Die Servatiusbruchstücke
(1992)–J.J. Goossens– Auteursrechtelijk beschermdMit einer Untersuchung und Edition der Fragmente Cgm 5249/18, 1b der Bayerischen Staatsbibliothek München
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3. KodikologischesDie Identifizierung der neuen Fragmente erfolgte mit Hilfe der Edition von van Es (1950). Die Versnumerierung in Frings/Schieb (1956) stimmt im ersten Teil der Dichtung, der sie angehören, mit van Es überein, doch war hier ein Arbeiten mit einer diplomatischen Edition der jungen Handschrift notwendig, wie sich noch zeigen wird. Im folgenden soll auch auf die Plazierung der schon früher edierten Bruchstücke eingegangen werden. Diese stammen zum Teil aus der zweiten Hälfte der Dichtung, in der beide Numerierungen voneinander abweichen. Die Besprechung der Kodikologie durch Marguč/Peters (1970) und die Neuedition der Bruchstücke durch Gysseling (1980) gehen von der Zählung durch Frings/Schieb aus. Gegen dieses Verfahren ist neuerdings der Einwand erhoben worden, daß man so beim Vergleich der Fragmente mit der Handschrift von ca. 1470 einen Umweg machen müsse (Coun 1988, S. 70). Um jedoch den Anschluß der Ausführungen unter 3.2 an die Untersuchung von Marguč/Peters nicht zu erschweren, schließe ich mich der Zählung durch Frings/Schieb an. Die folgende Konkordanz ermöglicht eine Umrechnung in die Verszählungen aller bisherigen Ausgaben.
Zu den folgenden Ausführungen vergleiche man neben den Faksimiles der Bruchstücke auch die Tabelle, zunächst daraus den fünften Block. | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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[links] 7 = 2315-2317
Vb [rechts] 9 = 2345-2347 [links] 8 = 2327-2331
VIb [rechts] 10 = 2357-2359 [links] 14 = 2483-2490
Ia [rechts] 1 = 2169-2172 IIIb
Teil von 4 = 2254-2281 VIIa
13a = 2464-2483 IIb
Teil von 4 = 2252-2266 IVa
Teil von 3 = 2234-2250 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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[links] 11 = 2375-2378
Va [rechts] 5 = 2289-2291 [links] 12 = 2387-2391
VIa [rechts] 6 = 2301-2303 [links] 2 = 2196-2201
Ib [rechts] 13 = 2456-2463 IIIa
Teil von 3 = 2226-2250 VIIb
14a = 2490a-2509 IIa
Teil von 3 = 2223-2234 IVb
Teil von 4 = 2266-2281 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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[links] 14 = 2483-2490
Ia [rechts] 1 = 2169-2172 VIIb
14a = 2490a-2509 [links] 2 = 2196-2201
Ib [rechts] 13 = 2456-2463 VIIa
13a = 2464-2483 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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IIa
2223-2234 IVa
2234-2250 IIIa
2226-2250 IIIb
2254-2281 IIb
2252-2266 IVb
2266-2281 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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[links] 11 = 2375-2378
Va [rechts] 5 = 2289-2291 [links] 12 = 2387-2391
VIa [rechts] 6 = 2301-2303 [links] 7 = 2315-2317
Vb [rechts] 9 = 2345-2347 [links] 8 = 2327-2331
VIb [rechts] 10 = 2357-2359 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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3.1. Die neuen BruchstückeDer Pergamentstreifen I enthält auf der Vorderseite (Ia) rechts Reste der Verse 2169-2172. Dieses Fragment 1 bildete die obere linke Ecke der Rectoseite der ersten Hälfte eines Doppelblattes; das ihm gegenüberstehende Fragment 14 bildete demzufolge den oberen Teil der Versoseite der zweiten Hälfte dieses Doppelblattes. Es enthält fast vollständig die Verse 2483 (letztes Wort) bis 2490. Der linke Teil der Rückseite dieses Streifens (Ib) bildete die obere rechte Ecke der Versoseite der ersten Hälfte dieses Doppelblattes; als Fragment 2 enthält er Reste der Verse 2196-2201. Der rechte Teil war die Vorderseite der zweiten Hälfte; als Fragment 13 enthält er die fast vollständigen Verse 2456 (ohne den Anfang) bis 2463. Streifen IIa enthält Reste der Verse 2223-2234, Streifen IIIa der Verse 2226-2250, Streifen IVa der Verse 2234-2250. Die sich gutteils überlappenden Zahlen machen deutlich, daß die Versteile der einzelnen Streifen sich gegenseitig ergänzen müssen. Tatsächlich passen sie zusammen wie die Teile eines Puzzlespiels. Bei der Autopsie zeigte sich übrigens, daß die Streifen II und IV auch nach dem Zerschneiden des Blattes, dem sie entstammen, ein Ganzes gebildet haben. Sie sind nämlich nicht durch einen Schnitt, sondern durch Zerbrechen des ausgetrockneten und harten Pergaments voneinander getrennt worden, also wohl beim oder nach dem Herauslösen des Streifens aus dem Buchband. Die Streifen IIa, IIIa und IVa bilden in ihrer Gesamtheit Fragment 3. Dieses enthält etwa zwei senkrechte Drittel einer Seite. Links ist das Blatt in seiner vollen Länge erhalten; die 22 Zeilen bestätigen eine Feststellung der früheren Erforschung der Servatiusbruchstücke über die Einrichtung des Blattspiegels. Im Mittelstück (Streifen IIIa) fehlen die beiden oberen Zeilen. Das rechte Drittel der Seite ist verloren gegangen. Die Streifen IIb (Verse 2252-2266), IIIb (2254-2281) und IVb (2266-2281) bilden als Fragment 4 eine spiegelbildliche Verteilung des Puzzlespiels von Fragment 3 und sind die Rückseite der ersten Hälfte eines Doppelblattes. Die Streifen IIb und IVb haben einen breiten unbeschrifteten rechten Rand, der in seiner ganzen Länge deutliche Spuren eines Falzknicks aufweist; was sich rechts davon befindet, ist offenbar der Rest der Rectoseite der zweiten Hälfte des Doppelblattes. Spiegelbildlich findet sich dasselbe am linken Rand der Streifen IIa und IVa. Das Doppelblatt, zu dem die Fragmente 3 und 4 gehörten, wurde von dem Blatt mit den Fragmenten 1, 2, 13 und 14 direkt umschlossen. Margǔc/Peters (1970) haben in ihrer Untersuchung der anderen Fragmente einen Durchschnittswert von etwa 27,5 bis 28 Versen pro Seite (bzw. 22 Zeilen) errechnet (die Einzelwerte schwanken zwischen 25,3 und 31,3). Legt man diesen Wert zugrunde, so stimmt die Rechnung: Die linke Hälfte des ersten Doppelblattes verso beginnt mit Vers 2196 und die des zweiten Doppelblattes recto mit Vers 2223; die Differenz beträgt 27 Verse. | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Der schmale waagrechte Streifen Va enthält rechts als Fragment 5 die zweite Hälfte von Vers 2289 und die vollständigen Verse 2290 und 2291. Weil die erste Hälfte des Doppelblattes mit den Fragmenten 3 und 4 bei Vers 2281 endet, muß Fragment 5 aus der Rectoseite eines Blattes stammen, das direkt von dem Blatt mit den Fragmenten 3 und 4 umschlossen wurde. Auch Fragment 6, ebenfalls auf einem schmalen waagrechten Streifen (VIa, rechts), mit Vers 2302 und Resten der Verse 2301 und 2303 muß aus dieser Seite stammen. Da diese Seite in etwa mit Vers 2309 (= 2281 + 27,5) endete, ist Fragment 5 in der oberen, Fragment 6 in der unteren Hälfte dieser Seite zu lokalisieren. Streifen Vb enthält als Rückseite von Va auf der linken Hälfte Fragment 7 mit den Versen 2315-2317 (fast vollständig), Streifen VIb als Rückseite von VIa links Fragment 8 mit Vers 2329 und Resten der Verse 2327, 2328, 2330 und 2331. Beide Streifen haben jeweils ein aus der zweiten Hälfte ihres Doppelblattes stammendes rechtes Gegenstück mit dem gleichen Textumfang. Fragment 9 auf Streifen Vb rechts enthält ganz oder teilweise die Verse 2345-2347. Die Differenz zu Fragment 7 beträgt 30 Verse. Wir haben es also mit einander gegenüberstehenden Resten auf den Innenseiten des inneren Doppelblattes einer Lage zu tun. Das gleiche gilt für Streifen VIb mit den Fragmenten 8 und 10; letzteres (rechts) enthält die Verse 2357-2359 und Spuren von Vers 2360. Der Rückseite der zweiten Hälfte dieses Doppelblattes entstammen dann die Fragmente 11 mit den Versen 2375-2378 (Streifen Va links) und 12 mit Vers 2389 und Resten der Verse 2387, 2388, 2390 und 2391 (oder 2392?) (Streifen VIa links). Wie bereits festgestellt wurde, ist von der rechten Hälfte des Doppelblatts, das das innere Doppelblatt der Lage umschloß, nur ein unbeschriebener Rand neben dem Falz erhalten. Wir können, die beiden Anhaltspunkte Vers 2281 am Ende der linken Hälfte verso dieses zweiten Doppelblatts und Vers 2456 am Anfang der zweiten Hälfte des äußeren Doppelblatts recto verbindend, unsere Rekonstruktion einer Lage, die mindestens drei Doppelblätter enthielt, noch einmal überprüfen. Zwischen beiden genannten Versen müssen sich in dieser Annahme drei Blätter bzw. sechs Seiten befunden haben. Wir kommen dann auf einen Durchschnittswert von 29,17 Versen pro Seite, was die Annahme bestätigt. Zur zweiten Hälfte des äußeren Doppelblatts gehörte außer I noch ein weiterer Pergamentstreifen: VII. Er schließt sich nicht ganz an I an, doch ist zwischen beiden Streifen so wenig Pergament weggeschnitten, daß zwischen dem letzten Wort von Ib (Vers 2463) und dem ersten von VIIa (Vers 2464) nicht einmal ein vollständiger Vers fehlt. Man kann Ib rechts (Fragment 13) und VIIa (Fragment 13a) also als ein einziges Fragment betrachten. Letzteres bildet den unteren rechten Teil der Vorderseite des Blattes, mit Resten der Verse 2464 bis 2483. Der Anschluß von Fragment 14a (VIIb) an 14 (Ia links) auf der Rückseite des Blattes bereitet Schwierigkeiten, da der alte Kodex gerade an dieser | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Stelle eine andere Lesart gehabt zu haben scheint als die junge Handschrift. Der letzte Vers von Fragment 14 ist vollständig erhalten: di sere nadig weinen, was vollkommen mit H 2490 übereinstimmt: Die seer nae dich weynen. Der Anfang von Fragment 14a lautet uele g(u)[...], was sich in H nicht wiederfindet. Eine Zeile tiefer steht ster vrowen, der Rest des Versendes von H 2491, Die heilighe cloester vrouwen. Vers 2492 fehlt gänzlich, aber die dritte Zeile enthält das Ende von Vers 2493 und den Anfang von Vers 2494; der Rest des Fragments umfaßt erwartungsgemäß Teile der weiteren Verse bis 2509. Auch wenn die Verbindung der Fragmente 14 und 14a nicht gut gelingt, kann man sie - auch aufgrund der Textverteilung auf der Rectoseite des Blattes - mit etwas gutem Willen als ein einziges Fragment betrachten. | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
3.2. Der KodexUnsere Bruchstücke gehörten also alle einer Lage an, die zumindest den Umfang eines Ternio hatte. Dies ist nach der kodikologischen Untersuchung von Marguč/Peters (1970) ein überraschendes Ergebnis. Zwar hatte Scharpé (1899) angenommen, die von ihm edierten Leipziger Fragmente entstammten den drei inneren (Doppel-)Blättern einer Lage,Ga naar voetnoot4 doch war nachher Thoma (1935) zu der Ansicht gekommen, es sei überzeugender, Binionen anzunehmen. Bei der Annahme von Quaternionen ‘[...] hätte dann der Servatius nicht den Anfang gebildet, hätte auch nicht mit einer eigenen Lage begonnen; denn die 440 Verse in der Leidener Hs., die vor Fragm. II liegen, hätten niemals eine ganze Quatern und das erste Blatt der nächsten Lage füllen können [...]. Dabei ist vorausgesetzt, daß wir überhaupt mit gleich starken Lagen rechnen dürfen; wollen wir zugleich annehmen, daß der Servatius die Handschrift eröffnete oder in einer Einzelhandschrift überliefert wurde, so geht die Rechnung nur auf, wenn wir Binionen zugrundelegen’ (Thoma 1935, S. 195). Marguč/Peters (1970) übernehmen Thomas Auffassung als Ausgangshypothese für ihren Rekonstruktionsversuch des Kodex und stellen fest: ‘Bei der Anordnung der Fragmente fand sich nichts, was gegen die Annahme Thomas spräche, die Handschrift bestehe aus Binionen’ (S. 12). Sie arbeiten ein Schema aus, in dem es ihnen gelingt, alle fragmentarisch überlieferten Verse von 415 bis 1184 unter Zugrundelegung des Durchschnittswerts von etwa 27,5 bis 28 Versen pro Seite und ausgehend von feststellbaren Lagenmitten bei Vers 550 und (annähernd) 1013 auf Binionen unterzubringen, denen in den beiden oberen Blöcken unseres Schemas Gruppierungen von jeweils acht Rechtecken (Seiten) entsprechen. (Die Grenzen zwischen den von ihnen postulierten Binionen sind in unserem | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Schema mit dem Zeichen v markiert): Die Handschrift habe mit einem verlorenen Binio angefangen, von dem zweiten Binio sei nur ein kleines Stück des letzten Blattes mit Resten der Verse 415-416 und 440-441 (unser Schema enthält im ersten Block links aus ihr nur die rechte Hälfte) erhalten, aus dem dritten stammten zwei Pergamentstreifen mit den sieben Fragmenten zwischen den Versen 452 und 657, die sich über alle acht Seiten verteilten, der vierte Binio sei verloren, aus dem fünften hätten sich drei Pergamentstreifen gerettet, die Verse aus allen acht Seiten enthielten, mit insgesamt 11 mit Text gefüllten Fragmenten zwischen den Versen 905 und 1111. Der Streifen mit den Versen 1125-1184 schließlich gehöre dem ersten Blatt des sechsten Binio an. Aufgrund des neuen Befundes muß diese These revidiert werden. Die Frage ist, ob wir bei der Annahme eines gleichmäßigen Lagenaufbaus von Ternionen oder von noch umfangreicheren Lagen ausgehen müssen. Eine Gruppierung nach Ternionen ergibt keine plausible Verteilung, wohl eine nach Quaternionen, wie das Schema zeigt. In dieser Annahme wurden die drei ineinandergeschobenen Doppelblätter, deren Beginn bei Vers 2169 liegt, von einem vierten umschlossen, das das äußere Doppelblatt einer Lage bildete und in etwa mit Vers 2114 anfing. Das Blatt mit den Versen 1125-1184 bildet dann nicht den Anfang einer Lage, sondern den Rest der zweiten Hälfte des Doppelblatts, das den von Marguč/Peters postulierten fünften Binio umschlossen hat. Zur Komplettierung der Lage benötigen wir noch das äußere Doppelblatt, das in der Nähe von Vers 1239 geendet haben muß. Zwischen den Versen 1239 und 2114 ist Platz für zwei Quaternionen mit einem Durchschnitt von 27,34 Versen pro Seite. Der von Marguč/Peters postulierte vierte Binio läßt sich genauso gut verteilen über zwei verlorene Blätter am Anfang des Quaternio, dessen Mitte bei Vers 1013 liegt, und zwei verlorene am Ende eines Quaternio, dessen Mitte bei Vers 550 liegt. Der kleine Streifen mit den Resten der Verse 415-416 und 440-441 gehört dann nicht dem letzten Blatt des zweiten Binio, sondern dem zweiten Blatt dieses Quaternio an, der dann in der Nähe von Vers 333 angefangen haben muß. Diese Konstruktion hat, von ihrer Kompatibilität mit den neubekannten Tatsachen abgesehen, den Vorteil, daß die Fragmente zwischen den Versen 415 und 1184, die in der Binionen-Hypothese über vier verschiedene Lagen verteilt werden müssen, sich über nur zwei Lagen erstrecken, und zwar so, daß Verkettungen von Fragmenten, die bei der Anfertigung eines Buchbandes verwendet worden sind, nicht durch Lagengrenzen unterbrochen werden. Das gilt sowohl für die Leipziger (jetzt Berliner) Fragmente (415-416 und 440-441 gehören mit den sich anschließenden Fragmenten zusammen) als auch für die aus dem ersten Teil der Dichtung stammenden verbrannten Münchener Fragmente (1125-1184 gehören mit dem direkt Vorangehenden zusammen). Das Zerschneiden der Handschrift und die Benutzung der Pergamentstreifen wurde offenbar lagenweise durchgeführt. | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Unsere Konstruktion hat auch eine etwas weniger elegante Konsequenz: Wenn der ‘Servatius’ mit einer eigenen Lage begann, die am Anfang keine leeren Blätter oder Verzierungen enthalten hat, so kann diese erste Lage nur ein Ternio gewesen sein. Ein Argument gegen die Rekonstruktion ist dies aber nicht. Marguč/Peters (1970) haben auch versucht, den Schlußteil des Kodex zu rekonstruieren. Aus diesem Teil stammen das alte Münchener Fragment mit den Versen 5316-5341 (recto) und 5341-5369 (verso) sowie die Fragmente von Lehmann/Glauning mit den Versen 5770-5776 (recto) und 5795-5801 (verso), 5880-5885 (recto) und 5905-5912 (verso), schließlich 6107-6116 (recto), 6136-6144 (verso), 6163-6171 (recto) und 6189-6197 (verso). Ihr Ausgangspunkt ist hier, daß Vers 6163 sich in der Mitte einer Lage befinde. Von hier aus rekonstruieren sie einen Binio, dessen letztes Blatt, wenn es die Handschrift abschloß, nur noch etwa acht Verse der Dichtung enthalten haben kann, die mit Vers 6226 endet. Von dieser Lage zurückschreitend plazieren sie die Verse 5880-5885 und 5905-5912 auf das zweite Blatt des vorletzten Binio und 5770-5776 und 5795-5801 auf das letzte Blatt des drittletzten Binio. Das Fragment 5316-5369 käme dann aus dem letzten Blatt des fünftletzten Binio. Wenn wir den Ausgangspunkt von Marguč/Peters übernehmen, kann bei der Annahme eines Quaternio der Streifen mit den Versen 5880-5885 und 5905-5912 nicht zu dieser Lage gehört haben. Er kann aber wohl mit dem die Verse 5770-5776 und 5795-5801 enthaltenden Streifen aus einer Lage stammen. Doch müssen dann beide Streifen zwei verschiedenen Doppelblättern angehört haben, weil sich zwischen ihnen nur ein Einzelblatt befunden haben kann. Weil die Streifen mit den Versen 6107-6116 und 6136-6144 einerseits und 6163-6171 und 6189-6197 andererseits nach Lehmann/Glauning (1940, S. 119) einzeln, also nicht als Teile eines Doppelblatts, überliefert waren, ist jedoch die Annahme einer Lagenmitte bei Vers 6163 keineswegs zwingend. Der erste dieser Streifen war 10,2 cm breit, der zweite 9,5 cm; dem ersten fehlten also zur Erreichung der vollen Breite von etwa 12,7 cm rund 2,5 cm und dem zweiten mehr als 3 cm. Statt, wie Marguč/Peters, die Fragmente zwischen den Versen 5770 und 6197 aus drei verschiedenen Lagen stammen zu lassen, kann man einen einzigen Quaternio rekonstruieren, in den sie alle hineinpassen. Der Streifen mit den Versen 5770-5776 und 5795-5801 war nach der Beschreibung von Lehmann/Glauning (1940, S. 119) ein Teil eines Doppelblatts, von dem neben der ganzen Breite der ersten Hälfte (12,7 cm) auch noch ein Rand der zweiten Hälfte von 1 cm ohne Text erhalten war. Dieser Rand kann zusammen mit den Versen 6163-6171 und 6189-6197 zur zweiten Hälfte des äußeren Doppelblatts des Quaternio gehört haben, von der der untere Teil unseres Schemas eine Rekonstruktion bietet. Diese ist als plausibel, nicht als bewiesen einzustufen. Es sei übrigens darauf hingewiesen, daß die bespro- | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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chenen acht Fragmente aus dem Schluß der Dichtung nach Lehmann/Glauning (1940, S. 119) zwei verschiedenen Inkunabeln entstammen, die aber eng zusammengehört zu haben scheinen. Wo sich in unserer Annahme die letzten etwa acht Verse der Dichtung befunden haben, muß offen bleiben. Schließlich dürfte der Pergamentstreifen mit den Versen 5316-5369 aus dem Anfang des Quaternio stammen, welcher der hier rekonstruierten Lage des Schlußteils voranging.
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