Verzamelde werken. Deel 7. Geschiedwetenschap. Hedendaagsche cultuur
(1950)–Johan Huizinga– Auteursrecht onbekendVerzameld werk VII
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Gibt es verwandlung?Ga naar voetnoot*Das Thema häuft die Fragen: wie, wann, was? und in jedem Punkte rührt es an die tiefsten Gründe der Seinslehre und jedes philosophischen Erkenntnisses. Bevor das Wie? erfasst werden könnte, sollte das Was? entschieden sein. Was wird Geschichte? Nicht ein Geschehnis, nicht eine Epoche, nicht eine Zeit als solche. Milliarden von Geschehnissen werden nie Geschichte, sie ruhen, obwohl vielleicht noch erkennbar, tief unter der Schwelle des Geschichtlichen in dumpfer Vergessenheit. Geschichte gibt es nur, insoweit ein Mensch oder eine Gesellschaft bestimmte Geschehnisse in Betracht zieht. Alles Geschehene ist schon Vergangenheit im Augenblick, wo es erfasst werden kann. Ob der ‘Abstand’ schon eingetreten ist, hängt vom Betrachterab. Ich kann meinen gestrigen Lebenstag als Geschichte empfinden und meine Kindheit als Gegenwart. Die Grenzlinie zwischen Geschichte und Gegenwart liegt im heutigen Augenblick, oder besser gesagt, es gibt keine Grenzlinie. Es gibt kein Jetzt, es gibt nur Vergangenheit und Zukunft, und das Vermeintliche Heute hat sein Wesen in seiner Geschichtlichkeit. Gibt es eine Verwandlung? - Um verwandelt zu werden, muss schon etwas da sein, was Wesen hat. Das Gegenwärtige bekommt aber sein geschichtliches Wesen, welches ein einziges ist, erst in der Formgebung durch den Betrachter. Diese Formgebung vollzieht sich nicht ununterbrochen und von selbst. Wo geschichtlich denkende und schauende Betrachter fehlen, nimmt ein Volksgeschick keine Form an. Kann die Geschichte falsche Formen annehmen? - Leider ja. - Gibt es eine erkennbare, ausschliesslich wahre Form der Geschichte? -Für uns törichte und blinde Menschen nicht. - Soll man darum in gelassenem Relativismus an der geschichtlichen Wahrheit verzweifeln? -Nein, man hat doch sein Urteil und sein Gewissen, und das genügt für das persönliche Wahrheitsbewusstsein. Was verursacht das geistige Bedürfnis, den Dingen ihre historische Form zu geben? - Welchen Dingen? - Den Dingen, welche uns angehen. - Welche Dingen gehen uns an?... Hier stockt die Antwort. Denn kein einziger einzelner Begriff, wie | |
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allgemein auch, sagt genug, um den Umfang und die Tiefe des historischen Wissensdranges auszudrücken: Nicht Volk, nicht Staat, nicht Geist, nicht Kultur, nicht Welt, nicht Menschheit. Die geschichtliche Erkenntnis ist eben ein Lebensbedürfnis, und entzieht sich als solches der genauen Motivierung. Wollte man das vielleicht allzuweit abgesteckte Thema beschränken auf die Frage: unter welchen Bedingungen kann eine geschichtliche Vergangenheit als abgeschlossen betrachtet und empfunden werden?, so würde sich abermals zeigen, dass die Zeitgrenze belanglos ist. Diese Bedingungen liegen nur in der Klarheit des Geistes und der Ruhe des Gemüts des Betrachters. Nur indem der Blick, trotz aller Intensität, mit welcher er das Naheliegende und das Entferntere in voller Schärfe zu erfassen strebt, doch über beides hinausstreift in die Weite des Unendlichen, entsteht Geschichte.
Zeigte sich so der geschichtlich erinnerungswürdige Krafteinsatz einer geschichtlichen Tat gespannt zwischen die Forderungen der ererbten Kraftsysteme, die drängende Forderung der Tageslage und die beiden anzupassenden Zukunftsvisionen seiner Helden, so haben im Laufe dieser Feststellungen die zeitlichen Verhältnisse des geschichtlichen Geschehens eine eigenartige Verschiebung erfahren. Es bleibt allerdings die Anfangsthese: die Gegenwart ist, rein zeitlich betrachtet, im Nu Vergangenheit geworden, die Chance ist genutzt oder vertan. Damit tritt der Historiker in sein Recht. Sein Griffel kann sinngemäss nur bereits Geschehenes aufzeichnen. Er hat selbst der Gegenwart gegenüber mit Vergangenem zu tun. Aber das Vergangene selbst ändert, je tiefer wir ihm ins Auge schauen, um so deutlicher seinen ihm konventionellerweise angedichteten Charakter. Was im Vergleich zum Gegenwartszeitpunkt vergangen genannt werden muss, das ist gerade in seinem wesentlichen Bestandteil reinste Gegenwart. Denn rein kalendermässig gehören ganz Deutschland, Volk, Staat, Reich, und selbst seine allerjüngsten Gestaltungen ebenso der Vergangenheit an, wie z.B. unser eigenes Ich, mit dem wir uns doch identifizieren, da wir schon seinen Namen weiterführen. Aber nicht minder ragen diese Gebilde einschliesslich unserer Selbst doch aufs deutlichste und anschaulichste in die reine Gegenwart: nämlich als lebendige Kräfte und Gestalten. Das heisst: die eigentlichen Subjekte des geschichtlichen Lebens haben teil an seiner eigentümlichen Form der Zeitlosigkeit. Es ist nicht die philosophisch viel erörterte Zeitlosigkeit der zeitlos gültigen | |
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Werte und Wahrheiten, sondern die Zeitüberwindung der geschichtlichen Selbheit und Dauer: alle lebendige Kraft eines Volkstums, alle Gestalt und Form seiner höchsten Werke ragt aus der Vorzeit in Gegenwart und Zukunft. Ein Volk ist nicht von heute und gestern. Es bleibt in seiner Dauer auch nicht unberührt von seinem Schicksal, aber dennoch steht es als selbiges über alle Abwandlungen weg in seiner den Zeitfluss besiegenden Gegenwart, wie ein Gipfel ewigen Schnees, über den die Sommer wegwandern. Alles was geschieht, so wiederholen wir, geschieht an ihm. Insofern ist alles Dauernde, trotz des Verflossenseins seiner Entstehung, lebendige Gegenwart. Wirklichkeit schlechthin, weil es wirkt. Es ruht nicht nur ewig still wie die Vergangenheit, sondern steht und halt sich im Sein, solange es lebendige Kraft ist. Aber nicht nur zur Gegenwart unterhält das Vergangene diese bemerkenswert enge Fühlung. Wohl noch eigenartiger ist seine Verbindung mit dem Zukünftigen. Nicht allein dank der viel beredeten Subjektivität der Geschichtsauffassungen. Nein, weit paradoxer, erweist sich die Linie des Vergangenen, trotz ihres Stilliegens, als nicht unabhängig von der Zukunft. Die Beispiele sind nicht leicht zu wählen. Die vergessenen sind blass und die gegenwärtigen heikel. Betrachten wir sie als reine Fiktion. Gesetzt, ein Friedensschluss setzt zwischen einige Grossmächte einen Pufferstaat, der von den Nachbarn schon einmal geschluckt, an frühere Zeiten der Freiheit stolze nationale Erinnerungen bewahrt. Ist eine solche Restauration nun von jahrhundertelanger Dauer, dann kann der Augenblick eintreten, wo dank einer gewissen Proportion der Zeiträume die Zeiten der Unselbständigkeit zu blossen Episoden werden. Gerät solch ein Pufferstaat aber verhältnismässig bald wieder zwischen die ihn umlagernden Kolosse, dann könnte einst seine Restauration zu einer schliesslich kaum noch beachteten Episode werden. Was das Objektiveste schien im Vergangenen, die Lebenskurve, gerade das erweist sich hier als eine Funktion der Zukunft. Gestalten lösen sich in umfassenderen Gestalten auf. Damit dürften die vorangestellten Fragen beantwortbar geworden sein. Ich halte ihre Reihenfolge ein. Nichts geht geschwinder als das Versinken des Gegenwärtigen und Heutigen in Vergangenheit und ‘Gestern’. Geschichte geworden in einem betonten Sinne ist nur ein ins Schicksal einer Gemeinschaft einschneidendes Geschehen. Aber freilich kann | |
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geschichtlich hier immer noch dreierlei heissen. ‘Bloss noch historisch’ ist das Oberflächengeschehen. Sodann ist Geschichte geworden, was sich entschieden hat im Sinne eines Nichtmehrinfragestehens. Das Geschehene ist dann nicht mehr Thema, sondern Basis, Boden, Sprungbrett neuer Entscheidungen. Schliesslich ist geschichtlich geworden die Grosstat, die nicht nur in der Erinnerung fortlebt, sondern noch Wirklichkeit ist, solange sie noch wirkt, mag sie immer vor Jahrhunderten geschehen sein. Hier hat die Geschichte ‘entschieden’. Nämlich über ein Schicksal. Die Taten, die nicht Schicksal werden, sind gewogen und zu leicht befunden. Sie werden rasch vergessen. Die geschichtliche Erinnerung überspringt leicht ganze Menschenalter. Hier liegt das ‘Tagesgeschehen’, von dem nur das ‘zeitgeschichtliche’ übrigbleibt, aber nicht als gestriges, sondern als noch ‘lebendiges’. Der ‘zeitliche Abstand’ der historischen Betrachtungsweise ist bloss eine äussere Erleichterung für ein Geschäft, das eigentliche Tugend des Historikers ausmacht: Geschehenes nach seinem Gewicht und seiner auf lange Sicht lebenformenden Kraft abzuschätzen. Kraft ist Dauer über alle Wandlungen der Lebenslagen hinweg. Bei den Völkern, wie bei den Bäumen. Und so viel hier wie dort sich in der Dauer erhält und lebendig fortbildet, so viel ist in die Zukunft ragende Gegenwart. |
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