Die Servatiusbruchstücke
(1992)–J.J. Goossens– Auteursrechtelijk beschermdMit einer Untersuchung und Edition der Fragmente Cgm 5249/18, 1b der Bayerischen Staatsbibliothek München
6. Die Servatiusausgabe von Theodor Frings und Gabriele Schieb und die neuen FragmenteFrings/Schieb haben bekanntlich die bis dahin entdeckten und edierten Servatiusfragmente als Grundlage für die Rekonstruktion sämtlicher überlieferten Werke Veldekes, auch des ‘Servatius’, benutzt. Sie erheben dabei ‘nicht den Anspruch, mit jedem Wörtchen und jeder Fügung Veldekes Sagweise sicher getroffen zu haben, meinen aber, daß der vorgelegte Text wenigstens den Wert einer guten altlimburgischen Handschrift aus der 2. Hälfte des 12. Jh. hat, die sich den Fragmenten, die Veldekes Original zweifellos sehr nahe stehen, zur Seite stellen kann’ (Frings/Schieb 1956, S. XV). Sie schränken zwar die Zuverlässigkeit der Bruchstücke leicht ein (sie entstammten einer Abschrift, die als solche schon Fehler enthalte; bestimmte Reime müßten dem Original abgesprochen werden; Schwankungen in der Schreibung und in der Formenlehre müßten beseitigt werden), doch gehen sie, was Schreibung, Lautund Formenlehre ihrer Ausgabe betrifft, systematisch von den Fragmenten aus. Auch in der Wortwahl schließen sie sich so weit wie möglich dieser Quelle an, doch enthält diese nur 343 größtenteils unvollständig erhaltene Verse, während H 6229 Verse umfaßt. Da der Wortschatz eines Dichters wohl aus minde- | |
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stens einigen Tausend Elementen besteht, ist diese Basis recht schmal. Weil konstatiert wird, daß in den von den Fragmenten gedeckten Stellen des Gedichtes relativ zahlreiche Unterschiede im Wortschatz vorkommen, wird geschlossen, daß es notwendig ist, auch sonst lexikalische Eingriffe durchzuführen. Dabei spielen offenbar schwer verifizierbare Auffassungen über die Dichterpersönlichkeit Veldekes eine Rolle: dieser habe, obwohl F auch holprige Verse enthält, seine Werke in einem schon relativ stark perfektionierten höfischen Stil geschrieben; andererseits sei er ein einfacher Dichter gewesen, dem keine allzugroße Gelehrsamkeit zugeschrieben werden dürfe; er habe deshalb keine oder nur wenige Fremdwörter verwendet; schließlich sei sein poetischer Wortschatz noch vom westlichen Einfluß frei gewesen. Diese Annahmen führen weiter zu tiefgehenden Eingriffen anderer Art: Bei einer Reihe von Textstellen in der jungen Handschrift sind Frings/Schieb der Meinung, diese müßten Veldeke abgesprochen werden. Sie seien in der Regel Einschübe, das heißt von späteren Schreibern hinzugedichtete Stellen, die in einer dreihundertjährigen Überlieferung Bestandteil des Textes geworden und so in die junge Handschrift H aufgenommen worden seien. Nicht weniger als 846 Verse werden so für unecht erklärt. Ein Teil davon ist - in der Schreibung von H - in einen Anhang der Ausgabe aufgenommen (534 Verse). Ein anderer Teil (204 Verse) ist, ins ‘Altlimburgische’ transponiert, in Klammern im Text abgedruckt. Das sind Verse, die von Frings/Schieb für alte Einschübe, aus Veldekes Zeit oder kurz nachher, gehalten werden. Ein dritter Teil (108 Verse) erscheint im Text in Klammern in der Schreibung von H. Hier soll es sich um jüngere Einschübe handeln. Die ‘Interpolationen’ sind sehr oft Gruppen von 2, 4, 6 oder mehr Versen mit Wiederholungen, doppelten Quellenverweisen und Wahrheitsbeteuerungen. Auch mehrere Stellen, die - beispielsweise durch den Gebrauch von Fremdwörtern - die Hand eines ‘gelehrten’ Dichters verraten oder die sich nur schwer auf Altlimburgisch umschreiben lassen, sind ausgeklammert. Wie bei den Eingriffen in den Wortschatz stützen Frings/Schieb sich hier also auf Hypothesen über die Persönlichkeit des Dichters.Ga naar voetnoot7 Ich habe an früherer Stelle (Goossens 1969) zu zeigen versucht, daß die Rekonstruktion der Leipziger Gelehrten, wenn man den Text der Handschrift, dem die Fragmente entstammen, als das wiederherzustellende Ideal betrachtet, unter den Aspekten Lautlehre und Schreibung sich der Perfektion nähert, aber unter dem Aspekt der Formenlehre weniger vollkommen ist, während man bei den Eingriffen in den Wortschatz und bei den postulierten Einschüben in der Regel von Fehlgriffen reden muß. Zu diesem Schluß konnte ich kommen, weil Frings/Schieb 1949, also sieben Jahre vor der Servatiusausgabe, ihre Rekonstruktion einiger Teile des Textes veröffentlicht hatten, und zwar ohne die Fragmente von Lehmann/Glauning (1940) zu kennen, die zufälligerweise | |
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mit einer dieser Stellen teilweise zusammenfielen. Allerdings ging es um einen Zusammenfall über nur 27, in den Fragmenten nicht einmal vollständig überlieferte Verse, so daß die Basis für meine Schlußfolgerung doch noch schmal war. Weil wir jetzt die Ausgabe selbst mit dem Text der neuen Fragmente vergleichen können, wird diese Basis jedoch stark erweitert. Bei alledem ist zu überlegen, daß die Rekonstruktion des vollständigen Servatiustextes 1956 schon eine breitere Grundlage als die der Textstellen aus dem Jahre 1949 hatte, weil sie auch die Fragmente von Lehmann/Glauning umfaßte. | |
6.1. Schreibung und LautlehreÜber Schreibung und Lautlehre der Servatiusrekonstruktion habe ich 1969 günstig geurteilt. Das positive Ergebnis wird hier bestätigt. Die Grammatik, die Frings/Schieb (1945 und 1952) auf der Grundlage der Fragmente ausgearbeitet haben, gewährleistete offenbar eine zuverlässige systematische Umsetzung des Textes von H in orthographischer und phonologischer Hinsicht. Dabei ist selbstverständlich einigen Systematisierungen Rechnung zu tragen. Dazu gehört die Verteilung der Funktionen von Buchstaben nach modernen editorischen Grundsätzen: Im Gegensatz zu den Bruchstücken haben i und u in der Ausgabe immer vokalische, j und v immer konsonantische Funktion. Weiter ist die Variation in der Orthographie beseitigt (so ist die Abwechslung von i und ie für wg. eo, ê in den Fragmenten durch systematische Verwendung von i ersetzt worden, die von g und ch für den stimmlosen velaren Frikativ durch uniformes ch, die von sc und sch durch uniformes sc, die von i und e im Genitiv godis/godes durch e) oder aber neu verteilt worden (letzteres ist bei c und k der Fall). Die beseitigte Variation von v und f im Anlaut vor Liquid zugunsten von v (froliken 2316 und frageden 2389 sind in vroliken und vrageden geändert worden) kann dabei einen Unterschied in der Aussprache nivelliert haben. Dies ist mit Sicherheit nicht der Fall bei der Beseitigung der Variation von a und e zugunsten von a beim Umlaut von wg. â (vgl. u.a. predekere 2199 und predecare 2375), wo eine uniforme Aussprache anzunehmen ist, und zwar nicht, wie Frings/Schieb meinen, eine nicht-umgelautete, sondern eine umgelautete. Der großen Masse richtiger Wiederherstellungen stehen einige Unterschiede zwischen der Ausgabe und den Fragmenten entgegen. Zum Teil sind sie belanglos (so weduwen - wedewen 2226 und 2495, al eine - alleine 2266, Tungeren - tungren 2456), zum Teil bieten die Fragmente hier neue Information. Die alte Handschrift kannte für (geminiertes) okklusives [g] eine Graphie 〈cg〉 (licgen 2198), die im Mnl., Mnd. und Mfrk. gut belegt ist (vgl. van Loey 1980, II, § 112; Lasch 1914, § 343; Franck 1909, § 108). In intgegen 2357 mit auf int- folgendem g (Frings/Schieb 1956, S. XXXIII, hatten integen angenommen) steht F auf östlichem Standpunkt. In betst 2457 hat noch keine Assimilation | |
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des ersten t stattgefunden. Das Adverb wider 2486, 2487 beweist, daß in bestimmten Wörtern altes i in offener Silbe nicht mit e in dieser Stellung zusammengefallen ist (vgl. van Loey 1980, II, § 50, Anm. 2). Schon früher festgestellte (Frings/Schieb 1945, § 1, und 1952, S. 31), aber meistens ausgeglichene Unregelmäßigkeiten in der Verteilung von kurzem i und e werden bestätigt (wes 2478, sen 2488), auch in der Tendenz, Umlauts-e vor gedecktem Nasal zu schließen (elljnde 2484, gedinken 2503). In getrouwen, das Frings/Schieb vermutlich auf Grund von F1 1029 in Vers 2479 mit Diphthong schreiben, obwohl in F 1098 und F1 1135 getruwe steht, setzen wir wegen des Reimwortes beru[we] am besten u an. Wurden schreiben sie systematisch mit u, eine Schreibung, die von 2271 bestätigt wird; doch hat 2465 〈w〉orden. Insgesamt kann die Behandlung der Lautlehre und der Schreibung also als sehr gelungen betrachtet werden. | |
6.2. FormenlehreMeine Beurteilung 1969 der Behandlung der Formenlehre durch Frings/Schieb war etwas vorsichtiger, aber auch strenger als die der Lautlehre und Schreibung. Einerseits war das Belegmaterial ziemlich dürftig, andererseits schien die Fehlerquote in der Rekonstruktion höher zu sein. Ich möchte jetzt wesentlich positiver urteilen. Die meisten Änderungen sind im pronominalen System zu finden, das mit Hilfe von F und F1 größtenteils wiederhergestellt werden konnte. Meistens werden sie durch die neuen Fragmente bestätigt. Das gilt für die fünffache Ersetzung von hi, hij durch he (2230 2×, 2378, 2390, 2472), die vierfache von maskulinem die durch der (2233, 2245, 2303, 2375), die zweifache von hem durch heme (2236, 2290) und ebenfalls für den Ersatz dieses hem in der Enklise durch 'ne in 2358. Die Form hon mit gerundetem Vokal 2250, die in den Fragmenten nicht belegt war, ist durch hen ersetzt worden, was ebenfalls bestätigt wird, ebenso wie die Ersetzung von sijnrre durch siner 2239 und die Analyse von kontrahiertem tien in tut den 2232. Neben all diesen gelungenen Änderungen finden sich einige, denen die Fragmente zu widersprechen scheinen. Dann haben wir es aber meistens mit Variation in der alten Handschrift zu tun, so daß die von Frings/Schieb eingesetzte Form wenigstens im System dieser Handschrift möglich ist. Das gilt für den maskulinen Artikel der, der in 2291 die Form die aus H ersetzt (F2 hat de), für enklitisch 'er statt hij in 2345 (F2 hat her), für he statt hij in 2346 (auch hier her in F2). Auch die doppelte Übernahme der 3. Person Pl. si (sij) in 2248 und 2460, der die Fragmente, die se haben, scheinbar widersprechen, ist als Verwendung der häufigsten Variante verteidigbar. Im Fall des Gen. Pl. der 2456 hat F2, zusammen mit H, anaphorisch-demonstratives derre, und in Vers 2359, wo H mit der in inder stede das einfache Demonstrativ enthält, das von Frings/Schieb mit selver verstärkt wird, hat F2 das volle Demonstrativ derre. In zwei Fällen, in | |
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denen die Fragmente sich sowohl von H wie von der Rekonstruktion unterscheiden (2254 Gen. Pl. H haers, Frings/Schieb here, F2 horre; 2479 enklitisch Nom. Pl. H wij, Frings/Schieb wir, F2 ver), haben wir es mit dem einzigen Beleg des betreffenden Pronomens im genannten Kasus in den ganzen Fragmenten zu tun; die rekonstruierte Form steht jener der alten Handschrift jeweils eindeutig näher als die der jungen. Gelungene Änderungen sind weiter die Streichung der jüngeren, westlich beeinflußten schwachen Endung in engele 2315, die Wiederherstellung der lat. Akk.-Endung in Servatium 2469 und die Emendation der Präsensform lates in lites 2484. Einer anderen Emendation, der von Gen. Dijnre gheysteliker kinde 2483 in den Dat. dinen geistliken kinden, widerspricht das Fragment, jedoch zu Unrecht, da diese nominale Gruppe nicht Apposition beim Gen. dijns in 2482, sondern beim Dat. (eigentlich beim Akk.) ons ist. F2 und H haben hier also einen gemeinsamen Fehler, was die enge Verwandtschaft beider Handschriften bestätigt. Demgegenüber ist die Übernahme der schwachen Adjektivendung in der armen 2228 wohl ein Fehlgriff (Adjektive werden in F, sofern das beurteilt werden kann, durchgehend stark dekliniert). Dasselbe gilt für die Umsetzung des Sg. in groter vreysen 2496 durch den Pl. in groten vreisen. Alles in allem kann die Behandlung der Formenlehre in der Ausgabe Frings/Schieb (1956) als gelungen betrachtet werden. Es ist anzunehmen, daß die Erweiterung der grammatischen Basis durch die morphologisch ziemlich stark differenzierten Fragmente F1 dazu einen wesentlichen Beitrag geliefert hat. | |
6.3. WortschatzIn meinem Aufsatz von 1969 konnte ich drei von Frings/Schieb (1949) durchgeführte Emendationen nachweisen, die von den Fragmenten F1 bestätigt wurden. Gegenüber diesem Pluspunkt steht jedoch, daß sie in fünf Fällen die Version von H übernommen hatten, während die Fragmente eine andere Form enthalten, daß sie in fünf weiteren Fällen eine Änderung durchgeführt hatten, der die Fragmente widersprechen, schließlich, daß sie in zwei Fällen eine Änderung durchgeführt hatten, während die Fragmente eine dritte Form enthalten. Ich zog daraus die Schlüsse, daß die Unterschiede im Wortschatz zwischen der Ausgabe von Frings/Schieb und der alten Handschrift wahrscheinlich noch größer sind als die zwischen der alten und der jungen Handschrift und daß die zahlreichen Eingriffe in den Wortschatz von H global nicht zu verantworten sind. Der Grund dafür liegt im Umfang des Wortschatzes einer Sprache und in der Freiheit, mit der ein Dichter Elemente daraus verwenden kann. | |
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Die vier genannten Möglichkeiten im Verhältnis des Wortschatzes der Fragmente, der jungen Handschrift und der Edition Frings/Schieb (1956) finden sich auch in den Teilen der Dichtung, die von den neuen Fragmenten gedeckt werden. Es gibt erstens 20 Fälle, in denen Frings/Schieb die Fassung H übernahmen, während die Fragmente eine andere Lesart haben: 2198 H Ghinck ligghen, F/S ginc liggen: F2 he ginc licgen; 2223 H sonderlinghen, F/S sunderlingen: F2 insu〈n〉[derlingen]; 2234 H Doe daer bi, F/S du da bi: F2 da bi; 2235 H in sijnen ghebede, F/S in sinen gebede: F2 ane sinen gebede; 2238 H Nochtan, F/S noch dan: F2 Doch; 2242 H openbaren, F/S openbaren: F2 erbar[en]; 2248 H nyet en, F/S nine: F2 iw〈e〉[t]; 2254 H roeken; F/S ruken: F2 geruken; 2255 H syen, F/S sin: F2 gesien; 2270 H ghesellen, F/S gesellen: F2 geuerden; 2317 H ghestoruen, F/S gestorven: F2 geendet; 2345 H versweych hij nyet, F/S versweich'er nit: F2 [versweich] her heme nit; 2346 H Allen den volke, F/S al den volke: F2 den luden allen; 2346 H riet, F/S rit: F2 gerit; 2375 H die heilighe predicare, F/S der heilege predekare: F2 der predecare; 2389 H Die, F/S di: F2 Si; 2389 H nuwe meer, F/S nouwe mare: F2 mere; 2391 H den troost, F/S den trost: F2 〈al den〉 trost; 2467 H baden, F/S baden: F2 geraden; 2480 H groten rouwe, F/S groten rouwe: F2 beru[we]. In diesen Fällen ist ihre Ausgabe also von der alten Handschrift gleich weit entfernt wie die junge Handschrift. Das ist ebenso der Fall an den drei Stellen, an denen sie eine Änderung durchgeführt haben, während die Fragmente eine dritte Form enthalten: 2233 H Daer: F/S dat: F2 Du; 2376 H onmogelike te seggen: F/S nit te seggene: F2 mensclike; 2487 H hen: F/S tut hen: F2 te hen. Es gibt aber auch zehn Stellen, an denen die Fragmente einer Änderung der Fassung H durch Frings/Schieb widersprechen, an denen also das Ergebnis textkritisch gesprochen ungünstiger ist als die Abschrift in einer diplomatischen Ausgabe: 2232 H Alsoe, F2 alse: F/S so; 2242 H Eert hon god, F2 [ere het] hen got: F/S ere't got; 2247 H te vraghen, F2 te uragen : F/S vragen; 2264 H calomme, F2 columme : F/S sule; 2329 H sinte Seruaes, F2 sente Seruas: F/S der gude sente Servas; 2347 H mit, F2 bit : F/S -; 2457 H alre best, F2 alre betst: F/S beste; 2459 H Der was dae comen, F2 Der was da comen: F/S dare komen; 2461 H die gods hulde, F2 de godis hulde: F/S godes hulde; 2487 H noch, F2 nog: F/S -. Würde die Zahl überboten durch die der Fälle, in denen eine Emendation von den Fragmenten bestätigt wird, so könnte man von einem Erfolg der Textkritik in der Ausgabe sprechen. Das Ergebnis dieser Probe ist nicht eindeutig. Wir können vier unverkennbar glückliche Eingriffe verzeichnen (2291 H Die reyne goede holde: F/S der reine godes holde, F2 De reine godis holde; 2389 H vraechden om: F/S vrageden, F2 frageden; 2459 H groet : F/S michel, F2 [mi]gel; 2470 H seer te weynen : F/S sere weinen, F2 sere weinen), aber das ist nicht einmal die Hälfte der Fehlgriffe. Zugunsten von Frings/Schieb ist jedoch hinzuzufügen, daß sie drei Änderungen in der Wortbildung durchgeführt haben, die die Fragmente bestätigen (2458 H werdichste: F/S werdest, F2 werdest; 2458 H vutuercoren: | |
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F/S ut erkoren, F2 ut erkoren; 2472 H ontfinghe: F/S entfinge, F2 ent[finge]). Auch der oben als Abweichung gewertete Eingriff in 2487 (Einfügung von tut; das Fragment hat te) ist eigentlich halbwegs, als Emendation sogar völlig gelungen. Fügen wir diese Fälle den vier zuerst genannten hinzu, so halten die gelungenen und die nicht gelungenen Eingriffe sich schon fast die Waage. Die Zahl der gelungenen Eingriffe übertrifft die der Fehlgriffe sogar wesentlich, wenn wir den erfolgreichen Änderungen die Konjunktionen und die Präpositionen hinzufügen, in denen unregelmäßige lautliche Entwicklungen stattgefunden haben, so daß ihre beiden historischen Varianten synchron jeweils als zwei verschiedene Wörter betrachtet werden können: bit für mit (fünfmal: 2241, 2347, 2358, 2500, 2506; vgl. dazu Schützeichel 1955 und Schieb 1965b, S. 585f.), du für doen (zweimal: 2485, 2507) und sint für seder (2329). Hier haben Frings/Schieb jedesmal die richtige Entscheidung getroffen. Ich muß also mein strenges früheres Urteil abschwächen und hinzufügen, daß es wahrscheinlich möglich ist, in einer kritischen Servatiusausgabe im Bereich des Wortschatzes ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen, wenn man einerseits in der Wortwahl von H nicht mehr ändert als unbedingt notwendig ist, m.a.W. wenn man sich auf die Emendation offensichtlicher Fehler beschränkt, und andererseits die Regeln der Verbpräfigierung und der Ableitung, die sich aus den Fragmenten ergeben, konsequent anwendet, schließlich, wenn man auch einige Funktionswörter konsequent nach dem Muster der Fragmente umgestaltet. Ich vermute, daß dieses Urteil günstiger ist als das damalige, weil die Kenntnisnahme der Fragmente von Lehmann/Glauning bei Frings/Schieb wie eine kleine Schocktherapie gewirkt haben muß, so daß sie in der letzten Vorbereitungsphase ihrer Servatiusedition wesentlich vorsichtiger geworden sind: Bei ihrer ersten Rekonstruktion standen zehn Änderungen fünf Fälle von Nichtänderung gegenüber, denen die Fragmente widersprechen; in der endgültigen Fassung finden wir bei den jetzt untersuchten Textstellen fast das umgekehrte Verhältnis: Es gibt 17 Änderungen,Ga naar voetnoot8 aber 20 Fälle von Nichtänderung, denen die Fragmente widersprechen. | |
6.4. SätzeNeben den echten und vermeintlichen Unterschieden im Wortschatz gibt es vier Sätze mit auffälligen Differenzen zwischen H und der Rekonstruktion oder zwischen H und den Fragmenten. In den beiden Fällen, in denen Frings/Schieb es gewagt haben, in einem Satz eine zusammenhängende Textänderung durchzuführen, bekommen sie von den Fragmenten Unrecht. Der erste betrifft den Vers 2360 Gods dienste hi daer dede, geändert in godes dinstes men heme bat, wohl weil Frings/Schieb in 2359 den Dativ stede für ein unzulässiges | |
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Reimwort hielten, das in stat geändert werden mußte. F2 hat aber stede, so daß die Änderung nicht haltbar ist. Zweitens werden die Verse 2465 und 2466 umgedreht und neugestaltet: Dat sij hem woerden onghehoersam / Des waren sij hon allen gram wird zu dat si heme wurden gram / ende gode ungehorsam. Der Grund für die Änderung ist hier wohl, daß auf diese Weise der Zusammenhang schlüssiger wird. Die Reste dieser beiden Verse bestätigen jedoch die Fassung der jungen Handschrift. Daneben gibt es zwei Fälle, in denen Frings/Schieb die Lesart von H beibehalten, während die Fragmente eine abweichende Konstruktion enthalten. Der erste betrifft das Satzgefüge 2279-2286, dessen erste Hälfte nach den erhaltenen Resten einen ganz anderen Wortlaut hatte als in H und in der Rekonstruktion. Der zweite betrifft die Aufzählung der Bevölkerungsgruppen in Tongeren, die über den Weggang von Servatius getrauert haben (2489ff.). In dieser Aufzählung enthalten die Verse 2491 in H und in der Rekonstruktion - wie die Reste zeigen - einen Text, der stark von jenem der alten Handschrift abgewichen sein muß. Wir können schließen, daß die Unterdrückung der Neigung, bei verdächtig anmutenden Passagen inhaltlich-syntaktisch einzugreifen, offensichtlich zu besseren Ergebnissen führt, als dieser Neigung nachzugeben. Doch gewährleistet eine Umsetzung ohne inhaltlich-syntaktische Eingriffe noch nicht die Richtigkeit der Rekonstruktion. | |
6.5. EinschübeFrings/Schieb haben in ihrer Edition mehr als ein Zehntel des Textes in der Fassung H für unecht, d.h. für Einschübe von Kopisten gehalten. Der größere Teil dieser Verse ist in der Schreibung von H in einem Anhang aufgeführt, ein kleinerer Teil ist, ins ‘Altlimburgische’ transponiert, in Klammern im Text abgedruckt, der kleinste Teil erscheint in der Schreibung von H ebenfalls eingeklammert im Text. Die unterschiedliche Behandlung dieser ‘Interpolationen’ erklärt sich aus ihrem angenommenen Alter und der postulierten Nähe zum Original. Frings/Schieb hatten vor, ihr Verfahren in einer geplanten Akademie-Ausgabe des ‘Servatius’ ausführlich zu begründen (S. XLII); diese ist jedoch nie erschienen. Die für Einschübe gehaltenen Stellen sind sehr oft Gruppen von 2, 4, 6 oder mehr Versen mit Wiederholungen, doppelten Quellenverweisen und Wahrheitsbeteuerungen. Auch Stellen mit einem auffälligen Vorkommen von Fremdwörtern oder Stellen, die sich nur schwer auf Altlimburgisch umschreiben lassen, sind ausgeklammert. Nachdem van Mierlo (1957, S. 220) Kritik an den Eliminierungen im Epilog II geübt hatte, indem er die Verse der Seiten, von denen Fragmente erhalten sind, auszählte, habe ich (Goossens 1969, S. 42) den Einwand kodikologisch ausgearbeitet und gezeigt, daß die eliminierten Verse 6183-6188 mit ihren Fremdwörtern, ihrer Wiederholung und doppelten Wahrheitsbeteuerung | |
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zweifellos der alten Handschrift angehört haben. Marguč/Peters (1970) haben mit ihrer Rekonstruktion, deren Schlüsse im Hinblick auf die Interpolationsfrage durch die in 3.2. dieses Aufsatzes vorgenommene Korrektur nicht gefährdet werden - die Annahme von Quaternionen führt zu keinen anderen Ergebnissen als die von Binionen -, ‘gezeigt, daß an den Stellen, wo der Text der Handschrift H auf engem Raum von Fragmenten begleitet wird, die durch Frings/Schieb vorgenommenen Ausweisungen in keinem einzigen Fall berechtigt sind. Wo die Fragmente in einem größeren Abstand voneinander stehen und Frings/Schieb mit Ausweisungen besonders schnell zur Hand waren [...], ergab sich, daß die Ausweisungen zum überwiegenden Teil unberechtigt sein müssen’ (S. 15). Zum folgenden sei auf den Parallelabdruck der Fragmente und der entsprechenden Stellen aus H hingewiesen. Was lehren uns die neuesten Bruchstücke? Aus dem Textteil vv. 2169-2509, über den sie sich streuen, haben Frings/Schieb sieben Versgruppen entfernt; diese sind alle als Interpolationen des ersten Typs im Anhang abgedruckt. Erstens halten sie die Verse 2169-2172 für einen Einschub, wohl weil 2172 Tot hij hon bat weder te keren und 2174 Tot dat hij hon weder te keren bat eine Wiederholung enthalten. Aber gerade diese eliminierte Stelle wird von Fragment 1 gedeckt. Weiter werden die Verse 2257-2262, die ein Gegenstück in Fragment 4 haben, als Einschub entfernt. Hier hat wohl die Beobachtung zweier Wiederholungen als Argument fungiert: 2258 Sij laghen neder in haren gebede wird 2263 als Nebensatz wiederholt: Daer sij in haren ghebede laghen; 2261f. lauten Dat sij sich op richden / Ende vander eerden lichden, was deutlich tautologisch ist. Nach der Liste der zu beanstandenden Reime in Zusätzen S. 302-303 hat auch das Reimwort in 2259 Haer sonden sij belyeden, Prät. von belien ‘bekennen’, einem niederländisch-niederdeutschen Wort, gestört; konsequenterweise ersetzen sie im Versinnern von 1875 Des belye ich openbaer die Form belye durch segge. In der beanstandeten Stelle von H liegt tatsächlich eine Erweiterung vor, jedoch nicht um sechs, sondern nur um zwei Verse. Sie ist eine sprachliche Modernisierung und enthält zugleich die Wiederholung. Die Modernisierung ist der Ersatz der Präteritumform gelig〈den〉 ‘bekannten’ durch belyeden, das aber nicht mehr auf oprigden reimt, so daß der Schreiber sich gezwungen sah, zwei Verse hinzuzudichten: Er fügte den auf belyeden reimenden Flickvers 2260 Te dien seluen tijden ein und zergliederte vander 〈erden da〉 si lagen in 2262-2263 Ende vander eerden lichden / Daer sij in haren ghebede laghen. Es ist also eine Schwierigkeit erkannt, aber nicht dem Modell entsprechend gelöst worden. Drittens werden die Verse 2273-2278 eliminiert. Die Stelle belegt die Anwendung zweier Thesen der Autoren über die Reimwörter bei Veldeke. Erstens nehmen sie (S. 297 und in anderen Studien) an, Veldeke habe keinen Umlaut von wg. â gekannt. So müßten 2271-2274 einen Vierreim geware/dare/mare/ware statt geware/dare: mere/were enthalten. Dieser Fall ist allerdings | |
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nicht aufgeführt in der Liste der zu beanstandenden Reime in Zusätzen, wohl aber der ā/â-Reim gevaren/waren 2275f., eine Kombination, die Frings/Schieb ‘Veldeke nicht zumuten möchten’ (S. XL). Wie das Fragment 4 ausweist, haben die beanstandeten Reime alle zum alten Text gehört. Die vierte eliminierte Versgruppe ist 2318-2327 mit dem etwas breit gestalteten Rückblick auf eine Vision des hl. Severin anläßlich des Todes von Sankt Martin (als Wiederholung interpretiert?). Vers 2320 enthält das Fremdwort gemme im Reim, das allerdings - ebenfalls reimend auf stemmen - in v. 4534 angetroffen wird und dort nicht aus dem kritischen Text entfernt worden ist. Vom angeblichen Einschub ist der letzte Vers teilweise in Fragment 8 erhalten. Aufgrund der in 3.1 mitgeteilten Berechnungen muß die Handschrift auch die Verse 2318-2326 enthalten haben, zumal auf der gegenüberstehenden rechten Hälfte des inneren Doppelblatts zwischen 2347 und 2357 eine Lücke mit genau demselben Umfang vorkommt wie auf der linken Hälfte zwischen 2317 und 2327. Zwischen 2347 und 2357 wird von Frings/Schieb kein einziger Vers aus dem Text entfernt, so daß ihre Konstruktion auf keinen Fall stimmen kann. Auch der fünfte angebliche Einschub, die Verse 2367-2370, in dem das Reimpaar 2367-2368 anghesichte/verlicht nach dem Verzeichnis beanstandet wird, muß aufgrund der Berechnungen in der Handschrift gestanden haben. Für die Auslassung der Verse 2403-2404, deren Reimpaar ebenfalls abgelehnt wird, ist auf der Seite mit den unbeschrifteten Streifen IIb und IVb genügend Spielraum; allerdings ist damit selbstverständlich nicht bewiesen, daß dieses Verspaar einen Einschub darstellt. Die größte eliminierte Textstelle bilden die Verse 2411-2444, von Frings/Schieb (1956, S. XLI) als eine ‘zusätzliche Bußpredigt des hl. Servatius’ charakterisiert, die ähnlich wie andere größere Einschübe nichts Neues und Eigenes enthalte, sondern nur ausweite und wiederhole. Außerdem werden in diesem Passus sechs Reimpaare beanstandet: 2415f. verduldicheiden/arbeiden, 2425f. gevaren/sonder sparen, 2427f. oetmoedichede/bede, 2429f. liecht Subst/biecht, 2433f. mesdaet/haet 2. Pl. Präs., 2443f. schier/hier. Die Stelle muß aber auf dem Blatt mit den unbeschrifteten Streifen IIb, IVb, IIa, IVa gestanden haben, von dem mehr als eine Seite mit ihr zu füllen ist. Von den sieben Stellen in der Textstrecke 2169-2509, die von Frings/Schieb eliminiert worden sind, haben also mindestens sechs - und zwar die sechs umfangreichsten - mit Sicherheit in der alten Handschrift gestanden. Nur in einem Fall hat sich ein Einwand gegen ein Reimwort und eine Wiederholung bestätigt, in Stelle 2257-2262; die Korrektur weicht aber viel stärker vom alten Text ab als die junge Handschrift H. Das gelegentliche Erkennen einer Textverderbnis mit einem gewissen Komplikationsgrad befähigt einen Philologen also offenbar noch nicht, die Stelle in Übereinstimmung mit dem angenommenen Modell zu emendieren. In meinem Aufsatz von 1969 (S. 40 und 42) habe ich betont, daß die Begründungen für die Eliminierung der an- | |
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geblichen Interpolationen unbewiesene Hypothesen über die Persönlichkeit des Dichters Veldeke sind. Diese Feststellung ist hier in vollem Umfang aufrechtzuerhalten. Andererseits ist durch die starke Übereinstimmung der Fragmente mit dem Text von H erneut die große Zuverlässigkeit der jungen Servatiushandschrift bewiesen.
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