieses Bundes zu sprengen, und wie das Mittel dazu war, daß man sein Rätsel verrät.
Noch eins zeigt uns der Kampf gegen die Freimaurerei: den Zusammenhang zwischen der Heimlichkeit des Bundes und der Heimlichkeit des Verbrechens. Es könnte scheinen, als ob wir die zweite Verrätselung, die, mit der ein Angeklagter sein Leben rettet, aus dem Auge verloren hätten. In der Tat liegt es hier etwas anders - es ist eine Umkehrung, aber eine Umkehrung, die in derselben Weise erklärt werden kann. Auch der Verbrecher hat sich mit seinem Verbrechen und seinem Geheimnis eingeschlossen: er und die Seinen sind die allein Eingeweihten. Auch hier kommt es darauf an, zu ihm durchzudringen, auch hier ist mit der Lösung ein Zugang zum Abgeschlossenen gegeben. Überall nun, wo der ferner Stenende den Bund in seinem Sinn und in seiner Abgeschlossenheit nicht anerkennt, macht er von sich aus diese Umkehrung: er beschuldigt ihn des Verbrechens, so wie es jetzt mit der Freimaurerei geschieht.
Die Heimlichkeit des Verbrechers. das Rätsel des Verbrechens hat sich in der Neuzeit von einer Kurzform zu einer Großerzählung erweitert, der Detektiverzählung. Wir haben hier den Verbrecher, der sich und sein Verbrechen verrätselt, aber in der Verrätselung wiederum selbst die Möglichkeit einer Entdeckung eröffnet, und den Aufdecbenden, der das Rätsel löst und die Abgeschlossenheit durchbricht, als Figuren
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vor uns. Diese Erzählungsform, die in der jetzigen Litteratur eine der vielen ist, in denen sich die Kunstform Roman auflöst, ist einer genaueren Untersuchung durchaus wert.
Zum Schlusse: wir haben gesehen, wie es in der Welt der Legende Gegenstände gibt, die mit der Macht der Form geladen, in ihrer Gegenständlichkeit die Form als Ganzes vertreten, wir nannten einen solchen Gegenstand dort Reliquie. Bei der Sage entspricht das Gegenständliche, das wir dort das Erbe nannten, der Reliquie der Legende. Bei der Mythe sprachen wir von Symbol. Ebenso gibt es in der Welt des Rätsels Gegenstände, in die sich die Macht des Rätsels hineingelagert hat, die mit Rätsel geladen sind - Gegenstände, die etwas enthalten, das sie uns vorenthalten, die wie die Herberge einer Lösung sind, die sie doch wieder verbergen, die etwas eröffnen und verschließen. Einen solchen Gegenstand, der von seiner Heimlichkeit raunt, möchte ich Rune nennen - und dabei an Alraune erinnern. Die alte Bedeutung des gotischen rûna und des angelsächsischen rún ist bekannt. Die Bedeutung dieses Gegenstandes und seiner weittragenden Beziehungen - auch zur Schrift - im Zusammenhang mit der Geistesbeschäftigung des Rätsels festzustellen, ist auch eine unserer vielen Aufgaben.
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