Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR
(1981)–Georgi Arbatov, Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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V) Zum Thema Ideologie, Menschenrechte und DissidentenWelche Rolle spielt die Ideologie in den Beziehungen zwischen Moskau und der westlichen Welt im allgemeinen und den Vereinigten Staaten im besonderen?
Ideologische Differenzen zwischen Ländern mit unterschiedlichen Gesellschaftssystemen sollten unser Ansicht nach kein Hindemngsgrund sein, normale politische Beziehungen zu unterhalten. Während die kommunistischen Parteien die Entspannung und die internationale Zusammenarbeit nach Kräften unterstützen, halten sie gleichzeitig die ideologischen Differenzen für bedeutend und den Kampf der Ideen für unvermeidlich.
Wie lassen sich diese beiden Konzepte miteinander vereinbaren?
Die Quintessenz des leninistischen Konzepts der friedlichen Koexistenz besteht darin, daß es die gleichzeitige und friedliche Existenz von Staaten mit entgegengesetzten Gesellschaftssystemen vorsieht. Diese Systeme unterscheiden sich in ihren ökonomischen Strukturen, in der Art ihrer gesellschaftlichen Beziehungen, in ihren Werten und Idealen. In der Welt von heute kann der Einfluß der Ideologien nicht nur auf jene Länder beschränkt werden, in denen sie jeweils vorherrschen. Die Ideologien prallen unentwegt aufeinander, sowohl auf globaler Ebene, wie auch innerhalb vieler einzelner Staaten. Diese unumstößliche Tatsache wurde nicht von uns erfunden und kann auch nicht einfach ignoriert werden.
Vergiftet das nicht die Beziehungen zwischen kapitalistischen und sozialistischen Ländern und macht Konflikte zwischen ihnen unumgänglich?
Differenzen tragen nie dazu bei, Harmonie zu schaffen. Aber genauso wenig machen sie Konflikte zwischen den Ländern unumgànglich. Beschränken sich ideologische Auseinandersetzungen jedoch auf die Welt der Ideen, und bedeuten sie, daß jedes Land seine eigenen Werte bejaht, | |
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die Vorzüge seines eigenen Lebensstils betont und offen das kritisiert, was es am anderen System für falsch hält - warum sollte das dann zu politischen oder militärischen Konflikten führen? Den Amerikanern, die so stolz auf ihre pluralistische Tradition sind, müßte das eigentlich vollkommen klar sein. Wird aber aus dem ideologischen Kampf erst einmal ein Kreuzzug oder eine Hexenjagd, so fßhrt dies unmittelbar zu einem Potential, das Konflikte entstehen läßt und sie verschärft. Die Geschichte bietet uns viele Beispiele dieser Art. Noch zahlreicher sind die Fälle, in denen Ideologie und Ideen ganz allgemein nur der Tarnmantel für Unternehmungen waren, denen andere Motive, wie z. B. Unersàttlichkeit, Machtbesessenheit usw. zugrunde lagen. Als Beispiel dafür könnte man das messianische Gebaren der spanischen Konquistadoren nennen. Ideologie und Propaganda können auch als Instrumente einer bestimmten Politik eingesetzt werden, insbesondere einer Politik, die auf Subversion und Destabilisierung in anderen Gesellschaften abzielt. Das trifft sowohl für Friedens- wie auch für Kriegszeiten zu. Der Kalte Krieg mit seiner besonderen Art des ideologischen Kampfes, die man kurz und bündig ‘psychologische Kriegführung’ nannte, war dafür ein gutes Beispiel. Solche Propaganda ist nach unserer Ansicht unvereinbar mit Entspannung und friedlicher Koexistenz. Sie kann den Beziehungen zwischen den Ländern nur schaden.
Dieses Verhalten ist auch gefährlich.
Ganz offensichtlich. Und zwar ist das nicht nur meine Meinung. Das Völkerrecht schränkt gewisse Arten der Propaganda ein bzw. ächtet sie - ich kann dazu eine ganze Reihe internationaler Abkommen nennen. Eines davon, der Briefwechsel zwischen Roosevelt und Litwinow, der als formale Grundlage für die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen unseren Ländern diente, wurde schon erwähnt.
Ideologie spielt also eine ziemlich wichtige Rolle in den internationalen Beziehungen.
Das ist zweifellos der Fall. Aber wir sollten in dieser Hinsicht sehr sorgfältig unterscheiden. Manchmal wird der Begriff des ideologischen Kampfes so weit gefaßt, daß er auch die verschiedenen Haltungen gegenüber Revolutionen und anderen Formen des sozialen Wandels in vielen Ländern der Welt miteinbezieht. Obwohl zwischen Ideologie und diesen Haltungen ein Zusammenhang besteht, sind letztere doch in erster Linie Ausdruck einer weiteren, sehr fundamentalen Tatsache, näm- | |
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lich der radikalen, gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den beiden Systemen. Und hier sehen wir uns unweigerlich mit sehr komplexen Problemen konfrontiert - mit politischen Widersprüchen und sogar mit Konflikten im Zusammenhang mit zahlreichen Ereignissen in verschiedenen Ländern, sei es in Äthiopien, Chile oder Afghanistan Die Entspannung ist keine Garantie für den Status quo. Gesellschafthcher und politischer Wandel ist nicht zu vermeiden. Wir sollten lernen, mit ihm zu leben, um nicht den Frieden und die Entspannung zu gefährden.
Sollte es nicht im Hinblick auf einen solchen Wandel Verhaltensregeln geben, und zwar vor allem für die Großmächte?
Gewisse Prinzipien und Regeln bestehen bereits. Das Prinzip der friedlichen Koexistenz, das bereits erwähnt wurde, schließt schon als solches jegliches Bestreben aus, entweder eine Revolution oder gegebenenfalls eine Konterrevolution zu exportieren.
Ist es denn nicht Wunschdenken, wenn man versucht, den Rahmen für eine Zusammenarbeit zwischen Staaten auszuweiten, deren Wertordnungen und Vorstellungen in bezug auf Gesellschaft, Politik und Menschenrechte sich weitgehend unterscheiden?
Nein, ich halte das für eine sehr realistische Ansicht. Sicher gibt es Differenzen. Aber wir haben auch wichtige gemeinsame Interessen, wobei das Überleben an allererster Stelle steht. Wir müssen in Frieden miteinander auskommen, und unsere Differenzen dürfen nicht dazu führen, daß das Überleben unserer beiden Nationen und der Menschheit insgesamt aufs Spiel gesetzt wird. Sie haben schon gesagt, daß wir verschiedene Auffassungen bezüglich der Menschenrechte haben. Aber haben nicht beide Gesellschaften eine gemeinsame Ausgangsbasis in Form eines so gmndlegenden Menschenrechts, wie dem Recht zu leben, dem Recht zu überleben? Wenn dieses Recht nicht garantiert wird, dann verlieren schließlich die anderen Rechte ihren Sinn.
Ist es angesichts der unterschiedlichen Auffassungen von den Menschenrechten überhaupt möglich, eine Annaherung von Ost und West in dieser Frage zu erreichen?
Warum nicht. Ich glaube, die Kluft wurde durch jene im Westen künstlich verstàrkt, die Mißtrauen zwischen den beiden Systemen säen wollen. Tatsächlich aber gibt es so etwas wie eine globale Übereinstimmung zur Menschenrechtsfrage, und zwar in Form der Deklaration der Menschen- | |
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rechte durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948, sowie der Konventionen jüngeren Datums, die die Vereinten Nationen zur Frage der Menschenrechte beschlossen haben, und in Gestalt der Schlußakte von Helsinki als Ergebnis der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Die meisten Länder der Erde gehören zu den Unterzeichnern wenigstens einiger dieser Dokumente.
Es mag ja eine Übereinstimmung geben, aber in der Regel werden gleiche Prinzipien von verschiedenen Leuten verschieden ausgelegt.
Das gilt für alle Prinzipien. Wie man die Menschenrechte auslegt, hängt von der eigenen gesellschaftlichen Position ab, von den kulturellen Traditionen, mit denen man verwachsen ist, und von den gesamten historischen Gegebenheiten. Aber bevor wir von diesen Unterschieden sprechen, möchte ich etwas ganz Fundamentales deutlich machen. Die Vereinigten Staaten versuchen von der Gesamtsituation im Bereich der Menschenrechte folgenden Eindruck zu vermitteln: Die Amerikaner sind die Tüchtigsten, wenn nicht gar die Meister, was die Menschenrechte angeht, während die Sowjetunion und andere sozialistische Länder dagegen sind und nichts anderes tun, als diese Rechte zu verletzen. Beide Vorstellungen sind denkbar weit von der Wirklichkeit entfernt.
Könnten Sie auf diesen Punkt näher eingehen? Er ist sehr wichtig.
Gewiß. Wer kann heutzutage schon gegen die Menschenrechte sein? Das wäre das gleiche, als wollte man ein Naturgesetz abschaffen. Will man nicht nur politische Platitüden wiederholen, so muß man konkreter und genauer auf diese Fragen eingehen. Was die UdSSR betrifft, so möchte ich betonen, daß wir seit langem zutiefst den Menschenrechten verpflichtet sind. Es geschah um der Menschenrechte willen, daß wir unsere Revolution durchführten und sie im weiteren Verlauf gegen eine ausländische Intervention und die Invasion der Nazis verteidigten. Mehr noch - es war die Sowjetunion, die die Menschenrechte um die sozialen Rechte erweiterte, die vorher weitgehend vernachlassigt worden waren, jedoch für die überwältigende Mehrheit unseres Volkes wie auch für andere Völker von ganz entscheidender Bedeutung sind. Es hat ein halbes Jahrhundert gedauert, ehe die Staaten als Gemeinschaft die Bedeutung dieser Rechte in Form der UN-Konventionen anerkannten.
Würden Sie sagen, die Sowjetunion ist auf dem Gebiet der sozialen Rechte fortschrittlicher als der Westen? | |
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Ja, und das ist auch nur natürlich. Soziale Rechte und Freiheiten waren zur Zeit der russischen Revolution für die Menschen, die unter Hunger litten und in unvorstellbarer Armut lebten, für die Bauern, die Analphabeten waren und die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, von allerhöchster Bedeutung. Dabei handelte es sich um das Recht auf Arbeit, die Gewähr, weder verhungem noch hungern zu müssen, das Recht auf ein Dach über dem Kopf, das Recht auf ein Stück Land zur Bewirtschaftung, das Recht auf Bildung, das Recht auf medizinische Versorgung usw. Und für ein Land, das zunächst im Ersten Weltkrieg und danach im Bürgerkrieg verwüstet und schließlich von der Intervention westlicher Mächte heimgesucht worden war, ist das Recht, in Frieden zu leben, von größter Bedeutung. Diesen und vielen anderen sozialen Rechten werden in der Werteskala unserer Gesellschaft noch immer die höchsten Prioritäten eingeräumt. Natürlich garantiert unsere Verfassung die üblichen politischen Rechte gleichermaßen, einschließlich der Redefreiheit, der Gewissens- und Religionsfreiheit, der Pressefreiheit und der Versammlungsfreiheit - freilich werden diese Rechte und Freiheiten bei uns anders verstanden, als das beispielsweise der durchschnittlichen amerikanischen Auffassung entspricht. Ganz allgemein bin ich mir sicher, daß es - von einer ernsthaften, um Ausgewogenheit bemühten Einstellung ausgehend - zu einem umfassenden und nützlichen Dialog über die Menschenrechte kommen könnte. Unglücklicherweise wurde in den USA und im Westen ganz allgemein diese wichtige und komplexe Frage zu einem Symbol für einen heftigen Propagandafeldzug gegen die UdSSR.
Für Bürger westlicher Länder ist es jedoch unerklärlich, warum eine große und mächtige Nation wie die UdSSR so kleinkariert sein sollte, daß sie Bürgern, die es vorziehen, das Land zu verlassen, den Paß und die Erlaubnis zur Ausreise verweigert.
Nun, Herr Oltmans, jeder Staat und jede Regierung handelt gemäß dem eigenen Verständnis, ihrer Interessen und Prioritäten sowie ihrer Haltung gegenüber Problemen. Und hierbei gibt es viele Dinge, von denen man sich nicht ohne weiteres freimachen kann, etwa den Einfluß geschichtlicher Traditionen und geschichtlicher Erfahrungen. Es gibt in dieser Hinsicht einen großen Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Mit Ausnahme der Indianer, die von ihrem Land vertrieben und fast vollständig vernichtet wurden, sind die Amerikaner eine Nation von Einwanderern und deren Nachkommen, und es ist völlig logisch, daß jedermanns Freiheit auszuwandern für sie zu einer Art Naturrecht geworden ist. Aber hierzulande nimmt man | |
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eine andere Haltung ein. Im Laufe ihrer Geschichte hat die Sowjetunion zwei Auswanderungswellen großen Ausmaßes erlebt. Zur ersten Welle kam es unmittelhar nach der Revolution und dem Bürgerkrieg, als der Großteil der Auswanderer bittere Gegner unserer neuen Gesellschaft waren, die am bewaffneten Kampf gegen die neue Sowjetmacht teilgenommen hatten, Hand in Hand mit eindringenden ausländischen Streitkräften. Unter jenen, die mit der zweiten Welle auswanderten, nämlich während oder nach dem Zweiten Weltkrieg, waren viele Nazikollaborateure oder Kriegsverbrecher. Dies hat zur Folge, daß sich eine sehr entschiedene Haltung gegenüber jenen herausgebildet hat, die das Land verlassen wollen. Und das Wort Emigrant wurde nahezu zum Synonym für Verräter.
Ist das nach wie vor eine verbreitete Haltung?
Die Situation begann sich allmählich zu ändern, zunächst als ein Ergebnis von Wanderungsbewegungen über Grenzen mit sozialistischen Ländern hinweg, dann durch Familienzusammenführungen und Ehen mit Ausländern sowie durch die Veränderung der politischen Atmosphäre infolge der Entspannung. Später kam es, wie Sie wissen, verstärkt zur Auswanderung nach Israel bzw. unter diesem Vorwand zur Auswanderung in den Westen. Aber das heißt nun nicht, daß die traditionelle Einstellung zur Emigration vollkommen verschwunden ist. Ganz offen gesagt, man ist weit davon entfernt, die jenigen, die emigrieren, für vorbildliche Bürger und Patrioten zu halten.
Was meinen Sie damit?
Von der UdSSR in die Vereinigten Staaten auszuwandern, ist nicht das gleiche, wie wenn man, sagen wir, Holland verläßt und in die USA oder nach Großbritannien geht. Wenn jemand dieses Land verläßt und in den Westen geht, bedeutet das, daß er die gesamten gesellschaftlichen Werte und Ideale der sowjetischen Nation ablehnt, die mit großen Anstrengungen und schmerzlichen Erfahrungen geschaffen, weiterentwickelt und verteidigt wurden. Das weckt denn auch entsprechende Gefühle bei der breiten Bevölkerung. Das gleiche könnte bis zu einem gewissen Grad auch für die USA gelten. Ich bin sicher, daß die Entscheidung, in ein westeuropäisches Land oder nach Kanada auszuwandern, mit Toleranz hingenommen werden würde. Aber stellen Sie sich die Reaktion eines Sheriffs aus Texas oder auch eines normalen gesetzestreuen Bürgers und Kirchgängers aus einer Kleinstadt des Mittleren Westens vor, wenn er zu hören bekäme, einer seiner | |
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Nachbarn habe vor, in die Sowjetunion, nach Bulgarien oder in die DDR auszuwandern. Alles in allem gibt es, ob uns das gefällt oder nicht, praktisch in jedem Land gewisse Beschränkungen bezüglich der Ein- und Auswanderung. In den Vereinigten Staaten z. B. gibt es für die Einwanderung strenge Einschränkungen, und das ist doch genauso ein humanitäres Problem wie Auswanderungsbeschränkungen. Wäre es nicht ein Ausdruck humanitären Anliegens, wenn man seine Grenzen öffnen und seinen Reichtum mit Millionen von Armen aus Entwicklungsländern teilen würde. Aber das wird, so wie ich es sehe, nur ausnahmsweise gemacht, und zwar in jenen Fällen, in denen es der amerikanischen Außenpolitik dienlich ist.
Erst in Utopia werden dereinst alle Beschränkungen fallen.
Tatsache ist, daß nichts stillsteht, daß sich alles verändert. Ich glaube fest daran, daß die Zeit kommen wird, in der alle Beschränkungen fallen werden und die Menschen sich überall freizügig bewegen können. Es ist offensichtlich, daß wir bis dahin diese Frage mit sehr viel Verständnis behandeln und uns darüber im klaren sein sollten, daß dabei viele ernste Probleme berührt werden, die in Betracht zu ziehen sind und nicht zur Trumpfkarte der Propaganda werden sollten. Gleichzeitig bin ich überzeugt, daß unsere Bestimmungen und Gesetze, die die Auswanderung betreffen, in der Tat nicht das eigentliche Anliegen der Menschenrechtskampagne sind, die die Vereinigten Staaten vor ein paar Jahren eingeleitet haben.
Was glauben Sie, sind die Gründe?
Ich glaube, daß diese Menschenrechtskampagne verschiedenen Zwekken diente: den Anti-Sowjetismus zu wecken, Druck auf die UdSSR auszuüben, das Ansehen Amerikas in der Welt zu verbessern und in den USA wieder einen außenpolitischen Konsens herzustellen. Nicht die Menschenrechte selbst waren es, um die die Regierung besorgt war. Beispielsweise gab es keinen Aufschrei wegen der Menschenrechtsverletzungen in China, obwohl dort politische Unterdrückung in weit größerem Ausmaß stattfindet als in nahezu jedem anderen Land. Mutet es nicht wie Ironie an, daß der US-Kongreß China genau zu dem Zeitpunkt den Meistbegünstigtenstatus zugestand, als die Führung in Peking dabei war, ihren Flirt mit dem Liberalismus abzubrechen und abweichende Meinungen zu unterdrücken? Warum erweisen sich die USA das eine wie das andere Mal als der zuverlässigste Förderer autoritärer Regime? | |
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Und warum ist Washington immer dann, wenn ein solches Regime gestürzt wird, wie in Kamputschea, im Iran, in Nicaragua oder in Afghanistan, so entrüstet und auf Rache bedacht?
Aber abgesehen davon, wie Washington die Menschenrechte auslegt, dem Problem als solchem kommt unverändert großes Gewicht zu.
Selbstverständlich ist es von großer Bedeutung. Wir in der Sowjetunion treten für eine Sicherung und Ausweitung der Menschenrechte ein. Das ist ein Teil unserer Ideologie, unserer Gesetze und unserer gesamten Weltanschauung. Wenn aber die ganze Rhetorik um die Menschenrechte mit Bedacht dazu eingesetzt wird, um im Hinblick auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen Mißtrauen und Feindseligkeiten zu schüren und die Entspannung zu sabotieren, dann hat das nichts mit den Menschenrechten als solchen zu tun. Der edle Gedanke wird dann pervertiert und mißbraucht. Ich glaube, die Amerikaner sollten versuchen zu begreifen, daß sie sich, wenn ihnen die Menschenrechte so sehr am Herzen liegen, zugleich auch für Entspannung einsetzen müssen. Krieg und Kriegsvorbereitungen, internationale Spannungen und Krisen - das sind die Faktoren, die der Demokratie und dem sozialen Fortschritt am meisten schaden. McCarthys Hexenjagd in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren hätte ohne das Klima des Kalten Krieges nicht stattfinden können. Ich glaube, es war Daniel Bell, ein Soziologe der Harvard University, der einmal gesagt hat, daß Amerika auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges eine ‘mobilisierte Gesellschaft’ gewesen sei. Unter dem gleichen Vorzeichen wurden in einer Zeit der Spannungen CIA und FBI ins Leben gerufen, um ‘einen äußeren Feind’ zu bekämpfen. All die Methoden, die sie bei ihren Tätigkeiten, subversiven Aktionen und ihrer psychologischen Kriegführung anwandten und die für Zwecke des Kalten Krieges entwickelt worden waren, richteten sich gegen die Amerikaner selbst und, wie Watergate zeigte, sogar gegen politisch Andersdenkende innerhalb der Elite. Es darf wohl nebenbei daran erinnert werden, daß die ‘Watergate-Klempner’, vom Gericht nach ihrem Beruf gefragt, nach einigem Zögern antworteten, sie seien ‘Antikommunisten’. Die gleiche Logik macht sich auch jetzt breit, nachdem das Weiße Haus eine zweite Auflage des Kalten Krieges inszeniert. In einer dem Kalten Krieg ähnlichen Situation können es sich Regierungen, wie z. B. jene Südkoreas oder Pakistans, leisten, mit den bürgerlichen Freiheiten nach Belieben umzuspringen, ohne daß Amerikas Unterstützung und materielle Hilfe ausbleibt. | |
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Selbst für den Fall, daß die amerikanische Besorgnis um die Menschenrechte durch und durch politisch motiviert und eigennützig sein sollte - warum versucht die Sowjetunion nicht, Washington auszumanövrieren, zu ‘entwafjhen’, wenn man so will, indem sie ihre Haltung zu einigen wunden Punkten ändert, auf die die Amerikaner ständig den Finger legen?
Würden wir unsere Haltung zu einigen wunden Punkten ändern, so würde sich dadurch nicht das geringste ändern. Man muß sich darüber im klaren sein, daß wir es bei der ‘Menschenrechtskampagne’ mit einem Versuch zu tun haben, durch anhaltenden, ständig wachsenden Druck unsere innere Ordnung entsprechend westlichen Vorstellungen zu verändern und gleichzeitig die UdSSR in den Augen der Weltöffentlichkeit zu diskreditieren. Einzelne Forderungen mögen sich manchmal sehr bescheiden ausnehmen: diesen oder jenen aus dem Gefängnis zu entlassen (obwohl er in voller Übereinstimmung mit den sowjetischen Gesetzen verurteilt wurde), diesen oder jenen ausreisen zu lassen (wobei in der Regel der Grund für die Verweigerung der durch den Beruf bedingte Zugang zu geheimen Informationen ist), die Bestimmungen für die Einfuhr bzw. den Verkauf westlicher Zeitschriften zu andem usw. Aber wir haben aus unseren bitteren Erfahrungen die Lehre gezogen, daß man, auch wenn solchen Forderungen entsprochen wird, niemand - um Ihren Ausdruck zu gebrauchen - entwaffnet, daß man nichts erreicht, niemand zufriedenstellt. Ganz im Gegenteil, durch jedes Zugeständnis wächst der Appetit noch weiter und weiter, und die Forderungen werden immer anspruchsvoller. Das ist auch ganz verständlich, gilt doch für viele der Drahtzieher der Kampagne, daß diese Forderungen nicht die aufrichtige Sorge um die Menschenrechte widerspiegeln, sondern ein Vorwand sind, um den Angriff auf unsere Einrichtungen und Werte, auf unser gesellschaftliches und politisches System zu verstärken. Es gab Zeiten, da hat man Krieg geführt, um dieses System zu zerschlagen. Danach kam der Kalte Krieg, und jetzt ist die Reihe an anderen Mitteln, einschließlich der Menschenrechtskampagne, die zu diesem Zweck eingesetzt wird.
Übertreiben Sie hier nicht? Ist das nicht Ausdruck der paranoiden Haltung der Sowjetunion gegenüber dem Westen?
Keineswegs, das kann ich Ihnen versichern, Herr Oltmans, aber bitte glauben Sie nicht, daß ich der Kampagne als solcher große Bedeutung beimesse - das Entscheidende dabei ist, daß sie nicht isoliert gesehen werden darf. Man muß sie vor dem Hintergrund gewisser militärischer Bemühungen, außenpolitischer Manöver und anderer Propagandafeld- | |
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züge sehen. Es ist nur angebracht, noch einmal in Erinnerung zu rufen, daß z. B. in einigen entscheidenden Dokumenten der amerikanischen Außenpolitik, wie dem NSC-68, grundlegende Veränderungen unserer internen Strukturen als unabdingbare Voraussetzung für die friedliche Koexistenz bezeichnet werden. Viele Maßnahmen der US-Außenpolitik der jüngsten Zeit erinnern an diese Richtlinien. Mehr noch - im politischen Bewußtsein der Amerikaner lebt irgendwo, tief eingewurzelt, immer noch der Gedanke fort, wir seien etwas Unrechtmäßiges, nicht von Gott, sondern vom Teufel Geschaffenes, und unserem Dasein in seiner heutigen Form solite irgendwie ein Ende bereitet werden.
Ich glaube, solch eine Stimmung ist für die Vergangenheit typischer als für die Gegenwart.
Untersucht man jedoch z. B. die Terminologie der sogenannten ‘Neuen Rechten’, die heutzutage ziemlich einflußreich ist, so wird man die gleiche alte Intoleranz feststellen, wie auch die gleiche hartnäckige Weigerung, allein schon die Idee einer Koexistenz mit der Sowjetunion zu akzeptieren. Oder nehmen Sie nur ein anderes Beispiel - die ‘captive nations' week’, (‘Woche der geknechteten Völker’), die jedes Jahr im Juli vom amerikanischen Kongreß begangen wird. Als wäre es damit nicht schon genug, unterzeichnet der Präsident jeweils auch noch persönlich eine feierliche Erklärung. Das Ganze ist nun schon seit Jahren eine Routineangelegenheit. Aber was will man damit in Wirklichkeit zum Ausdruck bringen? Der Zweck ist, das verdeutlichen viele Kommentare in den Vereinigten Staaten, zu zeigen, daß nach Meinung der USA die Sowjetunion widerrechtlich 14 Republiken in ihrem Griff hält, die deshalb befreit werden sollten. Hinzu kommen noch weite Teile Sibiriens (DVR genannt), weiter ‘Tscherkessien’, ‘Idel-Urals’ und ‘Kazakien’. Ich weiß wirklich nicht, was all diese verrückten Namen bedeuten, aber ich habe das Gefühl, daß die Ural-Gebiete, das untere Wolgabecken, das Kuban- Gebiet, das Don-Gebiet, der nördliche Kaukasus und einige andere Gebiete dazugerechnet werden. Mit anderen Worten, für uns bleibt ein Gebiet übrig, das sich etwa von Moskau bis Leningrad in der Nord-Süd-Ausdehnung erstreckt und von Smolensk im Westen bis Wladimir im Osten. Ich frage mich, wie wohl Amerikaner reagieren würden, wenn der Oberste Sowjet und Generalsekretär Breschnew in feierlichen Proklamationen ihre Unterstützung für eine Bewegung zum Ausdruck brächten, die die staatliche Hoheit der USA für alle Gebiete in Frage stellt, außer dem Land - sagen wir - zwischen Boston und Washington und Baltimore und | |
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Detroit, und wenn sie weiter erklären würden, daß der Rest befreit werden solite? Man könnte argumentieren, daß die Südstaaten nur mit Hilfe eines Kriegs im Verband der Union gehalten werden konnten, andere Gebiete Mexiko und Frankreich mit Gewalt abgenommen wurden und schon vorher das ganze Territorium jenem Volk gestohlen wurde, das von allen am meisten unter Knechtschaft leidet - den Indianern Amerikas. Ganz zu schweigen von einem gewissen Teil russischen Bluts, das in den Adern der Menschen von Alaska fließt, oder davon, daß wir einstmals im Gebiet von San Francisco siedelten.
Aber die meisten Amerikaner ignorieren die ‘captive nations week’ - warum nehmen Sie sie so ernst?
Wir sind weit davon entfernt, ihre Bedeutung zu übertreiben. Aber wir können solche Dinge auch nicht völlig ignorieren, selbst wenn wir wollten. Die ‘Menschenrechtskampagne’ würde uns das nicht gestatten. Um dieses Thema abzuschließen, möchte ich zusammenfassend folgendes sagen: Punkt eins: Wir halten die Frage der Menschenrechte für sehr wichtig. Es wurde in unserem Land sehr viel getan auf diesem Gebiet, und es wird auch zukünftig noch sehr viel getan werden. Wir wissen, daß wir noch keinen idealen Zustand erreicht haben. Aber wer hat ihn schon erreicht? Der weitere Fortschritt der Demokratie bleibt eines unserer grundlegenden Ziele. Punkt zwei: Die Propagandakampagne, die die USA im Zusammenhang mit den Menschenrechten in Gang gebracht haben, hat in Wirklichkeit nichts mit diesen Rechten zu tun. Wir sehen darin letztlich ein Instrument antisowjetischer Politik, wobei man sich allerdings keinerlei Illusionen machen sollte, daß wir nachgeben werden. Was der Westen nämlich in dieser Hinsicht wirklich von uns will, ist, daß wir auch noch selbst helfen, antikommunistische und antisowjetische Tätigkeiten zu organisieren, die darauf abzielen, unser gesellschaftliches und politisches System zu unterminieren. Wir werden bei der Destabilisierung unserer gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mithelfen. Genausowenig, wie wir von der amerikanischen Regierung erwarten würden, daß sie auf solche Forderungen unsererseits einginge. Die Amerikaner sollten eine Zusammenarbeit dieser Art von uns genausowenig erwarten. Schließlich Punkt drei: Was uns diese Kampagne besonders zweifelhaft erscheinen läßt, ist, daß die USA nach unserer Ansicht nicht im geringsten das Recht haben, andere über die Menschenrechte zu belehren, weil man in diesem Fall, wie bei vielen anderen Problemen auch, erst bei sich selbst beginnen muß. Obwohl wir nicht versuchen, den Amerikanern un- | |
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sere Normen aufzunötigen, haben wir doch nichtsdestoweniger das Recht, uns unsere eigene Meinung darüber zu bilden, was in den USA vor sich geht und wie das Modell aussieht, das sie uns aufzuzwingen versuchen.
Was halten Sie von diesem Modell?
Nun, es fällt uns z. B. sehr schwer, an den Wert des amerikanischen Systems der Redefreiheit zu glauben, da die amerikanischen Medien inzwischen riesige private Unternehmen geworden sind, die stark profitorientiert sind und den Wünschen ihrer Besitzer bzw. den Interessen der privatwirtschaftlichen Inserenten mehr dienen als den Interessen der Öffentlichkeit. Wird einem der Zugang zu den Massenmedien verwehrt, so kann man in Amerika äußern, was immer man will, und so lautstark man will - man wird nicht gehört werden; wohl aber läuft man mitunter Gefahr, daß einem FBI oder CIA nachspionieren, wie es jenen jungen Leuten erging, die wegen ihrer Opposition gegen den Krieg in Südostasien verfolgt wurden.
Der Journalist David Wise wählte für seinen Bericht, in dem er dieses Vorgehen schildert, den Titel ‘Der amerikanische Polizeistaat’.Ga naar eind1
Wir haben in der Sowjetunion Berichte über die Untersuchungen des Kongresses gelesen, die von illegalen Maßnahmen des CIA und des FBI, vom Watergate-Skandal und anderem mehr handeln. Wir wissen, daß Präsident Lyndon B. Johnson die Dienste von J. Edgar Hoovers FBI in Anspruch nahm, um nicht nur Kommunisten und andere Radikale zu überwachen, sondern auch angesehene Mitglieder des Kongresses. Richard Nixon hatte gar eine Liste seiner Feinde angelegt, worunter sich eine Reihe prominter Presseleute wie Henry Brandon, der Washingtoner Korrespondent der Londoner Sunday Times oder Joseph Kraft befand. Ich bin sicher, Sie werden mir darin recht geben, daß so etwas unsere Skepsis gegenüber den USA als einem Ratgeber in Menschenrechtsangelegenheiten nur noch verstärken konnte.
Besonders widerwärtig war, wie man mit jungen Leuten umgegangen ist, indem man z. B. CIA- und FBI-Informanten in die Studentenschaft der amerikanischen Colleges und Universitaten eingeschleust hat. Unglücklicherweise kommen die gleichen illegalen Praktiken auch in den Niederlanden vor, wo gelegentlich Lehrer und Professoren oder sogar Journalisten gebeten werden, im Auftrag des BVDGa naar eind2 Studenten oder Personen aus | |
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den eigenen Berufsgruppen zu bespitzeln. Ganz zu schweigen von dem berüchtigten Berufsverbot in Westdeutschland.
Nun, wir wissen, daß die Behörden in den USA, wenn sie es für notwendig erachten, die Leute nicht nur schikanieren, sondern sie auch umbringen. Das geschah z. B. im Fall von Führern der Black Panthers, von denen einige kaltblütig von der Polizei ermordet wurden. Ganz zu schweigen von Attentätern, die Dutzende von führenden Bürgerrechtskämpfern ermordeten oder verwundeten, angefangen bei Martin Luther King bis hin zu Vernon Jordan. Wobei die Schuldigen selten bestraft werden. Erinnern Sie sich auch an die Vorfälle an der Kent State University? Und was geschah mit dem ‘American Indian Movement’? Was ist mit den zahlreichen schwarzen Aktivisten, die gelyncht wurden oder verurteilt und jahrelang ins Zuchthaus gesteckt wurden aufgrund von äußerst fragwürdigen Anklagen? Die Liste ist endlos lang.
Ja, aber trotz dieser alarmierenden, ungehemmten Kriminalität ist es andererseits für einen abgesprungenen CIA-Agenten, wie Frank Snepp, möglich, ein 590 Seiten starkes Buck zu veröffentlichen, in dem er die unglaublichen Verbrechen, die in Vietnam und anderswo begangen wurden, schildert. Eine solche Veröffentlichung wäre in der Sowjetunion undenkbar.
Die Veröffentlichung von Frank Snepps Buch war vor ein paar Jahren möglich. Ob es heute möglich wäre, ist zweifelhaft. Übrigens hat, als Frank Snepp sein Buch veröffentlichte, der CIA mit Hilfe der Gerichte zurückgeschlagen, und Snepp wurde mit einer hohen Geldstrafe belegt. Infolge von Gesetzen, die 1980 vom Kongreß verabschiedet wurden, steht zu befürchten, daß er und seinesgleichen in Zukunft sehr viel härtere Behandlung erfahren werden. Es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, daß die Welle der Enthüllungen ein Ende gefunden hat. Die jüngsten Veränderungen, die den Status der Nachrichtendienste und der Geheimpolizei betreffen, sind ein Rückschritt, der die früheren Verhältnisse wiederherstellt. Wenn man über die Sowjetunion spricht, so vergißt man, daß die Praktiken unserer Sicherheitsorgane einer sehr kritischen Prüfung unterzogen wurden, und zwar zu einer Zeit, als CIA und FBI noch für heilige Kühe gehalten wurden. In den fünfziger Jahren hat die KPdSU offen erklärt, daß die Sicherheitsorgane Gesetze verletzt und ihre Macht mißbraucht hatten. Es gab Gerichtsverhandlungen gegen hohe Beamte dieser Organe, und gegen die für schuldig Befundenen wurden schwere Strafen verhängt, einschließlich der Todesstrafe. Die Sicherheitsorgane wurden | |
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umstrukturiert und unter wirksame Parteikontrolle gestellt. Immer wenn diese Fragen von den großen westlichen Medien erörtert werden, mißt man offensiehtlich mit zweierlei Maß. Ganz gleich, welche Veränderungen in unserem Land geschehen, ganz gleich, was wir auch machen - man beschuldigt uns, ‘undemokratisch’ zu sein. Gleichzeitig aber werden Verletzungen der Menschenrechte, die im Westen geschehen, immer verharmlost und als etwas Ungewöhnliches, nicht jedoch als etwas Typisches betrachtet.
Sind Sie derMeinung, daß aufgrund der Entwicklungen während des Jahres 1980 sowohl Washington wie auch Moskau einen Rechtsruck vollzogen haben?
Ohne Zweifel hat in Washington solch ein Kurswechsel stattgefunden. Seine Auswirkungen auf die Außenpolitik habe ich bereits erörtert, aber gleichermaßen hat er sich auf die innerpolitische Situation ausgewirkt. CIA und FBI erweisen sich emeut in zunehmendem Maße als immun gegenüber öffentlicher Kritik, ihre Kritiker werden zum Schweigen gebracht, auch gibt es eine wachsende Welle des Chauvinismus und der Intoleranz gegenüber Kritik - all dies geschah sogar noch vor den Präsidentschaftswahlen. Nun zu uns. Begriffe wie ‘links’ und ‘rechts’ können irreführend sein, wendet man sie auf politische Entwicklungen in der Sowjetunion an. Aber wenn eine härtere Gangart gegenüber jenen gemeint ist, die andere Meinungen äußern, dann kann ich keinerlei Veränderungen dieser Art in unserem Land feststellen.
Ohne die Gewalttätigkeit in der amerikanischen Gesellschaft, ohne die Mafia, die Bandenkriege, die Schießereien und Morde verteidigen zu wollen, die in diesem Land an der Tagesordnung sind, muß man doch feststellen, daß die Amerikaner nie etwas erlebt haben, das auch nur im entferntesten an eine solche Erfahrung heranreicht, wie sie der ‘Archipel Gulag’ darstellt.
Ich halte es nicht für angebracht oder besonders taktvoll, Herr Oltmans, auf die tragischen Ereignisse unserer Vergangenheit, an die sich das sowjetische Volk mit großer Pein erinnert, hinzuweisen und dabei einen Ausdruck zu verwenden, der zum Klischee antisowjetischer Propaganda geworden ist. Wie ich schon an früherer Stelle gesagt habe, hat die Partei strenge Maßnahmen getroffen, um die Fehler zu beheben und jene zu bestraten, die schuldig waren. | |
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Aber da Sie dieses Problem angesprochen haben, möchte ich mit Nachdruck betonen, daß eine der wichtigsten Voraussetzungen, die die Unterdrückung zu Zeiten Stalins möglich machte, die äußerst feindselige Umwelt war, mit der sich unser Land auseinandersetzen mußte.
Mit der Bedrohung durch Nazi-Deutschland?
Die Bedrohung durch die Nazis war vielleicht der Höhepunkt. Aber die Situation war auch vorher schon ziemlich problematisch. Sehen Sie, unser Land ging nach der Revolution von 1917 durch eine Periode heftigen politischen Kampfes. Die Konterrevolution wollte sich nicht geschlagen geben. Sie führte den Kampf mit schmutzigen Mitteln und wurde dabei von außen in starkem Maße unterstützt. Einige unserer Führer und Botschafter wurden ermordet. Es kam wiederholt zu militärischen Übergriffen auf unser Territorium. Ausländische Geheimdienste wurden im Land aktiv tätig. Wir erwarteten, daß früher oder später ein großer Krieg ausbrechen würde, und nachdem Hitler mit einem antikommunistischen und antisowjetischen Programm an die Macht gekommen war, verschlechterte sich die äußere Situation ganz dramatisch. Das waren also die besonderen äußeren Bedingungen dieser historischen Situation, die die Unterdrückung großer Teile der Bevölkerung ermöglichte, wie auch schwere Verbrechen gegen unsere Verfassung und unsere Ideale. Wir haben diese tragischen Ereignisse nicht vergessen und erwarten auch von anderen nicht, daß sie sie vergessen. Wogegen wir uns aber wehren, das sind die Versuche, einen ganzen Abschnitt unserer Geschichte im Licht dieser Ereignisse zu interpretieren. Für uns hatte dieser Abschnitt - selbst damals schon, in jenen schweren Zeiten - eine ganz andere Bedeutung. Wir haben eine Menge wahrhaft historischer Leistungen zu verzeichnen, Leistungen von weltweiter Bedeutung: wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fortschritte, die in einem auf der ganzen Welt vorher nie dagewesenen Tempo erreicht wurden; die Wiedergeburt eines Volkes, das bis dahin eines der am meisten unterdrückten und am stärksten ausgebeuteten war, verglichen mit alien zivilisierten Nationen; der Sieg über Nazideutschland und damit die Beseitigung dieser Menschheitsgefahr; eine Reihe ungeheuer wichtiger, erstmals in der Geschichte erzielter Leistungen - die Wirtschaftsplanung, gesellschaftliche Fortschritte wie die Gleichstellung aller Nationalitäten, die Gleichberechtigung der Frauen, die Tatsache, daß medizinische Versorgung und Bildung der ganzen Bevölkerung zugänglich gemacht wurden, und vieles, vieles andere mehr. Es gibt vieles in unserer Geschichte, worauf wir stolz sein können. | |
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Haben Sie je versucht, den Preis zu vergleichen, den die unterschiedlichen Gesellschaften für den Fortschritt zu zahlen haben?
Nun, das ist eine extrem schwierige Aufgabe. Die Geschichte der Menschheit ist zu komplex und vielschichtig, um sie in Zahlen auszudrücken. Es gibt wohl kaum eine ausgearbeitete Methode für solche Vergleiche. Aber ich habe keinen Zweifel, daß der Preis für den Fortschritt in einer kapitalistischen Gesellschaft höher war. Erstens muß man die Kriege in Betracht ziehen, zu denen es unter dem Kapitalismus kommt. Es war einzig der Kapitalismus, mit dem ihm innewohnenden Streben nach Technologie - und hier in erster Linie nach militärischer Technologie -, gepaart mit seiner unersättlichen Gier nach Märkten und Rohstoffquellen, der bewirkte, daß Kriege weltumspannend und beispiellos zerstörerisch wurden. Das allein kostete Millionen Menschenleben. Weiter ist der Kolonialismus zu nennen, der dem Kapitalismus voranging, aber erst unter diesem zu einem weltweiten Phänomen wurde und zugleich eine Vorbedingung war für eine rasche Entwicklung der meisten kapitalistischen Länder, wie auch dafür, daß diese Wohlstand und Reichtum anhäufen konnten. Der Preis dafür sind abermals viele Millionen Menschenleben, aber auch brutale Ausbeutung, Kolonialkriege, politische Unterdrückung und die Tatsache, daß die Mehrheit der Weltbevölkerung in einem Zustand der Rückständigkeit gehalten wird. Zum dritten ist festzuhalten, daß der Kapitalismus in der Geschichte nur selten in Form einer liberalen Demokratie bestand. In vielen Ländern nahm das kapitalistische Gesellschaftssystem - und in einigen Ländern ist das immer noch so - die denkbar repressivsten politischen Formen an, nämlich die des Faschismus mit seinem blutigen Terror, die der Militärdiktaturen und die eines rücksichtslosen Totalitarismus.
Aber die meisten kapitalistischen Länder, einschließlich der Vereinigten Staaten, begaben sich nicht auf faschistische Wege.
Das heißt nicht, daß sie völlig ohne Terror, brutale Unterdrückung und Ausbeutung ausgekommen sind. Der Preis, den Menschen dafür zahlen mußten, daß aus der kleinen Siedlerkolonie in Massachusetts eines der beiden mächtigsten Länder der Erde wurde, ist sehr beträchtlich. Nehmen Sie nur die Verbrechen gegen die Schwarzen, die mit dem Sklavenhandel und den schrecklichen Zuständen auf den Plantagen des Südens begannen und mit dem Alptraum eines Leben in den Ghettos von heute endet. Oder denken Sie an den Völkermord an den Indianern. | |
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Zuerst fielen die Pilgerväter auf die Knie und dann über die Indianer her, sagt eine Redensart.
Wissen Sie, es ist für mich immer noch schwer begreiflich, wie es die Amerikaner fertigbrachten, sich gegen jegliche Gewissensbisse im Zusammenhang mit ihren Taten gegen die Ureinwohner des Kontinents zu betäuben. Ich erinnere an diese Kapitel der amerikanischen Geschichte nicht, um die Amerikaner zu beleidigen. An diese Ereignisse soll nur erinnert werden, um den Amerikanern zu helfen, dort, wo es noch möglich ist, etwas gegen solches Unrecht zu unternehmen und um den moralisierenden Eifer einiger amerikanischer Politiker zu dämpfen.
Glauben Sie wirklich, daß die Entspannung zum besseren Verständnis beigetragen hat?
Ja, dank der Entspannung in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen kam es zu einer beträchtlichen Zunahme der Kontakte, des Austausches und des Tourismus, was in dieser Hinsicht sehr wichtig war. Zuletzt jedoch haben die Vereinigten Staaten nicht nur ihre Anstrengungen verstärkt, diesen Prozeß zu verlangsamen, nun kehren sie ihn sogar um. Die Zunahme der Kontakte gehörte zu den wertvollsten Früchten der Entspannung. Als Wissenschaftler bin ich besonders besorgt über die gegenwärtigen Versuche der USA, diese Kontakte zu beeinträchtigen.
Ich interviewte Professor Oleg G. Gazenko, den Direktor des Instituts für medizinische und biologische Fragen des Gesundheitsministeriums der UdSSR. Er machte mich dabei mit vier Bänden eines Werks mit dem Titel ‘Foundations of Space Biology and Medicine’ bekannt, das in Zusammenarbeit mit der ‘National Aeronautics and Space Administration’ der Vereinigten Staaten veröffentlicht worden war. Ko-Autor ist der amerikanische Professor Melvin Calvin. Nur wenige Leute wissen überhaupt, daß die ganze Zeit über diese Form der wissenschaftlichen Zusammenarbeit stattfindet.
Ja, diese Zusammenarbeit hat beiden Seiten beachtlichen Nutzen gebracht. Die Wissenschaftskreise beider Länder sind sehr darauf aus, sie fortzusetzen und auszuweiten. Was geschieht aber tatsächlich? Die US-Regierung und einige ‘pressure groups’ außerhalb der Regierung durchtrennen das Geflecht der wissenschaftlichen Zusammenarbeit brutal, das sich in den siebziger Jahren herausbildete. Wissen Sie, abgesehen von der Bedeutung solcher Kontakte für die Weiterentwicklung der Wissenschaften in der ganzen Welt, sind diese Tref- | |
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fen in kultureller, psychologischer und sogar politischer Hinsicht sehr nützlich, weil sie ein Gegengewicht zu den zunehmenden Feindseligkeiten und dem in der öffentlichen Meinung um sich greifenden Mißtrauen darstellen. Ich meine damit nicht nur den wissenschaftlichen Austausch, sondern alle Arten des Austausches und alle Arten von Kontakten und Besuchen.
Ihnen ist sicker nicht entgangen, wie unterschiedlich westliche Sowjetexperten den Umfang und die Bedeutung der Veränderungen einschätzen, die in Ihrem Land in den letzten Jahrzehnten stattfanden. Gelehrte wie George Kennan und Jerry Hough behaupten, in der Sowjetunion habe sich ein unerhörter Wandel vollzogen, weshalb der Westen seine traditionellen Vorstellung revidieren sollte. Andere, wie Richard Pipes oder Adam Ulam, sagen genau das Gegenteil, nämlich, daß die Sowjetunion im wesentlichen noch so sei, wie sie zu Zeiten Stalins war, und keine institutionellen Veränderungen von Bedeutung eingetreten seien.
Nun, jedes Land hat sich in den letzten 25 Jahren gewandelt, und für unsere dynamische Gesellschaft gilt das in besonderem Maße. Aber der springende Punkt dabei ist, was man unter Wandel verstehen will. Was ist mit ‘institutionellen Veränderungen’ gemeint? Wir bleiben ein sozialistisches Land mit einem zunehmend ausgereiften politischen System, in dem die KPdSU die führende Rolle einnimmt. Wenn das nicht nach dem Geschmack von Herm Pipes oder anderen Leuten seines Schlages ist, haben sie das Recht, sich ihre eigene Meinung dazu zu bilden, genauso wie wir ein Recht auf unsere eigene Meinung haben, was die amerikanischen politischen Einrichtungen betrifft, jedoch können wir kaum etwas für diese Leute tun, um sie zufriedenzustellen. Innenpolitisch gab es eine Menge Veränderungen in unserem Land, und zwar im Zusammenhang mit der Beseitigung der Folgen, die der Personenkuit hinterlassen hatte, wie auch infolge einer weiteren Fortentwicklung der Demokratie. In unserer Außenpolitik kann man, entgegen den Behauptungen einiger Sowjetexperten, sehr viel mehr Kontinuität hinsichtlich der grundlegenden Ziele und Methoden feststellen. Welche Haltung man auch immer gegenüber Stalin einnehmen mag - man kann kaum abstreiten, daß sich seine Außenpolitik durch Umsicht auszeichnete und er kein Abenteurer war. Ich glaube, daß ernstzunehmende und gut informierte amerikanische Sowjetexperten dies anerkennen.
Walter Laqueur legt überzeugend dar, daß ‘ohne Kenntnisse der marxistischen Methode keine vernünftige Diskussion über die neuzeitliche Geschichte möglich ist’.Ga naar eind3 Für viele Menschen in Westeuropa scheinen je- | |
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doch Gesellschaften, die noch marxistischen Prinzipien aufgebaut sind, nicht gerade attraktive Beispiele zu sein. Und genauso ergeht es den Entwicklungsldndem. Nach 20 Jahren marxistisch-leninistischer Praxis in Kuba schickt sich beispielsweise nur Nicaragua neuerdings zögernd an, Fidel Castros Beispiel teilweise zu folgen.
Nun, soweit ich es sehe, nimmt die Revolution in Nicaragua ihre eigenen Formen an. Walter Laqueur mag zwar dafür plädieren, Kenntnisse der marxistischen Methode zu erwerben, was ihn selbst aber anbelangt, so ist er ein entschiedener Gegner jener Gesellschaften, die auf marxistischen Prinzipien beruhen. Was die Attraktivität unseres Beispiels betrifft, so gibt es in sehr vielen westeuropäischen Ländern eine sehr starke kommunistische Partei, die alle für die Errichtung einer Gesellschaft eintreten, die sich auf marxistische Prinzipien gründet. Ich denke dabei an Frankreich, Italien, Spanien und Finnland. Kommunistische Parteien gibt es auch in anderen Ländern, und obwohl sie noch nicht viele Mitglieder haben, unterstützt doch ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in den westeuropäischen Ländern die Idee, die Gesellschaft nach marxistischen Grundsätzen zu organisieren. Es gibt noch einen weiteren Aspekt in diesem Zusammenhang. Es hat sich ergeben, daß Länder, in denen marxistische Parteien an die Macht kamen und mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaft begannen, sehr oft mit ziemlichen schwierigen objektiven Bedingungen konfrontiert waren. In der Regel waren das Länder, die unter dem Krieg sehr stark gelitten haften, wie Rußland, Jugoslawien und Polen. Viele davon waren Länder mit einer zurückgebliebenen Volkswirtschaft - dazu gehörten auch Rußland, Bulgarien, Rumänien und andere, ganz zu schweigen von unterentwickelten Ländern wie Vietnam, Kuba und Albanien. Außerdern unternahm der Westen alle nur möglichen Anstrengungen, um den Aufbau neuer Gesellschaften zu behindern, indem er ihnen das Wettrüsten aufnötigte und sich auf Subversion, Wirtschaftsblockaden etc. verlegte. Schließlich entstehen für jene, die neue Wege bahnen, immer Probleme, die sich nicht vermeiden lassen. Bei solch einem schwierigen Unterfangen wird es immer Fehler geben, und zwar mitunter auch emsthafte. Wenn ich all das in Betracht ziehe, so würde ich sagen, daß der Sozialismus sein Bestes getan hat und über große Anziehungskraft verfügt, die weker wachsen wird. Und man wird kaum bestreken wollen, daß die Anziehungskraft des Kapitalismus abgenommen hat.
Was ist zu Kuba zu sagen? Der Exodus vieler Kubaner, die 1980 in die Vereinigten Staaten gingen, wurde als Beweis dafür gewertet, daß das ku- | |
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banische Modell des Sozialismus gegenüber dem kapitalistischen Modell verblaßt.
Wie auch immer die Feinde Kubas die ganze Geschichte darstellten - sie hat sich, so glaube ich, letzten Endes nicht gegen Kuba ausgewirkt, sondern gegen jene im Westen, die aus der ‘Verteidigung der Menschenrechte’ in sozialistischen Ländern ein Politikum machen. Ist es nicht bezeichnend, daß ein erheblicher Teil derer, die Kuba verließen, Kriminelle und Unzufriedene waren, deren Abwesenheit vom kubanischen Volk nur begrüßt werden wird? Sehen Sie sich einmal den Ausgang der Geschichte an: Was widerfuhr jenen ‘armen, erschöpften Massen’, die sich entschlossen, Kuba zu verlassen und in die USA zu gehen? Ich erinnere mich an eine Karikatur in einer amerikanischen Zeitung, in der in einem Boot eine Grappe Kubaner zu sehen war, die auf einen Lichtschein am Horizont deutete und freudig ausrief: ‘Unsere Mühsal ist zu Ende, das Licht dort ist Miami!’ Und es war auch Miami - nämlich dort, wo das Ghetto der Schwarzen brannte und Trappen auf die Menschen in den Straßen schossen. Es steilte sich heraus, daß Amerika die Kubaner nicht haben wollte. Und diese waren darüber wirklich verwirrt. Einige randalierten in den Lagern, in denen sie seit ihrer Ankunft festgehalten wurden, andere entführten Flugzeuge, um nach Kuba zurückzukehren. Es ist schwer zu sagen, was bei dieser Geschichte überwiegt - die Tragik oder das Lächerliche. Zu einem aber taugt sie auf keinen Fall: einer Anklage des kubanischen Sozialismus. Vor allem nicht, wenn man die nicht zu leugnende Tatsache in Betracht zieht, daß die USA Kuba nach der Revolution eine ganze Menge Schwierigkeiten bereitet haben, einschließlich einer Wirtschaftsblockade und Einmischungsversuchen. Es ist wahr, Kuba leidet immer noch unter vielen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Aber womit vergleicht man dieses Land? Mit Schweden oder der Schweiz? Als Maßstab sollten in Wirklichkeit Guatemala, El Salvador, die Dominikanische Republik oder Kuba selbst, so wie es vor der Revolution war, gelten. Dann wird die Situation in einem ganz anderen Licht erscheinen. In ganz Lateinamerika genießt Kuba großes Ansehen und einen sehr guten Ruf.
Lassen Sie uns zu dem immerwährenden Thema der Einschätzungen zurückkehren. Sie scheinen von dem durchschnittlichen Wissensstand der Amerikaner über die Sowjetunion keine sehr hohe Meinung zu haben.
Sicher. Hier herrscht immer noch eine ungeheure Unwissenheit. Ich möchte mich dabei auf das beziehen, was ich aus eigener Anschauung | |
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kenne. Beispielsweise wissen die Leute in den Vereinigten Staaten, sogar in studentischen Kreisen, sehr wenig von der zeitgenössischen sowjetischen Literatur.
Wahrscheinlich kennt man Alexander Solschenizyn.
Das ist nahezu Pflichtlektüre, obwohl er in letzter Zeit etwas aus der Mode kommt. Aber auch die Namen von Dostojewski und Tolstoi wurden genannt und einmal sogar Tschechow.
Und Gorki?
Nein, nicht ein einziges Mal. Fragt man dagegen in der UdSSR einen Oberschüler oder eine Oberschülerin nach amerikanischer Literatur, so erhält man Dutzende von Namen zur Antwort. Dabei spreche ich nicht nur von Klassikern wie Edgar Allen Poe oder Mark Twain oder so berühmten Persönlichkeiten der Vergangenheit wie Theodore Dreiser, Ernest Hemingway, William Faulkner, Upton Sinclair und anderen. Bei uns kennen die Jugendlichen auch die zeitgenössischen Autoren sehr gut, wie z. B. Truman Capote, Tennessee Williams, J.D. Salinger, Kurt Vonnegut, Joyce Carol Oates, John Updike und viele andere. Sie sind vollständig übersetzt worden und viel gelesen und bekannt. Und das gilt nicht nur für amerikanische, sondern auch für deutsche, französische und englische Literatur, für die der Dritten Welt, überhaupt für alles von Wert, was im Ausland publiziert wurde. Ich glaube, daß die Leute bei uns im Durchschnitt mehr über Amerika, seinen Nationalcharakter und seine Geschichte wissen, als das umgekehrt der Fall ist.
Victor Afanasew, der Chefredakteur der Prawda, versicherte mir, daß die sowjetische Presse dreimal soviet Information über die USA verbreitet wie umgekehrt. In Ungam scheint es 14mal soviet zu sein. Lediglich, als Leonid Breschnew nach Budapest reiste, wurde die ungarische Hauptstadt von Hunderten von westlichen Journalisten überschwemmt.
Einer der großen Unterschiede zwischen unseren beiden Systemen liegt auch darin, wie die Presse und die Medien funktionieren. Vielleicht ist bei uns nicht immer sofort für eine Erwiderung auf politische Fragen und Ereignisse gesorgt. Aber ich habe das Gefühl, daß wir unseren Lesern in sehr reichem Maße Hintergrundmaterial anbieten, einschließlich einer ausführlichen Information darüber, wie die gegenwärtige Situation in den USA zu interpretieren und zu verstehen ist. | |
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Aber im Westen wird der sowjetische Stil des Journalismus und der Berichterstattung zum aktuellen Geschehen oftmals für unfair und langweilig gehalten.
Nun, lassen Sie uns differenzieren. Sowohl bei uns wie auch im Westen gibt es gute und schlechte Journalisten, gute und schlechte Berichterstattung zum aktuellen Geschehen. In dieser Hinsicht hängt sehr viel von persönlichen Fähigkeiten und anderen individuellen Eigenschaften der Reporter, Redakteure und Herausgeber ab. Aber es gibt auch einen generellen Unterschied im Stil, der mit der Verschiedenheit der Systeme zu tun hat. Westlicher, vor allem aber amerikanischer Journalismus ist einseitig auf Sensationen ausgerichtet, insbesondere auf negative. Normale, ausgeglichene Beziehungen zwischen Ländern oder auch Personen sind immer von geringerem Nachrichtenwert als Konflikte und Streit. ‘In unserem Geschäft zählen die schlechten Nachrichten’, sagte ein britischer Fernsehproduzent, womit er auf diese Tatsache hinwies. In dieser Hinsicht haben amerikanische Journalisten bei uns harte Zeiten durchzustehen, da unser Hauptaugenmerk der Erfüllung unserer Pläne für Industrie und Landwirtschaft und kulturellen Ereignisse gilt. Unsere Presse räumt Meldungen zu Katastrophen, Morden oder Sexskandalen nicht viel Raum ein.
Kein Klatsch über pikante Affären ehemaliger Präsidenten und deren Gattinnen?
Gewiß nicht. Mir tun sogar die amerikanischen Journalisten in Moskau leid, die nicht sehr viel finden, was nach ihren gewohnten Maßstäben berichtenswert wäre. Vielleicht macht sie das noch beharrlicher in ihrem krankhaften Interesse an Dissidenten und an Gerüchten darüber, was ‘oben’ vor sich geht, und ähnlichem mehr.
Aber sie sind wirklich in einer schlimmen Lage. Wenn sie nur darüber berichten, was in der Sowjetunion für eine Nachricht gehalten wird, so wird das kaum jemand veröffentlichen.
Ich verstehe das, jedoch gibt es nun mal gewisse objektive Schwierigkeiten. Ich muß auch sagen, daß unsererseits viele Versuche untemommen wurden, den westlichen Journalisten die Arbeit leichter zu machen, z. B. mit Fahrten zu Sehenswürdigkeiten und Treffen mit Ministern, deren Arbeit für den Westen besonders interessant sein könnte, z. B. mit jenen, die mit Energiefragen befaßt sind. Manchmal erbrachte das gute Resultate, manchmal nicht. Um es zusammenzufassen, die Aufgabe der | |
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westlichen Journalisten in der UdSSR ist sehr wichtig, da ein Großteil der Information, die zum Thema Sowjetunion in den Westen gelangt, durch sie vermittelt wird. Es gibt in diesem Bereich noch immer Probleme, einige davon sind ziemlich ernst. Nach meiner Ansicht können sie gelöst werden, vorausgesetzt, alle Seiten - einschließlich des Westens und seiner Presse - sind guten Willens. Und es bedarf nicht nur guten Willens, sondem auch eines ernsthaften Verantwortungsgefühls.
Welchen Eindruck haben Sie von den amerikanischen Kongreßabgeordneten, die Moskau besuchen?
Nun, dabei handelt es sich um Leute mit verschiedenen Ansichten, unterschiedlichem Background und unterschiedlichen Neigungen. Allein schon die Entwicklung solch parlamentarischer Kontakte zwischen unseren Ländern, wie sie in den letzten Jahren stattfand, ist sehr wichtig. Ganz allgemein sind diese gegenseitigen Besuche trotz all der Schwierigkeiten, die wir während der vergangenen Jahre hatten, einer der Bereiche, in denen wir nach meiner Ansicht Erfolge zu verzeichnen haben. Dieser Austausch von Ideen und Meinungen wahrend der Besuche hat sich mittlerweile entwickelt und einen recht beachtlichen Stand erreicht. Sie sind beinahe schon zu einer Einrichtung geworden, und sollten sie jetzt wegen des Kurswechsels der US-Politik und der daraus entstandenen Verschlechterung unserer Beziehungen zum Erliegen kommen, so ware das für beide Seiten ein echter Verlust.
Wann haben diese Kontakte begonnen?
Eine Delegation des Obersten Sowjets wurde zum ersten Mal 1974 in die USA eingeladen. Danach besuchte uns 1975 eine offizielle Delegation des amerikanischen Kongresses. Die allererste Delegation bestand aus Mitgliedern des amerikanischen Senats unter der Führung der Senatoren Hubert Humphrey und Hugh Scott. Die zweite Delegation wurde vom Kongreß entsandt und von dessen Sprecher Carl Albert angeführt. Noch zu einigen weiteren offiziellen Delegationen der letzten beiden Jahre: Drei Delegationen des Senats wurden von den Senatoren Abraham Ribicoff, Howard Baker und Joseph Biden angeführt, und eine Delegation des Kongresses führte der Abgeordnete John Brademas an.
Die Kongreßabgeordneten wurden ohnehin schon immer als Parlamentarier zweiter Klasse angesehen.
Wir haben sie nie so betrachtet. Verschiedene weitere Grappen von Se- | |
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natoren und Kongreßabgeordneten mit nahezu dem gleichen Status haben Moskau während der letzten Jahre besucht, so z. B. eine Grappe des Kongreßausschusses für die Streitkräfte. Verschiedene Senatoren kamen in kleinen Gruppen. Senator Edward Kennedy kam nach Moskau, um an einem speziellen medizinischen Kongreß teilzunehmen. Senator Charles Mathias eröffnete eine Ausstellung.
Waren unter den Besuchern ‘Falken’ wie Senator Sam Nunn?
Ja, er kam mit einer der offiziellen Delegationen.
Wissen Sie, daß Senator Nunn die Niederlande scharf angegriffen hat, weil eine Mehrheit unseres Parlaments zu dem irrsinnigen Wettrennen nach immer moderneren und immer mehr Nuklearraketen inzwischen eine skeptische und sogar ablehnende Haltung einnimmt? Tatsächlich hat Nunn davor gewarnt, daß die Holländer dadurch ‘eine sowjetische Invasion herausfordern’.
Nun, Senator Nunn erfreut sich nicht des Rufs, eine Taube oder auch nur ein Gemäßigter zu sein. Ich weiß nicht, wie er in den Ruf kam, ein Experte auf militärischem Gebiet zu sein, aber er gehört zu jenem harten Kern, den viele für die vorderste Linie des militärisch-industriellen Machtkartells innerhalb des US-Senats betrachten. Deshalb bin ich auch von seinen Anschuldigungen gegen die Niederlande keineswegs überrascht. Jedoch möchte ich nicht den Eindruck erwecken, als gäbe es Kongreßabgeordnete, mit denen wir wegen ihrer Ansichten nicht sprechen sollten. Wir sind bereit, mit Kongreßabgeordneten aller Richtungen zusammenzutreffen und ihnen unsere Positionen zu erklären, weil uns klar ist, daß sie das politische Spektrum der USA repräsentieren und wir um unserer Beziehungen willen das Vorhandensein solcher Ansichten nicht ignorieren sollten. Im übrigen wurde auch Senator Nunn bei uns bereitwillig empfangen. Wir führten sehr wichtige Gespräche, die, so glaube ich, für beide Seiten nützlich waren. Ich habe Leute erlebt, die eine ziemlich harte Haltung einnehmen und ihre Meinung natürlich nicht ändern, aber als Ergebnis des Zusammentreffens und der Gespräche uns wenigstens besser verstehen und mehr Offenheit entgegenbringen. Deshalb beunruhigt es mich sehr, wenn ich sehe, daß 80 Prozent der Kongreßabgeordneten nie in der UdSSR waren. Wahrscheinlich trifft das gleichermaßen für die Mitglieder der Exekutive zu. Andererseits hat die Mehrheit unserer Abgeordneten des | |
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Obersten Sowjet und der überwiegende Teil der hohen Staatsbeamten ebenfalls über die USA keine Kenntnisse aus erster Hand. Der Mangel an solchem aus erster Hand gewonnenen Wissen ist im Atomzeitalter einfach gefährlich. Das ist auch der Grund, warum die Entwicklung solcher Kontakte so wichtig ist.
Sind nicht die amerikanischen Parlamentarier, insbesondere, wenn sie zum ersten Mal kommen, voller vorgefaßter Meinungen, die auf mangelnden Informationen über die Sowjetunion beruhen (und gilt nicht das gleiche im umgekehrten Fall)?
Das kommt vor (wobei ich nicht den umgekehrten Fall meine). Oft bleiben sie nur kurze Zeit hier, so daß es fast unmöglich ist, alle diese Vorurteile zu zerstreuen.
Amerikanische Parlamentarier, die nach Moskau kommen, scheinen besonderen Nachdruck darauf zu legen, mit sowjetischen Dissidenten zusammenzutreffen, ebenso, wie einige Journalisten das als ihre vorrangige Aufgabe zu betrachten scheinen.
Es ist für Kongreßabgeordnete und viele andere fast zur Routineangelegenheit, zu einem bevorzugten Zeitvertreib geworden, mit Dissidenten zusammenzutreffen.
Ein Abgeordneter des niederländischen Parlaments, der Moskau besuchte, kletterte sogar mitten in der Nacht über das Tor des Gästehauses, in dem er wohnte, um einen Dissidenten treffen zu können.
Ich habe viele Delegationen von Parlamentariern aus den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländern getroffen, aber ich habe, ehrlich gesagt, ihr Verhalten während der Nacht nicht beobachtet. Manchmal schicken amerikanische Organisationen den Delegationen des Kongresses einige Leute voraus, damit diese Treffen mit Dissidenten sowohl in Leningrad wie auch in Moskau vorbereiten. Wenn mich amerikanische Besucher fragen, ob solche Treffen angebracht sind, so pflege ich sie meist an ihre Delegationsführer zu verweisen. Manchmal aber stelle ich ihnen die Gegenfrage, wie sie wohl reagieren würden, wenn eine offizielle sowjetische Parlamentarierdelegation bei einem Besuch der USA im Programm nicht vorgesehene - manchmal fast heimliche - Begegnungen mit Gruppen arrangieren würde, für die wir tatsächlich Sympathien hegen mögen, wie etwa den Black Panthers, militanten Puertorica- | |
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nern Oder Aktivisten der Indianer, die von der US-Regierung verfolgt werden.
Was wurde Ihnen geantwortet?
Nichts Einleuchtendes, obwohl sie mit solchen Praktiken unverändert fortfahren. Bei diesen und weiteren Gesprachen habe ich den Eindruck gewonnen, daß viele amerikanische Politiker bei dieser Sache nicht deshalb mitmachen, weil sie sich so sehr für die Dissidenten oder die ‘Zurückgewiesenen’ (d.h. Leute, denen ein Visum für die Ausreise verweigert wird) interessieren, sondem einfach um des Ansehens willen; das gilt vor allem für jene, die eine erhebliche Zahl von Einwanderern in ihrem Wahlkreis haben.
Jedenfalls besuchen auch Delegationen des Obersten Sowjets Washington?
Ja, es wurden zwei offizielle Delegationen entsandt, eine 1974 und die andere 1978, jeweils unter der Führung von Boris Ponomarew, dem Vorsitzenden des Außenpolitischen Ausschusses. Auch kleinere Grappen besuchten die USA, die letzte im Herbst 1979.
Die Frage der Dissidenten schafft für die Ost- West- Beziehungen fortwährend Schwierigkeiten. Was ist Ihre Meinung zu diesen Leuten?
Die sogenannten ‘Dissidentená sind eine kleine Grappe.
Wie klein genau?
Meines Wissens nach sind im letzten Jahrzehnt ein paar Hundert von diesen Leuten aufgetreten, darin eingeschlossen nicht nur die im engeren Sinn politischen Dissidenten, sondern auch die aktivsten unter den ‘Zurückgewiesenen’, sowie die führenden Mitglieder von extrem nationalistischen Gruppen und illegalen religiösen Sekten. Das sind Leute mit unterschiedlichen Forderungen, Programmen und Beschwerden. Wann immer gerichtliche oder administrative Maßnahmen gegen sie unternommen werden, so ist das nicht eine Folge davon, daß sie Ansichten vertreten, die mit den im ganzen Land vertretenen Meinungen nicht übereinstimmen, wie man das ja im Westen oftmals glaubt. Sie kommen mit dem Staat nicht deshalb in Konflikt, weil sie ‘anders denken’ oder ‘abweichen’, was ja die genaue Bedeutung des lateinischen Wortes ‘Dissident’ ist. Die Probleme fangen dann an, wenn sie sich entschei- | |
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den, sowjetische Gesetze zu brechen. Immer dann ergreift der Staat Maßnahmen gegen sie. Ein typisches Merkmal jener Grappen war, daß sie in den letzten Jahren enge Beziehungen zu auslandischen Bürgern und Organisationen unterhielten. Sie stützten sich auf ausländische Medien, haben oftmals tatsächlich für sie gearbeitet und erhielten verschiedene Arten der Unterstützung von außen, in einigen Fällen auch finanzielle Hilfe. Gleichgültig, wie man im Westen die Motive der Dissidenten darstellt - bei uns sieht die breite öffentliche Meinung in ihnen Leute, die ausländischen Interessen dienen.
Und was ist mit der Gruppe, die die Einhaltung der Schlußakte von Helsinki durch die Sowjetunion überwacht?
Einige Leute haben dieses Mäntelchen für ihre Tätigkeit gewählt. In Wirklichkeit ist es ihr vorrangiges Ziel, die ausländischen Medien mit Material zu versorgen, das dazu dient, im Westen den Eindruck zu erwecken, es gäbe in der UdSSR eine weitverbreitete politische Bewegung, die sich gegen den sowjetischen Staat und die sowjetische Gesellschaft richtet, und zugleich soll die sowjetische Öffentlichkeit durch Gerüchte und Mitteilungen, die über die westlichen Medien in die UdSSR getragen werden, in Unruhe versetzt und irregeleitet werden. Diese Leute fordern fortgesetzt unsere Gesetze heraus. Einige Leute im Westen sehen das vielleicht gerne. Aber sie, wie auch die sowjetischen Bürger, die sich in dieser Weise betätigen, müssen sich darüber im klaren sein, daß sie die Regierang und das gesamte politische System direkt herausfordern, und sie müssen deshalb damit rechnen, daß dieser Konflikt nicht ohne Konsequenzen bleibt.
Was die Menschen im Westen am meisten stort, das ist, daß diese Leute in vielen Fällen verhaftet, vor Gericht gebracht, zu langen Freiheitsstrafen verurteilt oder ins Exil geschickt werden.
Gemäß den sowjetischen Gesetzen ist das Verhalten dieser Leute kriminell. Und Verbrechen haben immer Bestrafung zur Folge. Man kann diese Tatsache bedauern, aber sie bleibt nichtsdestoweniger eine Tatsache. Wie der Leiter des Ausschusses für Staatssicherheit kürzlich feststellte, ist die Zahl jener, die in Zusammenhang mit illegalen politischen Tätigkeiten verurteilt sind, heute geringer als zu irgendeiner anderen Zeit im Laufe unserer Geschichte. Es wäre noch besser, wenn es solche Fälle überhaupt nicht gäbe. Wenn der Westen sich jedoch von humanitären Motiven leiten läßt, wie | |
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er versichert, dann muß er zuerst einmal sein eigenes Tun überprüfen. Ich bin z. B. fest davon überzeugt, daß ohne die systematische Unterstützung und Publizität, die der Westen gewährt, und ohne die Art Heiligenschein, zu dem er den Dissidenten verhilft - weshalb diese Leute auch einen Märtyrerkomplex entwickelt haben und sich für Ebenbilder der Heiligen Johanna halten, die gleich ihr den Scheiterhaufen besteigen -, daß ohne all das die meisten dieser Leute die Gesetze nicht herausfordern und sich folglich nicht auf der Anklagebank wiederfinden würden.
Mit anderen Worten, Sie finden, der Westen sei mitverantwortlich für die Sckwierigkeiten, in denen sich die Dissidenten befinden.
Der Westen trägt eine schwere Verantwortung. Es ist die Ermutigung und Unterstützung durch den Westen, die einem Dissidenten die Gewißheit geben, daß jeder seiner Schritte weltweite Publizität erlangen wird und, wenn er weit genug geht, ihm das sogar einen Nobelpreis einbringen kann (Friedensnobelpreis, wie seltsam das auch klingen mag). Das brachte einige Leute, die vielleicht ohnehin emotional etwas labil waren, dazu, sich mit der Regierung auf eine Kraftprobe einzulassen und eine Gratwanderung am Rande der Gesetzlichkeit zu wagen. Schließlich überschreiten diese Leute die Gesetze der Legalität. Früher oder später endet es in menschlichen Tragödien. Das ist möglicherweise genau das Ergebnis, das die westlichen Sowjetgegner brauchen, können sie sich doch dann die Hände reiben, die ‘Märtyrer’ beklagen und die Sowjetunion noch mehr denunzieren. Wenn der Westen jedoch wirklich über den humanitären Aspekt und über das Schicksal einiger unserer Bürger besorgt ist, warum benutzt man sie dann auf diese Weise? Wenn es jedoch das Ziel der ganzen Kampagne ist, der UdSSR größtmöclichen Schaden zuzufügen, warum nennt man dann die Dinge nicht beim Namen und hort auf, Tränen zu vergießen? Aber der Westen möchte offenbar beides gleichzeitig haben. Jene, die die Kampagnen zugunsten der Dissidenten betreiben, versuchen einfach, den sowjetischen Behörden endlose Schwierigkeiten zu bereiten, in unserem Land eine Ersatzopposition heranzuziehen, die UdSSR als Polizeistaat abzustempeln, sowie schließlich im Westen die Saat der Feindseligkeit gegenüber der Sowjetunion auszustreuen, um so die Versuche, die internationalen Spannungen zu verringern und das Wettrüsten einzudämmen, zum Scheitern zu bringen. Diese ganzen Tätigkeiten werden nach unserem Eindruck von westlichen Geheimdiensten wie auch von Emigrantengruppen und anderen privaten Organisationen aktiv unterstützt. | |
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Betrachtet man diese Situation vom amerikanischen Standpunkt aus, so ergibt sich ein ganz anderes Bild.
Dann würde ich den Amerikanern den Rat geben, sich in unsere Situation zu versetzen. Wie würden die Amerikaner reagieren, wenn sowjetische Journalisten in den Vereinigten Staaten beginnen würden, mit den Mitgliedern von Grappen, wie der Symbionese Liberation Army oder von Weathermen zusammenzuarbeiten? Wäre Daniel Ellsberg von den US-Gerichten freigesprochen worden, wenn er Kontakte mit sowjetischen Vertretern in den Vereinigten Staaten gehabt hätte? Was wäre, wenn wir mit Indianem genau zu dem Zeitpunkt enge Verbindungen aufnehmen würden, zu dem sie sich mit Waffen gegen die Regierung erheben? Wir hegen für sie tiefe Sympathien, aber würde es nicht als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der USA aufgefaßt werden? Und würden sich diese Leute und Organisationen in solch einem Fall nicht wie Agenten einer fremden Macht ausnehmen?
Eine Gruppe von Aktivisten der amerikanischen Indianer übergab 1977 auf der Europäischen Sicherheitskonferenz in Belgrad der sowjetischen Delegation Berichte samt den erforderlichen genauen Angaben, aus denen hervorgeht, auf welche Weise nach Ansicht der Indianer die amerikanische Regierung ihre Menschenrechte schwer verletzt und mit Füßen getreten hat.
Ja, ich habe von dieser Petition gehört, die vorgelegt, oder, um genauer zu sein, mit der Post geschickt wurde - und genau dieser Vorgang verhinderte es, daß die Petition ein offizielles Dokument der Konferenz wurde. Aber was wäre gewesen, wenn wir ein Ende der ungerechten Behandlung der amerikanischen Indianer zur Vorbedingung für einen weiteren Fortschritt bei der Entspannung gemacht hätten? Solch ein Schritt wäre ein Versuch gewesen, eine Ungerechtigkeit durch eine andere zu beseitigen, ohne daß dabei den Indianern geholfen gewesen wäre. In den internationalen Beziehungen gibt es fraglos Grenzen, die durch die politische Weisheit eines Staatsmannes bestimmt werden. Die Frage ist, wo nehmen Äußerungen, mit denen man bestimmte Ideen unterstützt, den Charakter einer offenen Einmischung an. Das unerläßliche Gebot der Entspannung ist es, diese schmale Grenzlinie nicht zu überschreiten.
Glauben Sie, daß Carter mit einigen seiner Maßnahmen diesen Rubikon überschritten hat? | |
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Mit Sicherheit ist das der Fall. Ich glaube, er hat das selbst gemerkt, genauso wie andere Leute innerhalb seines Regierungsapparats. Gegen Ende der Amtszeit wurden sie in dieser Hinsicht vorsichtiger, vor allem als offensichtlich wurde, daß die Menschenrechtskampagne extrem einseitig ausgerichtet war und dabei mit zweierlei Maß gemessen wurde.
Wenn die Zahl der Dissidenten so gering ist, wie Sie sagen, wäre es dann nicht praktischer, diese entweder überhaupt nicht zu beachten oder ihnen einfach zu erlauben, das Land zu verlassen?
In vielen Fällen wird genau das gemacht. Aber wir haben unsere Erfahrungen, vor allem im Fall der ‘Zurückgewiesenen’, also der Leute, die mit den Behörden Schwierigkeiten bekamen, weil ihnen aus irgendwelchen Gründen die Auswanderung nicht gestattet wurde. Wenn wir den Weg zu einer derartigen Lösung einschlagen, so wird das als Einladung aufgefaßt, weiteren Druck auszuüben: Neue Namen tauchen auf, und das Geschrei wird lauter. Einige, die zurückgewiesen werden, werden offensichtlich dazu angestachelt, daraufhin etwas zu untemehmen. Die westlichen Medien greifen einige Fälle mit ‘Nachrichtenwert’ auf und das ganze beginnt von neuem, aber nun mit doppelter und dreifacher Intensität. Deshalb sind manche Leute dazu übergegangen, es für das Beste zu halten, diesen Forderungen und diesem ganzen Geschrei weniger Aufmerksamkeit zu schenken. Der Westen hat die Glaubwürdigkeit seiner Besorgnis, seiner Warnungen und seiner Appelle an uns selbst untergraben.
Die Frage der ‘Zurückgewiesenen’ bringt uns auf die Situation der Juden in der UdSSR. Einige Beobachter stellen ein Ansteigen des Antisemitismus in der Sowjetunion fest.
Die Geschichten über den Antisemitismus in der Sowjetunion sind ein Teil der antisowjetischen Kampagne, die im Westen geführt wird. Diese Geschichten wurden zu wiederholten Malen von den höchsten zuständigen sowjetischen Stellen als falsch entlarvt. Die westliche Kampagne gibt zur Besorgnis Anlaß, denn sie kann nur schlimme Gefühle wecken, wenn nicht gar gewisse Vorurteile aufs neue beleben. Man muß wissen, daß unsere Partei nach der Revolution eine große Leistung vollbracht hat, als sie den Antisemitismus bekämpfte und antisemitische Vorurteile ausrottete. Der Antisemitismus basierte immer auf der Vorstellung, die Juden seien | |
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‘Fremde’, seien Bürger, deren Loyalität zweifelhaft oder gar doppelbödig ist. Wird von außen Druck ausgeübt, damit mehr aus der Sowjetunion auswandern können, so kann die ganze Aufregung, die um diese Frage entsteht, solche Vorstellungen nur neu beleben. Und niemand sollte überrascht sein, daß die Zionisten schließlich eine Verbindung hergestellt haben zwischen der Kampagne zur ‘Hilfe für die sowjetischen Juden’ und solch emotionsgeladenen Themen wie Entspannung, Rüstungskontrolle und der Frage der wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte zwischen der UdSSR und den USA.
Am 18. Februar 1980 veröffentlichte der Dissident und Schriftsteller Alexander Solschenizyn im Magazin Time, das eine Auflage von ungefähr 6 Millionen hat, einen weiteren zwei Seiten langen ‘Rat an den Westen’, in dem er den Kommunismus eine tödliche Gefahr für die Menschheit und eine ansteckende Krankheit nennt.
Der Kommunismus wurde schon lange, bevor Solschenizyn zu schreiben anting, ja sogar schon bevor er geboren wurde, als tödliche Gefahr beschrieben. Vom ersten Augenblick unseres Bestehens an stießen wir in allen westlichen Ländern auf weitverbreiteten Haß, Verleumdung und Feindseligkeit. Was diesen speziellen ‘Warner’ anbelangt, so wird er ganz im Gegensatz zu seinen Behauptungen hier bei uns nicht als tödliche Gefahr für den Kommunismus oder für die Moral der Menschen in der Sowjetunion betrachtet. Ich glaube, daß heute auch im Westen eine nüchtemere Haltung gegenüber Solschenizyn eingenommen wird, nachdem die Öffentlichkeit mit dem, was er schreibt, besser bekanntgeworden ist.
Nachdem wir einen berühmten Mann erwähnt haben, möchte ich auch den zweiten zur Sprache bringen, nämlich das Mitglied derAkademie der Wissenschaften, Andrej Sacharow.
Nun, vieles von dem, was ich dazu schon gesagt habe, gilt auch für diesen speziellen Fall. Sacharow hat sich schon seit langem darauf verlegt, die Regierung öffentlich herauszufordern - manchmal auf die denkbar rüdeste Weise. Die Tatsache, daß er in seinem Tun vom Ausland unentwegt unterstützt, ja sogar dazu angestiftet wird, ermutigt ihn zur Konfrontation mit der Regierung, was ihn wiederum in den Augen der Sowjetbürger verdächtig macht.
Heißt das, man sieht in ihm jemand, der nicht die Interessen seines Vaterlandes verteidigt, sondern die Interessen anderer? | |
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Ja. Sie können sich leicht vorstellen, wie die Leute in der Sowjetunion, auch wenn sie um Sacharows frühere Leistungen als Wissenschaftler wissen, auf seine freundschaftlichen Verbindungen, ja mehr noch, auf seine gegenwärtige Zusammenarbeit mit so erklärten Feinden unseres Landes wie Senator Henry Jackson oder James Buckley reagieren. Und was um alles in der Welt soli man in der UdSSR von Sacharow halten, wenn er, wie ‘The Voice of America’ unverzüglich berichtete, der US-Regierung den Rat gab, über den Verkauf von Getreide und anderen Waren an die Sowjetunion ein Embargo zu verhßngen, durch militßrische Aufrüstung den Druck auf die Sowjetunion zu erhöhen, die Olympischen Spiele zu boykottieren und weitere feindliche Handlungen gegen die Sowjetunion zu begehen. Übrigens gibt es in den USA selbst Gesetze, die den Bürgern, wenn sie nicht ausdrücklich dazu autorisiert sind, verbieten, als Privatpersonen mit ausländischen Regierungen Verhandlungen aufzunehmen, in einen Schriftwechsel zu treten und Kontakte aufzubauen. Aber selbst, wenn wir die Anforderungen des Gesetzes außer Betracht lassen - wie würden die Amerikaner selbst einen Mitbürger behandeln, der dauernd fremde Regierungen dazu aufruft, feindliche Handlungen gegen die Vereinigten Staaten zu begehen, der also, sagen wir, Teheran bittet, die Geiselnahme fortzusetzen, oder verlangt, Saudi-Arabien solle den Preis für das Öl, das in die Vereinigten Staaten exportiert wird, erhöhen?
Aber katte Sacharows Verbannung nach Gorki nicht den gegenteiligen Effekt von dem, was eigentlich beabsichtigt war, d.h., war sie nicht ‘konterproduktiv’?
Sacharows Verbannung und sein Schicksal ganz allgemein können nicht unter dem Gesichtspunkt eines Spiels oder einer Intrige betrachtet werden. Hier haben wir es mit einem ziemlich ernsten politischen Thema und mit einer menschlichen Tragödie zu tun. Ich halte es nicht für angebracht, bei der Diskussion solcher Themen mit den Begriffen ‘produktiv’ und ‘konterproduktiv’ zu operieren.
Was würden Sie abschließend zu diesem Thema der Menschenrechte sagen?
Ich will noch einmal betonen, daß das Thema der Menschenrechte, gerade weil es so wichtig ist, konstruktiven und nicht destruktiven Zwekken dienen sollte. Ist es nicht für jedermann das wichtigste Recht, in Frieden zu leben? Vorausgesetzt, man geht das Thema korrekt und gewissenhaft an, sollte man Debatten über die Menschenrechte auf eine | |
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Art führen, die der Entspannung keinen Schaden zufügt. Schließlich sind Frieden und Entspannung die Grundvoraussetzungen, um den Menschenrechten in all ihren Erscheinungsformen auf der ganzen Welt Geltung zu verschaffen. |