Verzamelde werken. Deel 7. Geschiedwetenschap. Hedendaagsche cultuur
(1950)–Johan Huizinga– Auteursrecht onbekendVerzameld werk VII
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Der mensch und die kulturGa naar voetnoot*Im Frühjahr 1937 erhielt ich von dem Vorstand des Österreichischen Kulturbundes in Wien die ehrenvolle Einladung, ihre für den Winter 1937-38 geplante Vortragsreihe mit einem Vortrag über das Thema ‘Der Mensch und die Kultur’ zu beschließen. In dieser Reihe sollte unter dem allgemeinen Titel ‘Der Mensch zwischen Gestern und Morgen’ dieser Mensch, der wir selber sind, nacheinander in seinem Verhältnis zum Staat, zur Religion, zur Wirtschaft, zur Wissenschaft usw. vorgeführt werden. Zum Schluß sollte er noch einmal dem Begriff, der alle diese Gegenstände gewissermaßen in sich schließt, der Kultur, entgegengehalten werden. Mit diesem schwierigen Thema, das umfassender und weniger scharf umrissen ist als alle vorigen, hatte man nicht einen Philosophen, nicht einen Soziologen betraut, sondern einen armen Historiker, der nur aus dem geistigen Landstreichertum, das seines Amtes ist, den Wagemut schöpfen konnte, sich an solch einer Aufgabe zu erproben. Der Vortrag wurde auf Anfang Mai 1938 festgesetzt. Der Text dazu wurde Anfang März 1938 abgeschlossen. - Der Vortrag wurde nicht gehalten und erscheint, wie ohnehin schon vorgesehen war, in dieser Schriftenreihe.
Der Mensch und die Kultur, das scheint vorauszusetzen, daß man diesen Menschen, d.h. diesen abendländischen Menschen von heute, seiner Kultur entgegenstellen könnte, ihn aus ihrem Zusammenhang gelöst betrachten könnte, die Kultur gesondert vom Kulturmenschen ins Auge fassen könnte. Das kann man aber höchstens bildlich, denn dieser Mensch ist schon der mit seiner Kultur behaftete und verwachsene Träger derselben. Versuchen wir es einen Augenblick mit einer derartigen bildlichen Schau des Gegensatzes Mensch und Kultur. Hier also steht der Mensch, im Grunde nicht anders als er immer gewesen ist, das heißt klein und eitel, aber unerhört scharfsinnig, mit einem schwachen Hang zum Guten und einer großen Idee von sich selbst, als einzelner nicht selten anständig, tapfer, gewissenhaft und zuverlässig. Als Kollektivum oder Glied eines Kollektivum ist er bedeutend schlechter, weil das Kollektivumn ihn der Entscheidung seines persönlichen Gewissens enthebt. In der Hingabe an das von ihm anerkannte Kollektivum, als einer von den vielen, zeïgt sich der Mensch nur allzuleicht geneigt zu Grausam- | |
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keit, Intoleranz, Sentimentalität und Puerilität. Alles hangt da ab vom Gehalt des kollektiven Ideals. Diesem Menschen gegenüber nun das Bild seiner Kultur. Ein formloses Monstrum. In der Beherrschung und Nutzbarmachung der Natur ist diese Kultur unendlich weit vorgeschritten, und der Geist ist unglaublich fein geschliffen. Die Kultur ist reicher und mächtiger als je zuvor. Aber es fehlt ihr ein echter, eigener Stil, es fehlt ihr ein einheitlicher Glaube, es fehlt ihr das innerliche Vertrauen auf ihre eigene Haltbarkeit, es fehlt ihr der Maßstab ihrer Wahrheit, es fehlit ihr die Harmonie, die Würde und die göttliche Ruhe. Sie ist beladen mit einer Last des Humbugs und des falschen Wahnes, wie sie die Welt nie getragen hat. Was soll jener Mensch mit dieser Kultur anfangen? Hat aber dieses Gespenst, das beim Wort Kultur vor unserem Auge ersteht, noch einen Anspruch auf diesen Namen? Ja, wissen wir eigentlich recht gut, was wir meinen, wenn wir Kultur sagen? Das Wort hat sich seit einem Menschenalter immer weiteren Kreisen sozusagen zum täglichen Gebrauch aufgezwungen. Es hat vom deutschen Sprachgebiet aus die übrige germanische Welt, sowie die slawische erobert, und sogar den englischen Sprachgebrauch und die romanischen Sprachen nicht unberührt gelassen. Wir hantieren mit ihm als ob wir über den Inhalt des Begriffes ganz einig wären. Das ist aber lauter Selbstbetrug. Wir werden hier nicht eine genaue Begriffsbestimmung des Wortes Kultur versuchen. Es würde uns viel zu weit führen. Lieber wollen wir von dem lockeren Zusammenhang, in welchem der Sprachgebrauch über den Wert des Wortes einig ist, ausgehen. Eines steht da fest. Die Geltung des Wortes Kultur hat sich, seitdem es in den allgemeinen Gebrauch aufgenommen wurde, nicht bloß räumlich immer mehr verbreitet, sondern zugleich hat das Wort einen immer größeren Teil der menschlichen Betätigungen in seinen Bereich gezogen. Das wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, was Jacob Burckhardt unter Kultur verstand, und was damit heutzutage gemeint wird. Für Burckhardt lag im Worte Kultur der Nachdruck doch noch entschieden auf der Seite des geistigen Lebens. Gesittung und Gesellschaftsleben gehörten dazu, aber doch immer in ihrem innigen Zusammenhang mit Kunst, Literatur und Wissenschaft. Die Kultur trug für ihn noch überwiegend ein ästhetisch-intellektualistisches Gesicht, der Begriff war mit Bildung noch nahe verwandt. In der großzügigen Darstellung, welcher man später den Titel Weltgeschichtliche Betrach- | |
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tungen gegeben hat, konnte er noch die Kultur als eine freie Funktion der Gesellschaft in einer allumfassenden Dreiheit neben Religion und Staat stellen, und die drei, gleichsam als Planeten am Firmament der menschlichen Geschichte, gesondert sich bewegen lassen. Mit diesem eleganten Burckhardtschen Begriffe deckt sich der Vorstellungsinhalt des Wortes Kultur heutzutage nicht mehr, wenigstens nicht, wenn man von der Kultur redet, in welcher wir selbst leben. Es hat sich sozusagen eine nicht immer bewußte Spaltung vollzogen zwischen Kultur als historischem und als aktuellem Begriff. Wenn ich von der Kultur Hellas' oder des XVIII. Jahrhunderts rede, erscheint für mich ein reines harmonisch geschlossenes Bild von etwas Gewesenem. Von der heutigen Lage irgendeiner menschlichen Gruppe oder irgendeines Erdteils gebraucht, trägt die Vorstellung Kultur verschwommene Züge. Erklärt sich diese schwankende Deutlichkeit der Bezeichnung vielleicht daraus, daß Kultur bloß eine Idee und niemals eine Abstraktion ausdrücken kann? Eine Idee aber wird erst faßbar in der Verklärung des Gewesenen. Wir müssen uns immer wieder damit zufriedengeben, daß wir leben und denken in einer Welt des unzulänglichen Ausdrucks. Wenn es sich als unmöglich erweist, den Begriff der Kultur zum voraus in einer Definition festzulegen, so empfiehlt es sich, die allgemeine Lage unserer Kultur als gegeben hinzunehmen und den Fall gewissermaßen klinisch zu betrachten, wobei also der Mensch der Patient und die Kultur seine körperliche und seelische Beschaffenheit wäre, wobei es vorläufig dahingestellt bleibt, zu welchem Befund über die Lage man kommen werde. Ganz gesund wird doch wohl keiner die Kultur unseres Zeitalters nennen wollen. Schon über die Frage aber, welche Symptome die krankhaften oder gar kritischen seien, gehen die Meinungen auseinander, um von der Art der Heilung noch gar nicht zu sprechen. Dennoch ließe sich durch ein eliminierendes Verfahren ein Mindestmaß von Einigkeit vielleicht erreichen. Man frage sich, welche Elemente der Kultur, falls man solche wie aus einer Feuersbrunst beliebig retten könnte, man am ehesten gesichert und bewahrt wissen möchte. Also welche Kulturwerte einem als die wesentlichsten und unentbehrlichsten gelten. Die Antworten werden sehr verschieden ausfallen, aber im Negativen scheint mir ein Resultat ziemlich sicher. Kein ernsthafter Mensch würde, vor die Wahl gestellt, den riesigen und wundersamen | |
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technischen Apparat des modernen Lebens den Schätzen des Geistes und der Seele vorziehen. In der Vorstellung, die man sich etwa von einer geläuterten und gesundeten Kultur formen mag, können die Bequemlichkeiten der Ortsbewegung und der Kraftübertragung kaum einen Platz einnehmen. Eher wird dies schon der Fall sein mit den Leistungen der Hygiene und der sozialen Fürsorge, aber auch hier würde ein Entweder-Oder, das zwischen diesen und den rein geistigen Dingen die Wahl forderte, die Wage nach der letzteren Seite sinken lassen. Das hieße also, daß die Idee Kultur, sobald sie anklingt, den Geist ins Weite und ins Freie ruft, fort von dem alltäglichen Treiben der Welt. Das hieße auch, daß ein großer Teil der täglich von uns erlebten Wirklichkeit uns im Grunde nicht als Kulturwert gilt. Damit ist aber keineswegs gesagt, Kultur sei bloß Bildung. Schon deshalb nicht, weil doch jedenfalls auch noch der ethische Faktor übrig bliebe, welcher für die Kultur von höchster Wichtigkeit ist. Vor allem aber darum kann man Kultur nicht einfach mit Bildung gleichstellen, weil sich für uns mit Kultur unvermeidlich nicht bloß die Vorstellung eines Denkens und Anschauens verbindet, sondern vielmehr diejenige eines Erlebens und einer Tätigkeit. Kultur wird nicht allein wirklich in der Stille der geistigen Arbeit oder des geistigen Genießens, sondern mitten im alltäglichen Tun, als Haltung und seelische Spannung. Bewußt wird aber Kultur nur in einem Geist, der sich über die Alltäglichkeit zu erheben weiß. Dazu braucht dieser sich nicht in aristokratischer Weite von der Welt zu sondern; wohl aber soll er persönlich der Welt gegenüberstehen können. Nur die Persönlichkeit kann das Gefäß der Kultur sein. Damit berühren wir num einen kritischen Punkt der heutigen Lage. Wenn Kultur als Erlebnis nur in der Persönlichkeit wirklich werden kann, so kann auch ihre eventuelle Heilung nur in Persönlichkeiten vor sich gehen. Dazu ist also nötig, daß Form und Art des Gesellschaftslebens die Persönlichkeit aufkommen lassen, ihrer Züchtung und Bildung günstig sind. Nun kann man kaum leugnen, daß eine Anzahl der am allgemeinsten zugegebenen Schäden der heutigen Kultur gerade in der Tatsache wurzeln, daß die Struktur des modernen Lebens die Persönlichkeit nicht aufkommen läßt. Das Produkt des industriellen Zeitalters ist der halbgebildete Mensch. Der allgemeine Unterricht, zusammen mit der äußerlichen Nivellierung der Klassen und der Leichtigkeit des geistigen und materiellen Verkehrs, haben den Typus des Halbgebildeten zur Dominante der Gesellschaft gemacht. Der Halb- | |
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gebildete ist der Todfeind der Persönlichkeit. Durch seine Zahl und durch seine Gleichartigkeit erstickt er im Kulturboden die Saat des Persönlichen. Die beiden großen merkantil-mechanischen Kommunikationsmittel des Tages, Film und Radio, haben ihn an eine bedenkliche Vereinseitigung und Veroberflächlichung seiner geistigen Aufnahme gewöhnt. Er sieht nur die photographische Karikatur einer höchst beschränkten visuellen Wirklichkeit, er hört halbwegs zu bei der an ihn vergeudeten Musik oder bei Mitteilungen irgendwelcher Art, die er besser gelesen, meistens noch besser nicht gelesen hätte. Das Aufkommen echter Kultur im Boden, der ihr gemäß ist, das heißt in der Persönlichkeit, suggeriert uns die Metaphern des Pflanzenlebens. Kultur treibt Wurzel, sie blüht auf, sie entfaltet sichusw.. Dem Halbgebildeten aber wird seine Kultur, besser der Ersatz, den er dafür hinnimmt, wie ein Präparat verabreicht. Zu dieser Ablösung eines spontanen Wachstums freier Geistigkeit durch einen halb-mechanischen Prozeß der Verbreitung an die Massen ist es nicht nötig, daß eine bestimmte Macht diese Verabreichung des Kulturpräparates so und so will. Der moderne Wirtschaftsapparat wirkt schon an sich in der Form eines zwangsmäßigen Angebots. Die Kulturspeise, welche ein Land verbraucht, wird zu einem immer größeren Teile eine Ware, welche durch irgend eine Organisation auf den Markt gebracht wird. Bei ihrer Aufnahme durch die Massen is nicht bloß das Moment der eignen Schöpfung oder Erfindung, sondern auch dasjenige der freien Wahl fast vollkommen ausgeschaltet. Der Mechanismus der modernen Presse bedingt schon eine fortwährende Überflutung mit geistiger Ware. Die hochentwickelte Reklamekunst hat ihre Macht bis in die erhabensten Gebiete hinein ausgebreitet und den Andrang des Kulturangebots unwiderstehlich gemacht. Das am frühesten durchtechnisierte Land, d.h. die Vereinigten Staaten von Amerika hat in diesem Prozeß der kulturellen Galvanisierung eines ganzen Volkes das Vorbild gegeben. Sämtliche Länder Europas sind ihm in schnellem Tempo gefolgt. Selbstverständlich soll dies nicht heißen, daß in einem Lande wie Amerika nicht auch heute noch fortwährend und überall Persönlichkeiten aufkämen. Man wird aber zugeben, daß für uns Europäer das amerikanische Mittelmaß stärker den Eindruck des Unpersönlichen zurüickläßt als der Verkehr mit unseren Nachbarn in der alten Welt. Noch weniger sollte das eben Gesagte heißen, in Amerika gebe nur der Wirtschaftswillen den Anstoß zur Kulturverbreitung. Ein edler | |
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und gesunder Idealismus liegt vielleicht nirgends so klar zu Tage als gerade im amerikanischen Gemeinschaftsleben.
Wir sprachen vorhin vom Burckhardtschen Postulat der Dreiheit Religion, Staat und Kultur. Es bleibt merkwürdig, daß Burckhardt dabei der Wirtschaft als eines vierten überall mitredenden Faktors noch gar nicht gedacht hat. Jedoch nicht vom Zusammenhang zwischen Kultur und Wirtschaft wollen wir jetzt reden, sondern von jenem Verhältnis von Kultur und Staat, welches Burckhardt noch aus einer apollinischen Serenität heraus betrachten konnte. Seit dem Ende des Weltkrieges scheint sich in der Welt ein Prozeß zu vollziehen, den ich das Abgleiten der Kultur in das Politische nennen möchte. Damit ist also von vornherein und ganz bewußt die Kultur dem Politischen gegenüber als das Höhere gewürdigt. Wir können kaum mehr, so wie Burckhardt es tat, eine Kultur als ideelle Größe aus ihrem Zusammenhang mit irgendeinem Staate gelöst betrachten. Die Idee Kultur selbst verschiebt sich für uns unwillkürlich in die Richtung eines Konzeptes Kultur im Staate. Der Staat hat den Bereich seiner Tätigkeit immer mehr erweitert, und legt damit mehr und mehr seine Klammern um die Kultur. Er zieht immer mehr die Kulturkräfte in seinen Dienst und erhebt den Anspruch, über sie zu verfügen. Es bahnt sich eine Präponderanz des Politischen über das Kulturelle an, welche für die Menschheit einen Verlust und eine Gefahr bedeutet. Wir streiften im Anfang den Gedanken, daß der ethische Gehalt einermenschlichen Gemeinschaft von der Reinheit und Erhabenheit ihres kollektiven Ideals abhängig sei. Am Urquell einer Kultur können immer nur die höchste Weisheit und die edelste Gesinnung stehen, zu denen sich der Einzelne aus der betreffenden Gemeinschaft zu erheben vermag. Wenn nun der Staat sich anheischig macht, nicht bloß Raum und Rahmen, sondern auch Behüter und Spender einer Kultur zu sein, so erhebt sich die Frage, ob das Politische jemals die Stelle einer höchstmöglichen Weisheit und edelsten Gesinnung, welche einzige Richtschnur einer Kultur sind und bleiben müssen, einnehmen kann. Alle Politik ist ihrem Wesen nach auf beschränkte Ziele gerichtet. Ihre Weisheit ist Weisheit auf kurze Sicht. Ihr gedanklicher Zusammenhang ist meistens äußerst lose, ihre Mittel sind selten dem Zwecke angemessen, und sie arbeitet immer mit einer unerhörten Kraftvergeudung. Ihre Tätigkeit hat meistens die Tendenz, einen Ausweg durch | |
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einen Notbehelfzu suchen, es sei denn, daß sie sich von einem blinden Wahne treiben läßt. Ihre Erfolge, oder was man dafür ansieht, sind von kurzer Dauer, ein Jahrhundert ist da schon sehr viel. Ihre Werte werden schon, wenn man sie aus einer Distanz von einigen Jahrhunderten ansieht, unkenntlich und wesenlos. Was sagt uns heute noch der Gegensatz von Guelfen und Ghibellinen? Dennoch ist er einmal ebenso leidenschaftlich erlebt worden wie heute der Haß der gehobenen Hand gegen die geschlossene Faust. Jede Terzine Dante's lebt aber noch. Wer die Geschichte der Staatenbildungen überschaut von dem Punkte an, wo ihm das Politische als wirksamer Faktor sichtbar wird, sieht, daß kaum irgendwo bewußte politische Absichten mit dauerndem Erfolg verwirklicht werden. Die Staatenwelt taumelt immer von der einen Notlösung in die andere. Die Blütezeit Athens ist wie eine Sternschnuppe am Nachthimmel. Das Weltreich Roms war schon morsch in seinen Anfängen. Spaniens Weltmacht hielt kein Jahrhundert aus. Die Politik Ludwigs XIV. endete in einer Erschöpfung, welche nur durch eine Reihe unberechenbarer Glücksfälle für Frankreich nicht tödlich wurde. So kann man weiter gehen. Dabei ist noch zu bedenken, daß die Historie in einem gutmütigen Optimismus oft bereit ist, ein politisches Resultat als erfolgreiche Klugheit oder gar als Staatsgenie eines Herrschers zu deuten, während in Wirklichkeit dessen Bestrebungen ganz fehlgeschlagen haben. Das alles tut der Bewunderung keinen Eintrag, die man für jeden, der sich vor eine schwierige politische Aufgabe gestellt sieht und sie nach besten Kräften löst, haben muß. Es besagt aber, daß man die Aufrechterhaltung einer Kultur ebensowenig einer politischen Macht anvertrauen kann, wie man sie etwa einem Schiffskapitän überlassen würde, weil er sich mutig und entschlossen gezeigt hat. Hier wird nun vielleicht eine mächtige Zeitströmung einwenden: die Kultur gleitet nicht ab in das Politische, sie erhebt sich zum Nationalen. Es ist unmöglich, hier dieser überaus heiklen Frage der Wertung des Nationalen für die Kultur aus dem Wege zu gehen. Voraus gehe nein persönliches Bekenntnis, daß ich es für jeden als ein hohes Gut und ein hohes Glück betrachte, zu einem Volke und zu einem Staat zu gehören, daß ich die Treue gegenüber Volk und Staat bis in den Tod als hohe Pflicht anerkenne, und daß ich die Liebe zum eigenen Volkstum als einen der reichsten Schätze des Lebens empfinde. Dennoch gehört meines Erachtens alles Nationale zu unseren menschlichen Beschränktheiten. Es ist ein Teil unserer Sterblichkeit. | |
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Es ist das Schicksal unsres Weltteils geworden, sich mehr und mehr als ein System von Nationen aufzubauen und zu gliedern. Seit etwa 150 Jahren ist man sich überall des unreduzierbaren Charakters und des hohen Wertes der Nationalität klar bewußt. Seit etwa zwanzig Jahren wird die Erkenntnis dieses Wertes allenthalben in weiten Kreisen dermaßen überspannt, daß man sich kaum enthalten kann, dies als Hypernationalismus zu bezeichnen. Der Weltkrieg ist schuld. Das Fieber läßt noch nicht nach und kann nicht nachlassen, denn die Wunden sind nicht geheilt und eitern immerfort. Wie immer es damit bestellt sei, auch der vollkommen durchgebildete Gegensatz verschiedener Völker, von denen jedes für sich extrem national fühlte, würde an sich ihr friedliches Zusammenleben durchaus zulassen. Anscheinend gehörte dazu nur eine ganz kleine Dose menschlicher Vernünftigkeit und menschlichen Wohlwollens. Der Einzelne würde diese vielleicht aufbringen, die Kollektivität aber verfügt darüber nicht. Man kann sich in abstracto eine Lage denken, bei welcher die Nationen sich ihrer gründlichen Verschiedenheit voll bewußt sind und dennoch im besten Einvernehmen ihre geistigen und materiellen Güter austauschen und sich gegenseitig verstehen bis an die Grenze ihres nationalen Ausdrucksvermögens und ihrer nationalen Aufnahmefähigkeit. Solche Grenzen gibt es, und es ist immer interessant, sie aufzudecken. Zum Teil liegen sie in der affektiven Sphäre, zum Teil in der Ungleichheit der nationalen Voraussetzungen, d.h. in der Geschichte, zum Teil in der Verschiedenheit des gesellschaftlichen Aufbaus usw.. Besonders merkwürdig sind die kleinen sprachlichen Unüberbrückbarkeiten zwischen den Nationen. Sie gelten gerade den allgemeinsten und grundlegendsten Begriffen. So entspricht zum Beispiel das deutsche Vernunft nicht vollkommen dem franz. Raison und engl. Reason (das Holländische hält sich hier mit Rede auf der letzteren Seite). Das englische Evil deckt sich nicht ganz mit Böse, das französische Salut nicht mit Heil, Rédemption nicht mit Erlösung. Dem deutschen und holländischen Schuld entspricht kein eindeutiges Wort im Englischen oder Französischen. Gut verstanden werden diese leichten Mängel der sprachlichen und begrifflichen Equivalenz ebensoviele Abregungen für einen fruchtbaren internationalen geistigen Verkehr. Gerade aus der Erkenntnis der eignen Unzulänglichkeit und des Auch-anders-sein-könnens der eigenen Denkgewohnheiten zieht ein weiser Geist den tiefsten Gewinn. Die reiche Verschiedenheit des Nationalen wäre also an sich reiner Segen. Die Gefahr für die Kultur tritt erst da ein, wo eine praktische | |
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Politik die Entfaltung der nationalen Eigenart mit allzugroßem Eifer betreibt. Denn nun tritt, durch die Mittel der modernen Propaganda und Zensur, eine absichtliche Nationalisierung des Kulturgutes ein, die zu schlimmen Folgen führen kann. Das nationale Empfinden isoliert sich in kurzer Zeit von dem allgemein abendländischen, besonders wenn feindliche Stimmungen des Tages diesen Prozeß der Isolierung beschleunigen. Es bildet sich in wenig Jahren ein Ideensystem und ein entsprechendes Vokabular, das dem Ausländer unverständlich bleibt, auch wenn er die fremde Sprache beherrscht. Zweifelsohne wirkt dieser Dissociation der nationalen Ausdrucksmittel eine Tendenz zur allgemeinen Nivellierung noch immer entgegen, doch diese letztere ebnet nur die Oberfläche des gesellschaftlichen Verkehrs, während die eigentlich kulturelle Haltung, in welche die nationale Propaganda vorzudringen bestrebt ist, von dieser Nivellierung unberührt bleibt. Es wäre durchaus möglich, durch vergleichende Zeitschriftenlektüre festzustellen, wie weit und mit welcher Beschleunigung die Disgregation der nationalen Kulturen des Aoendlandes seit, sagen wir, 1900 vorgeschritten ist. Schon jetzt gilt auf wichtigen Gebieten dem einen Volke als ausgemachte Sache und heilige Wahrheit, was beim anderen als Unsinn und Fälschung empfunden wird. Es gibt Kräfte, welche geflissentlich auf ein regelrechtes Kulturschisma hinarbeiten. Falls alle Meinungen des Tages, die heute in Europa laut und öffentlich verkündet und empfohlen, ja bisweilen ausdrücklich gefordert werden, als nationale Kultur bleibend fixiert werden, so kann man sich eine ziemlich nahe Zukunft denken, in welcher die abendländische Kultur sich in viele Spielarten aufgeteilt hat, deren jede die anderen nur sehr zum Teil verstehen, geschweige denn würdigen kann. Man könnte hier bemerken, daß es schon einmal eine derartige Spaltung der europäischen Kultur gegeben hat, nämlich im Zeitalter der konfessionellen Gegensätze. Tatsächlich aber berührte danals die Gespaltenheit in einen katholischen und einen protestantischen Teil die eigentliche Kultur viel weniger als die jetzige Gegenüberstellung der Weltanschauungen. Sogar der Glaubensgegensatz selbst ließ doch ein gemeinsames Fundament der beiderseitigen Überzeugungen intakt. Die Landesgrenzen waren nur zum Teil zugleich konfessionelle Grenze. Politisches Zusammengehenzwischen katholischenundprotestantischen Mächten war zu jeder Zeit üblich. Ein reger, wahrhaft internationaler Verkehr auf den Gebieten der Kunst, der Wissenschaft, der Philosophie blieb auch in Kriegszeiten aufrecht erhalten. Die absichtliche | |
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Hervorkehrung der entzweienden Momente war viel weniger scharf als heutzutage. Haben wir mit einer solchen nahen Zukunft grundsätzlicher Divergenz der Kultur in eine Anzahl nationale Varietäten ernstlich zu rechnen? Ich möchte es dennoch nicht glauben. An erster Stelle, weil das angebliche Kulturschisma doch zu einem großen Teil politisch bedingte Mache ist. Die neuen Böcke und Schafe sehen sich untereinander täuschend ähnlich. Der Lärm der politischen Reibungen, welche im Grunde Oberflächen- und Augenblickserscheinungen sind, verhindert in vielen Fällen die Wahrnehmung des säkulären Kulturprozesses, der in den Tiefen weitergeht. Es bleibt immerhin möglich, daß die gefährliche Präponderanz des Politischen, wenn sie sich in gewaltsamen Explosionen entlädt, die Kultur in kurzer Zeit ganz zu Grunde richten könnte, oder sie jedenfalls für die Dauer von Jahrhunderten unter den Trümmern Europas verschüttete. Falls dies verhütet wird, so hat man für die Weiterentwicklung der abendländischen Kultur mit der Wahrscheinlichkeit eines Prozesses von sich ablösenden Strömungen zu rechnen, deren die nächste die Reaktion auf die Aktion von heute darstellen dürfte. Die Frage erhebt sich also: wie könnte etwa diese zu erwartende, der Dominante unserer Zeit entgegengesetzte Strömung beschaffen sein? Umn darüber Vermutungen anzustellen, sollte zuerst das Himmelzeichen, unter welchem unsere Zeit lebt, noch einmal deutlich gelesen werden. Es drängen sich zur Bezeichnung der Merkmale unserer geistigen Lage sofort eine Reihe von wenig erfreulichen Worten ins Bewußtsein. Krisengefühl, Ratlosigkeit, Verwilderung, Verwirrung, blinde Illusion, Hypokrisie, Flucht vor der Verzweiflung in den Selbstbetrug, solche Worte kommen uns von selbst auf die Lippen. Die kolossalen Machtund Kraftanwendungen in der heutigen Welt führen, außer vielleicht im rein Technischen, fast nirgends zum voraus berechneten Ziele. Es kommen immer ganz andere Ergebnisse heraus als man gewollt hat: schlagendstes Beispiel der Sowjetstaat in seinem Widerspruch zum kommunistischen Ideal. Die gedanklichen Systeme scheinen sich festzulaufen. Wissenschaft und Philosophie verlieren ihren Rückhalt im einfachen Menschenverstand. Für den Nichtphilosophen scheint bisweilen das Weltbild der heutigen Philosophie fast karikaturhafte Züge anzunehemen. Die Stimmung des philosophischen Denkens erinnert ihn ab und zu an die düsteren Bilder des Spätmittelalters. So wie da- | |
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mals die Schrecken des Todes und das Gähnen der Hölle den Menschen bei jedem Schritt anstierten, so begegnet ihm jetzt als obligater Ausgangspunkt jedes psychologischen und weltanschaulichen Verhaltens die Angst. Der Ausblick in die Grundfragen des Seins scheint sich in hoffnungslose Leere zu verlieren. So wenigstens sieht das Bild der Zeitstimmung aus, wenn man die Bücher liest, besser gesagt, eine gewisse Schicht der philosophischen und soziologischen Literatur. Fragt man aber den einzelnen jetzt Lebenden, ob seine Lebensstimmung mit diesem düsteren Ton im Einklang steht, so wird in den meisten Fällen die Antwort energisch verneinend lauten. Die Kulturlage mag in mancher Hinsicht bedrohlich erscheinen, die politische Lage gefährlicher als je zuvor, der Einzelne fühlt sich in dieser verrenkten Welt im normalen Fall voller Lebensmut und Lebensfreude. Das gilt nicht bloß von den Halbgebildeten, die sich so leicht über die richtige Lage ihres Daseins hinwegtäuschen lassen, sondern auch von der geistigen Elite, welche sich des Ernstes der Kulturkrise völlig bewußt ist. Mit anderen Worten, die Vorherrschaft von Untergangsstimmung und Verzweiflung ist tatsächlich der Hauptsache nach nur in der Literatur und nicht im Leben zu Hause. Dabei ist auch noch dies zu bedenken, daß der Festland-Europäer sich in der Regel zu wenig Rechenschaft davon gibt, daß die ganze angelsächsische Hälfte der Welt von unserem Kulturschmerz und Kulturpessimismus nur in geringem Grade betroffen worden ist, und unbekümmert ihren Weg vorwärts schreitet. Wenn aber nun dieser Weg nur in die verflachte und entseelte Durchschnittsbildung führen sollte, welche wir täglich aufallen Seiten heraufkommen sehen? Mit Lebensmut und Tatkraft allein ist der Kultur nicht geholfen, auch nicht wenn man diesen alten Tugenden den überheblichen Namen des Heroischen verleiht. Um Kultur zu bilden, soll die gesamte Energie auf ein hohes Ziel gerichtet sein. Wenn dieses Ziel selbst Kultur heißt, also Civilitas humana, um sie met dem eigentlich nie übertroffenen Namen zu nennen, den ihr Dante in seiner Monarchia gab, also mehr als ein zeitweiliges Heil einer bestimmten, in sich geschlossenen Volkseinheit, dann soll man sich ernstlich fragen, wie sich die angehäufte Energie zu betätigen haben werde. Dem Bewußtsein unserer Zeit von einer unerhört starken kollektiven Dynamik, welche der Mensch nach seiner Einsicht und nach seinem Entschluß in Tätigkeit setzen könne, läuft ein Gedankengang entgegen, der vielmehr den Fatalismus streift, aber der dessenunge- | |
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achtet auch von den Vertretern des sozialen Aktivismus allgemein angenommen wird. Es ist die Überzeugung, daß wir uns in der Epoche eines ungeheuren kulturellen Umschwungs befinden, welcher sich unaufhaltsam und trotz allem vollzieht und vollziehen muß. Umbau der Gesellschaft, Umbruch, Erneuerung der Kultur sind in fast allen Kreisen langst Schlagwort und Gemeinplatz geworden. Dieses Gefühl einer weitgehenden Erneuerung der Umwelt haben auch frühere Epochen gekannt. Die Vorstellung des bevorstehenden ganz Neuen übertraf dann meistens bei weitem das historische Resultat der tatsächlich eingetretenen Veränderungen, wie es sich später einstellte. Die Welt um 1815 sah anders aus als diej enige um 1788, die Welt von 1555 anders als die van 1520, aber beide Male doch viel weniger verschieden, als es die Begeisterung der jungen Revolutionäre oder der jungen Reformatoren und Humanisten erwartet hatte. Ähnliches könnte auch jetzt wieder eintreffen. In Rußland hat men ja in gewissem Sinne schon sehen können, wie seit 1917 ein ungelenkes Kollektivum aus einem Übermaß von drastischer Umbildung allmählich in die alte Spur zurückgewackelt ist. Der Lärm der Maschinen und der Worte täuscht uns bisweilen über das Maß und die Wichtigkeit der tatsächlich vorsichgehenden Veränderung. Mit diesem Zweifel an die Realität einer großartigen Umschichtung des Kulturlebens soll keineswegs einem verdrossenem Fatalismus das Wort geredet sein. Wir meinen damit nicht: es verharrt doch immer alles beim Alten. Im Gegenteil, es soll alles anders werden. Nur vor dem voreiligen Determinismus, der alles wie eine Katastrophe sich vollziehen sieht, wollen wir warnen. Die Welt des Abendlandes soll und kann sich mit der heutigen Lage der Kultur nicht zufrieden geben. Wir alle möchten sie geheilt sehen, diese Kultur, geheilt von den Schäden der Mechanisierung und Technisierung des Lebens, geheilt von ihrer um sich greifenden furchtbaren Verwilderung. Und wir wissen: soll die Kultur geheilt werden, so müssen wir Menschen es tun. Und um es zu können, müssen wir zuerst uns selbst heilen. Der Mensch und die Kultur, das hieße also: was vermag der Mensch, um das Element, in welchem er mit seinen höheren Funktionen und Fähigkeiten lebt, vom Verderb zu säubern und rein zu erhalten? Selbstverständlich hangt dies davon ab, was man als den Verderb ansieht. Vorläufig aber stellen wir die Frage ganz im allgemeinen. Der Gesundungsprozeß einer Kultur braucht nicht notwendig Erneuerung zu sein im Sinne, wie die moderne Heilkunst unsere Zähne | |
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oder Nasen erneuert. Man redet manchmal so zuversichtlich von Erneuerung, weil man den engeren Sinn des Wortes mit dem weiteren verwechselt. Im weiteren Sinn ist jedes Ding in jedem Augenblick neu. Im engeren Sinne werden wenig Dinge in der Welt wirklich neu. Nur dem kurzsichtigen Auge, das die Oberfläche sieht, scheinen sie so. An sich könnte die Heilung einer Kultur ebensogut Wiederherstellung eines früheren Zustandes bedeuten. Praktisch ist aber im Fluß des Weltgeschehens und in der fortwährenden Ausbreitung der verwirklichten Möglichkeiten die bloße Repristination eines früheren Kulturzustandes nicht denkbar, auch nicht in den winzigsten Einzelheiten. Der heutige Mensch kann sich vielleicht einen Augenblick einbilden, daß er sich in der Welt um 1750 herum recht behaglich gefühlt hätte: ohne Schnellverkehr und Komfort, in der gemächlichen Illusion einer gütigen, rationell wirkenden Vorsehung, und in der idyllischen Schönheit eines noch nicht mechanisierten und merkantilisierten Europas. Aber zu einem ernstlichen Wunsch vermag er ein solches Traumbild nicht zu erheben. Den Weg zurück gibt es in der Geschichte ebensowenig wie im Leben des Einzelnen. Zwischen Erneuerung und Wiederherstellung ist aber noch eine dritte Art der Kulturgesundung denkbar, welche ebensogut wie die eben genannten dynamischer Natur ist, also gar nicht Stillstand und Verharren beim Gegebenen bedeutet, sondern sozusagen die Begriffe der Erneuerung und der Wiederherstellung in ein Drittes aufhebt und vereinigt. Ich wüßte, um dieses Dritte zu bezeichnen, keinen besseren Namen als Beschränkung. Vieles weist daraufhin, daß in der Tat in einer bewußten und freiwilligen Ausscheidung des Überflüssigen und Schädlichen in der Kultur die einzige Möglichkeit ihrer Rettung und Gesundung gegeben ist. Allem Anschein nach ist unsere abendländische Kultur in fast jeder Hinsicht bis an ein Äußerstes der Verwirklichung und Entfaltung vorgedrungen. Auch wenn dieses Urteil falsch wäre, und kommende Geschlechter unserem Zeitalter den Charakter dieser äußersten Durchbildung der Möglichkeiten absprechen werden, wir aus unserem Gesichtskreis können es nicht anders sehen. Die Wissenschaft scheint uns an den Grenzen des Faßbaren angelangt. Ihre alten, festen Begriffe scheinen sich aufzulösen. In ihren sämtlichen Disziplinen ist der Sicherheitsgrund schwankend geworden. Die alte Mathematik ist eine aus vielen möglichen geworden. Die Logik geht ihrer Gültigkeit, die Vernunft ihres Ansehens verlustig. Die Historie sieht sich unter dem | |
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Namen Mythos wüste Phantasien als Grundwahrheiten untergeschoben. Die Technik erzeugt täglich vollendetere Wunder, aber niemand traut ihr mehr, weil sie sich potentiell im Zerstören mächtiger zeigt als im Behüten. Die Dichtung läßt sich vom Gedanken scheiden und die Kunst von der Natur. Hinter jedem erreichten Grad der geistigen Spannung oder Überspannung gähnt die Leere oder das Chaos, und das Nichts wird zur Parole der Weisheit. Viele haben mit der Moral den unveränderlichen Grundlagen des Rechtes und der verbindlichen Menschlichkeit abgeschworen. Es fragt sich nun, ob es möglich wäre, daß der menschliche Geist in dieser aufgeblasenen Welt sich auf das allgemein und wirklich wertvolle beschränken lernte, auf das Überflüssige, Unnütze, Sinn- und Geschmacklose verzichten wollte. Es leuchtet ein, daß eine solche Bereitschaft, allerhand Errungenschaften einer ins Kraut geschossenen Zivilisation willig aufzugeben, etwas anderes bedeutet als eine törichte Sehnsucht nach der Wiederherstellung einer idealisierten Vergangenheit. Aber ist ein solcher Prozeß ernstlich vorzustellen, geschweige noch wahrscheinlich? Am ehesten könnte man sich denken, wie in einiger Zukunft gewisse Partien des heutigen Kulturlebens aus lauter Überdruß aus der Mode kommen dürften. Es scheint doch fast unvermeidlich, daß einmal die Menschheit die faselnde Oberflächlichkeit der modernen Publizitätsmaschine satt haben wird. Die tägliche überproduktion des Kino- und Radiowesens muß doch endlich auch die halbgebildeten Massen ermüden. Die monströse Ausgeburt unseres technischen Zeitalters, die Reklame, sie sei kommerziell oder politisch, muß doch einmal vor dem Ekel eines übersättigten Publikums ihre Wirkung verloren haben. Mit solchen negativen ästhetischen Reaktionen ware aber bloß ein Schaum von der Oberfläche der Kultur weggeblasen. Unendlich viel schwieriger kann man sich eine Regeneration durch freiwillige Beschränkung auf dem Gebiet des intellektuellen Lebens denken. Nehmen wir für einen Augenblick an, der menschliche Geist, oder sagen wir weniger abstrakt, die denkende Menschheit habe sich Rechenschaft darüber gegeben, daß eine Vereinfachung ihrer Gedankenwelt unbedingt nötig sei. Man habe die Unlösbarkeit der letzten Gründe so schmerzlich erkannt, man sei sich der Unfruchtbarkeit des ewig tiefer Bohrens so endgültig bewußt, daß man sich mit all seinem Denken auf feste Punkte zurückziehen wollte. Wäre so etwas möglich? Kann der Geist aufgeben, was er einmal erkannt hat, auch wenn es nur die | |
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Erkenntnis eines Nicht-wissens wäre? Könnte unser Jahrhundert bis hinter die Linie Kierkegaard - Dostojewski - Nietzsche zurücktreten, und dort von neuem anfangen? Selbstverständlich nicht. Und doch hat die Aufgabe unserer Zeit zur Rettung der Kultur mit einem so radikalen Verfahren einige Ähnlichkeit. Es handelt sich doch ganz entschieden um ein Sich-Bescheiden im Nicht-Wissen, ein sich des Bohrens und Wiühlens in Schichten jenseits der menschlichen Vernunft enthalten. Was not tut, ist eine Askese des Gedankens um der Lebensweisheit willen. Soll das eine Restauration des Rationalismus heißen, oder vielmehr ein Bekenntnis zur Lebensphilosophie? Keines von beiden. Eine Rückkehr zum clare et distincte, wie es Descartes lieb war, gibt es nicht. Eine leise Hinwendung des kontinental-germanischen und slawischen Geistes zur Klarheit des lateinischen und zum praktischen Realismus des angelsächsischen Geistes könnte allerdings nützlich sein. Jedenfalls scheint eine erneute Wertung des Intellektuellen unerläßlich, denn ohne die Anerkennung dieses Wertes können wir in dieser Welt nicht dauernd mit einander leben. Ein schlecht verstandener Irrationalismus droht in unserer Zeit in den Händen der Halbgebildeten eine tödliche Waffe gegen jede Art der Kultur zu werden. Hinter dieser Absage an die Herrschaft des Intellektes zugunsten des Lebens im biologischen Sinne, steckt immer ein ungeheures Mißverständnis. Immer wieder wird die Vernunft mit ihren eigenen Mitteln beseitigt, reason reasoned away. Der irrationelle Münchhausen zieht sich immer wieder an seinem eigenen Zopfaus dem Sumpf. Die Polemik gegen die Vernunft läßt sich ja immer nur nach den Regeln der Logik führen. Wir wissen ja längst, wie unzulänglich sie ist, diese Vernunft, aber das sind doch all unsere Fähigkeiten. Sie ist uns gegeben als ein Maßstab der Dinge und ein Riegel vor dem Wahnsinn und dem Chaos. Sie ist nun einmal das zuverlässigste Geistesinstrument, das wir besitzen.
Der gebildete Einzelne kann sich auch inmitten einer lärmenden und verunstalteten Welt ein harmonisches Leben abzäunen. Damit ist aber die Kultur nicht gerettet. Das Problem bleibt, dazu die Massen zu erziehen. Auf dem ästhetischen Gebiet schien uns dies noch am ehesten möglich als Resultat von Übersättigung und Überdruß. Auch die Massen werden am Ende nicht mehr hinschauen und zuhören zu Allem, was ein merkantilisierter Betrieb ihnen als Kultur vorsetzt. | |
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Auf dem gedanklichen Gebiet wäre eine Neuerziehung der Massen im Sinne einer sanierten Kultur vielleicht insofern leichter, weil die Massen durch die moderne Kulturtechnik des Denkens überhaupt entwöhnt sind. Auf der anderen Seite aber ist der logische Bau einer Kultur viel tiefer fundiert und fester gewurzelt als der ästhetische, und widerstrebt dadurch stärker einer Tendenz zur Ausmerzung des Überflüssigen. Angenommen nun aber, auf diesen beiden Gebieten des Ästhetischen und des Logischen sei eine solche freiwillige Beschränkung und Vereinfachung, welche uns der einzige Ausweg aus dem Wirrsal des Kulturverfalls scheint, an sich möglich, würde damit die Kultur gerettet sein? Keineswegs. Der wichtigste Teil des Werkes bliebe noch ungetan, die moralische Gesundung der Kultur. Schließlich ist es die moralische Haltung einer Gemeinschaft, welche darüber entscheidet, ob in ihr die Civilitas humana für ihren Teil verwirklicht ist. Das heißt nicht lediglich, ob in ihr eine Mehrzahl gesittet und fromm lebt. Die Menschen insgesamt leben wahrscheinlich in einem Zeitalter und in einem Erdenwinkel nicht viel sittlicher als im anderen. Es heißt vielmehr, ob ein allgemein anerkannter Drang zum besten und höchsten die ganze Gemeinschaft durchdringt und beseelt. Nur der ethische Rückhalt an einem Summum bonum kann die Massen zu Trägern von Kultur machen. Hier nun kommt noch einmal die Verfangenheit der Kultur im Politischen zur Sprache. An manchen Orten macht der Staat sich anheischig, der Spender dieses Ethos zu sein, das die Kultur bedingt. Ich, sagt der Staat, - oder im Grunde immer bloß die Gruppe, welche im Namen des Staates redet -, ich, Staat, gebe euch diesen Drang zum höchsten, der euer Leben gestaltet, ich gebe euch auch die Vereinfachung eurer Kultur, die ihr braucht, ich gebe euch die Zusammenfassung aller Kräfte zu einem Ziele, den moralischen Halt, der euer Leben edel macht. Das könnte aber der Staat nur, wenn er zu einem Höchsten über sich selbst hinauswiese, in dem alle die Anforderungen, die er stellt, verwirklicht sind, und wenn er zugleich das sittliche Ideal, das er von den Seinigen fordert, auch selbst als Staat in Anwendung brächte. Letzteres verweigern am entschiedensten gerade die Staaten, welche sich am gebieterischsten als Hüter des allgemeinen Ethos und als Erzieher ihrer Völker aufwerfen. Denn sie beanspruchen für sich die sittliche, besser die unsittliche Autonomie. Es ist schon eine alte Lehre, diese Lehre vom amoralischen Staat. Machiavelli und Hobbes glaubten sie aus der Wirklichkeit abzulesen, | |
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und die meisten Politiker handelten nach dieser Lehre, auch ohne sich zu ihr zu bekennen. Lange noch fand sie ein Gegengewicht in den christlichen Vorstellungen und auch ganz bestimmt in der praktischen Notwendigkeit, sich nicht in allen Fällen nach ihr zu richten. Je stärker nun die Machtmittel und der Tätigkeitsbereich des Staates wurden, umso gefährlicher jene Lehre. Der Staat, der sich zum Maß aller Dinge erhebt und gleichzeitig seinen amoralischen Charakter proklamiert, ist der zur ethischen Leitung eines Volkes am wenigsten Berufene. Indem der Staat beansprucht, selbst über die Moral erhaben zu sein, erklärt er seinen Tatbezirk zum Asyl des Bösen und zieht die ewig gleiche Bosheit der Menschen förmlich an. Es ist meine innige Überzeugung, daß diese Lehre vom amoralischen Staat wie eine offene Wunde im Körper unserer Kultur wirkt, durch welche der Verderb hineinfließt. Wenn dann die moralische Gesundung der Kultur vom Staate als solchem nicht zu erwarten ist, woher könnte sie kommen? Ein von allen ethischen Wurzeln losgerissenes Geschlecht hat sich am eitlen Worte eines heroischen Lebensideals laben können und zu stärken gemeint. Es wurde nur möglich, weil die Menschen die Beziehung zum Heiligen verloren hatten. In der Herrschaft eines echten, tiefen, lauteren und lebendigen Glaubens ware selbstverständlich der Ansatz zu einer Genesung der Kultur gegeben. Aus einem echten Glauben heraus könnte jene Beschränkung und Vereinfachung der Kultur, die uns unentbehrlich schien, jene Einkehr in die Gründe unseres geistigen Lebens ihren Ausgangspunkt nehmen. Dieser Glaube aber könnte für das Abendland nur der christliche sein. Unsere Kultur ist, trotz allem Abfall und aller Verleugnung, christliche Kultur. Die christliche Auffassung der bestehenden Welt bleibt die Lebensatmosphäre sämtlicher Völker des Abendlandes. Wie viele, die ohne konfessionelle Zugehörigkeit oder philosophisch formulierte Weltanschauung manche Pfade des Denkens eine Strecke gegangen sind, fanden, nachdem sie das Bildhafte aller unserer Vorstellungen erkannt hatten, am Ende ihrer Betrachtungen den adäquatesten Ausdruck des menschlichen Verhältnisses zum Sein in der christlichen Ethik und in den religiösen Grundbegriffen der Gnade und der Erlösung. Und wenn es ihnen bloß eine Ahnung und eine Hoffnung wäre, es gibt ihnen die Haltung im Leben.
Eine heiße Sehnsucht nach Frieden, Freiheit und Menschlichkeit | |
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zieht durch die ganze Welt. Wir wissen es, mancherorts sind, unvermeidlich, diese Stimmungen heute noch verdunkelt, weil unnittelbare Ziele politischer oder sozialer Art noch nicht erreicht sind, weil man das Gefühl hat, sich noch in sehr reellen Kämpfen zur hohen Schwelle eines, wenn auch immer labilen, irdischen Gleichgewichtes hindurchringen zu müssen. Nur allzuleicht kann ein solcher edler Antrieb der partiellen Kampfespflicht zum wahnsinnigen Spiele um Macht und Ehre verfallen. Wo er dies nicht tut, da steht doch immer als Ideal aller Bestrebungen, auch wenn es nie vollkommen zu verwirklichen wäre, ein allgemein menschlicher Kulturzustand, - ich sage absichtlich nicht: der ewige Frieden -, vor Augen. Civilitas humana, das Ideal Dante's. Die italienische Sprache ist zu beneiden, weil sie für das immer verschwommene ‘Kultur’ das klare ‘Civilta’ gebrauchenkann. Civilitas, also der allgemeine Zustand eines geordneten Staatswesens und das persönliche Betragen jedes Einzelnen als eines gesitteten, freien und verantwortlichen Civis, Polites. So ware zum Schluss doch wieder das Politische, der Staat, als der Rahmen der Kultur anerkannt. Aber nur in diesem Sinne, daß die Civilitas wirklich humana sei, daß sie die Humanitas umfasse, einschließe und aus dieser lebe, daß in dieser Civilitas humana gerade das friedliche Zusammenleben und wohlwollend sich Verstehen der vielen und verschiedenen verwirklicht sei. So haben wir am Ende doch noch einmal die Zweiheit der Begriffe, welche das Thema unserer Betrachtungen bildete, den Menschen und die Kultur, in ihrer unlösbaren Beziehung fest zusammengeschlossen. |
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