Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR
(1981)–Georgi Arbatov, Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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III) Über Krieg und Frieden, Wettrüsten und Rüstungskontrolle‘Zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten scheint ein Krieg mit der Sowjetunion nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich im Bereich des Möglichen zu liegen - und zwar nicht nur ein kalter Krieg, sondern ein heißer Krieg, ein Krieg, bei dem geschossen wird - ja sogar ein Atomkrieg.’ Ich zitiere nur eine kürzlich getroffene Feststellung von Stephen Rosenfeld, dem führenden Leitartikler der Washington Post.
Eine Feststellung wie diese ist ein sehr gefährliches Anzeichen. Alles weist darauf hin, daß wir ein Stadium erreichen, in dem das Undenkbare denkbar zu werden scheint. Und es sieht so aus, als ob sich die Art, in der die Debatte über Krieg und Frieden in den USA geführt wird, gewandelt hätte, und zwar dahingehend, daß der gesunde Menschenverstand verdrängt wird und die Diskussion sich auf immer wahnwitzigere Ideen konzentriert. Im Verlauf der Geschichte ist es mehr als einmal geschehen, daß sich ein Land in einen katastrophalen Krieg hineingeredet hat. Mehr noch, es geht nicht nur um Gerede. Die USA bereiten die eine oder andere Art des Krieges in einem Maße und mit einem Eifer vor, die wahrhaft alarmierend sind. Die Steigerung der US-Militärausgaben für das Haushaltsjahr 1981 hat mit 18 Prozent eine neue Rekordmarke erreicht - das Gewicht hat sich innerhalb des Haushalts auf ‘Bereitschaft’ verlagert, d.h. auf die Bereitstellung von Kriegsmaterial. Die Wehrpflicht scheint vor ihrer Wiedereinführung zu stehen, die mobile Eingreiftruppe ist aufgestellt worden und - wie als Krönung des Ganzen - signalisierte im Juli 1980 eine Direktive Präsident Carters mit der Nummer PD 59 eine ominöse Veränderung in der amerikanischen Nuklearstrategie. In den ersten Tagen des Jahres 1980 wurden die Zeiger der symbolischen Uhr auf dem Titelblatt des Bulletin of Atomic Scientists von neun Minuten vor zwölf auf sieben Minuten vor zwölf vorgerückt. Das ist die Zeit, die diese Uhr in sehr gefährlichen Augenblicken des Kalten Krieges anzeigte. Ich fürchte, diese Zeiger müssen sogar noch weiter vorgerückt werden. | |
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Ist das nach Ihrer Auffassung in erster Linie ein Resultat des jüngsten Ansteigens der Spannungen in der Welt?
Ja, aber nicht nur: Die Kriegsgefahr bereitet Wissenschaftlern und Experten schon seit geraumer Zeit wachsende Sorgen. Die wichtigsten Gründe sind das andauernde Wettrüsten, der extrem langsame Fortschritt, bzw. in letzter Zeit der völlige Stillstand bei den Rüstungsbegrenzungsgesprächen und das Scheitern der meisten Versuche, Krisensituationen und Konflikte beizulegen. Heute, da die Spannungen wieder zugenommen haben und der militärische Wettlauf sich beschleunigt hat, ist die Situation natürlich noch alarmierender geworden.
Aus dem was Sie sagen, geht hervor, daß die entscheidende Aufgabe der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen die Verhütung eines Atomkrieges darstellt.
Ja, die Tatsache, daß die Verhinderung eines Atomkrieges die Hauptaufgabe der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen und wichtigster Gegenstand der Entspannung ist, wurde von beiden Mächten auf höchster Ebene anerkannt und offiziell verkündet. Keine der gemeinsamen Positionen, auf die sich die Führer der UdSSR und der USA auf dem ersten Gipfeltreffen 1972 in Moskau geeinigt haben, ist wichtiger, als die Erklärung, daß es ‘im Atomzeitalter zu der Regelung der gemeinsamen Beziehungen auf der Basis der friedlichen Koexistenz keine Alternative gibt’. Dieser Gedanke wurde seither wiederholt von beiden Seiten bekräftigt. 1973 unterzeichneten die beiden Staaten ein entsprechendes Abkommen ‘zur Verhütung eines Nuklearkrieges’, das, jedenfalls aus sowjetischer Sicht, bis heute eines der wichtigsten gemeinsamen sowjetisch-amerikanischen Dokumente ist. Gleichzeitig gibt es in den USA keinen Konsens über die zweite entscheidende Frage: darüber nämlich, ob Entspannung wirklich der sicherste Weg ist, um einen Atomkrieg zu vermeiden. Es ist eine massive Kampagne im Gange, die darauf abzielt, die Amerikaner davon zu überzeugen, daß der einzige Weg zum Frieden das Wettrüsten und eine Politik der harten Hand sei. Die Haltung der gegenwärtigen US-Regierung zu den weiter oben erwähnten Dokumenten ist ebenfalls alles andere als klar. Und schließlich die ominöse ‘Presidential Directive 59’, die schon erwähnt wurde. | |
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Auf jeden Fall wächst die Angst, daß es eines Tages zu dem verhängnisvollen Zusammenstoß kommen könnte.
Kürzlich stieß ich diesbezüglich auf eine sehr dramatische Erklärung von George Kistiakowsky, einem Fachmann, der in Fragen der Nuklearwaffen eine weltweit anerkannte Autorität darstellt. Er betonte, angesichts der gegenwärtigen militärischen, technologischen und politischen Tendenzen ‘wäre es ein Wunder, wenn nicht noch vor Ende dieses Jahrhunderts nukleare Sprengköpfe explodieren würden, und es wäre ein kaum geringeres Wunder, wenn das nicht zur nuklearen Vernichtung größten Ausmaßes führen würde’.Ga naar eind1 Obwohl ich diesen Pessimismus übertrieben finde, teile ich uneingeschränkt solch große Besorgnis. Ja, wir glauben, daß die Gefahr immer größer wird. Dies vor allem, weil nach unserer Meinung die Kriegsgefahr nicht nur darin besteht, daß jemand den Krieg vorsätzlich plant und bereit ist, in der Stunde Null auf den Knopf zu drücken; die hauptsächliche und sehr reale Gefahr ist viel anonymerer Art. Es entstehen Situationen, die zu einem Krieg führen können. In einer von Waffen starrenden Welt ist das infolge sich verschlimmernder internationaler Spannungen bzw. eines Ausbruchs bislang latenter Konflikte in den verschiedenen Regionen sehr wohl möglich. Das ist der Grund, warum es - will man eine zuverlässige Gewähr für den Frieden schaffen - nicht ausreicht zu erkennen, wie unsinnig es wäre, einen Krieg zu beginnen, und auch nicht ausreicht, entsprechende formale Verpflichtungen einzugehen. Es muß sehr viel mehr getan werden, um jegliche Möglichkeit eines Krieges nachhaltig zu beseitigen. Das erfordert unablässige Anstrengungen, um die gesamte internationale Situation tiefgreifend zu verbessern.
Was meinen Sie mit ‘tiefgreifende Verbesserung der gesamten internationalen Situation’?
Keine weltweite sozialistische Revolution selbstverständlich. Ich spreche von Veränderungen, die für beide Systeme akzeptabel sind, von der Festigung der friedlichen Koexistenz, von der Entspannung. Um es genauer zu sagen: von Fortschritten auf dem Weg zur Rüstungskontrolle und zur Beendigung des Wettrüstens, von der Beilegung internationaler Konflikte und Krisen auf dem Verhandlungswege sowie ihrer Verhütung in der Zukunft, von der Entwicklung der Zusammenarbeit in den verschiedensten Bereichen zum beiderseitigen Nutzen. Ich weiß, daß sich das möglicherweise wie eine langweilige Auflistung anhört - insbesondere, da nichts davon besonders neu ist und alles längst | |
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auf der Tagesordnung zahlreicher Diskussionen und Gespräche stand. Aber einen wichtigen Gesichtspunkt muß man im Auge behalten: Sollen solche Bemühungen Erfolg haben, so ist es unabdingbar, die Gegebenheiten des Atomzeitalters genauestens zu begreifen und diesen Gegebenheiten in der praktischen Politik auch die entsprechende Beachtung zu schenken. Es wird gesagt, Generäle bereiteten immer den zuletzt geführten Krieg vor. Oft hat man den Eindruck, daß sich Politiker ähnlich verhalten, indem sie neue Gegebenheiten ignorieren und die Erfahrungen der Vergangenheit heiligsprechen.
An welche neuen Gegebenheiten denken Sie hierbei?
Das Atomzeitalter stellt neue Anforderungen an die Politik, erfordert wichtige, politische Veränderungen. Der Krieg hat so verheerende Dimensionen angenommen, daß er nicht mehr als ein rationales Instrument der Politik angesehen werden kann.
Können Sie einige dieser neuen Anforderungen und Bedingungen benennen?
Ein unabweisbares Gebot der Stunde, das ich schon genannt habe, ist es, die Einstellung zur Frage der Gewalt, insbesondere zur militärischen Gewalt, im Rahmen der Außenpolitik drastisch zu verändern. Ganz allgemein kann man sagen, daß das erkannt worden ist. Indessen sind wir derzeit Zeugen offenkundiger Versuche, diese Notwendigkeit weit von sich zu weisen. Ich spreche nicht nur von einigen militanten Erklärungen, sondern von der ganz allgemein vorherrschenden Stimmung in den USA. Beharrliche Versuche werden unternommen, aus der Sackgasse herauszukommen, in der sich die Politik der Stärke befindet.
Sie meinen das Dilemma, daß man Gewalt nicht anwenden kann, ohne einen vernichtenden Vergeltungsschlag herauszufordern?
Ja. Im Pentagon hat man sich damit nicht abfinden können. Deshalb kam es zu einer meines Erachtens nach völlig abwegigen und außerordentlich gefährlichen Tendenz, nämlich nach neuen und wirksameren Wegen der Anwendung von Gewalt zu suchen und diese Wege als weniger gefährlich für die Menschheit darzustellen. Diese Tendenz zeigt sich auf verschiedenste Art und Weise. Ein Vorgang, der besondere Aufmerksamkeit verdient, ist die Suche nach neuen Waffensystemen, Militärdoktri- | |
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nen sowie Methoden der militärischen Gewaltanwendung, die dazu bestimmt sind, einen Atomkrieg denkbar zu machen.
Wie z. B. die Neutronenbombe?
Die Neutronenbombe, oder in der offiziellen Sprache des Pentagon, die ‘enhanced radiation weapon’ - die angeblich weit weniger zerstörerisch auf Gebäude und Gegenstände einwirkt als die üblichen Nuklearwaffen - ist eines der Ergebnisse der Suche nach ‘anwendbarer’ militärischer Gewalt. Aber es gibt noch sehr viel mehr auf diesem Gebiet. Es gibt die Verkleinerung der Nuklearwaffen sowie die Verbesserung ihrer Treffgenauigkeit und eine Steigerung der Vernichtungskraft konventioneller Waffen. Es gibt die ‘counterforce doctrine’ (Einsatz von Nuklearwaffen gegen militärische Ziele), d.h., das Konzept der ‘selective strikes’ (Einsatz von Nuklearwaffen gegen ausgewählte Ziele) bzw. ‘surgical strikes’ (Einsatz von Nuklearwaffen zur Erreichung eines begrenzten militärischen Zieles). Es gibt Versuche, gewisse ‘Spielregeln’ für militärische Konflikte einzuführen, sie dadurch in den Bereich des Denkbaren zu rücken. Und es gibt die mobile Eingreifreserve. Dies alles zusammengenommen stellt einen sehr unrealistischen Versuch dar, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Es ist zugegebenermaßen leichter, diesen Weg zu gehen, und zwar deshalb, weil sich im Laufe der Jahrhunderte eine ungeheure Trägheit angesammelt hat, derzufolge weiterhin an den Krieg als Mittel der Politik geglaubt wird, ja, einige glauben sogar, er sei ein absoluter Höhepunkt, ein entscheidender Test für die Politik. Aber dieser Weg führt von dem Damoklesschwert des nuklearen Selbstmords nicht weg. Es geht heute nicht darum, Mittel und Wege zu finden, mit denen sich die Methoden der Gewaltanwendung verbessern und verfeinern lassen, sondern darum, die Anwendung von Gewalt und die Drohung damit aus dem Bereich der internationalen Beziehungen auszuschließen.
Aber verhält sich nicht die UdSSR selbst ganz anders? Sie kümmern sich selbst sehr intensiv um Ihre Verteidigungsprobleme. Bei mehreren Anlässen hat die UdSSR auch nicht auf die Anwendung militärischer Gewalt verzichtet, wenn sie das für erforderlich hielt.
Ich spreche von dem Prozeß und seinem letztendlichen Zweck. In dieser unvollkommenen Welt können wir es uns nicht leisten, als einzige vollkommen zu sein. Stellen Sie sich eine Sowjetunion vor, die sich aller Waffen entledigt hat, sowie die Politik, die andere Großmächte daraufhin unter dem Druck von Leuten wie Brzezinski, Luns, Richard Pipes | |
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und einigen Generälen und Admirälen, ganz zu schweigen von der Führung in Peking, betreiben würden. Ich möchte noch einmal wiederholen, daß ich dabei eine sehr komplexe Umstrukturierung der internationalen Beziehungen, der Außenpolitik und des politischen Denkens vor Augen habe - eine Umstrukturierung, die beträchtliche Zeit und ungeheure Anstrengungen erfordert.
Paul Nitze hat mirgegenüber betont, daß er überzeugt sei, die Sowjetunion wolle keinen Atomkrieg. Aber gleichzeitig glaubt er, die Sowjetunion rechne mit der Möglichkeit eines nuklearen Konflikts und habe sich auch darauf vorbereitet, ihn zu gewinnen.
Vielleicht sollte ich Nitze für die Feststellung, daß wir keinen Atomkrieg wollen, danken, auch wenn sie nur in einem Privatgespräch geäußert wurde. Das hört sich aus seinem Munde ganz neu an. Das übrige aber ist eine Wiederholung der alten Litanei.
Nun, ich bin sicher, daß Sie wissen, daß diese Auffassung nicht nur von solchen Leuten vertreten wird. Es gibt auch andere, die daran festhalten, die Sowjetunion schließe einen solchen Krieg als politisches Mittel nicht aus, da sie es für möglich halte, einen solchen Krieg zu führen und zu gewinnen.
Ja, ich kenne diese Argumentation. Die Behauptungen, wir würden glauben, einen Atomkrieg führen und gewinnen zu können, stützen sich gewöhnlich auf Zitate, die nicht von Leuten stammen, die die Macht haben, politische Entscheidungen zu treffen, einschließlich der Entscheidung über Krieg und Frieden, und auch nicht auf Aussagen der gegenwärtigen militärischen Führung, sondern auf Zitate aus Artikeln, Reden und Büchern einiger sowjetischer Militärschriftsteller. Diese Leute diskutieren ihrem Beruf gemäß, wie ein Krieg zu führen ist, wenn er uns aufgezwungen wird, und ich kann darin nichts Außergewöhnliches bzw. Alarmierendes entdecken. Es ist die Aufgabe der Militärs zu überlegen, was sie zu tun haben, falls ein Krieg ausbricht. Daraus folgt nicht, daß sie einen Atomkrieg für ein brauchbares Instrument der Außenpoltik halten. Als ich einmal zu Beginn der sechziger Jahre während einer internationalen Krise in London war, sah ich in einem Café ein Poster mit der Aufschrift: ‘Bewahren Sie im Falle eines Atomangriffs die Ruhe; zahlen Sie ihre Zeche und machen Sie, daß Sie zum nächsten Friedhof kommen.’ Ich fürchte, wenn sich die Militärs in jedem Land auf derartige Anweisungen beschränkten, würde sie niemand für ihren Sinn für Humor aus- | |
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zeichnen, sondern sie müßten ihren Abschied nehmen - ohne Aussicht auf eine Altersversorgung. Wer die Sowjetunion anklagt, sollte sich anhören, was in den USA gesagt wird. Und zwar nicht von obskuren Militärschriftstellern, sondern von militärischen Führern in hohen Positionen. Lassen Sie mich einige Beispiele anführen. General Curtis LeMay z. B., der an der Spitze des strategischen Luftkommandos der USA stand, forderte von den Amerikanern mit Nachdruck, jederzeit in der Lage zu sein, ‘jeden Krieg zu führen und zu gewinnen - einschließlich eines Generalkrieges’ (und mit Generalkrieg meinte er nicht einfach nur einen Krieg, der von Generälen angeführt wird). Der ehemalige US-Außenminister Melvin Laird hat einmal geschrieben, die amerikanische ‘Strategie muß auf Kampf, Sieg und erneute Bereitschaft setzen’, die USA müßten die Bereitschaft entwickeln, ‘den totalen Atomkrieg zu führen’ und es dem Feind glaubhaft machen, ‘daß wir die Initiative ergreifen und zuerst zuschlagen werden’. Als ein weiteres Beispiel mag die 1977 abgegebene Erklärung des Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, George S. Brown, dienen: ‘Die amerikanische Nuklearstrategie verlangt eine ausreichende militärische Stärke, die den Zweck der Abschreckung erfüllt, die aber auch im Falle eines Versagens der Abschreckung so groß sein muß, daß eine angemessene Schlagkraft gewährleistet ist, um auf die verschiedensten Konflikte so antworten zu können, daß eine Eskalation kontrollierbar bleibt und der Krieg zu Bedingungen beendet werden kann, die für die Vereinigten Staaten annehmbar sind.’ Ich versichere Ihnen, daß Sie nichts Vergleichbares aus dem Munde oder der Feder führender sowjetischer Militärs oder irgend jemand sonst in der Sowjetunion finden werden.
Wenn diese Fragen im Westen erörtert werden, wird nicht nur auf losgelöste Zitate Bezug genommen, sondern auf die generelle sowjetische Militärdoktrin.
Ja, ich weiß. Doch in Wirklichkeit werden die Schlußfolgerungen zur Militärdoktrin auf der Grundlage genau dieser Zitate gezogen. Ohne in Details zu gehen, möchte ich mit Nachdruck auf den wesentlichen Kern verweisen: Die sowjetische Militärdoktrin ist ihrem Charakter nach eindeutig defensiv. Das ist ganz deutlich in der sowjetischen Stellungnahme zum Einsatz von Nuklearwaffen dargelegt. Lassen Sie mich die maßgebliche Quelle zitieren - den Oberbefehlshaber der Streitkräfte der UdSSR, Marschall Leonid Breschnew: ‘... Wir sind gegen den Einsatz von Nuklearwaffen; nur außerordentliche Umstände, eine Aggression | |
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einer anderen Nuklearmacht gegen unser Land oder seine Verbündeten kann uns zwingen, von diesem äußersten Mittel der Selbstverteidigung Gebrauch zu machen.’Ga naar eind2 Lassen Sie mich noch ein Zitat, zum möglichen Ersteinsatz von Nuklearwaffen, anführen. In einer Rede in Tula zu Beginn des Jahres 1977 sagte Generalsekretär Breschnew: ‘Haben doch unsere Anstrengungen gerade zum Ziel, es weder zum ersten noch zum zweiten Schlag kommen zu lassen, überhaupt zu keinem Nuklearkrieg.’Ga naar eind3 Ich könnte weitere ähnliche Erklärungen von Leonid Breschnew, von dem sowjetischen Verteidigungsminister Dmitrij Ustinow und anderen sowjetischen Führern zitieren. Die Quintessenz solcher Erklärungen ist, daß wir die Aufgabe unserer strategischen Streitkräfte in der Verhinderung des Krieges sehen. Die Sowjetunion halt es für sinnlos, nach militärischer Überlegenheit zu trachten. ‘Allein schon die Absicht’, so betont Generalsekretär Breschnew mit Nachdruck, ‘verliert jeglichen Sinn angesichts der bereits angehäuften Arsenale von Nuklearwaffen samt ihren Trägern.’Ga naar eind4 Die sowjetische Militärdoktrin, die von der sowjetischen Führung wieder und wieder erläutert wurde, macht ganz deutlich, daß wir einen Atomkrieg für das furchbarste Unglück halten, das der Menschheit zustoßen kann; daß unsere Strategie defensiven Charakter hat; daß wir uns Konzepten des ‘ersten Schlages’ widersetzen und unseren strategischen Streitkräften die Rolle zukommt, einen möglichen Angreifer abzuschrecken, bzw. daß sie darauf zugeschnitten sind, einen Vergeltungsschlag führen zu können. All dies wurde von höchster autorisierter Stelle dargelegt. Dies ist unsere Militärdoktrin, und man wird dahinter keine andere ‘geheime’ Doktrin entdecken können, einfach deshalb, weil es eine solche nicht gibt. Alle diese Punkte stehen im Gegensatz zu mancher offiziellen amerikanischen Verlautbarung.
An welche amerikanischen Verlautbarungen denken Sie?
Ein Beispiel war Brzezinskis Interview mit dem britischen Journalisten Jonathan Power. Brzezinski stellte dabei fest, daß man in einem Atomkrieg letztlich doch nicht solch eine furchtbare Katastrophe zu sehen habe, da ‘nur’ 10 Prozent der Menschheit umkommen würden. ‘Nur’ 10 Prozent sind, beiläufig gesagt, 400 Millionen Menschen. Tatsächlich handelt es sich hier um eine Variante der alten maoistischen Leien ‘Die Nuklearbombe ist nur ein Papiertiger’, ‘Nur die Hälfte der Chinesen wird bei einem Atomkrieg sterben, während der Rest danach glücklich weiterleben wird’, etc. Es sieht so aus, als wäre das amerikani- | |
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sche Interesse an Peking und das Ausspielen der chinesischen Karte nicht ohne kulturelle Konsequenzen geblieben. Nachdem er diese beruhigende Einschätzung getroffen hatte, fuhr Brzezinski fort, daß er ‘im Bedarfsfall’ nicht zögern würde, den Knopf zu drücken und die Raketen auf die Reise zu schicken. Ich frage mich, wie groß wohl die Schlagzeilen auf der ersten Seite der New York Times und der Washington Post wären, wenn ein hochrangiger Sprecher der sowjetischen Regierung solche Erklärungen abgäbe. Und das sind nicht etwa leere Worte. Unbestrittene Tatsache ist, daß alle theoretischen und technologischen Neuerungen, die dazu bestimmt sind, einen Atomkrieg denkbar und gewinnbar zu machen, aus den Vereinigten Staaten stammen.
Das ist nicht Ihr Ernst.
Sicher ist das mein Ernst. Carters PD 59 ist nur das jüngste Produkt einer ganzen Schule strategischen Denkens, die den begrenzten Atomkrieg propagiert, d.h., begrenzte Nuklearschläge gegen militärische Ziele sowie andere Mittel, um einen Atomkrieg ‘flexibel’ führen zu können. Weit davon entfernt, nur ein rein intellektuelles Gedankenspiel zu sein, findet sich all dies in einer bestimmten Waffentechnologie verkörpert: in der Verkleinerung und erhöhten Treffsicherheit der Sprengköpfe, in der Vergrößerung ihrer Strahlungskapazität, in der Entwicklung besonderer Trägersysteme, in der Stationierung dieser Systeme in der Nähe der sowjetischen Grenzen usw. Selbst dann, wenn das alles nur den einen Zweck hätte, den politischen Drohungen der Amerikaner größeres Gewicht zu verleihen, bliebe das schreckliche Risiko bestehen, daß die Dinge außer Kontrolle geraten und unmittelbar zu einem heißen Krieg führen, was auch immer die ursprünglichen Absichten gewesen sein mögen. Die fortgesetzten Versuche, die Trennungslinie zwischen einem konventionellen und einem atomaren Krieg zu verwischen, scheinen äußerst gefährlich zu sein.
Warum?
Weil sie dazu neigen, das zu bagatellisieren, was als Hauptabschreckung gegen einen Atomkrieg hätte dienen können, nämlich die herrschende Abscheu vor diesem Krieg und das Wissen um seine katastrophalen Auswirkungen, die ihn als letztes Mittel unbrauchbar machen. Ist dieser Widerstand erst einmal gebrochen, so wird eine atomare Auseinandersetzung sehr viel eher denkbar und infolgedessen auch wahrscheinlicher. | |
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Es scheint, als glaubten Sie, daß die Möglichkeit eines Atomkriegs nicht ausgeschlossen werden kann, ja, daß eine solche Gefahr sogar zunimmt. Folgt daraus nicht, daß man versuchen sollte, seine môglichen Auswirkungen auf ein Minimum zu beschränken?
Die gängige Logik würde eine solche Folgerung nahelegen. Aber die Realitäten im Atomzeitalter erfordern eine andere Betrachtungsweise. Ich habe bereits gesagt, daß allein schon die Idee, einen ‘netten kleinen, sauberen und ordentlichen Atomkrieg’ führen zu können, den Widerstand gegen eine atomare Feuersbrunst untergräbt. Aber das ist noch nicht alles. Wenn der Preis, der für solch einen Krieg bezahlt werden muß, mehr oder weniger annehmbar zu sein scheint, muß das zwangsläufig die Abenteuerlust derer fördern, die an den Knöpfen sitzen. Man kann davon ausgehen, daß ihre Politik viel unüberlegter und viel unbekümmerter wäre, weil sie überzeugt wären, daß selbst bei einer Fehlkalkulation es ein kleiner und kein großer Krieg sein würde - und deshalb recht akzeptabel. In einer wirklich zugespitzen Situation würde dadurch der Griff zum Knopf sehr viel leichter fallen.
Aber man könnte einwenden, daß all das aufgewogen wird durch erheblich weniger Verluste und Zerstörungen.
Nein, denn das ware wohl kaum zu erwarten. Tatsächlich bezweifle ich sehr stark, daß es je gelingen würde, auch nur die Vorstellung zu erwekken, es könnte einen ordentlichen kleinen Atomkrieg geben. Sehen Sie, jeder Versuch, die zu erwartenden eigenen Verluste in Grenzen zu halten, sei es durch antiballistische Abwehr oder durch Zivilschutz, führt zur Erwiderung der anderen Seite - zu einer größeren Anzahl an Sprengköpfen, mit größerer ‘penetrating capacity’ (Eigenschaft des Sprengkopfs, nach dem Aufschlag möglichst tief einzudringen, ehe es zur nuklearen Explosion kommt) und Zerstörungskraft. Und natürlich kann man kaum erwarten, daß die andere Seite mehr darum besorgt wäre, den Schaden beim Gegner gering zu halten, als man seinerseits darum bemüht wäre, und daß der Krieg gleichsam ein höfliches, aristokratisches Duell wäre, bei dem alle Regeln getreulich beachtet werden. Wenn wir solch einen Grad an Zivilisiertheit erreichen würden, würde nicht nur die Verhinderung des Atomkriegs, sondern auch eine allgemeine und vollständige Abrüstung kein Problem mehr sein. Nein, wir dürfen uns kein Duell nach Kavaliersart vorstellen; weder irgendeine Art begrenzten Krieges, noch begrenzte Nuklearschläge (‘surgical strikes’). Ein Atomkrieg - einmal in Gang gesetzt - würde nie begrenzt bleiben, die Eskalation ist im Grunde genommen unvermeid- | |
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lich, und sei es auch nur deshalb, weil es natürlich jeder der beiden Seiten widerstrebt, in einer solchen Situation eine Niederlage einzugestehen. Außerdem, wer wäre wohl in der Lage, einen kühlen Kopf zu bewahren und abzuwägen, bei welchem Nuklearschlag welche Erwiderung gerechtfertigt ist, um nur ja die ‘Spielregeln’ nicht zu verletzen, wenn gleichzeitig ringsum Nuklearbomben einschlagen. Der Drang zur Eskalation wäre einfach überwältigend. Ich glaube, die beste Beschreibung des Konzepts vom begrenzten Krieg hat der ehemalige demokratische Senator John C. Culver (Iowa), seinerzeit Mitglied des Senatsausschusses für die Streitkräfte, gegeben, der dieses Konzept verglichen hat mit der ‘Begrenzung der Wirkung eines Streichholzes, das in ein Pulverfaß geworfen wird’Ga naar eind5.
Wie reagierte die Sowjetunion auf PD 59, die von Präsident Carter verkündete neue nuklearstrategische Doktrin?
Vorweg wäre zu bemerken, daß der Wortlaut der PD 59 weiterhin der Geheimhaltung unterliegt, so daß wir in der Sowjetunion dieses Dokument nur anhand dessen beurteilen können, was das Weiße Haus gegenüber wichtigen amerikanischen Publikationsorganen durchsickern ließ, sowie anhand einiger offzieller Verlautbarungen, wie etwa der Rede des ehemaligen Verteidigungsministers Harold Brown vom 20. August 1980 vor dem Naval War College. Aber es gibt genügend Hinweise dafür, daß die US-Regierung offiziell dem Konzept eines begrenzten Nuklearkrieges zugestimmt hat, wobei schon lange der Verdacht bestand, daß sie mit solch einem Konzept liebäugelte. Washington zog es vor, die spezifischen Umstände, unter denen es einen solchen Krieg beginnen würde, absichtlich im unklaren zu belassen, genauso wie das bei anderen entscheidenden Aspekten dieses Problems der Fall ist. Diese vage Situation ist wahrscheinlich beabsichtigt, um die psychologische Auswirkung der neuen Doktrin zu unterstützen und damit den USA maximale Handlungsfreiheit zu bewahren.
Warum halten Sie diese Doktrin für gefährlich?
Obwohl diese sogenannte ‘countervailing strategy’ von ihren Urhebern oft als bloße Fortsetzung des Abschreckungskonzepts früherer Verteidigungsminister - von Robert McNamara bis James Schlesinger - bezeichnet wird, geht sie in Wirklichkeit weit darüber hinaus. Sie beabsichtigt, die nukleare Schwelle herabzusetzen, das Spektrum der Situationen zu erweitern, in denen die USA den Einsatz von Nuklearwaffen als legitim betrachten. Sie liefert Gründe für eine neue Runde des | |
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Wettrüstens, die letzten Endes darauf hinauslaufen, ein ungehemmtes Wettrüsten zu rechtfertigen. Schließlich verstärkt diese Doktrin Tendenzen, die in hohem Maße destabilisierend wirken, das gilt sowohl für den Bereich der Waffentechnologie wie auch für den des militärisch-strategischen Denkens. Während die Ängste vor einer Verletzbarkeit durch einen ersten Schlag geschürt werden, wird in Wirklichkeit daraufhingearbeitet, die strategischen Streitkräfte der USA in die Lage zu versetzen, einen ersten Schlag zu führen.
Da aber die einzige Garantie für den Frieden die Angst zu sein scheint - das sprichwörtliche Gleichgewicht des Schreckens -, besteht möglicherweise kein allzu großer Unterschied zwischen der früheren und der neuen Strategie.
Doch, es gibt viele Unterschiede. Es ist nicht das Ziel der PD 59, die Angst auf beiden Seiten zu verringern, auf der die Abschreckung basiert, vielmehr wird durch sie versucht, beim Gegner noch mehr Angst zu verbreiten und gleichzeitig die eigene Position zu verstärken. Die Nuklearwaffen werden nur Solange in den Arsenalen schlummern, solange sich beide Seiten in gleichem Maße bedroht fühlen und solange beide Seiten in gleichem Maße über die Fähigkeit verfügen, einander zu zerstören. Man sollte außerordentlich vorsichtig sein und nicht leichtfertig mit dem Gleichgewicht des Schreckens spielen, dem bis jetzt die Rolle zukam, in zahlreichen Konfliktfällen eine Eskalation zum Atomkrieg zu verhüten. Andererseits muß man natürlich sehen, daß ein Frieden, der auf Abschreckung beruht, alles andere als ideal ist und letztlich auch nicht dauerhaft sein wird. Die Angst, diese Zwillingsschwester der Abschreckung, schafft aus sich heraus Bedrohung. Erstens muß man, um die Abschrekkung aufrecht zu erhalten, ein Waffenarsenal unterhalten, das der anderen Seite Furcht einflößt, weshalb das Wettrüsten weiter geht. Mehr noch, man muß auch seine Glaubhaftigkeit aufrechterhalten, was in diesem Fall bedeutet, man muß zeigen und beweisen, daß man bereit ist, die Vernichtung in Szene zu setzen, den halben Planeten in Flammen aufgehen zu lassen und nationalen Selbstmord zu begehen. Und das bedeutet nicht nur Drohungen, Säbelrasseln und Erpressungen, sondern von Zeit zu Zeit auch die Durchführung von Aktionen, mit denen man beweist, daß man zu unverantwortlichem Handeln fähig ist (wie das auch die Kinder im Spiel tun), zu abenteuerlichen Unternehmungen und zu unberechenbarem Verhalten. Die Gefahren, die darin liegen, sind offensichtlich. | |
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Rosalynn Carter erzählte Gail Sheehy von der New York Times rundheraus: ‘Oh, ich kann mir Krieg vorstellen. Jimmy würde vor einem Krieg nicht zurückschrecken, um die Ehre meines Landes zu verteidigen...’Ga naar eind6 Aber unter Ehre verstehen verschiedene Leute auch verschiedene Dinge.
Das trifft sicherlich zu, aber das ist in diesem Fall nicht so wichtig wie die Tatsache, daß man einen Atomkrieg nicht mit einem ritterlichen Duell vergleichen kann - es sei denn, man meint damit einen kollektiven Selbstmord. Lassen wir jedoch den Aspekt der Moral beiseite. Wir haben es hier mit einem Beispiel dieser ungeheuer perversen Logik zu tun, die das Gleichgewicht des Schreckens mit sich bringt. Man muß ständig daran erinnern, daß man imstande ist, Supermassenmord, wenn man so will Mega-Mord, zu begehen. Aus diesem Dilemma gibt es innerhalb dieses Rahmens keinen Ausweg. Auf der einen Seite muß man zugeben, daß der Krieg sinnlos geworden ist. Andererseits aber muß man sich ohne Unterlaß auf den Krieg vorbereiten und seine Bereitschaft betonen, ihn zu beginnen. Unabhängig davon, welche Absichten man ursprünglich hatte, führt diese Logik, wenn man beharrlich an ihr festhält, unausweichlich zu einer Gratwanderung am Abgrund entlang.
Wo gibt es einen Ausweg?
Nun, alles in allem fahren wir mit der Abschreckung immer noch besser, als es der Fall wäre, wenn wir uns auf einen ‘denkbaren Atomkrieg’ vorbereiten müßten. Abschreckung ist nicht allzu gut. Aber vorläufig gibt es nichts Besseres, so daß man darin das geringere Übel sehen kann. Eines allerdings müssen wir begreifen. Wir können nicht ewig mit der Abschreckung leben, früher oder später wird sie versagen. Deshalb müssen wir von der Abschreckung wegkommen. Das Problem ist nur - in welche Richtung. Es wäre ein Unglück, würden wir uns auf einen denkbaren Atomkrieg zubewegen. Es gibt nur einen vernünftigen Weg - den Weg zum Frieden, aufgebaut auf Rüstungskontrolle und späterhin Abrüstung, auf Vertrauen und Zusammenarbeit. Das ist sehr schwer, ich gebe es zu, das erfordert ungeheure Anstrengungen, sehr viel Weisheit, Geduld und politischen Mut. Aber es gibt kaum einen anderen Weg zu einem dauerhaften und stabilen Frieden.
Kissinger sagte einmal: ‘Absolute Sicherheit für eine der beiden Supermächte ist unerreichbar und auch nicht wünschenswert, würde es doch absolute Unsicherheit für die andere Seite bedeuten.’ Ist das nicht auch eine der neuen Gegebenheiten des Atomzeitalters? | |
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So ist es. Und in der Tat war das eine von Kissingers klugen Ideen. Ich bezweifle aber, ob er oder irgend jemand sonst innerhalb der US-Regierung soweit über die herkömmliche Weisheit hinauswachsen könnte, um die eigene absolute Sicherheit für nicht wünschenswert zu halten. Doch was die Praxis anbelangt, so ist das auch nicht unbedingt erforderlich. Es genügt, wenn begriffen wird, daß die absolute Sicherheit unerreichbar ist. Das allein schon hätte das Wettrüsten zum Stillstand bringen können. Diese Realität unserer Zeit ist eng verknüpft mit einer weiteren: Die vorhandenen Vernichtungswaffen haben es unmöglich gemacht, sich nationale Sicherheit mit Hilfe von mehr und mehr Waffen zu erkaufen, wie viele es und wie gut sie auch sein mögen. Im Gegenteil: je mehr Waffen, desto weniger Sicherheit. Weitblickendere Amerikaner haben vor mehr als 15 Jahren begonnen, das zu begreifen. So schrieben Jerome Wiesner und Herbert York z. B.: ‘Beide am Wettrüsten beteiligte Seiten stehen dem Dilemma gegenüber, daß ihre militärische Macht ständig zunimmt und ihre nationale Sicherheit ständig abnimmt. Es ist unsere, durch berufliche Erfahrung gewonnene Überzeugung, daß es für dieses Dilemma keine technische Lösung gibt... Der deutlich vorhersehbare Lauf, den das Wettrüsten nimmt, gleicht einer Spirale, auf der es in immer rascherer Fahrt dem absoluten Nichts entgegengeht.’Ga naar eind7
Wann wurde das geschrieben?
1964. Und ich möchte mit Nachdruck darauf hinweisen, daß es schwer sein dürfte, unter dem Gesichtspunkt der beruflichen Qualifikation, der Erfahrung und des Wissens zwei weitere Amerikaner zu finden, deren Meinung mehr Aufmerksamkeit verdienen würde. Wiesner war Wissenschaftsberater von Präsident Kennedy, York ist ebenfalls ein bekannter Wissenschaftler, der unmittelbar mit der Herstellung von Waffen befaßt war und früher einmal im Pentagon die Abteilung für Forschung und Entwicklung leitete. Um es noch einmal zu wiederholen - das wurde 1964 ausgesprochen. Was wäre wohl, hätte man diese Worte damals beachtet! Wieviele Milliarden hätte man sparen können, und wieviel sicherer wäre wohl unsere Welt.
Ich habe einen ähnlichen Gedanken während eines Gesprächs mit dem ehemaligen britischen Kabinettsmitglied und Militärexperten Lord Chalfont gehaert: ‘Immer mehr Waffen und immer weniger Sicherheit.’
Trefflich gesagt, Lord Chalfont! Mittlerweile ist auch ein weiterer alter Grundsatz nicht mehr länger gültig: ‘Wehr den Frieden will, der bereite | |
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sich auf den Krieg vor.’ Bereitet man sich fleißig genug auf den Krieg vor, wo wird er letztlich nur unvermeidlich. Und obwohl es mit großen Schwierigkeiten verbunden ist, sich von solchen Vorstellungen zu trennen, begann man in den sechziger Jahren allmählich, die neuen Gegebenheiten dieser Welt wahrzunehmen, einschließlich der Tatsache, daß es keine Sicherheit ohne Rüstungskontrolle und Abrüstung geben kann. Selbstverständlich ist diese Erkenntnis an sich nicht neu. Während sie jedoch in der Vergangenheit sehr idealistisch zu sein schien, läßt sie heutzutage Realismus erkennen, obwohl ihrer Verwirklichung aus mancherlei Gründen noch viele Hindernisse entgegenstehen.
In gewisser Weise wiederholt sich die Geschichte, da allen Kriegen ein wahnwitziges Wettrüsten vorausgeht.
Sie haben recht, nur wurden ehedem die Waffen hergestellt, um damit einen Krieg zu führen und ihn zu gewinnen. Das Paradoxon der gegenwärtigen Situation besteht darin, daß, obwohl kein vernünftiger Mensch weiterhin im Wettrüsten ein akzeptables Mittel zur Erreichung politischer Ziele sehen kann, das Wettrüsten fortgesetzt und so tatsächlich zur wichtigsten Ursache für Mißtrauen und Spannungen wird.
‘Macht Schluß mit dem Wettrüsten - nicht mit der Menschheit’ hieß ein Spruch, den man in den letzten Jahren häufig als Aufkleber in Amerika sehen konnte. Doch das Wettrüsten gewinnt weiter an Fahrt.
Es gibt nichts Bedauerlicheres als das... Lange Zeit war das Wettrüsten. die Folge schlechter politischer Beziehungen. Heute wird es dagegen mehr und mehr zur Ursache für schlechte Beziehungen, weil der Ausbau der Waffenarsenale und die qualitative Verbesserung der Waffen Ängste und wachsendes Mißtrauen hervorrufen und die politische Atmosphäre vergiften. Nehmen Sie die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Falls es möglich wäre, die Ängste und das Mißtrauen aus der Welt zu schaffen, die mit dem Wettrüsten verbunden sind - insbesondere mit jenen Waffen, die eine so ungeheure und in der Geschichte beispiellose Vernichtskraft haben -, dann würde auch die Hauptursache der Spannungen verschwinden.
So ist also das Wettrüsten die Hauptsorge, was die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen anbelangt? | |
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Ja. Oder noch genauer ausgedrückt, das Hauptproblem ist die Frage von Krieg und Frieden, mit der das Wettrüsten so eng verbunden ist.
Aber nach heute allgemein üblichem Verständnis ist es gerade das Zerstörungspotential der Nuklearwaffen, das dazu beiträgt, einen Krieg zu verhindern; denn ohne diese Abschreckungswirkung müßte es längst zu einem großen Krieg gekommen sein.
Herkömmliche Auffassungen können uns leicht irreleiten, wenn wir es mit etwas so Außergewöhnlichem wie einem Atomkrieg zu tun haben. Wie wir schon erörtert haben, müssen wir uns in diesem Fall auf das Gleichgewicht des Schreckens verlassen, das durch die Nuklearwaffen geschaffen wird, aber das ist keine sehr dauerhafte Garantie für den Frieden. Die Tatsache, daß es 30 Jahre lang gutging, gestattet uns nicht, optimistische Schlußfolgerungen für die Zukunft zu ziehen.
Vor nicht allzu langer Zeit haben Sie in einer Rede gesagt: ‘Wir haben bislang Glück gehabt, aber wir sollten uns auf unser Glück nicht leichtsinnig verlassen.’
Fürwahr. Die Welt stand inzwischen mehrere Male am Rand der Katastrophe. Die Tatsache, daß der Menschheit bisher die atomare Vernichtung erspart blieb, ist wohl kaum allein staatsmännischer Kunst zuzuschreiben. Ausgesprochenes Glück hat, nach meinem Empfinden, ebenso eine gewisse Rolle gespielt. Das sollte man nicht vergessen. In der Zukunft müssen wir unsere Hoffnungen auf ein Überleben auf ein solideres Fundament bauen als auf das Glück.
Insbesondere angesichts der Ereignisse der letzten Monate.
Ja, wir nähern uns einem entscheidenden Augenblick. Die USA haben eine neue Runde im Wettrüsten eingeleitet. Wie ich schon an anderer Stelle sagte, versetzte das der Entspannung und den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen einen schweren Schlag. Wenn diese Runde nicht abgebrochen wird, wächst die Kriegsgefahr unvermeidlich.
Was sind die wichtigsten Kennzeichen dieser neuen Runde?
Die jüngsten technischen Fortschritte im Waffenbereich machen es möglich, Waffensysteme mit erhöhter ‘counterforce capability’Ga naar eind8 herzustellen, wie z. B. die MX-Raketen,Ga naar eind9 neue Sprengköpfe wie die des Typs MK-12 A, neue Leitsysteme etc. All das für sich genommen reicht aus, | |
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die Besorgnis der anderen Seite zu vergrößern. Es ist nämlich anzunehmen, daß diese Programme als eine Bedrohung aufgefaßt werden, die dem Gleichgewicht und der strategischen Stabilität schaden und deshalb entsprechende Gegenmaßnahmen zur Folge haben werden. Falls zusätzlich zu der Besorgnis über diese Programme auch noch der Eindruck entsteht, es stünden wesentliche Durchbrüche im Bereich der Raketenabwehr und/oder im Bereich der U-Bootabwehr bevor, so könnten neue Befürchtungen, der Gegner sei womöglich dabei, die Erstschlag-Kapazität zu erlangen, die Folge sein. Selbst wenn solche Ängste auf Illusionen beruhen, sind sie sehr gefährlich, weil sie dazu führen, daß man um der Sicherheit und des Überlebens willen allzu leicht bereit ist, einen nuklearen Schlag zu führen, ja sogar einen Präventivschlag in Erwägung zu ziehen - ganz abgesehen von den Auswirkungen solchen Argwohns auf die politische Atmosphäre. Andere neue Systeme drohen, den Rüstungskontrollverhandlungen den Boden zu entziehen, indem sie eine Überwachung außerordentlich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. MarschflugkörperGa naar eind10 (besonders die zu Lande und zu Wasser stationierten) können hierfür als ein Beispiel dienen. Schließlich wird ein fortgesetztes Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen Vorschub leisten.
Wächst nach Ihrer Auffassung die Gefahr, daß diese düsteren Aussichten Wirklichkeit werden?
Ja, wenigstens einige davon. Sehen Sie, ich persönlich glaube kaum nicht daran, daß es technisch machbar ist, das Potential für einen erfolgreichen ersten Schlag zu erlangen. Viele Experten würden mir darin zustimmen. Aber das Wettrüsten hat eine Phase erreicht, in der man dabei ist, eine unverwundbare ‘counterforce capability’ zu schaffen, wodurch unausweichlich Illusionen wie auch Ängste hinsichtlich der Erstschlag-Kapazität entstehen. Das ist sehr gefährlich, und es führt dazu, daß sich das ganze Wettrüsten noch weiter von der Realität, von den tatsächlichen Problemen entfernt und sich an bedrohlich abstrakten Spielen und tagträumerischen Entwürfen orientiert.
Wer ist für das Wettrüsten Ihrer Meinung nach verantwortlich?
Initiator und treibene Kraft des Wettrüstens sind die Vereinigten Staaten.
Das ist offensichtlich nur die eine Sichtweise. Ich bin überzeugt, Sie wissen | |
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aber auch um die wachsenden Ängste, die die militärische Erstarkung der Sowjets in den USA, in Westeuropa und im Westen ganz allgemein hervorruft. Lassen Sie mich z. B. Henry Kissinger zitieren, der anläßlich der Konferenz zum dreißigjährigen Bestehen der Nato im September 1979 in Brüssel erklärte: ‘Seit Mitte der sechziger Jahre ist ein massives Wachstum der sowjetischen strategischen Streitmacht zu verzeichnen. Die Zahl der Interkontinentalraketen stieg von 220 im Jahr 1965 auf 1600 in den Jahren 1972/73. Die Zahl der auf U-Booten installierten Raketen war früher nur geringfügig und stieg in den siebziger Jahren auf über 900 an. Das erstaunliche Phänomen, das künftige Historiker zu untersuchen haben werden, ist dabei, daß all das geschah, ohne daß die Vereinigten Staaten nennenswerte Anstrengungen unternommen hätten, diesen Zuständen entgegenzuwirken. Ein Grund war, daß es nicht leicht war, etwas dagegen zu unternehmen. Aber ein weiterer Grund war das Erstarken einer Denkschule - zu der ich selbst beigetragen habe, ebenso wie viele an diesem Konferenztisch dazu beigetragen haben -, die davon ausging, daß das strategische Gleichgewicht ein militärischer Aktivposten war, und auch die, historisch gesehen, erstaunliche Theorie entwickelte, daä Verwundbarkeit zum Frieden und Unverwundbarkeit zur Kriegsgefahr beitrug.’Ga naar eind11
Immer wenn ich solche Erklärungen lese, besonders wenn sie von bekannten Leuten stammen, die eigentlich als kompetent gelten, wie z. B. Kissinger, fühle ich mich etwas unwohl. Ich halte es für durchaus normal, mit diesen Leuten Meinungsverschiedenheiten zu haben, Ereignisse anders als sie zu interpretieren, andere Sympathien zu hegen, usw. Aber ich fühle mich wirklich unwohl, wenn das, was sie sagen, sich als himmelschreiende Unwahrheit erweist, und man sich doch kaum vorstellen kann, daß sie nicht ganz genau, vielleicht sogar besser als irgendjemand sonst, wüßten, was die Wahrheit ist. Aber es geht selbstverständlich nicht nur allein um Kissinger. Während der letzten Jahre waren wir Zeugen einer vorher nie dagewesenen massiven und gut organisierten Kampagne gegen eine in Wirklichkeit überhaupt nicht bestehende ‘strategische Überlegenheit der Sowjetunion’, wodurch die politische Atmosphäre in den USA einseitig beeinflußt wurde. Ich bin überzeugt, dieser Vorgang kann mit vollem Recht der Schwindel des Jahrhunderts genannt werden.
Zahlen lügen nicht, sagen diese Leute.
Aber sie sind so leicht zu manipulieren. Denken Sie an das berühmte | |
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Wort von Disraeli, nach dem es drei Arten von Lügen gibt: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken. Dies gilt auch für die von Kissinger genannten Zahlen. Nehmen Sie die Zahl 220, die Zahl der sowjetischen Raketen im Jahre 1965 also. Wieviele Raketen hatten denn die Amerikaner damals? Laut offiziellen amerikanischen Statistiken 901 - viermal mehr als wir. Warum hat Kissinger das nicht erwähnt? Nehmen Sie die auf U-Booten installierten Raketen. Kissinger sagt, die UdSSR habe 1965 nur sehr wenige dieser Raketen gehabt. Nun, die USA hatten zu diesem Zeitpunkt nicht weniger als 464.
Aber was ist zur Tendenz zu sagen?
Die amerikanischen Zahlen, die ich genannt habe, waren Ergebnis einer massiven Aufrüstung, die die Kennedy-Administration 1962 unter dem Vorwand einleitete, es existiere eine ‘Raketenlücke’ zu unseren Gunsten. Das führte zu einer ganz erheblichen Überlegenheit der USA und versetzte uns in eine Lage, in der wir keine Möglichkeit hatten, anders zu reagieren, wollten wir mit Amerika gleichziehen. Hierin liegt also die Ursache für das ‘massive Wachstum’, dessen uns Kissinger beschuldigt. Und die Zahlen, die wir in den siebziger Jahren erreichten - 1600 Interkontinentalraketen und mehr als 700 auf U-Booten installierte Raketen - bedeuteten nach Ansicht der Amerikaner den Gleichstand. Diese Zahlen wurden in dem SALT I-Abkommen festgehalten, dessen wichtigster Architekt auf amerikanischer Seite, nebenbei gesagt, der gleiche Kissinger war. Noch irreführender ist seine Behauptung, daß diese ‘massive’ sowjetische Aufrüstung ‘geschah, ohne daß die Vereinigten Staaten nennenswerte Anstrengungen unternommen hätten, diesen Zuständen entgegenzuwirken’. Ganz im Gegenteil, die USA haben sehr erhebliche Anstrengungen unternommen. Sie begannen damit, ihre Raketen mit Mehrfachsprengköpfen auszustatten, d.h. jede einzelne Rakete wurde mit mehreren Sprengköpfen versehen, deren jeder in ein eigenes Ziel gelenkt werden kann. Durch diesen Schritt wurde die Zahl der amerikanischen Sprengköpfe alle zwei Jahre verdoppelt, und die Amerikaner sicherten sich somit zum Zeitpunkt von SALT I eine vierfache Überlegenheit im Hinblick auf die Zahl der Sprengköpfe.
Mit anderen Worten, die erneute amerikanische Aufrüstung in Form der Ausstattung der Raketen mit Mehrfachsprengköpfen war schon im SALT I-Abkommen berücksichtigt? | |
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Selbstverständlich war das der Fall. Die USA waren keineswegs untätig angesichts des sowjetischen Versuchs, den Anschluß zu finden. Es fällt schwer zu glauben, Kissinger habe vergessen, daß die USA in den frühen siebziger Jahren, als er Präsident Nixons Sicherheitsberater war, einen wirklich neuen ‘großen Sprung nach vorne’ im Wettrüsten einleiteten. Das geschah nicht nur dadurch, daß das Programm der Mehrfachsprengköpfe begonnen wurde, wodurch die Zahl der Sprengköpfe bei den Interkontinentalraketen von 1054 in den späten sechziger Jahren auf 2154 gegen Ende der siebziger Jahre erhöht wurde und die Zahl der Sprengköpfe bei den Raketen, die auf U-Booten installiert sind, im selben Zeitraum von 656 auf ungefähr 7000 anwuchs. In den frühen siebziger Jahren begannen die USA auch mit der Entwicklung der Marschflugkörper, der neuen Trident-U-Boote und einer Reihe anderer Dinge. Nebenbei gesagt, noch vor ein paar Jahren war Kissingers Gedächtnis besser. 1978 z. B. sagte er: ‘Wir haben unsere Programme nach dem SALT-Abkommen 1972 beschleunigt. Ich denke, daß Sie bei einer Betrachtung der Geschehnisse feststellen werden, daß sich das Weiße Haus immer für die weitreichendsten Verteidigungsvorschläge entschloß, die aus dem Pentagon kamen. Es bestanden keine Illusionen unsererseits, daß wir der Sowjetunion aus einer Position der Schwäche heraus begegnen könnten.’Ga naar eind12
Aber alle diese Programme der Amerikaner wurden von diesen damit begründet, daß sie als ‘Tauschobjekte’ die amerikanische Position bei den Gesprächen stärken sollten.
Wenn sie Tauschobjekte waren, warum wurde dann trotz der Fortschritte bei den SALT-Gesprächen nicht ein einziges Programm eingestellt? Nehmen Sie z. B. die Mehrfachsprengköpfe, ein Programm, das damals mit dem Argument gerechtfertigt wurde, es handle sich um ein Tauschobjekt. Die USA legten besonderen Wert darauf, daß sie durch die SALT I-Gespräche nicht verboten bzw. auch nur verzögert wurden. (Ich erinnere mich, daß sogar Kissinger das dann im Nachhinein bedauerte.) Aber lassen Sie uns auf Kissingers Bemerkungen zurückkommen, zu denen ich Stellung nehmen sollte. Wie Sie sehen, erwiesen sie sich als eine sehr irreführende Einschätzung, wenn man sie im Licht der Tatsachen betrachtet, die in Zusammenhang stehen mit dem militärischen Gleichgewicht zwischen den USA und der UdSSR. Sie sind aber auch hinsichtlich der politischen Situation falsch. Lassen Sie uns nur einen Faktor herausgreifen - das Anwachsen der chinesischen Feindseligkeiten gegen-Ga naar eind13 | |
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über der Sowjetunion. Sie erreichten einen Stand, der allmählich einer militärischen Zusammenarbeit zwischen China und einigen Nato-Ländern gleichkommt. Und natürlich hat auch die Nato selbst ihr militärisches Potential seit geraumer Zeit drastisch erhöht. An der von Ihnen zitierten Bemerkung Kissingers ist besonders unheilvoll, daß er die Idee infrage stellt, daß ‘das strategische Gleichgewicht ein militärischer Aktivposten’ ist, genauso wie jene Ansichten zur gegenseitigen Verwundbarkeit, die beiden Seiten wenigstens gestatteten, einige Fortschritte bei der Rüstungskontrolle zu erzielen. Wenn dieses Denken in Washington an Boden gewinnt, wenn diese Ideen weiter heranreifen und ihre logischen Schlußfolgerungen zeitigen, dann sind bei ihrer Umsetzung in die Praxis ausschließlich schreckliche und gefährliche Zeiten für die internationalen Beziehungen zu erwarten.
Ich habe eine Aussage Kissingers zitiert; aber es werden viele solche Vorwürfe gegen die Sowjetunion erhoben, wonach diese den Westen dazu zwingt, zu rüsten und sich auf einen Krieg vorzubereiten. Es sind doch sicher nicht alle Vorwürfe unwahr?
Warum nicht? Es gibt einen Spruch, der besagt, daß zu keiner Zeit so viel gelogen wird wie während des Krieges und vor Wahlen. Ich würde hinzufügen: und wie während und aufgrund des Wettrüstens. Wie kann man Bürger dazu bringen, jahraus, jahrein Milliarden für die Rüstung auszugeben, wenn man nicht eine ‘tödliche Bedrohung’ hat, auf die man verweisen kann? Das ist in Wirklichkeit die Funktion, die die ‘sowjetische Bedrohung’ erfüllt. Sie erfüllt ihre Funktion schon seit langem, nämlich seit der Revolution von 1917. Wir wurden auch als Popanz benutzt, als wir sehr schwach waren. Was ist jetzt zu erwarten, da wir wirklich stark sind? Ich verleugne keineswegs, daß wir heute stark sind, daß wir eine zuverlässige Verteidigung haben, der wir auch viel Aufmerksamkeit geschenkt haben.
Ist es nicht genau diese Stärke, die Ängste erweckt?
Nun, zum ersten handelt es sich um Stärke, aber nicht um Überlegenheit, d.h., die andere Seite ist genauso stark. Zum zweiten, die Ängste waren auch zu der Zeit maßlos übertrieben, als es diese Stärke nicht gab. Lassen Sie uns die Situation unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als Beispiel in Erinnerung rufen. Damals handelte es sich um eine Sowjetunion, die im Krieg ungeheure Verluste erlitten hatte. Amerika war stärker geworden, erwarb Nuklearwaffen und versuchte das Monopol darauf zu behalten, um der Welt seinen Willen aufzuzwingen. | |
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Es ist anzunehmen, daß die Sowjetunion in Folge von Hitlers Politik der verbrannten Erde 1945 dringendere und vorrangigere Probleme hatte, als mit der Aufrüstung oder mit dem Bau von Nuklearwaffen zu beginnen.
Selbstverständlich hätten wir es vorgezogen, unsere Mittel für andere und sehr dringende Aufgaben auszugeben. Aber es gab keinen anderen Weg, einfach deshalb, weil die USA von ihrer Position der Stärke Gebrauch machten. Wir haben das im Zusammenhang mit der Geschichte des Kalten Krieges schon erörtert. Herausgefordert durch die Vereinigten Staaten, mußten wir nach dem Zweiten Weltkrieg der Verteidigung die höchste Dringlichkeitsstufe einräumen. Hierin liegt die wahre Ursache des Wettrüstens. Es wurde und wird uns immer noch aufgezwungen.
Die Amerikaner sagen genau das Gegenteil.
Jene, die das sagen, scheinen zu vergessen, daß wir in all den Jahren tatsächlich fortwährend hinter den Vereinigten Staaten herrannten. Die USA hatten Nuklearwaffen. Wir hatten keine. Wir mußten sie erst erwerben. Sie hatten Trägersysteme für Nuklearwaffen. Wir hatten solche Mittel nicht. Wir mußten sie erst entwickeln. Dasselbe trifft für praktisch alle wichtigen strategischen Waffensysteme zu - für auf U-Booten installierte Raketen, Mehrfachsprengköpfe, Marschflugkörper usw. Die Amerikaner waren die ersten, die sie einführten und uns in einen weiteren Wettstreit verwickelten, die uns zwangen, Farbe zu bekennen, gleichzeitig aber laute Töne anschlugen wegen der furchtbaren militärischen Gefahr, die von der UdSSR und ihrer militärischen Überlegenheit ausginge.
An welche ‘lauten Töne’ denken Sie dabei?
Eines der ersten Beispiele war die Kampagne zur ‘Bomberlücke.’ Sie wurde in den USA in den fünfziger Jahren gestartet - können Sie sich vorstellen, wie wir zu jener Zeit eine Überlegenheit im Bereich der Bomber hätten haben können? Aber diese Kampagne half dem Pentagon ein Eilprogramm zum Bau von Bombern durchzudrücken. Und sehr bald schon wurde bekanntgegeben, daß die Zahl der amerikanischen Bomber, ‘wie sich herausgestellt hatte’, von Anfang an um ein Mehrfaches größer war als die der sowjetischen Bomber. In den sechziger Jahren wurde die Geschichte von der ‘Raketenlücke’ in die Welt gesetzt, mit so ziemlich den gleichen Ergebnissen - ungeheure Programme zum Bau von Raketen wurden angenommen. Bald darauf wurde bekannt, | |
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daß die ‘sowjetische Raketengefahr’ damals um ein Vielfaches übertrieben worden war. (In beiden Fällen wurden die Programme auch nach solchen Richtigstellungen - da sie schon einmal angenommen waren - natürlich nicht mehr fallengelassen, sondern durchgeführt.) Was uns aber noch mehr Sorgen bereitete, war die Haltung, die sich hinter diesen Entscheidungen verbarg. Wir konnten nichts anderes darin sehen als ein bewußtes Bestreben, eine sogar noch größere militärische Überlegenheit zu erlangen - ein Wunsch, der nur aus den denkbar übelsten Absichten erwachsen konnte. Jedes Jahr bescherte eine ‘Lücke’ - eine ‘Dollarlücke’ (ich denke dabei an Schauermärchen über den Umfang des sowjetischen Militärbudgets), eine ‘Zivilverteidigungslücke’, eine ‘Lücke’ bei Mittelstreckenwaffen, und vieles mehr. Das ist zum Routinebestandteil der amerikanischen Militärplanung geworden.
Vielleicht kommen wir auf einige der ‘Lücken’ später zurück. Zuerst eine allgemeinere Frage: Wie erklären Sie sich diese bemerkenswerte Langlebigkeit der Parole von der ‘sowjetischen Bedrohung’?
Angst ist eine sehr starke Emotion, die Politiker wissen das, besonders amerikanische Politiker. Um das zu verdeutlichen, würde es genügen, sich den berühmten Ratschlag in Erinnerung zu rufen, den Senator Arthur Vandenberg Präsident Truman gegeben hat, nämlich ‘dem Land höllische Angst einzujagen, um die Truman-Doktrin durch den Kongreß zu peitschen’. Und man muß in der Tat solche Emotionen wecken, wenn man die Absicht hat, seinem Land ein gefährliches und kostspieliges Wettrüsten aufzuerlegen. Nur wenn man die Leute zu Tode erschreckt, wird man Hunderte von Milliarden für die ‘Verteidigung’ mobilisieren können. Und nichts wird die Öffentlichkeit wirkungsvoller in Schrecken versetzen als der Ruf, ‘die Russen kommen’. Die Leute scheinen auf solche Töne immer noch wie die Pawlow'schen Hunde zu reagieren. Mächtige, etablierte Interessengruppen stehen hinter dieser Angst, und zwar ziemlich große und einflußreiche Gruppen der amerikanischen Gesellschaft: die Geschäftsleute der Rüstungsindustrie und das Pentagon, die Gruppen innerhalb der Regierungsbürokratie, die ihnen dienen, wie auch entsprechende Gruppen im akademischen Bereich und in den Medien. Für sie alle ist der Militarismus zu einem Lebensstil geworden. Sie sind bereit, ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Sie blühen und gedeihen dank des Gespensts von der ‘sowjetischen Bedrohung’. Sie geben sich stets alle erdenkliche Mühe, dieses Gespenst am Leben zu erhalten, wenn es sich durch allzu häufigen Gebrauch abzunutzen droht. | |
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Aber haben nicht die Amerikaner wie auch die Westeuropäer gute Gründe, sich zu fürchten? Hat nicht die Sowjetunion genug Waffen angehäuft, um deren Städte ebenfalls in radioaktiven Schutt und in Asche zu verwandeln?
Ich kann dem ganz und gar zustimmen, daß schreckliche Vernichtungsmittel geschaffen worden sind und daß sie einem Angst einfloßen. Aber nicht nur russische Waffen können unter den Amerikanern und Westeuropäern solche Befürchtungen hervorrufen. Wir, in der Sowjetunion, leben sogar schon länger mit dieser Angst. Schauen Sie sich die pervertierte Welt an, in der wir alle, die Menschen in West und Ost, leben: unsere Städte - Marksteine der Kultur und der Künste -, alles das, worauf die menschliche Zivilisation stolz ist, alles das, was uns teuer ist, wie das Leben selber - Millionen von Menschen, wir selbst, unsere Kinder -, alles das wurde schließlich zu ‘Zielen’ reduziert. Und damit leben wir; wir gewöhnen uns daran, in einem Maße, daß wir angefangen haben, einfach zu vergessen, wie die Lage wirklich ist. Es ist diese Situation, die Furcht erwecken muß - und nicht die Sowjetunion. Mehr noch, stündig werden Rufe laut, das alles reiche nicht aus, es seien mehr Waffen und größere Militärausgaben erforderlich, um die Welt vor dem Untergang zu bewahren. Es ist wirklich erstaunlich, daß das unablässig funktioniert. Und das, obwohl es doch nicht so schwer sein kann, die Absurdität dieser Situation zu begreifen und zu erkennen, daß diese lautstarken Forderungen schon oft erhoben wurden, ohne daß dadurch etwas besser wurde; zu sehen, daß es einflußreiche Kreise und Gruppen gibt, die davon profitieren, daß sie immer wieder die Öffentlichkeit täuschen und ihr Angst einjagen, wobei die Gefahren, die heraufgezogen sind, vollständig außer acht bleiben.
Bezeichnenderweise war es Präsident Dwight D. Eisenhower, ein Soldat, der als erster vor dem militärisch-industriellen Komplex in den Vereinigten Staaten warnte.
Ja. Damals hatte diese Gruppe schon begonnen, ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen. Bis heute ist sie noch viel stärker geworden. Tatsächlich ist sie der größte Wirtschaftskomplex in Amerika, eine Branche mit mehr als 150 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr, die Millionen von Menschen Arbeit bietet, die ganze Landstriche beherrscht und in der Verwaltung und im Kongreß einflußreich vertreten ist. Natürlich wissen das die Amerikaner sehr genau, sie haben diese Geschichte schon oft genug gehört. Aber dennoch erfreut sich das Rüstungsgeschäft des Rufs, ein patrioti- | |
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sches Geschäft zu sein. Sein Produkt ist die Sieherheit Amerikas. Sein Profit ist Amerikas Ehre und Ansehen. Was die Profitinteressen angeht, die mit dem Wettrüsten verbunden sind, so gilt es als unfein, darüber zu reden. Diese Seite bleibt verborgen, wird schweigend übergangen, weil, wie John K. Galbraith es ausdrückt, die Leute ‘nicht gerne daran denken, daß wir als Nation das Risiko eines potentiellen Selbstmords eingehen, nur um augenblicklicher ökonomischer Vorteile willen’.Ga naar eind13 So bleibt Wichtiges unausgesprochen, trotz der sprichwörtlichen Vorliebe der Amerikaner, alles zum Gegenstand von Untersuchungen zu machen.
Was veranlaßt Sie zu glauben, es gäbe hier etwas zu untersuchen?
Ganz einfach - es ist zuviel Geld im Spiel. Außerdem gab es schon genug direkte Beweise, wie z. B. den Lockheed-Skandal. Darin waren fremde Staaten verwickelt, aber warum sollten die entsprechenden Leute zu Hause andere Methoden anwenden? Schauen Sie sich an, wie die Preise für Rüstungsgüter steigen - nach Angaben des Magazins Time übertreffen sogar die Preissteigerungen für ältere Waffen die Inflationsrate um ein Vielfaches. Wir wissen auch, wie skrupellos die Rüstungsindustrie in der Wahl ihrer Mittel ist. Unter dem Deckmantel der ‘nationalen Sicherheit’ und dank ihrer Verbindungen zur Regierung und zu den Medien, kann sie aus dem Nichts heraus eine ‘Bedrohung’ an die Wand malen. Erinnern Sie sich, wie es zur ‘Raketenlücke’ kam?
Wie kam es dazu?
1957, nachdem der erste sowjetische Sputnik Amerika so sehr in Schrecken versetzt hatte, berichtete eine eigens geschaffene Expertengruppe, das sogenannte ‘Gaither panel’, daß die durch sowjetische Raketen geschaffene Gefahr innerhalb weniger Jahre ‘kritisch’ werden würde, und schlug deshalb eine drastische Erhöhung der Militärausgaben und eine entsprechende Ausweitung der Rüstungsprogramme vor. Präsident Eisenhower war nicht in allen Punkten mit den Empfehlungen einverstanden. Aber die Demokraten griffen das Thema auf, und im Wahlkampf 1960 ließ Senator John F. Kennedy keine Gelegenheit aus, die Republikaner zu beschuldigen, sie würden die nationale Verteidigung vernachlässigen. Er hatte so oft versprochen, diese Situation zu korrigieren, daß er dann, obwohl er beim Einzug ins Weiße Haus die Wahrheit kennenlernte, mit dem rapiden Ausbau der amerikanischen Raketenstreitmacht fortfuhr. | |
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Sind Sie der Ansicht, daß es eine Raketenlücke überhaupt nicht gab?
Es gabe eine Lücke, richtig, aber eine von ganz anderer Art. George Kistiakowsky, der seinerzeit der Berater für Technik und Wissenschaft Präsident Eisenhowers war, bestätigte später: ‘Die tatsächlich vorhandene Raketenlücke bestand in Wirklichkeit zu unseren Gunsten.’Ga naar eind14
Könnte das eine Ausnahme von der Regel sein?
Soweit ich sehen kann, ist es die Regel. Um die Amerikaner mit der Lüge von der ‘sowjetischen Bedrohung’ irrezuleiten und ihnen Angst einzujagen, existiert eine wirksame Maschinerie, die dazu in der Lage ist, jede beliebige Regierungsbehörde zu manipulieren. Nehmen Sie das kürzlich erschienene Buch von Richard Helms, in dem dieser beschreibt, wie der Geheimdienst CIA auf Grund des hartnäckigen Drängens von Seiten des Pentagon eine ausgesprochene Fälschung beging, indem er prognostizierte, daß die in den USA als SS 9 bezeichneten sowjetischen Raketen bis Ende der sechziger Jahre mit Mehrfachsprengköpfen ausgerüstet sein würden. Diese Prognose erwies sich sehr bald als völlig falsch. Ferner gab es viele Indiskretionen im Zusammenhang mit den SALT-Gesprächen - sie alle zielten darauf ab, Fortschritte bei den Verhandlungen zu vereiteln. Einmal war sogar ich von solch einer Indiskretion betroffen.
Wie kam es dazu?
Im Sommer 1975 besuchte eine Delegation amerikanischer Senatoren die Sowjetunion. Ich nahm als Mitglied einer Gruppe von Abgeordneten des Obersten Sowjet der UdSSR an den Gesprächen mit ihnen teil. Verschiedene Senatoren waren besonders daran interessiert zu erfahren, ob die UdSSR bereit wäre, in Verhandlungen mit den USA einzutreten, um die militärische Präsenz im Indischen Ozean zu begrenzen. Es gab damals lebhafte Spekulationen über den angeblichen Bau eines sowjetischen Marinestützpunktes in Berbera in Somalia, worauf die Vereinigten Staaten ‘antworteten’, indem sie sich anschickten, ihrerseits auf der Insel Diego Garcia einen Stützpunkt zu errichten. Die Verhandlungen sollten bezwecken, eine solche Entwicklung auf beiden Seiten zu verhindern. Meine Kollegen und ich waren überzeugt, daß unsere Seite bereit war, solche Verhandlungen zu beginnen, jedoch waren unsere Antworten offensichtlich zu allgemein, um die Amerikaner, die immer wieder auf die Frage zurückkamen, zufriedenzustellen. Da die Senatoren sich so interessiert zeigten, entschieden sich unsere | |
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Parlamentarier, weitere Informationen über die Haltung der sowjetischen Regierung und deren Absichten in dieser Region einzuholen. Uns wurde versichert, daß die Sowjetunion bereit war, unverzüglich mit den USA Verhandlungen aufzunehmen. Aber irgendwie bot sich in den darauffolgenden Tagen keine Gelegenheit, auf die Diskussion über den Indischen Ozean zurückzukommen. Erst unmittelbar vor ihrer Abreise aus der Sowjetunion stellten mir die Senatoren abermals die gleiche Frage, und dieses Mal konnte ich nähere Auskunft geben. Bald darauf veröffentlichte die Washington Post einen Artikel von Evans und Nowak, in dem versucht wurde nachzuweisen, daß die Sowjetunion Verhandlungen über dieses Problem abgelehnt hatte. Die beiden Kolumnisten bezogen sich auf die Gespräche der US-Senatoren in Moskau und auf ein ziemlich pessimistisches Telegramm zu diesem Gegenstand, das die US-Botschaft in Moskau in den ersten Tagen des Besuchs der Senatoren verfaßt hatte. (Später wurde mir gesagt, daß die Indiskretionen, die dieses Telegramm betrafen, aus dem Pentagon kamen.) So kam es, daß Evans und Novak meine Ausführungen auf die denkbar unhöflichste Weise desavouierten, trotz der Tatsache, daß sie zutreffend waren - die Gespräche begannen tatsächlich kurz danach. Die Absicht, die hinter der Indiskretion stand, war ganz deutlich - es ging darum, die Diskussion um die Bewilligung der Mittel für den Stützpunkt Diego Garcia durch den US-Kongreß zu beeinflussen. Denken Sie auch an die jüngste Episode im Zusammenhang mit Senator Perrys Bericht über seine Gespräche in Moskau. Dieser Bericht wurde von der Presse desavouiert, als die New York Times durch Indiskretionen auf seiten eines der beiden Teams, die die Amtsübergabe im Weißen Haus vorbereiteten, vom Inhalt der Telegramme des US-Botschafters T. Watson erfuhr. Solche Episoden sind dazu geeignet, neben anderen Aspekten auch zu zeigen, welch integraler Bestandteil das Gespenst der ‘sowjetischen Bedrohung’ ist, wenn es um den Prozeß der Bewilligung der Militärausgaben und um militärische Planung geht. George Kennan hat einmal festgestellt, daß die am Wettrüsten interessierten etablierten Gruppen in den Vereinigten Staaten solches Gewicht besitzen, daß es eine ungeheuer schwierige Aufgabe wäre, sie auszuschalten, ‘selbst wenn die gesamte äußere Rechtfertigung für es [das Wettrüsten] verschwinden sollte - sogar wenn die UdSSR morgen mit all ihren Armeen und Raketen im Ozean versinken würde’.Ga naar eind15 An dem Strang des Wettrüstens ziehen starke Kräfte. Politische Verdächtigungen und etablierte Interessen finden Unterstützung durch die wahnwitzigen Triebkräfte, die das bloße Vorhandensein des Militärpotentials mit seinen gigantischen Ausmaßen bewirkt. Wissenschaftli- | |
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cher und technischer Fortschritt drängen ebenfalls unerbittlich in die gleiche Richtung, stellen sie doch andauernd neue Arten von Waffen zur Verfügung und schaffen dadurch unwiderstehliche Versuchungen für manche Generäle und Politiker. Ferner gibt es nachteilige Auswirkungen dadurch, daß man Überlegungen zu neuen Waffensystemen viele Jahre im voraus anstellen muß, wodurch immer ein Element der Ungewißheit hinzukommt und immer Zwänge auftreten, die Maximallösung zu wählen. Auch gibt es Asymmetrien in unserem Gleichgewicht, die Einschätzungen erschweren und so den Weg für Überreaktionen bereiten. Wie Sie sehen, würden alle diese sachimmanenten Schwierigkeiten schon voll ausreichen, um den Kampf gegen das Wettrüsten zu einem mühsamen Unterfangen zu machen.
Und zu all dem kommt noch politisches Kalkül hinzu.
Ja, natürlich. Und zusätzlich noch ausgesprochener Betrug. Zu den Aspekten der gegenwärtigen amerikanischen Wirklichkeit, die mich erstaunen, gehört folgendes: In den siebziger Jahren erschauderten die Amerikaner angesichts der abscheulichen Schikanen, Betrügereien und Korruptionsfälle, die in ihren politischen und wirtschaftlichen Einrichtungen sichtbar wurden. Das Rüstungsgeschäft jedoch, die hämischen Lügen über ‘die sowjetische Bedrohung’, die gesamten Mechanismen, die die etablierten Interessen schützen, und die auch das System schützen, mit dessen Hilfe man im Zusammenhang mit dem Krieg und der Kriegsvorbereitung Profit machen kann - alle diese Dinge blieben weitgehend heilige Kühe. Aus dem einen oder anderen Grund mußte keiner von denen, die die Amerikaner über die Ereignisse im Ausland täuschten und sie dazu brachten, entgegen ihren Wünschen Milliarden von Dollar für die Waffen auszugeben, die das Land ohne Not in Krisen und Konflikte mit anderen Länder hineinzogen - keiner von ihnen mußte dafür Rechenschaft ablegen. Mehr noch, in einigen Fällen stehen dieselben Leute, die die Öffentlichkeit regelrecht irregeführt haben, wenn in kritischen Situationen wichtige langfristige militärische Belange entschieden wurden - sei es in den späten fünfziger, in den sechziger oder in den siebziger Jahren -, stehen genau dieselben Leute nach wie vor hoch im Kurs, gelten als die Gewährsleute schlechthin, als die, ‘die es wissen’ und deren Meinung sowohl in der Öffentlichkeit wie bei den Politikern Beachtung finden sollte.
Diese Worte scheinen auf Paul Nitze und seine Freunde zugeschnitten zu sein. | |
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Das liegt daran, daß Paul Nitze diesen Typ besser als irgend jemand sonst verkörpert. 1950 war er Vorsitzender der Gruppe, die das Dokument NSC-68 verfaßte, 1957 war er Mitglied im ‘Gaither panel’, später war er Marineminister und stellvertretender Verteidigungsminister. Zu der Zeit, als Nitze den letztgenannten Posten innehatte, tauchten neue Horrorgeschichten über die Russen auf, einschließlich der falschen Gerüchte bezüglich des sowjetischen Raketenabwehrsystems. 1976 trat Nitze in das ‘Team B’ ein, eine spezielle Gruppe von Experten aus dem Lager der Falken, die von Präsident Ford eigens eingerichtet wurde, um die US-Schätzungen der Stärke der Sowjets nach oben zu korrigieren. ‘Team B’ hat alle Rekorde geschlagen in dem Bemühen, das Bild von der ‘sowjetischen Bedrohung’ weiter auszumalen. Heute ist Nitze einer der führenden Köpfe im ‘Committee on the Present Danger’Ga naar eind16, der immer wieder die gleichen Thesen von sich gibt, sei es in den Medien, bei Anhörungen des Kongresses oder bei öffentlichen Veranstaltungen. Es gibt in Amerika noch mehr Leute von seinem Schlag. Und ebenso in Europa. Nehmen Sie Ihren Landsmann Joseph Luns, Generalsekretär der Nato. Nein, ich glaube nicht an eine Verschwörer-Theorie in der Geschichte, ich gehöre nicht zu denen, die in Verschwörungen die letzte Quelle für alle Katastrophen von großem Ausmaß sehen. Aber in diesem besonderen Fall, angesichts der Mythologie von der ‘sowjetischen Bedrohung’ und dem Wettrüsten, bin ich zutiefst davon überzeugt, daß wir es mit einer Verschwörung zu tun haben, wenn nicht gar mit einem verzweigten System von Verschwörungen.
Nachdem ich seit ungefähr 30 Jahren in den Vereinigten Staaten lebe, ist mir klar geworden, daß die Interessen, die mit der amerikanischen Kriegsmaschinerie verstrickt sind, gewiß eine kolossale Rolle spielen. Aber gibt es nicht auch den sowjetischen militärisch-industriellen Macht- und Interessenkomplex, der ebenfalls eine entscheidende Rolle beim Wettrüsten spielt?
Man sollte nicht versuchen, dort Parallelen zu ziehen, wo die Situation gänzlich anders ist. Außerdem, um ein schönes Wettrüsten zu haben, reicht wirklich ein Komplex vollkommen aus. Und es war jeweils der amerikanische, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs jede Runde des Wettrüstens eingeläutet hat.
Ist es denn nicht angebracht, nach Parallelen zwischen dem militärisch-industriellen Komplex in Amerika und der Rüstungsindustrie in der Sowjetunion zu suchen? | |
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Selbstverständlich haben wir Generäle und eine Rüstungsindustrie. Aber unsere Rüstungsindustrie produziert nicht des Profits wegen, weshalb ihr auch das Expansionsstreben fehlt, das die Rüstungsindustrie im Westen auszeichnet. Außerdem ist unsere Wirtschaft nicht auf die Ankurbelung durch Militärausgaben angewiesen - ein Mittel, das im Westen regelmäßig Anwendung findet, um dem Problem einer unzureichenden Nachfrage in der Wirtschaft zu begegnen.
Wer dann verdient daran, wenn ein sowjetischer Panzer oder eine sowjetische Rakete hergestellt wird?
Nun, sehen Sie, die Arbeiter, Ingenieure, Manager, Konstrukteure usw., alle diejenigen, die einen Panzer oder eine Rakete entworfen oder hergestellt haben, bekommen zweifellos ihren Lohn. Wenn sie gute Arbeit geleistet haben, erhalten sie vielleicht sogar eine Prämie. Nur muß man dazu sagen, daß sie genauso gerne einen Traktor oder Mähdrescher herstellen wie einen Panzer, genauso gerne ein Passagierflugzeug oder hochwertige Ausrüstung zur Energiegewinnung bzw. zur friedlichen Erforschung des Weltraums wie eine Rakete. Und außerdem haben wir keine Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil, wir leiden dauernd unter Arbeitskräftemangel. Es gibt keine ungenützten Kapazitäten in unseren Fabriken, wir leiden auch hier unter Engpässen. Deshalb müssen wir mehr und mehr Produktionsstätten errichten, um die Bedürfnisse des Landes zu befriedigen. Das ist der Grund, warum im Falle einer Umstellung auf zivile Produktion nicht nur unser Land insgesamt daraus Nutzen ziehen würde, sondern im Prinzip auch niemand Schaden erleiden würde. In der Tat stellen auch heute die Industriezweige, die der Verteidigung dienen, in großem Umfang Zivilgüter her. 1971 stellte L.I. Breschnew fest, daß 42 Prozent der gesamten Produktion der Rüstungsindustrie zivilen Zwecken dient. Im Herbst des Jahres 1980 rief er die Manager der Rüstungsindutrie dazu auf, die Produktion von Konsumgütern zu erhöhen und einen größeren Teil ihrer Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen der Schaffung neuer Technologien für den zivilen Sektor der Wirtschaft bereitzustellen.
Haben Sie Vergleichszahlen für die gegenwärtigen Militärausgaben in Ost und West?
Selbstverständlich. Die amtlichen Zahlen für die amerikanischen Militärausgaben lagen für das Haushaltsjahr 1978/79 bei 127,8 Milliarden Dollar und bei 141,6 Milliarden Dollar für 1979/80. Die Carter-Administration beantragte für das Haushaltsjahr 1980/81 161,8 Milliar- | |
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den Dollar - der Kongreß erhöhe das Budget auf 170 Milliarden Dollar, und der Vorschlag für 1981/82 sieht Ausgaben in Höhe von 196,4 Milliarden vor.Ga naar eind17 Die Militärausgaben der UdSSR betragen 17,2 Milliarden Rubel (24,6 Milliarden Dollar) für 1978, bzw. 17,2 Milliarden Rubel (25,7 Milliarden Dollar) für 1979, und die Haushaltszuweisungen für 1980 belaufen sich auf 17,1 Millarden Rubel (26,4 Milliarden Dollar).Ga naar eind18
Das klingt äußerst unglaubhaft, ich meine, diese Unterschiede. Sie wissen sicher, daß im Westen ganz andere Summen für den sowjetischen Militärhaushalt genannt werden.
Einzelheiten unseres Verteidigungshaushalts werden nicht veröffentlicht, deshalb kann ich nur sehr allgemein gehaltene Erklärungen für die Unterschiede geben. Die USA haben eine Berufsarmee, wogegen die Basis unserer Armee die Wehrpflicht ist. Um qualifizierte Leute für die Armee zu gewinnen, muß die US-Regierung den Soldaten recht beträchtliche Löhne zahlen. Mehr als die Hälfte des amerikanischen Militärhaushalts wird für Löhne und Mieten aufgewendet. Ein GI erhält ungefähr 300 bis 500 Dollar im Monat. Ein sowjetischer Soldat kann von dem Sold, den er bekommt, höchstens Zigaretten kaufen. Der Lebensstandard ist bei einer Armee, in der Bürger aus Pflicht, weniger aus materiellen Überlegungen heraus dienen, weitaus bescheidener als bei einer Berufsarmee. Ich könnte noch einen weiteren Faktor anführen, der mit der Rüstungsindustrie zu tun hat. Unser Preissystem gestattet dieser Industrie nicht, die Preise für ihre Produkte willkürlich anzuheben.
Nach CIA-Schätzungen liegen derzeit die sowjetischen Militärausgaben in der Größenordnung von 180 Milliarden Dollar.
Ach, das ist anhand des sogenannten ‘Dollarmodells’ berechnet. Einem Detroiter Hersteller von Panzern werden die Daten eines sowjetischen Panzers vorgelegt, und er wird gefragt, was es kosten würde, solch einen Panzer herzustellen.
In Detroit?
Oder in Flint Oder wo immer auch die Amerikaner ihre Panzer produzieren. Dann wird diese Schätzung mulipliziert mit der Zahl der Panzer, die wir nach Auffassung des CIA jährlich produzieren, und schon hat man die Zahl für die ‘wirklichen’ sowjetischen Ausgaben für die Panzerpro- | |
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duktion. Aber bei dieser Rechnung wird irgendwie vergessen, daß sowjetische Panzer nicht von amerikanischen Herstellem produziert werden. Auf gleiche Weise wird die vom CIA angenommene Truppenstärke mit dem Sold multipliziert, den amerikanische Soldaten und Offiziere erhalten, womit man eine weitere Summe hat. Aber lassen Sie uns, um der besseren Verdeutlichung willen, noch bei den westlichen Schätzungen verweilen, anhand derer die Militärausgaben in Ost und West verglichen werden. Trotz aller Verzerrungen ergeben diese doch keineswegs das Schreckensbild, das die Falken in Washington oder Brüssel gerne zeichnen. Nach den - hauptsächlich auf stark überhöhten amerikanischen Zahlen beruhenden - Schätzungen des Londoner International Institute for Strategie Studies z. B. übersteigen die Militärausgaben der Nato 1978 die der Staaten des Warschauer Paktes um 20 Milliarden Dollar.Ga naar eind19 Nimmt man die ‘gemäßigteren’ Schätzungen des Stockholmer International Peace Research Institute, so gewinnt man ein sogar noch schlimmeres Bild. Anhand der hier vorgelegten Zahlen zu den weltweiten Militärausgaben für 1978 entfielen auf die Nato 42,8 Prozent der globalen Rüstungsausgaben, auf die Staaten des Warschauer Paktes 28,6 Prozent, auf China 10,5 Prozent.Ga naar eind20 Da wir es sowohl mit einer Bedrohung durch den Westen wie durch den Osten zu tun haben, kann man beide Anteile addieren und erhält ein Verhältnis von 53,3: 28,6 zuungunsten der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Es weisen also sogar die stark übertriebenen westlichen Schätzungen, berücksichtigt man auch die Verbündeten, noch auf eine ganz deutliche Lücke zugunsten der Nato hin. Auch die gegenwärtigen politischen Haltungen unterscheiden sich in dieser Hinsicht ganz beträchtlich. Die USA und die Nato planen für die kommenden Jahre einen stetigen und sehr bedeutenden Anstieg der Militärausgaben. Die Sowjetunion ist bis heute diesem Beispiel nicht gefolgt.
Aber selbst, wenn sie das tut, muß sich das nicht in den offiziellen Zahlen widerspiegeln. Sie müssen wissen, der Westen schenkt diesen Zahlen keinen Glauben.
Man mag diese Zahlen nehmen wie man will, aber es läßt sich nicht leugnen, daß die jüngste Entscheidung der USA, die Militärausgaben inflationsbereinigt um jährlich fünf Prozent oder sogar mehr zu steigern, sowie die Entscheidung der Nato-Länder, ihre Rüstungsausgaben in den nächsten 15 Jahren um jährlich drei Prozent zu erhöhen, der Sowjetunion einen denkbar bequemen Vorwand liefern würde, ihr Militärbudget | |
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zu erhöhen und jegliche Schwierigkeit, die im Bereich der Wirtschaft besteht, damit zu erklären, daß man den Leuten sagt, schaut was der Westen treibt - und natürlich auch China mit seinen ‘Vier Modernisierungen’. Angesichts einer solchen Politik des Westens müßten wir den Gürtel enger schnallen und für eine Zeitlang die Konsumgüter zurückstellen, um abermals den Großteil unserer Mittel für die Verteidigung aufzuwenden. Wir möchten schließlich nicht unvorbereitet angetroffen werden. Und die Sowjetbürger würden, da sie sehr gute Patrioten sind, einer solchen Entscheidung zustimmen. Wir handeln jedoch anders. Im Laufe der letzten Sitzungsperiode des Obersten Sowjets wurde eine weitere mäßige Kürzung der Haushaltsmittel für die Verteidigung - in Höhe von einigen 100 Millionen Rubel - bekanntgegeben... Das Erstaunliche im Zusammenhang mit Carters riesigem Aufrüstungsprogramm für die USA ist die Tatsache, daß hierbei alle vorliegenden wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse völlig mißachtet werden. Das MX-System wird 40 Milliarden Dollar kosten, das Trident-U-Bootprogramm 30 Milliarden Dollar, die für Europa vorgesehenen Mittelstreckenraketen 5 Milliarden. Die Militärausgaben für 1985 werden auf über 250 Milliarden Dollar veranschlagt. Und einige Leute in Präsident Reagans Umkreis halten selbst das noch für zu gering.
Erkennt nach Auffassung sowjetischer Fachleute niemand in den USA die negativen Auswirkungen der enormen Rüstungsausgaben?
Doch, selbstverständlich. Nur ein paar Beispiele: Im Oktober 1979 veröffentlichte das Magazin Business Week Interviews mit Paul Warnke und General a. D. Maxwell Taylor. Trotz ihrer erheblich von einander abweichenden politischen Einstellung erklärten sie übereinstimmend, daß Carters Aufrüstungsprogramm zu einer wirtschaftlichen Bedrohung der Sicherheit der USA führen könnte.Ga naar eind21 Oder nehmen Sie die Feststellung von Henry Kaufman, einem führenden Finanzmakler der Wallstreet, der in einer Rede vor der American Bankers Association im März 1980 sagte: ‘Ein neuer Kalter Krieg würde... für den Dollar zusätzliche Probleme mit sich bringen’, und dann mit einer Aufzählung weiterer Aspekte fortfuhr, die Ergebnisse von Carters Kurswechsel waren und den USA wirtschaftlichen Schaden zufügten. Unsere Fachleute sind der Meinung, daß man in den USA während des Krieges in Südostasien begann, die Übel einer militarisierten Wirtschaft zu erkennen. Die öffentliche Diskussion in den späten sechziger Jahren trug dazu bei, die Tatsache zu erhellen, daß die riesigen Rüstungsausgaben für die amerikanische Wirtschaft allmählich ruinös wurden. Der Kriegshaushalt trieb die Inflation in die Höhe. Er schwächte die Wett- | |
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bewerbsfähigkeit der Vereinigten Staaten auf den Weltmärkten. Viele amerikanische Geschäftsleute kamen zu dem Schluß, daß einer der Gründe, warum die japanische und die westdeutsche Industrie so erfolgreich mit den USA konkurrieren konnten, die abnormen Haushaltsausgaben für den Vietnamkrieg waren. Sowjetische Experten stellen fest, daß die Amerikaner sich auch weiterer schädlicher Folgen der umfangreichen Militärausgaben bewußt werden.
Welcher Folgen insbesonders?
In den letzten Jahren beklagten manche Amerikaner, die Vereinigten Staaten würden allmählich gegenüber anderen Ländern ins Hintertreffen geraten, was die Zahl der Erfindungen und der wissenschaftlichen Neuerungen anbelangt. Einige sahen einen Grund dafür in der Tatsache, daß Amerikas klügste Köpfe von der Rüstungswirtschaft in Beschlag genommen werden und an diesen Sektor gebunden bleiben. Zwischen einem Drittel und 40 Prozent der amerikanischen Ingenieure arbeiten in der Rüstungsindustrie, was für die übrigen Sektoren einen erheblichen Verlust an intellektuellem Potential bedeutet. Mehr und mehr Leute in den Vereinigten Staaten fangen an zu begreifen, daß die Inflation mit den Rüstungsausgaben in Zusammenhang steht und daß das Wettrüsten dabei eine bedeutende Rolle spielt. Die Ansichten der Gewerkschaften über die Arbeitsplätze, die dem Militär zu verdanken sind, ändern sich ebenfalls.
Das erinnert mich daran, daß zur gleichen Zeit, als in Amsterdam eine riesige Demonstration gegen die Herstellung von Neutronenwaffen stattfand, die Kinder in Livermore in Kalifornien T-Shirts kauften, auf denen Slogans aufgedruckt waren, die die Herstellung dieser Horrorprodukte propagierten; der Grund dafür war, daß ihre Väter diesen Betrieben ihren Arbeitsplatz verdankten.
Ich finde es tragisch, wenn Leute vor die Wahl gestellt werden, entweder das Geschäft des Todes zu betreiben, oder zu hungern. Es stimmt, daß ganze Landstriche in den USA von den Aufträgen des Pentagon abhängig sind, da dadurch Arbeitsplätze geschaffen werden. Trotzdem hat man mehr und mehr erkannt, daß Militärausgaben tatsächlich weniger Arbeitsplätze schaffen, als das gleiche Geld, im zivilen Sektor der Wirtschaft investiert, bewirken würde. Das ist einer der Gründe, warum einige der Gewerkschaften, die in der Rüstungsindustrie beschäftigte Arbeiter vertreten, heute zusammen mit Kirchen und Kreisen aus der Wirt- | |
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schaft Pläne ausarbeiten, um die Rüstungsproduktion auf friedliche Zwecke umzustellen. Ich glaube, an der Basis ist die Bereitschaft zu einer Alternative zum Militarismus weit verbreitet. Allerdings scheinen aufgrund der Kursänderungen in der US-Außenpolitik zu Beginn der achtziger Jahre diese Neigungen heute weniger offen in Erscheinung zu treten. Von einer Umstellung der Rüstungswirtschaft auf friedliche Zwecke zu sprechen, kann leicht als ‘unpatriotisch’ hingestellt werden, in einer Zeit, in der sich die Nation neuerlich auf den Kriegspfad begeben hat.
Nun, niemand wird bestreiten, daß die Militärausgaben der USA ganz enorm sind. Sicherlich ist Ihnen aber auch bekannt, daß ihr Anteil am Bruttosozialprodukt bzw. am Haushalt heute geringer ist als, sagen wir, vor 15 Jahren. Die nichtmilitärischen Ausgaben übersteigen heute die militärischen Ausgaben, wahrend es in den späten sechziger Jahren umgekehrt war. Trotz der gegenwärtigen drastischen Erhöhung der Militärausgaben wird im Haushalt 1981 dem Pentagon realiter die gleiche Summe zugewiesen wie vor dem Krieg in Indochina.
Ja, ich kenne die Argumentationsweise sehr wohl. Beginnen wir mit dem Anteil am Bruttosozialprodukt. Selbstverständlich sind fünf oder sechs Prozent des BSP, also der Anteil, den die Militärausgaben der USA während der letzten Jahre erreichen, weniger als jene 9 oder 13 Prozent, auf die sich der Verteidigungshaushalt in der Vergangenheit bisweilen belief. Aber das heißt nicht, daß fünf Prozent kleine Fische sind. Wenn man das Wachstum des BSP bedenkt, dann bedeutet jeder Prozentpunkt eine gewaltige Summe, ganz zu schweigen von fünf Prozent. Plus oder minus fünf Prozent machen Welten aus, wenn von BSP die Rede ist. Und jedes Jahr werden diese fünf Prozent einfach vergeudet. Was den Haushalt anbelangt, so ist das Bild sogar noch düsterer. Der Staatshaushalt - und auch davon wiederum nur bestimmte Teile - zeigt an, in welchem Umfang die Gesellschaft Mittel für die Lösung der nationalen Probleme bereitstellt. Zu diesen Problemen gehört nicht nur die militärische Sicherheit, sondern auch die soziale Sicherheit, das Gesundheitswesen, die Bildung, Probleme der Städtesanierung, der Umweltschutz, Energiefragen und Grundlagenforschung. Wenn etwa ein Viertel der dafür vorhandenen Mittel militärischen Zwecken dient, so bedeutet das für die Gesellschaft großen Schaden, und ihre Fähigkeit, die dringendsten Probleme zu lösen, wird stark eingeschränkt. | |
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Aber ist nicht die langfristige Verschiebung der Prioritäten innerhalb des Haushalts eine unbestreitbare Tatsache?
Nun, in diesem Moment können wir feststellen, daß sich die Prioritäten erneut zugunsten der Militärausgaben verschieben. Aber selbst, wenn das Verhältnis der einzelnen Anteile am Staatshaushalt, das sich in den siebziger Jahren herausgebildet hatte, beibehalten werden sollte, so würde das noch lange nicht heißen, daß die Sozialausgaben reichlich bemessen sind, während das Militär kurzgehalten wird. Ganz zu schweigen auch davon, daß ein Vergleich des derzeitigen Standes der Ausgaben mit dem vor dem Vietnamkrieg in hohem Maße irreführend sein kann. Die Zeit vor dem Vietnamkrieg war in dieser Hinsicht nicht im entferntesten eine Phase der ‘Normalität’. Man darf nicht vergessen, daß die USA damals ein umfangreiches Programm zur strategischen Aufrüstung durchführten, das unter dem Eindruck der ‘Raketenlücke’ in einer Atmosphäre der Hysterie beschlossen worden war, genauso wie sie einen rapiden Ausbau der konventionellen Streitkräfte durchführten, entsprechend der Doktrin der ‘flexible response’, d.h., es galt darauf vorbereitet zu sein, zweieinhalb Kriege - zwei große und einen kleinen - gleichzeitig zu führen. Heute bereiten sich die USA angeblich darauf vor, eineinhalb Kriege zu führen, paradoxerweise aber geben sie mehr Geld dafür aus als zu der Zeit, als sie sich auf zweieinhalb Kriege vorbereiteten. Stellt man solche Vergleiche an, so ist es auch sehr wichtig, die Tatsache im Auge zu behalten, daß die Militärausgaben unter dem anhaltenden Druck der wachsenden gesellschaftlichen Bedürfnisse stehen, die die Regierung nicht einfach ignorieren kann, wenn sie überhaupt Stabilität anstrebt. Ich meine damit die Erschließung von Energiequellen, den Umweltschutz und einen verstärkten Zwang zu Sozialausgaben als Folge der zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen sich ein Großteil der Bürger konfrontiert sieht. Man muß alle diese Faktoren und Zwänge berücksichtigen, wenn man versucht, die Frage zu beantworten, ob der gegenwärtige Anteil am BSP, den die Militärausgaben verschlingen, hoch oder niedrig ist. Betrachtet man Amerikas innenpolitische Probleme, so gewinnt man nicht den Eindruck, als würden für die Lösung der Probleme so reichliche Gelder zur Verfügung stehen, daß die Amerikaner darin schwimmen könnten.
Dennoch sind die Sozialausgaben gestiegen.
Ja, sie sind gestiegen. Eine sehr bedeutende Rolle haben hierbei die ernsten innenpolitischen Unruhen in den USA in den sechziger Jahren gespielt. Die Leute gingen auf die Straße. Es kam zu Tumulten. | |
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Denken Sie an Watts?Ga naar eind22
Nun, das ganze Jahrzehnt war voller sozialer Unruhen. Die Leute weigerten sich hinzunehmen, was ihnen zugemutet wurde. Die Steigerung der Sozialausgaben wurde von Präsident Johnson in die Wege geleitet. Gewiß, das Konzept von der ‘Great Society’ enthielt eine Menge leerer Rhetorik. Kein Zweifel auch, daß Lyndon B. Johnson seine persönlichen und politischen Interessen verfolgte, als er zu dieser großen Anstrengung aufrief, die drängenden sozialen Probleme in Amerika in Angriff zu nehmen. Aber hier spielte auch noch ein weitreichenderes Motiv eine Rolle, denke ich. Als ein gewitzter Politiker muß Johnson erkannt haben, daß den sozialen Problemen eine weitaus größere Aufmerksamkeit zukommen mußte, da andernfalls die innenpolitische Instabilität zu einer explosiven Lage führen würde.
Aber der gleiche Johnson schickte Hunderttausende junger Männer in Vietnam in eine aussichtslos verfahrene Situation.
Ja, außerdem torpedierte der Vietnamkrieg die Idee der ‘Great Society’, und die Ära Johnson endete in einem vollständigen Chaos. All das muß man sich in Erinnerung rufen, will man die sich ändernden Prioritäten richtig einschätzen. Als die siebziger Jahre anbrachen, stießen der Vietnamkrieg und der Militarismus ganz allgemein auf hartnäkkigen und oftmals gewaltsamen Widerstand in ganz Amerika, während gleichzeitig die Forderungen nach Sozialausgaben immer stärker wurden. Nixon hatte keine große Wahl. Die ganze Siuation erforderte eine Steigerung der Ausgaben im Binnenbereich und eine Einschränkung der Militärausgaben.
Nun aber scheint sich die Situation, die ganze Stimmung im Lande, gewandelt zu haben.
Ja, wir können rege Versuche beobachten, das Verhältnis zwischen Militär- und Sozialausgaben erneut umzukehren. Auch ist es der Regierung gelungen - so sieht es wenigstens im Moment aus -, den weitverbreiteten Widerstand gegen eine massive Steigerung der Militärausgaben zu schwächen. Zugleich aber wäre es falsch, einfach zu glauben, die Situation sei wieder die gleiche wie früher. Im Augenblick scheinen viele bereit zu sein, mehr für Kanonen auszugeben. Aber nur wenige unter ihnen wären bereit, deshalb weniger für Butter zur Verfügung zu haben. Der | |
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Druck auf die Regierung, den innenpolitischen Problemen ernsthaftere Aufmerksamkeit zu widmen, hat nicht nachgelassen, denn die alten Probleme sind nach wie vor nicht gelöst, viele sogar noch dringender geworden, und neue Probleme kamen hinzu. Die Regierung der USA kann die Augen vor der innenpolitischen Situation des Landes nicht verschließen. Sie kann nicht vor ihr davonlaufen. Schließlich sind die Vereinigten Staaten, was die Sozialpolitik anbelangt, eines der rückständigsten westlichen Länder.
Aber das augenblickliche Thema Nr. 1 in Washington ist das fehlende Vertrauen der Leute in die Fähigkeit der Regierung, ihre Probleme zu lösen. Ist das nicht einer der Gründe, warum Präsident Reagan gewählt wurde?
Ich glaube, die Konservativen in Amerika begehen einen schweren Fehler, wenn sie annehmen, daß eine antiinflationistische Stimmung in der Öffentlichkeit eine solide Basis für eine Kehrtwendung in der Sozialpolitik bildet, daß der ihnen erteilte Wählerauftrag die Aufforderung zu einer Rückkehr zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts darstellt. Die Amerikaner sind zugegebenermaßen verärgert über die Inflation und die Steuern. Gleichzeitig aber nahm in den siebziger Jahren die Unterstützung für die Sozialprogramme, die die Regierung eingeführt hatte, ständig zu. Ich sehe darin keinen Widerspruch. Die Leute sagen sich einfach: ‘Ja, die Regierung kann dazu beitragen, die Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten, die der Markt schafft, zu erleichtern, aber zugleich sollte die Regierung ihre Finanzen in Ordnung bringen und die Steuerlast gerechter verteilen.’ So ist, kurz zusammengefaßt, meiner Meinung nach die Situation. Die Amerikaner erwarten von ihrer Regierung eher mehr als weniger. Außerdem - hat man den Leuten erst einmal etwas gegeben, so ist es schwierig, es ihnen wieder wegzunehmen.
Sie haben gesagt, das Wettrüsten stärke die nationale Sicherheit nicht, sondern untergrabe sie vielmehr.
Eine negative Auswirkung des Wettrüstens auf die nationale Sicherheit - wahrscheinlich die gravierendste überhaupt - besteht darin, daß die Anhäufung von immer mehr Waffen einen Krieg wahrscheinlicher und seine Konsequenzen verheerender macht. Und da es unmöglich ist, auf Dauer irgendwelche einseitigen Vorteile zu erlangen, wächst diese Bedrohung der Sicherheit mit jeder neuen Runde. Eine weitere Auswirkung ist ökonomischer Natur. Indem das Wettrüsten der Wirtschaft und | |
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den sozialen und kulturellen Bereichen immer größere Summen entzieht, mindert es den Wohlstand der Nation, ihre Stärke, sowie die Zukunftsaussichten von Staat und Gesellschaft. Es ergibt sich daraus das Dilemma, ob es sich lohnt, die Sicherheitsvorkehrungen für ein Haus zu verstärken, wenn die Kosten dafür den Besitzer vollkommen ruinieren. Auch wenn eine Vermehrung der Waffen und die Schaffung neuer Waffen kurzfristig von Vorteil zu sein scheint, kann das schließlich die militärische und politische Stabilität aus dem Gleichgewicht bringen und so eine zusätzliche Gefahr für die nationale Sicherheit schaffen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nun, vermutlich eignet sich die Geschichte der Mehrfachsprengköpfe so gut wie jede andere. Wir haben schon über die Problematik der ‘counterforce capability’ gesprochen. Erlangt eine Seite die Fähigkeit, alle oder einen großen Teil der strategischen Waffen des Gegners mit Hilfe eines vorbeugenden Schlags auszuschalten, so schürt das die Ängste und die Unsicherheit auf der anderen Seite, und diese Angst wiederum verstärkt das Bestreben, selbst eine ähnliche Fähigkeit zu erlangen, die wiederum den Gegner bedroht und weiterhin dazu führt, neue Systeme zu schaffen, die vor solch einem Schlag sicher sind, sowie die eigenen Raketen ständig in höchster Bereitschaft zu halten. Das Resultat ist, wie man sieht, eine erhöhte Instabilität. Solch eine Fähigkeit zum ‘counterforce’-Schlag wäre jedoch nur unter der Voraussetzung möglich, daß eine Seite die Zahl der Sprengköpfe beträchtlich erhöht, und zwar deshalb, weil man selbst mehr als einen Sprengkopf braucht, um eine Rakete des Gegners auszuschalten, da die Gewähr einer hundertprozentigen Treffsicherheit und Zuverlässigkeit nicht gegeben ist. Diese Tatsache stabilisierte die Situation bis zum Auftauchen der Mehrfachsprengköpfe, die unabhängig voneinander auf verschiedene Ziele gerichtet werden können. Es war so leicht, jeden Versuch, eine ‘counterforce capability’ zu erlangen, dadurch wettzumachen, daß man, wenn der Gegner zwei oder drei Interkontinentalraketen gebaut hat, ihm ebenso viele eigene entgegenstellte.
Wer hat die Mehrfachsprengköpfe zuerst eingeführt?
Die USA, wie ich bereits sagte. Da die USA im Unterschied zu uns diese Mehrfachsprengköpfe hatten, machte sich Washington über die Auswirkungen dieser neuen Technologie keine Sorgen. Dann tauchten die sowjetischen Mehrfachsprengköpfe auf, und die USA zeigten sich sehr besorgt und gerieten sogar in Hysterie über die | |
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‘Verwundbarkeit’ ihrer Minutemanraketen. Diese Besorgnis wurde zum Hauptthema der Anti-SALT-Kampagne und ist es bis zum heutigen Tag geblieben. Es war also die ‘Verwundbarkeit’, die als Vorwand diente, um ein neues, sehr gefährliches und destabilisierendes strategisches System einzuführen, nämlich das MX-System, mit all seinen exotisch anmutenden Stationierungsmöglichkeiten. Mit anderen Worten, die Mehrfachsprengköpfe waren der Anstoß, der eine ganze Lawine von Ereignissen auslöste und damit die Stabilität und das Gleichgewicht und mithin auch die Sicherheit untergraben hat.
Tatsächlich scheinen viele US-Experten sehr besorgt zu sein über die Verwundbarkeit ihrer Interkontinentalraketen, wobei sie anführen, daß die russischen Raketen dank ihrer größeren Schubkraft in der Lage sein werden, mehr Sprengköpfe zu tragen, wenn die Sowjetunion in den achtziger Jahren fortfährt, ihre Raketen mit solchen Mehrfachsprengköpfen zu bestücken. Das verhilft ihr, so wird behauptet, zu einer ganz erheblichen Überlegenheit - wenigstens so lange, bis das MX-System aufgebaut ist.
Wie ich schon erwähnt habe, wurde die Verwundbarkeit der zu Lande stationierten Raketen Gegenstand einer hitzigen Diskussion, wobei auch die Probleme der ‘sowjetischen Bedrohung’, des strategischen Gleichgewichts und des SALT II-Vertrags zur Sprache kamen. Ob diese Frage eine derartige Erregung rechtfertigt, darf bezweifelt werden. Ich glaube nicht, daß das der Fall ist - aber ich sage das als Laie, nicht als Fachmann.
Warum bewerten Sie das Problem der Verwundbarkeit der Interkontinentalraketen so gering?
Nun gut, lassen Sie uns den Kern des Problems betrachten. Werden die Interkontinentalraketen in technischer Hinsicht durch das Auftauchen der Mehrfachsprengköpfe, durch die Steigerung der Treffsicherheit und der Vernichtungskraft der Sprengköpfe verwundbarer? Selbstverständlich werden sie das. Wenn die Amerikaner deshalb beunruhigt sind, muß man sie daran erinnern, daß es die USA waren, die den Wettlauf um die Mehrfachsprengköpfe, um die Counterforce-Konzepte und um die Verbesserung der Treffsicherheit der Sprengköpfe einleiteten. Aber ich stimme der These, daß die wachsende Verwundbarkeit der Interkontinentalraketen gewisse Vorteile für die Sowjetunion bedeutet, nicht zu. Diese These ist falsch. Die amerikanische Minuteman 3-Rakete, ausgerüstet mit dem neuen Mark 12 A-Sprengkopf, ist eine mächtige | |
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Counterforce-Waffe, die die sowjetischen Interkontinentalraketen heute, nicht in der Zukunft, verwundbarer machen, als es die amerikanischen Interkontinentalraketen sind. Was die Zukunft, die frühen achtziger Jahre betrifft, die in den USA als eine besonders gefährliche Periode betrachtet werden, so wurden bei den SALT II-Anhörungen vor dem Ausschuß für Auswärtige Beziehungen des Senats vergleichende Schätzungen zur Verwundbarkeit der amerikanischen und sowjetischen Raketen angestellt. Nach diesen Schätzungen wären die USA in der Lage, 60 Prozent unserer Interkontinentalraketen zu zerstören, während wir 90 Prozent der amerikanischen Raketen zerstören könnten. Es wurde jedoch in dem gleichen Bericht betont, daß die Interkontinentalraketen nur eines von drei ‘Beinen’ sind und dieses ‘Bein’ weit weniger Bedeutung für die USA hat als für die Sowjetunion, da Amerika nur 24 Prozent seiner gesamten Sprengköpfe auf Interkontinentalraketen installiert hat, die Sowjetunion dagegen 70 Prozent. Dementsprechend wird die Fähigkeit, einen Schlag zur Entwaffnung des Gegners durchzuführen, wie folgt eingeschätzt: Die UdSSR wird zu Beginn der achtziger Jahre imstande sein, 22 Prozent des amerikanischen strategischen Potentials zu vernichten, wogegen die USA bei solch einem Schlag 42 Prozent unseres Potentials vernichten können.Ga naar eind23 So sieht also die Situation bei dem gegenwärtigen Stand der Bewaffnung aus. Die Einführung des MX-Systems wird nicht nur die Verwundbarkeit der amerikanischen Interkontinentalraketen verringern, sondern - und das hört man von den Befürwortern dieses Systems nicht oft - die Verwundbarkeit der sowjetischen Interkontinentalraketen erhöhen. Andere von den USA geplante Waffensysteme wie Trident 2 oder Pershing 2 (letzteres verkürzt übrigens die Vorwarnzeit für den Fall, daß die Ziele im europäischen Teil der UdSSR liegen, auf fünf oder sechs Minuten) werden ebenfalls ganz beträchtliche Counterforce-Fähigkeiten aufweisen.
Mit anderen Worten, nach Ihrer Meinung entbehrt das Gerede von der ‘sowjetischen Bedrohung’, der die amerikanischen Interkontinentalraketen ausgesetzt sind, jeder Grundlage?
Unumstrittene Tatsache ist, daß im Falle eines Angriffs auf die Sowjetunion oder ihre Verbündeten die sowjetischen strategischen Streitkräfte in der Lage sein werden, den Vereinigten Staaten einen sogenannten ‘inakzeptablen Schaden’ zuzufügen. Genauso sicher steht fest, daß die UdSSR über die technischen Fähigkeiten verfügt, eine gewisse Anzahl amerikanischer Interkontinentalraketen zu zerstören. Aber die USA haben ihrerseits mindestens die gleiche Fähigkeit. In diesem Sinne ist die | |
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Bedrohung gegenseitig. Und was die Fähigkeit betrifft, Interkontinentalraketen zu zerstören, so zielen die amerikanischen Pläne darauf ab, den USA in diesem Bereich eine erhebliche Überlegenheit zu verschaffen. Es ist nur folgerichtig, davon auszugehen, daß die Sowjetunion versuchen wird zu verhindern, daß das Wirklichkeit wird, was umgekehrt die Amerikaner nicht gern sehen werden, und was deshalb einen neuerlichen Anfall von Paranoia angesichts der ‘sowjetischen Bedrohung’ auslösen wird.
Aber Sie haben selbst in Zweifel gestellt, daß die Verwundbarkeit der Interkontinentalraketen ein Problem von solch entscheidender Bedeutung ist.
Ja, mit der Einschränkung, daß ich kein Fachmann auf diesem Gebiet bin. Ich habe jedoch festgestellt, daß gar mancher Experte auch auf die Unstimmigkeiten hingewiesen hat, die diese Idee von der Verwundbarkeit enthält, und ich denke, darin sollte man wohl kaum das entscheidende Problem sehen. Zum Beispiel treten ungeheuer komplizierte technische Probleme auf, wenn es gilt, eine Salve abzufeuern, die gleichzeitig auf gut über tausend Ziele gerichtet ist. Und das ist etwas, was niemals ausprobiert wurde und wahrscheinlich auch niemals ausprobiert werden wird. Ferner gibt es das Problem des ‘Brudermordeffekts’, d.h., nachdem die ersten Sprengköpfe ihre Ziele getroffen hätten, würden die Auswirkungen dieser Explosionen unvermeidlich große Probleme schaffen, würden doch die restlichen Sprengköpfe auf dem Flug zu ihren Zielen dadurch zerstört oder abgelenkt werden. Noch wichtiger aber ist - darauf weisen die Experten hin -, daß, selbst wenn es môglich wäre, alle gegnerischen Interkontinentalraketen am Boden zu zerstören, es sich dabei nicht um einen wirklich entwaffnenden Schlag handeln würde. Es gibt nämlich noch die auf U-Booten installierten ballistischen Raketen, die auch mit modernen Waffen so gut wie unangreifbar sind, sowie die strategischen Bomber, die in kürzester Zeit einsatzbereit sind und zurückschlagen können. Diese beiden ‘Beine’ der strategischen Triade der USA - die auf U-Booten installierten Raketen und die Bomber - entsprechen fast 70 Prozent des amerikanischen strategischen Potentials. Wenn man sich sorgt, die Sowjets könnten einen ersten Schlag landen, so sollte man daran denken, daß diese beiden Beine auch weiterhin fast unversehrt für einen Gegenschlag zur Verfügung stehen. Ich könnte all dem noch ein paar weitere Gedanken hinzufügen. Alle Schauermärchen und alle Planspiele, die einen vernichtenden Schlag gegen die Interkontinentalraketen zum Gegenstand haben, ba- | |
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sieren auf der Annahme, daß der Gegner wartet, bis dieser Schlag ausgeführt wird, und sich erst dann in einer Situation wiederfindet, die der gleicht, in der sich Hamlet befand - zerrissen von der Frage, was geschehen soll, wenn überhaupt etwas geschehen soll, und natürlich von der Frage ‘Sein oder Nichtsein’. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die Regierung und die militärische Führung eines Landes, die die Nachricht erhält, daß einige tausend Sprengköpfe sich im Anflug auf ihr Land befinden, untätig bleiben und abwarten würde, bis diese explodieren, damit sie feststellen kann, ob es sich um einen Counterforce- oder Countervalue-Schlag handelt, und die dann beginnt, sich diesen schmerzlichen Überlegungen und akademischen Gedankenspielen hinzugeben.
Was ist übrigens ein Countervalue-Schlag im Unterschied zu einem Counterforce-Schlag?
Ein Counterforce-Schlag ist gegen militärische Ziele, in erster Linie gegen strategische Einrichtungen, gerichtet, wogegen ein Countervalue-Schlag gegen Großstädte und gegen das Wirtschaftspotential gerichtet ist. Nun, anstatt abzuwarten, um welchen Schlag es sich wohl handelt, würde das angegriffene Land unverzüglich einen Vergeltungsschlag auslösen. Natürlich würde es dabei nicht nur die Silos der feindlichen Interkontinentalraketen zum Ziel wählen, die zu diesem Zeitpunkt alle, mindestens jedoch in der Hälfte der Fälle, leer stünden, sondern ganz gewiß auch die Großstädte. Auf diese Weise hätten wir anstatt eines begrenzten Abtausches von sogenannten ‘Counterforce-Schlagen’ einen allgemeinen thermonuklearen Krieg, der der Geschichte der Menschheit ein Ende bereiten würde. Deshalb muß jeder, der einen Präventivschlag gegen die Interkontinentalraketen der anderen Seite plant, in Betracht ziehen, daß der geschilderte Verlauf nicht nur möglich, sondern sogar höchstwahrscheinlich ist. Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt, an dem die Kalkulationen, die die Väter solcher Planspiele anstellen, nicht aufgehen. Die Entscheidung, gegen die Interkontinentalraketen des Gegners einen Schlag zu führen, ist absolut gleichbedeutend mit der Entscheidung, den uneingeschränkten Atomkrieg zu beginnen. Wenn die Abschreckung funktioniert und man beim Gegner gesunden Menschenverstand voraussetzt, dann wird dieser einen solchen Krieg nicht beginnen, und damit verliert die Besorgnis um die Verwundbarkeit der Interkontinentalraketen jegliche Grundlage. Falls man jedoch dem Gegner zutraut, daß er leichtfertig einen totalen Atomkrieg vom Zaun bricht und nationalen Selbstmord begeht, dann heißt das, daß die Abschreckung gescheitert ist, und in diesem Falle wird das Problem der Verwundbarkeit der Interkontinental- | |
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Washington 1973: Georgij A. Arbatow, Leonid Breschnew, Richard Nixon auf dem Rasen des Weißen Hauses
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Leningrad 1975: Georgij A. Arbatow mit Carl Albert, dem damaligen Speaker des Repräsentantenhauses.
Moskau 1975: Georgij A. Arbatow mit Professor John K. Galbraith
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Moskau 1977: Frau Agnew, Georgij A. Arbatow und Frau, Harold Agnew, Direktor der Los Alamos Nuclear Laboratories (v.l.n.r.).
Moskau 1974: Georgij A. Arbatow mit Senator Walter Mondale
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Moskau 1975: Der Generalsekretär des Zentralkommitees der KPdSU, Leonid Breschnew, empfängt im Kreml die erste offizielle Delegation von US-Senatoren; u.a. Humphrey (Minnesota), Scott (Pennsylvania), Ribicoff (Connecticut), Javits (New York), Mathias (Maryland), Hart (Colorado). Breschnew zur Rechten: Boris Ponomarew (Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses). Vorne links: Georgij A. Arbatow
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Auf den Stufen des Capitols 1972: Georgij A. Arbatow mit George Bush, US- Vizepräsident unter Reagan
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Moskau 1978: Georgij A. Arbatow mit dem Kongreßabgeordneten Charles Vanik.
1974 mit Senator Edward Kennedy.
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Wien 1980: Georgij A. Arbatow mit Cyrus Vance, dem ehemaligen US-Außenminister, beim Treffen der sogenannten Palme-Kommission
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raketen sogar noch bedeutungsloser. In letzterem Fall sollte man ein Stoßgebet zum Himmel schicken und sich beeilen, selbst auf den Knopf zu drücken. Ich bin mir völlig im klaren darüber, daß diese Schlußfolgerungen bei vielen Experten - wenigstens in den USA - nur ein skeptisches Lächeln hervorrufen werden. Gleichzeitig möchte ich behaupten, daß es diese Strategen im Elfenbeinturm sind, die ihrerseits zu einer wahren Bedrohung werden. Indem sie die unglaublichsten Planspiele entwerfen, bringen sie es zuwege, neue Rechtfertigungen zu finden, um das Wettrüsten voranzutreiben und Ängste, Unsicherheit und Spannungen in der Welt zu vermehren. Sie haben nicht die geringste Ahnung, was Politik in der Realität eigentlich heißt - und ich meine damit nicht nur sogenannte Realpolitik. Sie mißachten die elementarsten Mechanismen der menschlichen Psyche. Die meisten von ihnen haben nie ein Gefecht erlebt und wissen nicht, was es mit dem Krieg wirklich auf sich hat.
Sie scheinen einen ziemlichen Groll gegen diese Leute zu hegen. Aber wenn das, was Sie gesagt haben, richtig ist, dann ist deren Auffassung zum Thema Verwundbarkeit falsch und richtet deshalb auch keinen Schaden an.
Wissen Sie, nachdem der Baptismus in den USA beinahe schon eine Staatsreligion geworden ist, habe ich damit begonnen, die Bibel zu studieren. Erinnern Sie sich, wie es in dem Buch Salomos heißt? ‘Weisheit ist besser denn Harnisch, aber ein einziger Bube verderbt viel Gutes’ (Prediger, 9, 18). Diese Planspiele erzeugen neue Ängste, untergraben gegenseitiges Vertrauen und verleihen dem neuen Aufschwung, den das Wettrüsten nimmt, noch zusätzliche Impulse.
Aber ich habe Sie bei Ihren Ausführungen zum Thema Strategie unterbrochen.
Sehen Sie, ich glaube ganz allgemein, daß vernünftige politische und militärische Führer die Abschreckung ganz anders sehen als diese Strategen im Elfenbeinturm. In den Augen einer Staatsführung sind allein schon die Aussichten auf die Zerstörung der Hauptstadt eine ernsthafte Abschreckung. (Ich glaube, es war McGeorge Bundy, der einmal auf diese Tatsache hingewiesen hat.) Und was für eine Aussicht erst wäre es, die zehn größten Städte zu verlieren? Was waren die USA ohne New York und Washington, Boston und Chicago, San Francisco und Los Angeles, New Orleans und Houston, Minneapolis und St. Louis? | |
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Oder was die Sowjetunion anbetrifft, was wäre sie ohne Moskau, Leningrad, Kiew, Swerdlowsk, Baku, Taschkent, Minsk, Dnjepropetrowsk, Gorki und Riga? Welche Ziele könnten denn möglicherweise solch ungeheueren Verluste rechtfertigen? Stellen Sie sich gar unsere beiden Länder jeweils ohne die 100 größten Städte vor. Theoretisch kann schon ein einziges U-Boot im jeweils anderen Land solchen Schaden anrichten, und die Gesamtzahl der nuklearen Sprengköpfe, die angehäuft wurden, geht in die Tausende. Dennoch stellt sich heraus, daß einige Leute noch viel mehr von diesen Waffen wollen und sich immer noch phantastischere Planspiele für den Weltuntergang ausdenken.
Aber die sowjetischen Programme und Arsenale wachsen doch auch entsprechend den vorgegebenen Zielen und Planspielen.
Ja, ich habe diese Wechselwirkung schon erörtert. Die USA preschen ein Stück vor, und wir ziehen nach, um den Anschluß zu behalten. Das ist die irrsinnige Eigendynamik, die dem Wettrüsten innewohnt, die Anhäufung von Waffen übersteigt bei weitem jegliche vernünftigen Bedürfnisse. Wenn wir dem kein Ende bereiten, wird das immer so weitergehen. Und die Kriegsgefahr wird wachsen. Tatsächlich geschehen heutzutage seltsame Dinge: Neue Waffen werden entwickelt und angehäuft, neue Kriege werden vorbereitet und sogar wahrscheinlicher gemacht, und zwar geschieht dies unter ganz verschiedenen Vorwänden und oftmals mit ganz verschiedenen Absichten.
Woran denken Sie dabei im besonderen?
Wissen Sie, ich habe oftmals das Gefühl, daß diese periodisch wiederkehrenden Versuche der USA, einen militärischen Vorteil über die UdSSR zu erlangen, eine Art Freudsche Kompensation sind für... Impotenz wäre das falsche Wort, ich denke, daß es zutreffender ist zu sagen, für den Mangel an Omnipotenz, den dieses Land in seinem Umgang mit der Welt in den letzten Jahren zu spüren bekam.
Professor Edward Teller, der Vater der H-Bombe, sagte mir 1980, daß die Sowjetunion einen absoluten Sieg davontragen würde, sollte ein Atomkrieg ausbrechen. ‘Womit will Carter die Sowjets denn aufhalten’, sagte er. Das gleiche gilt für Ronald Reagan, vermute ich.
Ich kann Dr. Tellers vaterliche Gefühle verstehen: Sein ‘Sprößling’ kam nicht zur Anwendung, was ihn zu ärgern scheint. Er scheint sich | |
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über so viele Gegebenheiten in dieser Welt zu ärgem - wie etwa über die Existenz einer Sowjetunion, die nicht einzuschüchtern ist, oder über die Tatsache, daß ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann. Ich fürchte, ihm ist nicht zu helfen. Es gibt nur eine einzige gesunde Einstellung zu solch einem Krieg - ihn um jeden Preis zu verhindem. Die Vereinigten Staaten, die ursprünglich die ‘Nuklearbombe’ als ein Werkzeug der Außenpolitik eingeführt hatten, haben immer wieder versucht, diese Maxime des Atomzeitalters zu umgehen. Gegenwärtig haben wir es ebenfalls mit einer solchen Periode zu tun, und Leute wie Dr. Teller drängten sich um den Kandidaten Reagan. Nun, da er Präsident ist, hat er hoffentlich die Zeit und die Informationen, um das zu lernen, was sieben seiner Vorgänger lernten, als sie sich mit dem Problem des Unterschiedes zwischen konventioneller und nuklearer Kriegsführung auseinandersetzten. Dr. Teller ist schließlich nicht sein einziger Ratgeber, soviel ich weiß.
Der frühere Präsident Carter steilte fest, die militärischen Vorbereitungen der Sowjetunion gingen über ihre Verteidigungsbedürfnisse hinaus.
Wir haben davon schon gesprochen. Aber ich könnte ein paar Bemerkungen anfügen. Ich frage mich nur, wie die Amerikaner ihre Verteidigungsbedürfnisse eingeschätzt hätten, hätten sie sich in unserer Lage bebinden und vier potentielle Gegner in ihre Überlegungen einbeziehen müssen - die USA sowohl mit ihren strategischen wie auch mit ihren konventionellen Waffen, die Nato-Verbündeten der USA in Europa, das verbündete Japan und China. Andererseits können wir dem eine ähnliche Einschätzung der militärischen Vorbereitungen der USA entgegenhalten, und das wäre dann eine viel besser begründete Rechnung. Wir in der Sowjetunion haben den nachhaltigen Eindruck, daß der Umfang und die Ausrichtung der amerikanischen Militärprogramme nicht mit defensiven Überlegungen begründet werden kann. Die USA übertreffen die Sowjetunion hinsichtlich der Zahl der Nuklearsprengköpfe um ein Vielfaches und entwickeln jetzt ihre strategischen Streitkräfte weiter, wobei großes Gewicht auf die ‘counterforce capability’ gelegt wird, sie haben viele, mit Nuklearwaffen ausgerüstete Flugzeugträger und sehr umfangreiche amphibische Streitkräfte nahe der sowjetischen Grenzen. Weiterhin sind ungefähr die Hälfte der amerikanischen Trappen in Übersee stationiert, werden mobile Eingreifreserven aufgestellt und geht die Militärdoktrin der USA ganz offen von einem ersten Einsatz von Nuklearwaffen aus, usw. Das sieht nicht sehr defensiv aus, besonders dann nicht, wenn man die relativ sichere geographische Lage der USA bedenkt - mit Ozeanen im Osten | |
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und im Westen, mit freundlich gesonnenen und militärisch schwachen Nachbarn im Norden und im Süden. So nehmen sich also die Verteidigungsbedürfnisse von außen gesehen immer anders aus. Trotzdem kann jeder von uns der ehrlichen Überzeugung sein, gut zu sein und niemand Böses antun zu wollen. Ich würde - wenn man nicht nur die UdSSR herausgreift - hinzufügen, daß es allgemein gesehen tatsächlich zuviel militärische Ausrüstung gibt, die die Welt in den vergangenen Jahrzehnten angesammelt hat. Das überschreitet Verteidigungs- und Sicherheitsbedürfnisse bei weitem. Deshalb sind wir auch für Abrüstung eingetreten. Auch besteht eine ganz erhebliche Overkillkapazität, von der sich die Großmächte leicht trennen könntenden politischen Willen auf alien Seiten vorausgesetzt. Mindestens aber besteht die uneingeschränkte Möglichkeit, keine neuen Waffen herzustellen.
Aber die Sowjetunion hat mehr Truppen, Panzer, Geschütze und weiß Gott was nicht noch alles!
Moment mal. Wir haben sehr viel weniger Truppen als unsere potentiellen Gegner - die USA, die Nato-Länder und China. Selbst wenn man davon ausgeht, daß wir mehr Panzer haben, bleibt die Tatsache bestellen, daß die Nato fortschrittlichere Panzerabwehrwaffen hat. Legt man zugrunde, daß wir mehr Geschütze haben, so ist gleichzeitig festzuhalten, daß selbst nach westlichen Schätzungen die Nato überlegen ist, was Geschütze auf Selbstfahrlafetten und taktische Nuklearwaffen anbelangt. Diese Asymmetrien bestehen, aber wenn man sie insgesamt betrachtet, ergibt sich letztlich in etwa Gleichgewicht, Gleichwertigkeit, Gleichheit - oder wie immer man das nennen will. Das wurde wiederholt bestätigt, und zwar nicht nur von uns, sondern auch von vielen westlichen Analytikern und führenden Politikern.
Sprechen Sie von einer generellen militarischen Ausgewogenheit oder vom Gleichgewicht in Europa?
Ich spreche von beidem. Natürlich gibt es im Westen unterschiedliche Einschätzungen dieser beiden Gleichgewichte, aber ich beziehe mich hierbei auf die maßgeblicheren Stellen, z. B. auf Verlautbarungen des amerikanischen Verteidigungsministers Harold Brown, des Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Schmidt, und des International Institute for Strategic Studies in London, etc. | |
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Sind dabei auch die SS 20-Raketen und andere in Europa stationierte Nuklearwaffen miteinbezogen?
Ja, selbstverständlich. Zum Beispiel bestätigte das International Institut for Strategic Studies vor kurzem die Existenz eines nuklearen Gleichgewichts in Europa.Ga naar eind24 So bekannte amerikanische Spezialisten wie Paul Doty und Robert Metzger sprechen von einem ungefähren Gleichgewicht bei den ‘eurostrategischen’ Waffensysternen mit einer Reichweite von über 600 Kilometer.
Sie wissen bestimmt, welch ein Sturm der Entrüstung ausgelöst wurde durch die Stationierung der SS 20-Raketen in den westlichen Teilen der UdSSR. Warum hat die Sowjetunion ausgerechnet wahrend der Blütezeit der Entspannung auf diesem Schritt beharrt?
Ja, wir wissen um diesen Sturm der Entrüstung, von dem Sie sprechen, sehr wohl und wir glauben, daß die Gründe dafür recht ähnliche sind wie in anderen Fällen, in denen man sich über diese oder jene Form der ‘sowjetischen Bedrohung’ entrüstete. Solche Entrüstungsstürme werden nämlich für gewöhnlich ausgelöst, um neue Rüstungsprogramme der Nato zu rechtfertigen - in diesem speziellen Fall das Pershing 2-Programm und die zu Lande stationierten Marschflugkörper. Was die SS 20 anbetrifft, so handelt es sich um eine Rakete, die jene sowjetischen Mittelstreckenraketen ersetzt (im Westen bekannt unter der Bezeichnung SS 4 und SS 5), die vor 20 Jahren eingeführt wurden und inzwischen veraltet sind. Es ist nichts weiter als ein Zufall, daß die Lebensdauer dieser Raketen zur Zeit der Entspannung auslief und ihre Ablösung nicht mehr länger aufgeschoben werden konnte. Vergessen Sie dabei nicht, daß, wie Leonid Breschnew mit vollem Ernst feststellte, die Gesamtzahl der sowjetischen Mittelstreckenraketen in Europa keineswegs anstieg, sondern sogar etwas zurückging. Das gleiche gilt für die sowjetischen Mittelstreckenbomber.
Die Experten der Nato behaupten jedoch - und viele im Westen sind sogar davon überzeugt -, daß die Einführung der SS 20 nicht nur als eine Modernisierung angesehen werden kann. Es wird gesagt, es handle sich dabei um völlig neue Raketen von überlegener Bauart.
Nun, was würde man wohl im Westen von der UdSSR halten, wenn wir 20 Jahre alte Raketen gegen andere austauschen würden, ohne daß diese neuer und besser wären? Aber das Entscheidende an der Sache ist, daß sich die Funktion dieser Raketen nicht gewandelt hat. Genauso wie bei | |
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der SS 4 und der SS 5, so liegen auch bei der SS 20 die USA außerhalb der Reichweite, womit diese Raketen Gefechtswaffe bleiben und keinen strategischen Charakter haben. Das ist unsere Antwort auf die sogenannte Vorneverteidigung der USA in Westeuropa, d.h. auf über 1500 Trägerwaffen, also auf die Raketen, Bomber, Kampfflugzeuge, sowie die mit Nuklearwaffen bestückten Maschinen der Flugzeugträger im Mittelmeer und im Nordatlantik, die in der Lage sind, sowjetisches Territorium zu treffen, ebenso wie auf die Raketen und Flugzeuge von Amerikas Verbündeten in Europa, die Atomwaffen besitzen, nämlich Großbritannien und Frankreich. Die sowjetischen Mittelstreckenraketen sind dazu bestimmt, auf unserer Seite die Funktion der Abschrekkung zu erfüllen.
Die Begründung, die die Nato für die Stationierung der Marschflugkörper und der Pershing 2-Raketen gibt, ist eine ganz ähnliche: Auch sie spricht von Moderniserung und Wiederherstellung des Gleichgewichts.
Eine Ähnlichkeit besteht nur solange, bis man genauer hinsieht. Die neuen Nato-Raketen werden eine neue Rolle spielen, neue Funktionen erfüllen, werden sie doch in der Lage sein, Ziele bis tief in die Sowjetunion hinein zu erreichen. Das bedeutet, entsprechend den bestehenden Maßstäben, daß diese amerikanischen Waffen nicht nur Gefechtswaffen sind, also nicht zu den Waffen gehören, die nur auf Kriegsschauplätzen außerhalb des Territoriums sowohl der UdSSR wie auch der USA eingesetzt werden, sondern daß es sich um strategische Waffen handelt. Gleichzeitig werden sie auch nicht vom SALT-Abkommen erfaßt. Schafft nicht das allein schon neue Probleme?
Sind Sie der Meinung, das Modernisierungsprogramm der Nato hat Einfluß auf den Fortgang von SALT?
Ja, es hat Einfluß. Gemäß dem SALT II-Vertrag sollen wir schließlich unsere strategischen Waffen um 250 Abschußvorrichtungen abbauen, um auf die gleiche Zahl von Abschußvorrichtigen zu kommen wie die USA. Die Amerikaner haben seit 1972 unablässig auf solcher Gleichheit beharrt, und beide Seiten haben um jedes Dutzend Raketen, wenn nicht gar um jede einzelne gerungen. Wir haben schließlich eingewilligt, obwohl wir zu einem früheren Zeitpunkt darauf beharrt hatten, die amerikanischen Waffensysteme der Vorwärtsverteidigung einzubeziehen. Nun aber planen die USA, ihren strategischen Streitkräften ungefähr 600 neue, nicht vom SALT II-Vertrag erfaßte Abschußvorrichtungen hinzuzufügen. Kann es uns nicht letztlich gleichgültig sein, wo eine Rake- | |
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te, die auf miser Territorium gerichtet ist, gestartet wird - ob in Montana, bzw. Nord Dakota, oder in Westdeutschland, bzw. Holland? Tatsächlich ware letztere Situation wegen der erschreckend kurzen Vorwarnzeit von Pershing 2 noch schlimmer. Und was wird aus SALT III werden, wenn wir uns an den Verhandlungstisch setzen, um darüber zu sprechen? Wie schon vereinbart wurde, würden wir über einen weiteren Abbau der strategischen Waffen sprechen. Aber wie sollten wir an diese Gespräche herangehen, wenn unsere Seite die Anzahl der Waffen zu verringern hat, während die USA zwar ihre Minuteman-Langstreckenraketen und ihre auf strategischen Bombern installierten Marschflugkörper begrenzen, gleichzeitig aber fortfahren, Pershing 2-Raketen und zu Land installierte Marschflugkörper in Europa zu stationieren?
Dies sind also die sowjetischen Einwande gegen die Herstellung und Stationierung neuer amerikanischer Raketen in Europa.
Ja, ich will noch weitere hinzufügen. Die Stationierung dieser Raketen ist gleichbedeutend mit einer neuen Runde im atomaren Wettrüsten. Sie können auch eine stark destabilisierende Rolle spielen, indem sie die Illusion aufkommen lassen, die USA waren imstande, ‘auf regionaler Ebene’ einen Atomkrieg gegen die UdSSR zu führen, wobei das Territorium der USA davon verschont bliebe. Alles in allem wird dadurch die atomare Abschreckung in Europa geschwächt.
Es ist ganz offensichtlich, daß eine neue Runde des Wettrüstens wahrscheinlich kaum mehr Stabilität mit sich bringen wird, weder für Europa noch für die Welt insgesamt. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß die UdSSR mit ihren SS-20-Raketen einen ersten Schrift zu einer solchen Runde getan hat.
Das ist nicht ganz richtig, ja es ist sogar ganz und gar falsch. Ich habe schon von den Gründen für die Stationierung unserer Mittelstrecken-raketen in Europa gesprochen. Die amerikanischen Waffensysteme der Vorneverteidigung sind ein sehr wichtiger Faktor. Wir haben immer darauf gedrängt, sie ebenfalls auf die Tagesordnung der SALT-Gespräche zu setzen. Hätten die Amerikaner dem zugestimmt, sähe die Situation vielleicht ganz anders aus. Ferner muß man sich in Erinnerung rufen, wie viele gefährliche Initiativen im Bereich der nuklearen Bewaffnung die Amerikaner und ihre Nato-Verbündeten ergriffen haben. Die USA haben 160 der insgesamt 370 Bomber des Typs F111 in Europa stationiert. In den sechziger und | |
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in den siebziger Jahren baute Großbritannien vier atomgetriebene U-Boote mit 64 Langstreckenraketen, Frankreich weitere vier mit ebenfalls 64 Langstreckenraketen, sowie 18 zu Land installierte Mittelstrekkenraketen. Großbritannien hat Beschlüsse gefaßt, nach denen es auf alle Fälle vier Trident-U-Boote bauen wird; Frankreich modernisiert auch seine zu Land installierten Raketen und plant, neue mit Mehrfachsprengköpfen bestückte Langstreckenraketen zu bauen, weiterhin baut es gegenwartig zwei neue Unterseeboote, von denen eines bereits fertiggestellt zu sein scheint. Und trotzdem nennt, aus unerfindlichen Gründen, niemand im Westen all das einen ersten Schritt.
Aber die UdSSR hot dennoch zugestimmt, die amerikanischen Système der Vorneverteidigung bei den SALT- Gesprächen nicht in die Diskussion einzubeziehen.
Ja, in der Tat. Während des Treffens von Leonid Breschnew und Präsident Ford in Wladiwostok 1974 haben wir, um den toten Punkt bei den SALT-Gesprächen zu überwinden, dieses wichtige Zugeständnis gemacht, aber es war ein Zugeständnis, das nur für das SALT II-Abkommen gilt, nicht jedoch für die weiteren Verhandlungen. Seitdem haben wir versucht, eine neue Runde des Wettrüstens in Europa zu verhindern.
Denken Sie dabei an Vorschläge, wie sie z. B. Generalsekretär Breschnew im Oktober 1979 und im August 1980 unterbreitete?
Ja. Schon vorher war unsere Bereitschaft, dieses Problem auf dem Verhandlungsweg zu lösen, im Verlauf des Besuchs von L.I. Breschnew in Westdeutschland im Jahr 1978 bekundet worden. Ende 1978 unterbreitete anläßlich einer Sitzung der Beratende Politische Ausschuß der Staaten des Warschauer Paktes in einem Kommuniqué einen konkreten Vorschlag für solche Gespräche. Dann erfolgte einer der beiden Vorschlage, die Sie erwähnt haben - ein höchst bemerkenswertes Angebot, in dem L.I. Breschnew im Oktober 1979 vorschlug, die nuklearen Mittelstreckenwaffen unsererseits zu verringern, vorausgesetzt, die Nato würde keine weiteren Waffen dieser Art in Westeuropa stationieren. Die Rede Breschnews enthielt auch eine Warnung: Falls die Nato beschließen sollte, die neuen amerikanischen Raketen in Europa zu stationieren, so sähe sich die UdSSR gezwungen, zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Verteidigung zu stärken. Auf der Dezembertagung 1979 des Nato-Rats wurden diese Vorschläge | |
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abgelehnt und der Beschluß gefaßt, die neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen zu bauen und zu stationieren. Im August 1980 bot Leonid Breschnew an, unverzüglich Verhandlungen über die eurostrategischen Raketen und die Systeme der Vorneverteidigung aufzunehmen, ehe die Situation außer Kontrolle gerate. Tatsächlich wurden nach dem Treffen von Gromyko und Muskie im September 1980 Vorgespräche zu diesem Thema eingeleitet. Wie kann man da behaupten, die Sowjetunion sei für die neue Runde des Wettrüstens verantwortlich? Nebenbei gesagt, ich kann immer noch nicht begreifen, warum die USA und die Nato es bloß so eilig hatten und sich weigerten, ihre Entscheidung über den Bau und die Stationierung der neuen Raketen aufzuschieben, um so den Beginn von Gesprachen zu diesem Thema zu ermöglichen. Wohl kaum jemand in Europa glaubt, die Sowjetunion sei im Begriff, einen Krieg zu beginnen. Die Stationierung der neuen Waffen ist für 1983 vorgesehen, jedenfalls ist das die offizielle Lesart der Nato. Wir können uns diese Eile nur damit erklären, daß der Westen entweder nicht willens ist, Gespräche darüber zu führen, oder daß er den Wunsch hat, vor den Gesprachen ‘eine Position der Stärke’ zu erlangen, um der UdSSR die westlichen Bedingungen diktieren zu können. Natürlich erscheint uns das nicht gerade fair.
Machen Sie die Amerikaner dafür verantwortlich?
Nein, ich bin weit davon entfernt, die ganze Schuld den Amerikanern zuzuschreiben. Jene Europâer, die der sogenannten ‘Nato community’ zuzurechnen sind, waren sehr aktiv. Fred Kaplan, ein Sachverstândiger für militärische und politische Fragen im Mitarbeiterstab des amerikanischen Repräsentantenhauses, ist der Entstehungsgeschichte des Nachrüstungsbeschlusses nachgegangen und dabei auf eine kleine Gruppe einflußreicher Experten, dem sogenannten europäisch-amerikanischen Workshop, gestoßen, dessen Vorsitzender Albert Wohlstetter, ein bekannter amerikanischer Falke, ist. Es bestehen Verbindungen der Gruppe zu dem in London ansässigen International Institute for Strategic Studies, und ihr gehören Berater und Experten aus Deutschland, Großbritannien, Norwegen und anderen Nato-Ländem an. Diese Gruppe überredete zuerst Helmut Schmidt, der dann das Thema im Oktober 1977 in die Debatte brachte. Carter zögerte nicht, es sofort aufzugreifen.Ga naar eind25
Was waren die dahinterliegenden Gründe?
Ein wichtiges Argument zugunsten des Nachrüstungsbeschlusses waren | |
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offene oder versteckte Zweifel an der Glaubwürdigkeit des amerikanischen nuklearen Schutzschirms über Westeuropa - Zweifel, ob im Falle eines Krieges in Europa die USA auch wirklich ihre strategischen Streitkräfte gegen die Sowjetunion einsetzen würden, angesichts des strategischen Gleichgewichts zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten.
Sind diese Zweifel denn völlig unbegründet?
Zunächst einmal: Die Stationierung der neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen wird, was den US-Schutzschirm anbelangt, keinerlei Auswirkungen auf die Situation haben. Falls diese Raketen - ich widerhole, amerikanische Raketen - sowjetisches Territorium treffen, wird der Gegenschlag nicht nur gegen jene Länder gerichtet sein, in denen sie abgefeuert wurden, sondern auch gegen die Vereinigten Staaten, und zwar genauso, als wenn die Raketen in Montana gestartet worden wären. Zum Zweiten: Diese Zweifel basieren auf der vollkommen lächerlichen Vorstellung, man könne einen Krieg in Europa führen, gar einen Atomkrieg, der nicht in einem allgemeinen Weltenbrand enden würde. Hier stoßen wir wieder auf die kreative Gedankenwelt amerikanischer ‘Elfenbeinturm-Strategen’, auf diese strategische Haarspalterei, die abgehoben von der Wirklichkeit existiert und jeglichen gesunden Menschenverstand vermissen läßt. Das Problem ist, daß diese Haarspalterei nicht nur eine Denkübung darstellt. Sie dient als Rechtfertigung für die enormen Ausgaben und Anstrengungen, die der Aufrüstung mit nuklearen und konventionellen Waffen in Europa dienen. Indessen ist es ganz offensichtlich, daß, wer immer sich entschließt, einen Krieg in Europa zu beginnen, auch in Kauf nehmen muß, daß daraus ein Weltkrieg wird, in dem die modernen Massenvernichtungsmittel eingesetzt werden. Die vielleicht absurdeste Vorstellung in dieser Hinsicht ist die, es wäre möglich, den Einsatz von Nuklearwaffen in einem solchen Krieg auf Mittelstreckenwaffen oder taktische Waffen zu begrenzen und den Krieg in den Grenzen eines ‘lokalen Konflikts’ zu halten.
Die meisten Europäer wissen sehr wohl, daß solche Erwartungen unsinnig sind.
Sicher, denn für sie ware solch ein Konflikt der totale Krieg, ein absolut strategischer, wenn ich so sagen darf. Sogar wenn sich der Krieg auf den Einsatz taktischer Waffen beschränken würde. Schon in den sechziger Jahren wurde errechnet, daß sogar ‘ein sehr begrenzter’ Einsatz solcher | |
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Waffen in Europa bis zu 20 Millionen Menschenleben kosten würde. Falls, was sehr viel wahrscheinlicher ist, der Krieg diese Grenzen überschritte, würde nach Expertenmeinung die Zahl der Toten auf bis zu 100 Millionen ansteigen.Ga naar eind26
Die Neutronenwaffe war in den letzten Jahren in Europa Gegenstand hitziger Debatten. Wie würden sick diese Waffen auf die Gesamtsituation auswirken?
Ich kann schwer abschätzen, ob ihr Einsatz mehr oder weniger Verluste an Menschenleben zur Folge hätte. Alles hängt von der Stärke und der Anzahl dieser Waffen ab. Natürlich gäbe es bei der Explosion einer Neutronenbombe mehr Tote infolge von Strahleneinwirkung und wahrscheinlich weniger aufgrund der übrigen Wirkungen, verglichen mit der Explosion einer gewöhnlichen Nuklearbombe. Sieht man einmal von dem moralischen Aspekt einer Waffe ab, die darauf ausgelegt ist, Menschen zu töten, aber materielle Einrichtungen zu schonen, so würde der Neutronenbombe (enhanced radiation weapon) hauptsächlich aus zwei Grimden Widerstand entgegengebracht. Einmal, weil ein neuer Waffentyp eine weitere Runde im Wettrüsten bedeutet. Zum anderen, weil die Gefahr drohte, die ‘Nuklearschwelle’ würde dadurch herabgesetzt werden. Letzten Endes verband man mit der Neutronenbombe die Absicht, die Europäer davon zuüberzeugen, daß im Falle eines Krieges Nuklearwaffen auf dem europäischen Kriegsschauplatz eingesetzt werden könnten, ohne die Länder und Völker Europas allzu großen Gefahren auszusetzen. Es hieß, die neue Waffe würde nur die feindlichen Soldaten töten und die westeuropäischen Städte sowie andere Einrichtungen intakt lassen. Mit anderen Worten, es handelte sich um einen weiteren Versuch, den Krieg‘akzeptabel’ zu machen und deshalb einen leichtfertigen Umgang mit Atomwaffen zu rechtfertigen.
Ein Argument zugunsten der Neutronenbombe war, daß sie nur für defensive Zwecke tauglich sei.
Ich glaube nicht, daß es sehr sinnvoll ist, Waffen in die Kategorien offensiv und defensiv einzuteilen. Ein Knüppel, ein Stein, ein Messer - das alles kann sowohl für einen Angriff wie auch für die Abwehr eines Angriffs eingesetzt werden. Das gilt für die Neutronenbombe umso mehr. Ich stelle mir dabei z. B. folgende mögliche Situation vor. Falls die Nato eine Offensive planen würde, bei der sie durch das dichtbesiedelte Europa vorstoßen müßte, so könnten ‘herkömmliche’ Nuklearwaffen, die die Städte in Trümmerhaufen verwandeln, für den An- | |
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greifer selbst ernsthafte Hindernisse schaffen. Was die Neutronenbombe betrifft, so würde sie die Städte vermutlich mehr Oder weniger in einem Zustand belassen, der ein müheloses Vorwärtskommen erlaubt, hätte sie doch ‘nur’ die Verteidiger und die Einwohner getôtet. In gleicher Weise kann die Neutronenbombe dabei hilfreich sein, die Brücken intakt zu halten, während man die Verteidiger tötet - und Europa weist viele Flüsse auf, so daß Brücken für jede Offensive von entscheidender Bedeutung sind.
Nun, die USA und die Nato haben bislang davon Abstand genommen, Neutronenwaffen einzuführen. Warum haben die UdSSR und der Warschauer Pakt nicht mit einer ähnlichen Geste darauf reagiert und z. B. die Zahl der SS 20-Raketen verringert?
Stimmt, die Neutronenwaffe wurde nicht eingeführt, was wir hauptsächlich auf den gesunden Menschenverstand zurückführen, der in den west-europäischen Landem durch die ungeheure internationale Entrüstung, die dieser Nato-Plan auslöste, wachgerüttelt wurde. In den USA jedoch vernimmt man nun in verstärktem Maße die Forderung, diese Entscheidung zu revidieren.
General Bernard Rodgers, der Oberkommandierende der Nato, sagte vor kurzem, er wünsche die Neutronenbombe. Die Frage ist jedenfalls nicht von der Tagesordnung gestrichen.
Ronald Reagan hat sich ôffentlich für die Neutronenbombe ausgesprochen und betrachtet sie als einen ‘moralischen’ Fortschritt im Bereich der modernen Kriegsführung. Was die sowjetische Reaktion anbelangt, so haben wir uns von Anfang an dafür ausgesprochen, nicht um ‘gegenseitige Zugeständnisse’ zu feilschen, sondern stattdessen zu einem beiderseitigen Verzicht auf die Herstellung der Neutronenwaffe zu gelangen. Unsere Haltung war die: Falls der Westen die Neutronenwaffe nicht baut, so werden wir es auch nicht tun. Die UdSSR schlug sogar vor, einen Vertrag dieses Inhalts zu unterzeichnen.
Lassen wir Europa für einen Moment außer Betracht und kommen wir zurück zu einem allgemeineren Thema, zu dem, was die UdSSR die ‘angebliche sowjetische Bedrohung’ nennt. In der letzten Zeit wurde in den USA viel über die sowjetischen Zivilschutzprogramme geschrieben und geredet. Es wird behauptet, daß diese Programme so umfassend und fortgeschritten sind, daß sie die Sowjetunion in die Lage versetzen, einen | |
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Atomkrieg zu führen, ohne einen ‘inakzeptablen Schaden’ in Kauf nehmen zu müssen.
Ja, wir haben in der Sowjetunion einen Zivilschutz, genauso wie die Amerikaner, die Holländer oder irgend ein anderes Land. Dennoch glaubt niemand in der UdSSR, daß der Zivilschutz einen Atomkrieg schmerzlos oder akzeptabel machen könnte, daß er die unvermeidlichen Verluste an Menschenleben und die sonstigen Schäden auf ein annehmbares Maß reduzieren könnte. Glauben Sie, wir hätten einer Begrenzung der Raketen-Abwehrraketen (anti-ballistic missiles, ABM) zugestimmt, wenn wir unsere Hoffnungen auf den Zivilschutz gesetzt hätten? All das wurde übrigens von einem unserer stellvertretenden Generalstabschefs den amerikanischen Senatoren, die 1979 Moskau besuchten, sehr ausführlich erläutert. Ich habe an diesen Gesprächen teilgenommen und erinnere mich sehr genau, daß den Senatoren mitgeteilt wurde, die Sowjetunion wende für den Zivilschutz ungefähr den gleichen Anteil ihrer Militärausgaben auf wie die USA - nämlich 0,1 Prozent. Tatsächlich sind es die Amerikaner, die dazu neigen, dem Zivilschutz ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken, wenn sie nicht gar von dieser Idee besessen sind. Das war in den sechziger Jahren so und ist auch jetzt wieder zu beobachten. Wenn ich in den USA reise, stoße ich oft auf das Schild ‘Atom-Schutzraum’ . In der Sowjetunion bin ich noch keinem einzigen begegnet. Es ist denkbar, daß eine neuerliche Zivilschutzhysterie in den USA, vom militärischen Standpunkt der Sowjets aus gesehen, vielleicht gar nicht so schlecht ist, würden doch diese Programme eine Menge Geld aus dem Pentagon für nutzlose Dinge abzweigen. Unterdessen werden weiter Gruselgeschichten über den sowjetischen Zivilschutz verbreitet. Generalmajor George Keegan tut sich auf diesem Gebiet besonders hervor. Vor seiner Pensionierung war er Chef des Nachrichtendienstes der US-Luftwaffe und benutzte diese Stellung, um seine Phantasien und Märchen als nachrichtendienstliche Erkenntnisse auszugeben.
General Keegan sagte zu mir, Sie seien einer der gefährlichsten Propagandisten, den der Kreml je auf die Amerikaner losgelassen hat.
Da Keegan einer der Hauptsprecher einer Kampagne ist, die gleichermaßen verlogen wie gefährlich ist, würde ich solch eine Einschätzung für schmeichelhaft halten.
Damit sind wir schließlich bei dem Thema der amerikanischen Generalität | |
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angelangt. Welche Rolle spielt sie nach Ihrer Meinung in der amerikanischen Politik? Amerikanische Generäle sind zweifelsohne ein Kapitel für sich. Zunächst wäre zu sagen, daß man unter ihnen sehr unterschiedliche Persönlichkeiten finden kann. An einige von ihnen erinnert man sich bei uns aus der Zeit, als wir Verbündete waren. Jedoch auch nach dem Krieg haben sich nicht wenige amerikanische Generäle und Admirale durch vernünftige politische Ideen hervorgetan. Während der ganzen siebziger Jahre hatte ich Gelegenheit, an Diskussionen und Seminaren mit amerikanischen Offizieren, wie den Generälen James Gavin, Brent Scowcroft, Royal Allison, den Admiralen George Miller und Gene LaRocque und anderen mehr, teilzunehmen. Ich habe nur größte Hochachtung vor diesen Leuten, obwohl wir natürlich in vielen Dingen unterschiedlicher Meinung sind. Beispielsweise stieß ich zufällig auf die Feststellung von General Richard M. Ellis (Oberkommandierender des Strategischen Luftkommandos), in der er sagt: ‘Ich gebe Ihnen zu bedenken, daß unsere größten Hoffnungen für die Zukunft in dem durch SALT ausgehandelten Abkommen zur Rüstungsbegrenzung und in einem späteren beiderseitigen Truppenabbau zu suchen sind. Die Alternativen zu einem SALT-Übereinkommen sind unannehmbar...’Ga naar eind27 Ich kann einer solchen Feststellung nur Beifall zollen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen nach meiner Ansicht viele der Ideen von General Maxwell Taylor und einiger anderer. Wenn wir jedoch von den amerikanischen Generälen als Gruppe sprechen und die politische Rolle der führenden Militärs insgesamt bewerten sollen, dann muß man feststellen, daß sie eine wichtige Komponente des militärisch-industriellen Komplexes der USA darstellen. Meines Erachtens gibt es kaum ein anderes Land in der Welt - die Militärdiktaturen einmal ausgenommen -, in dem die Generäle und Admirale eine solch wichtige Rolle spielen, wie das in den Vereinigten Staaten der Fall ist, wo sie ganz beträchthchen Einfluß auf die öffentliche Meinung, den Kongreß und den Regierungsapparat ausüben. Diese Tradition ist um so erstaunlicher, wenn man in Betracht zieht, daß die Vereinigten Staaten im Verlauf ihrer Geschichte nicht allzuviele größere Kriege geführt haben. Einer der Gründe für diese Situation ist nach meiner Ansicht in der überaus starken Militarisierung der amerikanischen Außenpolitik zu suchen, wie sie so typisch für die Zeit des Kalten Krieges war. Kein Wunder, daß mit dem Abflauen des Kalten Krieges Ende der sechziger Jahre auch das Vertrauen in das Pentagon und die Generalität sank. Es scheint, daß besonders Vietnam in der Öffentlichkeit verstärkt Zweifel an der Urteilsfähigkeit der Generäle aufkommen ließ, was die Frage von | |
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Krieg und Frieden und Belange der nationalen Sicherheit betrifft. Die Amerikaner begannen, sich der alten, allseits bekannten Weisheit zu erinnern, die besagt, daß der Krieg eine zu emste Angelegenheit ist, als daß man ihn den Generälen überlassen könnte. Tatsächlich sind die Vereinigten Staaten jedoch in jüngster Zeit in eine neue Phase der Militarisierung eingetreten, und die Situation könnte sich wieder ändern.
Was wäre zu den sowjetischen Generälen zu sagen?
Ich habe große Achtung vor ihnen. Sie wissen, was ein schlimmer Krieg wirklich bedeutet.
Es hat den Anschein, daß nach Ihrer Meinung nicht nur die amerikanischen Generäle eine gefährliche Rolle spielen, sondern auch die zivilen Spezialisten für militärische Belange, die Sie ‘Elfenbeinturm-Strategen’ genannt haben.
Ich stehe mit dieser Meinung nicht allein. Mir scheint, daß der erste, der vor dieser Gefahr gewamt hat, President Eisenhower war, der in der Abschiedsrede am Ende seiner Präsidentschaft darauf einging und dabei auch den militarisch-industriellen Komplex erwähnte. Wir haben es bei diesen Spezialisten mit einem wesentlichen Teil des militärisch-industriellen Komplexes zu tun, mit seinem Gehim sozusagen. Sie haben ohne Zweifel in erheblichem Maße zum Wettrüsten beigetragen, wie auch zu der Tatsache, daß sich das militarische Denken in den USA in eine solch gefährliche Richtung entwickelt hat. Dieser Beitrag wird recht treffend charakterisiert von Herman Kahn, einem dieser Strategen, der sagte: ‘Wir mochten... den Atomkrieg vernünftiger machen..,’Ga naar eind28
Könnten Sie die bekanntesten dieser Spezialisten nennnen?
Ich könnte schon, aber ich würde das nie tun. Was geschähe, wenn sie bereuen, ihre Ansichten ändem und durch gute Taten wieder alles gutmachen mochten? So etwas ist in der Vergangenheit vorgekommen. Darüberhinaus möchte ich nicht auch noch für sie Reklame machen.
Aber hier würde es sich um Kritik und nicht um Reklame handeln.
Nichtsdestoweniger. In Amerika, so hat man mir gesagt, wird jede öffentliche Erwähnung positiv bewertet - eine Ausnahme bildet die Todesanzeige. Wenn wir von den Militärexperten sprechen, so möchte ich auf eine weitere Gruppe verweisen. Seit ca. Ende der sechziger Jahre trat | |
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in den USA eine einflußreiche Gruppe von Spezialisten für militärische und rüstungstechnische Fragen in Erscheinung, die sich in aller Üffentlichkeit für eine Drosselung des Rüstungswettlaufs und eine Verhütung der Kriegsgefahr aussprach. Wohlgemerkt, sie haben das in ihrer Eigenschaft als Spezialisten gesagt. Das war von besonderer Bedeutung, weil schon seit längerem ein ähnlicher Standpunkt von Leuten vertreten wurde, die zwar oftmals sehr geachtet waren, jedoch über so gut wie keine Sachkenntnis in Fragen der Militärtechnologie, der Strategie sowie der Militärpolitik verfügten, und denen jene widersprachen, die auf diesen Gebieten als die zuverlässigsten Fachleute galten. Es ist nur natürlich, daß die Argumente, die auf gesundem Menschenverstand beruhten, zusätzlich an Glaubwürdigkeit gewannen, wenn sie von Leuten vorgebracht wurden, denen man nicht vorwerfen konnte, es mangle ihnen an Sachkenntnis, also z. B. von den ehemaligen Präsidentenberatern für Wissenschaft und Technologie, George Kistiakowsky und Jerome Wiesner, von den Pentagonmitarbeitern Herbert York und Ian Lodal, von Herbert Scoville und Arthur Cox vom CIA, von George Rathjens vom ACDAGa naar eind29, oder auch von so hervorragenden Wissenschaftlem wie Wolfgang Panofsky, Richard Garwin, Bernard Feld, Paul Doty und anderen.
Einer der prominenten amerikanischen Marineoffiziere, Admiral Elmo R. Zumwalt jr., Befehlshaber der Naval Operation, während der Ära Nixons machte mir klar, daß Admiral Groschkow die sowjetischen Streitkräfte in so kurzer Zeit aufgebaut hat, daß das an ein Wunder grenzt. Nehmen Sie etwa die U-Boote. Groschkow hat davon so viele bauen lassen, daß die sowjetische Flotte inzwischen dreimal so viele U-Boote hat wie die amerikanische Marine.
Vor kurzem habe ich eine Bewertung dieser Asymmetrie gelesen, die von dem bekannten amerikanischen Spezialisten William W. Kaufmann stammt. Er weist darauf hin, daß diese U-Boote (viele davon sind alt und haben Dieselantrieb) auf vier Flotten aufgeteilt sind, wovon zwei - es muß sich um die Schwarzmeerflotte und die Ostseeflotte handeln - aufgrund der geographischen Situation außerstande sind, amerikanische Nachschub- und Verbindungslinien zu bedrohen. Die anderen beiden Flotten müßten, um diese Linien zu erreichen, enge und gefährliche Gewässer passieren, wo sie vom Feind erwartet werden können. Und er kommt zu dem Schluß, der Vergleich auf der Basis von Stückzahlen allein bedeute nicht nur ‘eine hohe Irrtumswahrscheinlichkeit, sondern ihm lägen nicht einmal die für solche Berechnungen erforderlichen Ausgangsdaten zugrunde’.Ga naar eind30 | |
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Ich würde hinzufügen wollen, daß es mit Sicherheit so war und so bleibt, daß selbst unter Außerachtlassung der Seestreitkräfte der amerikanischen Verbündeten die US-Marine die stärkste Flotte der Welt ist.
Aber nach westlichen Angaben verfügt die UdSSR heute über viel mehr Schiffe als die USA. Es heißt, daß Rußland 240 Überwassereinheiten hat, während Amerika über 160 verfügt.
Das ist lediglich ein weiteres Zahlenspiel. Kann man einen Flugzeugträger mit einer Fregatte vergleichen? Die USA haben 13 Flugzeugträger, während wir keinen haben. Die USA haben ein ausgedehntes Netz von Marinestützpunkten auf der ganzen Welt, eine Menge Versorgungsschiffe. Wir haben nichts von alledem. Sie können in Amerika Klagen hören, daß die Anzahl der eigenen Schiffe sinke, während die sowjetischen Schiffe immer zahlreicher würden. Aber die USA bauen riesige atomgetriebene Flugzeugträger, von denen jeder ungefähr soviel kostet wie 15 Fregatten, und damn beklagen sie sich händeringend über die ‘sowjetische Überlegenheit’ an Überwasserschiffen.
Hat nicht die UdSSR damit begonnen, ebenfalls Flugzeugträger zu bauen?
Das Schiff, an das Sie denken, ist kein Flugzeugträger, sondern ein Anti-U-Boot-Kreuzer. Es ist nicht für Schläge gegen die Küste oder Überwasserschiffe ausgerüstet. Seine Funktion ist es, unsere Schiffe vor Angriffen aus der Luft, bzw. vor U-Boot-Angriffen zu schützen.
Dennoch sind viele im Westen überzeugt, daß die UdSSR die äußersten Anstrengungen unternommen hat, ihre Marine aufzubauen.
Es steht außer Frage - unsere Marine wurde verstärkt. Aber gibt es irgendeinen besonderen Grund, warum sie - sagen wir seit dem Ende des letzten Krieges - unverändert hätte bleiben sollen? Auß erdem würde ich nicht irgendwelche bösen Absichten - von aggressiven ganz zu schweigen - hinter der Verstärkung unserer Flotte suchen. Wir haben sehr ausgedehnte Küsten, die bewacht werden müssen. Das ist um so dringender geboten, als die Seestreitkräfte, die uns gegenüberstehen, in erster Linie die amerikanischen Streitkräfte, eindeutig offensiven Charakter haben, umfassen sie doch große Flugzeugträgerformationen, zahlreiche Einheiten der Marineinfanterie, Landungsfahrzeuge etc. In allen diesen Bereichen verfügen die USA über eine beträchtliche | |
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Überlegenheit über die Sowjetunion, in einigen Bereichen ist diese Überlegenheit gar überwaltigend. Und der Großteil dieser Streitkräfte ist nahe unserer Küsten stationiert.
Die sowjetische Marine mit ihren Unterseebooten, die Admiral Zumwalt erwähnte, muß doch auch ein offensives Potential besitzen. Insbesondere kann die sowjetische Marine Nachschublinien unterbrechen, die von vitaler Bedeutung für den Westen sind.
Da von dem offensiven Potential unserer Marine die Rede ist, d.h. von der Schaffung einer Hochseeflotte, die in der Lage ist, der US-Marine sowie der Marine der Nato-Verbündeten die Kontrolle der Meere streitig zu machen, erinnere ich mich, dabß einige amerikanische Experten eine solche Entwicklung nicht nur für höchst unwahrscheinlich halten, sondern - für den Fall, daß es dazu käme - dies vom amerikanischen Standpunkt aus sogar lebhaft begrüß en würden. ‘Nichts könnte den Vereinigten Staaten besser ins Konzept passen, als daß die Russen zu einem derartigen Wettlauf angespornt würden’, schreibt z. B.T. Burns, einer dieser Experten, und fährt fort: ‘Davon träumen westliche Marinekommandeure. Dies würde eine Situation schaffen, in der die Sowjet-union große Teile ihres Staatshaushalts für diesen Wettlauf ausgibt, ohne darauf hoffen zu können, ihn zu gewinnen.’ ‘Falls die Russen angebissen haben, wie uns unsere Propagandisten glauben machen wollen’, schreibt T. Burns im weiteren, ‘dann haben wir den Kalten Krieg schon gewonnen.’Ga naar eind31 Was die Fähigkeit anbelangt, die Nachschubwege zu unterbrechen, so ist diese keineswegs immer mit Angriffsabsichten verbunden. Sie kann auch ein Teil der Verteidigung sein. Soweit ich es sehen kann, stellt der Atlantik für die Nato im Kriegsfall die Versorgungslinie für den amerikanischen Nachschub nach Europa dar. Ist es aus der Sicht der UdSSR und der Staaten des Warschauer Paktes nicht logisch, gegen solche Pläne Gegenmaß nahmen in petto zu haben? Eine solche Reaktion ist nach unserer Auffassung rein defensiv, da der Krieg allenfalls vom Westen entfesselt werden wird.
Und wie sieht die Situation im Falle des Indischen Ozeans aus?
Man muß sich darüber im klaren sein, daß - was die Verbindungswege anbelangt - dieser Ozean für uns so wichtig ist, wie es der Panamakanal für die Vereinigten Staaten ist, handelt es sich doch dabei um den einzigen zuverlässigen Schiffahrtsweg, der die westlichen und östlichen Teile unseres Landes verbindet. Das ist unser lebenswichtiger Versorgungs- | |
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weg, und wir sind natürlich sehr darauf bedacht, seine Sicherheit zu gewährleisten.
Aber schafft das nicht Gefahren für den lebenswichtigen Verbindungsweg des Westens, nimmt doch der größte Teil des Öls, den Westeuropa, die USA und Japan aus der Region des Persischen Golfs importieren, seinen Weg durch den Indischen Ozean?
Ich habe mehr als einmal gehört, daß Besorgnis dieser Art geäußert wurde, aber ich kann immer noch nicht sehen, was man denn nun wirklich befürchtet. Fürchtet man um diesen Nachschubweg für den Fall eines allgemeinen Atomkriegs, dann gehen diese Ängste an der Wirklichkeit vorbei. Bei einem Krieg dieser Art wird dieses Problem so irrelevant werden wie ein unbequemer Schuh an einem bereits amputierten Bein. Auch kann ich diese Besorgnis nicht verstehen, wenn wir über die Situation zu Friedenszeiten sprechen. Hat man Angst, daß wir damit beginnen werden, westliche Öltanker zu versenken? Hat man sich erst einmal entschieden, den großen Krieg auszulösen, so kann man freilich auch das machen. Aber dann wiederum stellt sich die Frage, aus welchem Grund man sich im Westen noch um diese Nachschublinien sorgen sollte?
Warum stimmen Sie dem nicht zu, daß eine ‘verstärkte Präsenz’ der US-Marine die Sicherheit der westlichen Versorgungswege erhöhen wird, wenn Sie andererseits darauf beharren, daß es notwendig sei, für eine sowjetische Flottenpräsenz im Indischen Ozean zu sorgen, da hier wichtige Routen der Sowjetunion verlaufen?
Was den ersten Teil ihrer Frage betrifft, so glaube ich ganz generell, daß das Problem der Ölversorgung nicht mit militärischen Mitteln gelöst werden kann. Eines, das ist nicht zu leugnen, kann mit Hilfe von militärischer Gewalt erreicht werden - nämlich daß Ölfelder und Pipelines bombardiert, in Brand gesetzt und zerstört werden. Dafür hat erst vor kurzem der Krieg zwischen dem Iran und dem Irak den Beweis geliefert. Aber wird dadurch Öl produziert? Nein, das Ziel, eine stetige Ölversorgung aus dem Nahen Osten und den Ländern des Persischen Golfs sicherzustellen, kann nur erreicht werden, wenn in der Region für Frieden gesorgt wird, wenn auf eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieser Länder verzichtet wird und gerechte und gleichberechtigte Beziehungen zu ihnen entwickelt werden. Was den zweiten Teil Ihrer Frage betrifft, so möchte ich das oben Gesagte nicht als Rechtfertigung für irgendeine fremde militärische Präsenz | |
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(einschließ lich sowjetischer Präsenz) im Indischen Ozean verstanden wissen. Die UdSSR tritt für die strikteste Beschränkung einer solchen Präsenz ein. Wir nahmen entsprechende Verhandlungen über diese Fragen mit den Vereinigten Staaten auf, Verhandlungen, die später auf Betreiben der amerikanischen Seite eingefroren wurden. Im Dezember 1980 hat Leonid Breschnew neue, spezifische Vorschläge zur Entmilitärisierung der Region am Persischen Golf unterbreitet, sowie Vorschläge, die die Abschaffung ausländischer Militärbasen, die Nichtstationierung nuklearer Waffen und die Nichtbeeinträchtigung des normalen Verkehrs auf den Handels- und allgemeinen Verbindungsrouten in diesem Gebiet vorsehen. Wäre der Westen tatsächlich so sehr um die Sicherheit der Ölversorgung und der Schiffahrtswege besorgt gewesen, so hätte er diese Vorschläge besser aufgenommen. Die Sowjetunion hat auch andere Vorschläge zur Beschränkung des Wettrüstens auf den Meeren vorgelegt. 1971 schlug Leonid Breschnew vor, den ständigen Aufenthalt von Seestreitkräften außerhalb der eigenen territorialen Gewässer zu untersagen. Die Seestreitkräfte sind keine Ausnahme. Das Wettrüsten muß überall beendet werden. Wenn der Westen bezweifelt, daß die Sowjetunion ein zuverlässiger Partner ist, wenn es gilt, solche Anstrengungen zu unternehmen, sollte er die sowjetischen Absichten auf die Probe stellen, anstatt das Wettrüsten voranzutreiben.
Niemand bestreitet, daß die Sowjetunion im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche Abrüstungsvorschläge vorgelegt hat. Heutzutage sind jedoch viele in den Vereinigten Staaten und im Westen ganz allgemein der Überzeugung, daß die militärische Stärke für die UdSSR die wichtigste, wenn nicht gar die ausschließliche Quelle ist, der sie Macht und internationalen Einfluß verdankt, ja sogar ihren Status als Supermacht.
Sie denken dabei an die ‘Überzeugung’, daß die Sowjetunion, all ihren Vorschlägen zum Trotz, nicht an Abrüstung interessiert ist, da ihr Einfluß hauptsächlich auf militärischer Stärke beruht. Aber diese ‘Überzeugung’ ist absolut falsch. Die UdSSR ist die zweitgrößte (nur noch von den USA übertroffene) Wirtschaftsmacht der Welt. Eine wichtige Quelle unserer Stärke ist der ausgeprägte Zusammenhalt in der sowjetischen Gesellschaft, ihre Fähigkeit, das gesamte Potential für die Lösung der entscheidendsten Probleme aufzubieten. Es erweist sich, daß unser Beispiel und unsere Ideen auß erhalb unseres Landes bedeutenden Einfluß ausüben. Tatsächlich bereitet das den westlichen kapitalistischen Regierungen ebensoviel Sorge wie die sowjetische Militärmacht. Auf jeden Fall hat der Westen sehr wohl die Möglichkeit, sich der sowje- | |
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tischen Absichten zu vergewissern, wenn er nur eine konstruktive Haltung zu den zahlreichen in Gang befindlichen Verhandlungen zur Rüstungskontrolle einnimmt.
Wie beurteilen Sie den Stand dieser Verhandlungen?
Alle Gespräche, die vor 1979 begonnen hatten, sind praktisch auf Eis gelegt, was eine unvermeidliche Konsequenz, ja sogar ein grundlegender Bestandteil des jüngsten politischen Kurswechsel ist, den die Vereinigten Staaten vollzogen haben.
Wiederum hat es den Anschein, Sie würden den Vereinigten Staaten die Schuld geben. Ich bin weit davon entfernt, Washington von dieser Schuld zu entbinden, aber warum übernimmt die Sowjetunion nicht auch die Verantwortung - wenigstens zum Teil? Und schließlich mag es auch noch gewisse Schwierigkeiten geben, die mit der komplexen Natur der anstehenden Probleme zusammenhängen.
Kein Zweifel, solche Schwierigkeiten gibt es. Manchmal hemmen sie Verhandlungen und können sogar zusätzliche Spannungen schaffen. Ich denke dabei an die Schwierigkeiten, die aus der Kompliziertheit der modernen Technik erwachsen, an die Schwierigkeiten der Überwachung von Abmachungen usw., ebenso wie an Schwierigkeiten, die sich aus der Ungleichheit der geographischen und politischen Situation ergeben, und nicht zuletzt denke ich hier an den Mangel an Vertrauen und an den Argwohn - Ergebnis einer langen Phase der Spannungen. Dem sollte man hinzufügen, daß bei Verhandlungen niemand vor gewissen Fehlern bei der Beurteilung der Position der Gegenseite gefeit ist, ebensowenig wie vor falschen taktischen Schritten etc. Hier bin ich bereit zuzugeben, daß wir manches hätten besser und effektiver machen kônnen. Alle diese Schwierigkeiten sollten nicht unterschätzt werden, sie sind aber nicht der springende Punkt. Das Entscheidende ist, daß die USA und die Nato, nach allem, was wir beobachten kônnen, immer noch auf militärische Überlegenheit aus sind, und daß dieses Bemühen um militärische Überlegenheit in jüngster Zeit das Wettrüsten beschleunigt hat. Diese Art von Politik läßt nicht viel Raum für erfolgreiche Verhandlungen und Übereinkünfte zur Rüstungsbegrenzung. Muß man der Sowjetunion die Schuld geben für all das? Gewiß muß man ihr die Schuld geben. Die Schuld allein schon für die Tatsache, daß es sie gibt. Und für ihren Wunsch, als unabhängige Nation weiterzubestehen. Dafür, daß sie sich nicht mit der amerikanischen Überlegenheit abfindet | |
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und auf einem Gleichgewicht besteht, auf einer Gleichberechtigung mit den USA. Dafür, daß sie nicht willens ist, sich der überlegenen Militârmacht der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Machte auf Gedeih und Verderb auszuliefern, und dafür, daß sie nicht willens ist, einseitige Zugeständnisse zu machen. Nach westlicher Auffassung mag diese Einstellung ein schwerer Fehler sein, aber ich bezweifle, daß man uns dazu bekehren könnte, sie aufzugeben.
Diese Ansicht hört sich übertrieben kategorisch und selbstgerecht an. Vielleicht sollten wir wenigstens die wichtigsten Verhandlungen konkreter analysieren.
Warum nicht? Lassen Sie uns mit den SALT-Verhandlungen beginnen. Das Übereinkommen wurde im Juni 1979 unterzeichnet und bis heute von den USA nicht ratifiziert. Einige werden dafür bestimmt Moskau die Schuld geben, d.h. den Ereignissen in Afghanistan. Aber man sollte sich daran erinnern, daß, der vorherrschenden Meinung in den USA zufolge, die Ratifizierung noch 1979, also bevor der Wahlkampf voll in Gang kam, abgeschlossen werden sollte. Wenn das nicht gescheheh ist, so liegt die Schuld eindeutig bei der US-Regierung. Zuerst brach sie die Pseudo-Krise wegen Kuba vom Zaun, und dann vergaß sie wegen der Krise in den Beziehungen zwischen den USA und dem Iran SALT ganz einfach. Deshalb bezweifle ich ernsthaft, daß der Vertrag im Verlauf des Jahres 1980 ratifiziert worden wäre - selbst wenn nichts in Afghanistan geschehen wäre. Aber das ist nur ein Aspekt der ganzen Geschichte. Die USA sind auch dafür verantwortlich, daß die SALT II-Verhandlungen sieben Jahre aufgeschoben wurden. Hätte es diese Verzögerung nicht gegeben, so könnten wir heute vielleicht über SALT III oder gar SALT IV diskutieren. Was die aktuelle Situation angeht, der wir uns gegenübersehen, so bin ich der festen Überzeugung, daß bei der Ratifizierung im Kongreß weniger Komplikationen aufgetreten wßren, wßre die Politik der Carter-Regierung nicht so widersprüchlich und zweideutig gewesen. Noch 1977 konnte kein Mensch diese Schwierigkeiten ahnen.
Nun, jetzt haben Sie es in den USA mit der Reagan-Administration zu tun. Wir haben davon schon kurz gesprochen - es ergibt sich nun die Frage, welche Aussichten bestehen jetzt Ihrer Meinung nach für SALT?
Ronald Reagan war zu Beginn seines Wahlkampfes ein ausgesprochener Gegner von SALT. Gegen Ende des Wahlkampfes nahm er eine andere | |
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Haltung ein und befürwortete im Prinzip SALT-Verhandlungen, blieb aber bei seiner negativen Einstellung gegenüber dem SALT II-Vertrag. Zumindest einige seiner Berater vollzogen nicht einmal solch einen begrenzten Gesinnungswandel. Die Aussichten sind also nicht günstig. Insbesondere, wenn man die Tatsache in Betracht zieht, daß die neue Administration verspricht, das Wettrüsten sogar noch stärker zu beschleunigen, als das Carter und seine Regierung zuletzt schon taten.
Trifft es zu, daß die Sowjetunion einern Vorschlag, den SALT II-Vertrag neu auszuhandeln, nicht zustimmen würde?
Ja, das ist unsere Position, die bereits offiziell zum Ausdruck gebracht wurde. Und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Wir glauben nicht, daß es angebracht ist, wichtige Verträge mit jedem neuen amerikanischen Präsidenten noch einmal auszuhandeln. Kontinuität ist ein äußerst wichtiges Prinzip der Außenpolitik. Ohne Kontinuität würde es meiner Meinung nach keinen bedeutenden Vertrag geben. Wir sind schlichtweg nicht in der Lage, derartige Verträge innerhalb der vier Jahre, für die ein US-Präsident gewählt wird, auszuhandeln und zu ratifizieren. Deshalb erscheint der Gedanke von Neuverhandlungen auch vom praktischen Standpunkt aus nicht sehr vielversprechend. Selbstverständlich spreche ich hier von einer Neuverhandlung des SALT II-Vertrags und nicht von irgendwelchen anderen Verhandlungen, bei denen die Rüstungsbegrenzung in einem breiten Rahmen diskutiert werden kann.
Manche Amerikaner haben vorgeschlagen, man solle auf SALT II ganz verzichten, und beide Seiten sollten gleich zur nächsten Stufe, zu SALT III übergehen.
Das ist nicht nur unlogisch, sondern auch unmöglich. Ich persönlich kann mir keinen SALT III-Vertrag vorstellen, der nicht aufbaut auf der bei SALT II erzielten Übereinkunft zur Anzahl der Waffen, zur Begrenzung sowohl hinsichtlich der Quantität wie auch der Qualität, zu den Zählregeln und zu vielen anderen Vorschriften.
Wie man hört, schlagen die Amerikaner vor, den SALT II-Vertrag so zu behandeln, als wäre er ratifiziert. Wäre die Sowjetunion damit einverstanden?
Soweit mir bekannt ist, ist uns kein derartiger Vorschlag von offizieller | |
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Seite zugegangen, und die Haltung der neuen Administration zu diesem Punkt ist keineswegs klar. Viele andere Dinge sind ebenfalls unklar. Bedeutet dieser Vorschlag einen Ersatz für eine Übereinkunft oder eine zeitlich begrenzte Maßnahme, von der ausgegangen wird, bis der Vertrag ratifiziert wird? Und welche Garanden bestehen, daß es überhaupt zu einer Ratifizierung kommen wird? Und wann schließlich wird sie stattfinden? Wann wird sie stattfinden? Diesen Fragen kommt entscheidende Bedeutung zu.
In den USA ist die Meinung weitverbreitet, man habe bei SALT II selbst mehr Zugestßndnisse gemacht als die Sowjetunion.
Sie ist nur unter den Gegnern von SALT II weitverbreitet.
Wie würden Sie die tatsächliche Situation beschreiben?
Wir glauben, daß der Vertrag auf einem Ausgleich der Zugeständnisse beider Seiten basiert. Der Vertrag wirkt sich auf die strategischen Streitkräfte und Programme der USA nur in begrenztem Maße aus. Was die Sowjetunion anbelangt, so wird sie durch den Vertrag verpflichtet, mehr als 250 strategische Abschußvorrichtungen abzubauen, das entspricht zehn Prozent ihres Arsenals, und sie muß weiterhin zwei Programme für Interkontinentalraketen in fortgeschrittenem Entwicklungsstadium einstellen, darunter die SS 16.
Wenn die amerikanischen Programme von dem Vertrag nur wenig berührt werden, sollte dann nicht daraus folgen, daß die Sowjets weniger an dem Vertrag interessiert sind als die USA?
Wir fassen die SALT-Gespräche nicht als eine Art Spiel auf, bei dem einer der Partner über den anderen siegen muß. Wenn auch SALT II der UdSSR erhebliche Einschränkungen auferlegt, so glauben wir dennoch, daß im Rahmen von SALT II sowohl unsere Sicherheit wie auch die der USA gestärkt werden wird. Und zwar nicht nur deshalb, weil wir im Rahmen dieses Vertrags imstande sein werden, die für die Gewährleistung unserer Sicherheit erforderlichen Streitkräfte zu unterhalten, d.h. eine zuverlässige Abschreckung zu bewahren und das allgemeine strategische Gleichgewicht mit den USA aufrechtzuerhalten. Sehr wichtig ist die Tatsache, daß das SALT II-Abkommen zur Stärkung der strategischen Stabilität und Berechenbarkeit beiträgt und die Aussicht auf weitere, gewichtige, quantitative und qualitative Begrenzungen erhöht. Es gibt auch einen wichtigen politischen Nutzen im Zusammen- | |
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hang mit SALT II, nämlich - so hofften wir jedenfalls - eine Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Und schließlich gibt es natürlich noch den wirtschaftlichen Nutzen, der entsteht, wenn ein Teil der Ausgaben für die strategischen Streitkräfte entfällt. Es wird oft vergessen, worum es bei SALT überhaupt geht. Die Möglichkeit, die strategischen Streitkräfte und Programme zu reduzieren oder zu begrenzen, ohne die eigene Sicherheit zu gefährden, ist nicht ein Zugeständnis, sondern ein Vorteil, ist ein Gewinn und nicht ein Verlust.
Präsident Reagan sagte mehr als einmal, daß er nur für den Fall, daß die Sowjetunion ihre Streitkräfte aus Afghanistan zurückziehen und ihre Politik in Afrika ändern würde, bereit wäre, die SALT-Gespräche wieder aufzunehmen. Wenn die Sowjetunion SALT für so wichtig hält, warum sollte sie nicht solchen Vorschlägen zustimmen?
Sie klingen mehr nach Forderungen als nach Vorschlägen. Und wir würden uns solchen Forderungen nicht beugen. Ich sage es noch einmal: Wir betrachten SALT nicht als eine Gunst, die der Sowjetunion erwiesen wird, nicht als eine Art Bonus für Wohlverhalten. Die neue US-Führung muß sich wirklich entscheiden, ob sie selbst Rüstungskontrolle will und Verhandlungen wünscht, die darauf abzielen, das Wettrüsten einzuschränken. Sollte dies bejaht werden, so werden wir bei diesem Unterfangen echte Partner sein. Aber dies ausschließlich auf der Basis der Gleichberechtigung. Die USA sollten solche Änderungen unserer Politik nicht als Vorbedingung für Verhandlungen und Abkommen fordern. Wir werden ebensowenig solche Forderungen an sie stellen, obgleich uns vieles an der amerikanischen Politik mißfällt. Nebenbei gesagt, wenn es uns möglich wäre, unsere Politik so drastisch zu ändern, daß wir die USA voll zufriedenstellen würde, und es den USA möglich ware, die Sowjetunion gleichermaßen zufriedenzustellen, bestünde kaum mehr eine Notwendigkeit für SALT, da das Wettrüsten, die Angst voreinander und die gegenseitigen Verdächtigungen längst vor dem Erreichen eines solchen, für beide Seiten befriedigenden Zustandes gegenstandslos geworden wären. Sollte sich Washington jedoch dazu entscheiden, den SALT-Prozeß abzubrechen und sich von den Rüstungskontrollgesprächen als solchen zurückzuziehen, so sollte es auch bereit sein, die Konsequenzen zu tragen. Es wßre dies eine sehr bedauerliche Entscheidung, aber wir könnten damit leben, genauso wie wir es in den fünfziger und sechziger Jahren getan haben. | |
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Wie steht es mit den Wiener Verhandlungen über eine beiderseitige Abrüstung und Truppenverminderung in Europa?
Diese befinden sich schon seit langem in einer Sackgasse. Um über den toten Punkt hinwegzukommen, unterbreitete die Sowjetunion schon im Juni 1978 Vorschläge, die der westlichen Position weit entgegenkamen. Die sowjetischen Vorschläge wurden selbst von westlichen Unterhändlern als höchst konstruktiv gepriesen. Später nahmen wir eine einseitige Verringerung unserer Streitkräfte in Europa um 1 000 Panzer und 20 000 Mann vor. Im Sommer 1980 unternahmen die sozialistischen Staaten eine neue Initiative und schlugen vor, daß die Sowjetunion ihre Streitkräfte um weitere 20 000 Mann reduzieren sollte, vorausgesetzt, die USA würden ihre Truppen um 13 000 Mann reduzieren. Dann unternahmen die Staaten des Warschauer Paktes im Herbst 1980 einige weitere Schritte in dieser Richtung. Doch die Nato reagierte nicht darauf, was nur bedeuten kann, daß ihr Ziel nicht die Rüstungskontrolle ist, ganz zu schweigen von Abrüstung, sondern eine militärische Aufrüstung, die in erster Linie auf das Gespenst der ‘sowjetischen Bedrohung’ als Rechtfertigung angewiesen ist.
Es gibt voneinander abweichende Angaben über die Truppenstärke des Warschauer Paktes. Die Nato schatzt, daß Sie ca. 150 000 Mann mehr haben, als Sie selbst angeben. Wie kann überhaupt eine Übereinkunft zustande kommen, wenn es hinsichtlich der Zahlen solche Unterschiede gibt?
Erstens, es gibt keine andere Möglichkeit als die, die jeweiligen Zahlen der anderen Seite zu akzeptieren. Die Nato forderte seit 1973 die Bekanntgabe unserer Zahlen, sah sie doch darin eine Voraussetzung für eine Übereinkunft. Was uns anbelangt, so akzeptieren wir die Zahlen, die uns die Nato genannt hat. Generell läßt sich sagen, daß dieses Spiel mit Zahlen nichts anderes als ein Vorwand ist, um die Gespräche zu verzögern. Schätzungen zum militärischen Gleichgewicht waren schon immer eine politische Waffe. 1977 und 1978, zu einer Zeit, als die Nato Unterstützung für ihr langfristiges Aufrüstungsprogramm suchte, gab es viel Lärm wegen einer angeblichen sowjetischen Überlegenheit in Europa im Bereich der konventionellen Streitkräfte. Jetzt, da das Programm angenommen worden ist und man sich ganz darauf konzentriert, Unterstützung für die eurostrategischen Raketen zu finden, sagt die Nato, daß es ein Gleichgewicht bei den konventionellen Waffen gibt, aber eine sowjetische Überlegenheit bei den nuklearen Mittelstreckenraketen. | |
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Wie würden Sie den Stand der sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen über eine Begrenzung der militärischen Präsenz im Indischen Ozean charakterisieren?
Ein totaler Stillstand trotz unserer neuen Vorschläge, die ich bereits erwähnt habe. Und es liegt eine gewisse Logik in solch einer Position. Über welche Begrenzungen kann auch diskutiert werden, wenn die Vereinigten Staaten kaum an etwas anderes denken, als ihre militarischen Aktivitäten in dieser Region zu verstärken? Das Gleiche trifft für die Gespräche über einen allgemeinen Teststoppvertrag zu. Lange Zeit haben unsere westlichen Verhandlungspartner die sowjetische Weigerung, auf Nuklearexplosionen zu friedlichen Zwecken zu verzichten, als das Hindernis bezeichnet, das einem Fortschritt der Gespräche im Wege stünde. Schließlich stimmten wir bezüglich solcher Explosionen einem Moratorium zu. Dann begann der Westen im Bereich der Kontrolle nach Hindernissen Ausschau zu halten. Aber auch hier wurde wiederum ein für beide Seiten akzeptabler Beschluß gefunden. (Übrigens ließ das Abkommen darauf hoffen, daß manche wichtigen Neuerungen in die bestehende Kontrollpraxis Eingang finden würden.) Das Abkommen steht kurz vor dem Abschluß. Aber wie sollte es unterzeichnet werden, da doch die Vereinigten Staaten (in diesem Fall zusammen mit Großbritannien) einen derartigen Kurswechsel in ihrer Politik vollzogen? Mit anderen Worten, der Stand dieser ganzen Gespräche ist alles andere als erfreulich, um es milde auszudrücken. Ich habe das Dokument des Nationalen Sicherheitsrates NSC-68 schon erwähnt, das zur Zeit der Präsidentschaft von Truman ausgearbeitet wurde, aber es ist es wert, noch einmal einen Abschnitt daraus anzuführen. Fehlt der Hintergrund einer amerikanischen militärischen Überlegenheit, so sagen die Autoren des Dokuments, könnten Gespräche mit der UdSSR ‘... nur eine Taktik sein...wünschenswert, um öffentliche Unterstüzung zu gewinnen für... die militärische Aufrüstung.’ Ich fürchte, daß das auch des Pudels Kern ist, wenn es um die gegenwärtige amerikanische Verhandlungsposition geht. Und noch ein Gesichtspunkt wäre hinzuzufügen. Während ziemlich langer Zeit hielten wir das schleppende Hinterherhinken der militärischen Entspannung hinter der politischen für das Hauptproblem und wiesen darauf hin, daß ein Stillstand bei der Rüstungskontrolle früher oder später die politische Entspannung beenden würde. Nun hat sich, nach meiner Ansicht, die Situation etwas gewandelt: Es gibt eine Reihe von ausgehandelten Rüstungskontrollvereinbarungen, die aufgrund erhöhter politischer Spannungen nicht in Kraft gesetzt werden können. Das ist der | |
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Grund, warum ein Abbau der Spannungen und eine Verbesserang der gesamten politischen Situation zur vordringlichsten Aufgabe wird.
Der allgemeine Teststoppvertrag steht in direktem Zusammenhang mit dem Problem der Weiterverbreitung der Kernwaffen. Besonders in diesem Punkt stimmen die sowjetischen und die amerikanischen Interessen weitgehend überein. Das Problem ist unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung einer nuklearen Katastrophe von entscheidender Bedeutung. Vor einiger Zeit begegnete ich John A. Phillips, einem Studenten der Princeton University, der in seinem Labor tatsächlich eine richtige Nuklearbombe bastelte. Die Filmindustrie war gerade dabei, einen Film über sein Abenteuer vorzubereiten.
Gerade diese Episode bekundet auf eindrucksvolle Weise, wie real die Gefahr der Weiterverbreitung von Kernwaffen geworden ist. Sie würde sogar noch viel stärker anwachsen, sollte das Klima des Kalten Krieges erneut ausbrechen. Sie haben ganz und gar recht, wenn Sie feststellen, daß die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen sowohl den amerikanischen wie den sowjetischen Interessen entspricht. Ich darf hinzufügen - den Interessen aller anderen Länder ebenfalls. Aber das gilt auch für das Problem der Rüstungsbeschränkung und der Abrüstung ganz allgemein. Es liegt im gemeinsamen Interesse aller. Erwartungen, daß gewisse sinnvolle und langfristige Vorteile aus dem Wettrüsten erwachsen könnten, sind reine Illusionen. Möglicherweise hätten sich die Amerikaner sicherer gefühlt, wenn es keine Mehrfachsprengköpfe gegeben hätte. Ich habe den starken Verdacht, daß sie über kurz oder lang das gleiche von den Marschflugkörpern und dem MX-Raketensystem denken werden. Unglücklicherweise ist es unendlich schwer, die Geister - hat man sie erst einmal gerafen - wieder los zu werden.
Sie haben vorher schon das Problem der Kontrolle erwähnt. Es wurde in den USA im Zusammenhang mit dem SALT II-Vertrag leidenschaftlich diskutiert. Offensichtlich haben einige Senatoren wegen der Unzuverlässigkeit der Überwachungsmethoden gegen den Vertrag Einspruch erhoben. Warum haben die Sowjets nicht zuverlassigeren Maßnahmen, u.a. den Inspektionen an Ort und Stelle, zugestimmt?
Mir scheint, daß zu der Zeit, als der Vertrag in den USA aufrichtig und ernsthaft diskutiert wurde, die Zweifel bezüglich der Überwachung weitgehend zerstreut waren. Es hatte sich erwiesen, daß die im Vertrag eingegangenen Verpflichtungen mühelos überwacht werden konnten. | |
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Eines der Probleme hatte seinen Ursprung darin, daß die Administration es veräumte, den Senatoren vollständig und erschôpfend darzulegen, was die Vereinigten Staaten dank bestehender Überwachungseinrichtungen und nachrichtendienstlicher Mittel tatsächlich über unsere Streitkräfte wissen. Dies wurde deshalb versäumt, weil solche Angelegenheiten in den Vereinigten Staaten als eines der bestgehütetsten Geheimnisse betrachtet werden. Dennoch glaube ich, daß aufgrund dieser Diskussionen manche Senatoren wenigstens eine Wahrheit begriffen haben, die nichts mit Geheimnissen zu tun hatte: nämlich die, daß ohne das SALT-Abkommen die Überwachung eher schwieriger denn leichter sein wird. Das gleiche gilt für die Verletzbarkeit der zu Land stationierten Raketen und für andere Probleme, die von den SALT-Gegnern vorgebracht wurden, um ihre Position zu erhärten. Alle diese Probleme werden ohne Abkommen akuter und nicht geringer. Um auf ihre Frage zurückzukommen, môchte ich daran erinnern, daß das Übereinkommen ein ganzes System von Überwachungsmaßnahmen vorsieht: spezielle Regeln hinsichtlich der Zählung, das Verbot, auf die technischen Überwachungseinrichtungen der anderen Seite störend einzuwirken, die Verpflichtung, gewisse telemetrische Daten nicht zu verheimlichen. Der Vertrag sieht auch eine spezielle Kommission vor, die Streitfragen und Beschwerden behandelt. Ohne all das wäre die Situation weitaus schlimmer.
Dennoch, warum widersetzt sich die Sowjetunion Inspektionen an Ort und Stelle?
Wir gehen von der Tatsache aus, daß Mittel und Umfang der Überwachung zum Charakter und Ausmaß der Rüstungsbegrenzung, die durch dieses oder jenes Abkommen eingeführt wird, im richtigen Verhältnis stehen müssen. Die Einhaltung eines Abkommens sollte Ziel der Überwachung sein und nicht die Befriedigung der Neugierde oder die Beschwichtigung generellen Mißtrauens. Schließlich haben wir es mit der Überwachung eines Abkommens zu tun und nicht mit der Erleichterung der nachrichtendienstlichen Tätigkeit der anderen Seite. Noch ein weiterer wichtiger Punkt. Je weiter die Rüstungskontrolle ausgedehnt wird, desto komplizierter werden die Fragen, die dabei aufgeworfen werden, je komplexer die Grenzen sind, desto umfassender muß die Aufgabe der Überwachung sein. Beurteilt man, ob die Überwachung ausreichend ist, so darf man nicht nur an die, rein technisch gesehen, möglichen Vertragsverletzungen denken, sondern man muß auch daran denken, ob eine solche Verletzung für die Seite von Nutzen wäre, die versucht zu betrügen. Man kann es versuchen und bei Kleinigkeiten be- | |
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trügen, aber das wird kaum etwas einbringen, außer daß man sich der großen Gefahr aussetzt, dabei erwischt zu werden und dadurch einen internationalen Skandal auszulösen. Eine Vertragsverletzung, die groß genug wäre, um auf das militärische Gleichgewicht Einfluß zu nehmen, könnte unmöglich verheimlicht werden. Die Rüstungsbegrenzungen, die der SALT II-Vertrag einführt, sind so beschaffen, daß sie durch technische Vorrichtungen vom eigenen Territorium aus überwacht werden können. Das kann bei anderen Verträgen anders sein. Im Fall des Teststoppvertrags z. B. wurde darüber Übereinkunft erzielt, daß man die Einrichtungen auf eigenem Territorium ergänzen muß durch sogenannte ‘black boxes’, die im jeweils anderen Land stationiert sind. Das kann bereits als eine Art von Inspektion an Ort und Stelle betrachtet werden. Sollten wir einmal ein Abkommen über eine allgemeine und umfassende Abrüstung erzielen, dann werden wir, wie die sowjetische Regierung erklärt hat, jeglicher Art und Methode der Kontrolle zustimmen, was ohne Zweifel auch die Inspektion an Ort und Stelle mit einschließt. Ich sollte noch hinzufügen, daß nach Auffassung von Spezialisten Inspektionen an Ort und Stelle weit davon entfernt sind, eine ideale Überwachungsmethode zu bieten. In vielen Fällen (besonders wenn der Zeitfaktor überragende Bedeutung hat) erledigen technische Vorrichtungen die Aufgaben besser. Und schließlich gibt es gewisse Dinge, die nicht einmal mit Hilfe der Inspektionen an Ort und Stelle überwacht werden können.
Aber warum gibt es dann soviel Streit und soviele Debatten über die Inspektionen an Ort und Stelle?
Deshalb, weil dieses Thema so leicht von jenen manipuliert werden kann, die beabsichtigen, den Fortschritt bei der Rüstungskontrolle zu vereiteln. Das ganze Spiel besteht darin, Forderungen zu stellen, von denen man sicher weiß, daß sie für die andere Seite unannehmbar sind. Das erlaubt es, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Dadurch wird der Verdacht auf den Partner gelenkt und die eigene mangelnde Bereitschaft, zu einem Abkommen zu gelangen, verschleiert. Inspektionen an Ort und Stelle sind wahrscheinlich ein einzigartiges Thema im Bereich der Rüstungskontrolle, insofern, als es sich in den Köpfen leichtgläubiger Leute besonders fest einprägt. Man könnte sie die spießbürgerliche Seite der Rüstungskontrolle nennen.
Es ist weithin bekannt, daß die Sowjetunion ihre Geheimnisse äußerst sorgfältig bewacht, und im Westen halten wir sie im allgemeinen für über- | |
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trieben verschwiegen. Das verleiht nicht nur jenen Geschichten Glaubwürdigkeit, die von einer von Wahnvorstellungen geprägten Haltung der Sowjetunion gegenüber dem Ausland berichten, sondern fördert auch den Argwohn gegenüber ihren Absichten, Zielen usw.
Ich muß noch einmal betonen, daß diese Annahmen zum großen Teil das Ergebnis politischer Spekulationen und hinterhältiger Propaganda sind. Diese Propaganda schuf den Mythos von der ‘offenen’ westlichen Gesellschaft im Gegensatz zu unserer‘geschlossenen’ und hält ihn auch weiterhin am Leben. In Wirklichkeit sind wir‘offener’ und ist der Westen einschließlich der USA ‘geschlossener’, als gemeinhin angenommen wird. Viele Dinge werden in den Vereinigten Staaten geheimgehalten. Geheimgehalten vor uns, vor dem eigenen Volk und manchmal vor dem eigenen Kongreß. Versuche, hinter diese Geheimnisse zu kommen oder sie zu enthüllen, werden bestraft, wobei die Strafen in letzter Zeit wesentlich härter geworden sind. Andererseits gibt es wirklich Unterschiede zwischen den sowjetischen und amerikanischen Praktiken in diesem Bereich. Ich will gar nicht verheimlichen, daß unsere in vielen Fällen strenger sind. Dafür gibt es einen historischen Grund. In einem Land, das das Ziel zahlreicher militärischer Invasionen war, das während einer langen Zeit praktisch im Belagerungszustand gelebt hat, ist es ganz natürlich, daß die Menschen weitaus vorsichtiger sind, wenn sie abwägen, was bekanntgegeben werden darf und was besser geheimgehalten werden sollte. Traditionelle Verhaltensmuster währen nicht ewig, sie sind Veränderungen unterworfen. Das trifft auch voll und ganz für die Fragen zu, die wir hier erörtern. Entspannung, wachsendes Vertrauen, eine Ausweitung der Kontakte und die Einbeziehung weiterer Probleme in die Verhandlungen - all das bewirkt eine Veränderung der Gepflogenheiten. Zukünftige Ereignisse werden in dieser Hinsicht eine sehr wichtige Rolle spielen.
In der New Yorker Times war kürzlich aufder Kommentarseite zu lesen: ‘Den Sowjets vertrauen? Niemals. Warum sollten wir ihnen schließlich mehr vertrauen als unseren eigenen Generälen und Politikern?’
Nun, es bleibt den Amerikanern selbst überlassen, ob sie ihren eigenen Generälen und Politikern vertrauen oder nicht, wie es ihnen auch überlassen bleibt, ob sie den Sowjets Vertrauen. Wir erwarten von den Amerikanern nicht, daß sie uns auf unser bloßes Wort hin vertrauen, obgleich viele westliche Experten bezeugen, daß wir in der Tat eine sehr gute Bi- | |
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lanz vorzuweisen haben, was die Erfüllung unserer Vertragsverpflichtungen anbelangt. Nichts von alledem, was bislang im Rahmen der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen untemommen wurde, basierte auf blindem Vertrauen. Alle Abkommen waren genauestens überprüfbar. Die Beziehungen haben sich vor aller Augen entwickelt. Andererseits ist übermäßiges Mißtrauen ebenfalls schädlich. Es tut mir leid, das sagen zu müssen - aber wir sind solchem Mißtrauen nur allzu oft begegnet. Wir sehen darin jedoch ein Erbe schlimmer Zeiten, das großenteils nur durch die Entwicklung der Beziehungen, der Kontakte und der Zusammenarbeit überwunden werden kann.
Noch eine Frage zum Abschluß unserer Erörterung des Wettrüstens und der Rüstungskontrolle - was ist in diesem Bereich in naher Zukunft zu erwarten?
Ich bin überzeugt, daß Rüstungskontrolle - ganz abgesehen von ihrem wirtschaftlichen und politischen Nutzen - unerläßlich ist, will man sichere Gewähr haben, daß es nicht zum Nuklearkrieg kommt. Ich würde es vorziehen, würden Rüstungskontrolle und Abrüstung infolge des Weitblicks und der vemünftigen Entscheidungen der Politiker Fortschritte machen. Wenn beide Seiten die Gefahren des Wettrüstens und den aus der Abrüstung erwachsenden Nutzen erkennen, so eröffnet dies den kürzesten und sichersten Weg in eine friedlichere Zukunft. Ein anderer Weg wäre, wieder auf den Abgrund zuzugehen. Aus der Geschichte kennen wir Zeiten, in denen die Vernunft erst die Oberhand gewann, nachdem die Unvemunft eine Zeitlang herrschen und sich unverhüllt zeigen konnte. Ganz offensichtlich ist solch eine Situation unendlich gefährlicher. Zu diesem Zeitpunkt würde ich es mir nicht zutrauen, eine eindeutige Vorhersage zu treffen. Hoffentlich werden wir den ersten Weg beschreiten. Dennoch kann man eine andere Möglichkeit nicht ausschließen. Gerade jetzt sieht es so aus, als stünden der Rüstungskontrolle, infolge des Kurswechsels in der amerikanischen Außen- und Mitlitärpolitik, harte Zeiten bevor. Trifft dies zu, so kann die Situation, bevor sie besser wird, noch schlimmer werden. In diesem Fall liegt dann das große Problem darin, zu verhindern, daß eine irreparrable Situation entsteht. In letzter Konsequenz kann man das Problem so zusammenfassen: Entweder wir vernichten die Waffenarsenale, oder sie vernichten uns. |
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