Der sowjetische Standpunkt. Über die Westpolitik der UdSSR
(1981)–Georgi Arbatov, Willem Oltmans– Auteursrechtelijk beschermd
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II) Die Geschichte der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, und was sie uns lehrt, wenn wir nur wollenLassen Sie uns die Diskussion darüber fortsetzen, welche Möglichkeiten der Koexistenz es für Länder mit grundverschiedenen Gesellschaftssystemen gibt.
Wie ich schon sagte, glaube ich nicht, daß die Unterschiede zwischen unseren beiden Gesellschaften unüberwindliche Schwierigkeiten für die Unterhaltung normaler und fruchtbarer Beziehungen darstellen. Erinnern wir uns der Geschichte der russisch-amerikanischen Beziehungen von 1917. Das alte Rußland und die USA waren, was das gesellschaftliche und politische System anbelangt, sehr verschieden voneinander. Nehmen Sie das späte 18. Jahrhundert: Auf der einen Seite finden wir das feudalistische, zaristische Rußland, auf der anderen Seite die junge amerikanische Republik, die aus einer der ersten bürgerlichen demokratischen Revolutionen in der Welt entstanden war. Und wer unterhielt wohl die besten Beziehungen zu diesen neu entstandenen Vereinigten Staaten von Amerika? Es war Rußland. Diese Beziehungen beruhten auf richtig verstandenem gegenseitigem Interesse. Später, während des Bürgerkriegs in den USA, schickte der Zar sogar die Flotte, um Rußlands Unterstützung für Präsident Abraham Lincoln zu demonstrieren. Russische Kriegsschiffe zeigten sich in New York und San Francisco. Offenkundig war es nicht Mitgefühl mit dem traurigen Los der amerikanischen Sklaven, das den Zaren dazu bewog. Er hatte seine eigenen außenpolitischen Ziele im Auge, die ihn veranlaßten, die USA zu unterstützen. Die Tatsache als solche bleibt davon aber unberührt. Leider kann ich nicht behaupten, die Amerikaner hätten diese Unterstützung erwidert, als wir im Oktober 1917 unsere Revolution hatten.
Wie würde Sie die amerikanische Haltung zur Oktoberrevolution beschreiben?
Zu jener Zeit waren die meisten Amerikaner erheblich provinzieller, als sie es heute sind, und sie wußten überhaupt nicht, was bei uns geschehen | |
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war bzw. hatten nur sehr vage Vorstellungen davon. Unter den politisch bewußten Intellektuellen und Arbeitern herrschte großes Interesse und Sympathie. Der amerikanische Journalist John Reed hat diese Haltung in seinem Buch über die Revolution mit dem Titel ‘Zehn Tage, die die Welt erschütterten’ dargestellt. Dieser Augenzeugenbericht ist noch immer eines der besten Bücher über jene historischen Ereignisse. Was die Regierung der Vereinigten Staaten und die Mehrheit der politischen Elite in Amerika, einschließlich der Medien betraf, so war deren Haltung ausgesprochen feindselig. Ganz zu schweigen von der amerikanischen Rechten. Selbst von den aufgeklärten Teilen der politischen Führung der Vereinigten Staaten wurde unsere, aus der Revolution entstandene Gesellschaft für ein uneheliches Kind gehalten, das dazu verdammt war, für immer wie ein Bastard der Geschichte behandelt zu werden. Somit war der Grand gelegt für eine langfristige Haltung Amerikas gegenüber dem Sozialismus und Sowjetrußland.
Sie meinen, diese Haltung herrscht noch immer vor?
Ja, diese traditionelle Einstellung spielt in Amerikas Verhalten uns gegenüber immer noch eine Rolle. Ironischerweise war es die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, die schon sehr früh und mit aller Entschiedenheit den Grundsatz vertrat, jedes Land habe ein angestammtes Recht zur Revolution, das Recht, sich zu erheben und mit Waffen die erforderlichen Veränderungen in seinem gesellschaftlichen und politischen System durchzuführen. Doch 1917 hat man bei der Formulierung der Antwort der USA auf die russische Revolution nicht auf die Weisheit der Gründerväter zurückgegriffen. Nun hätte es uns allerdings einerlei sein können, was die amerikanische Regierung von unserer Revolution hielt, hätte sich ihre Feindseligkeit nicht fast augenblicklich in entsprechenden Handlungen ausgedrückt. Die Vereinigten Staaten spielten eine aktive Rolle innerhalb der Koalition der Länder, die versuchten, unsere Revolution abzuwürgen. Sie beteiligten sich an der Invasion der nördlichen und östlichen Teile unseres Landes. Bedeutender noch - sie leisteten während des Bürgerkriegs unseren Feinden beträchtliche Hilfe, einschließlich der Gewährung von Darlehen und der Lieferung von Waffen. Sie unterstützten auch ganz offen konterrevolutionäre Führer wie Admiral Kolchak, Ataman Semjonow und andere. Ungefähr vier Milliarden Dollar gaben die Vereinigten Staaten für den Versuch aus, die neue russische Regierung aus dem Sattel zu heben. | |
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Einige Sowjetologen behaupten jedoch, daß diese neue Regierung westliche Feindseligkeiten geradezu herausforderte, indem sie mit der Weltrevolution drohte und viele Beziehungen Rußlands mit der Außenwelt abbrach.
Was die Weltrevolution anbelangt, so habe ich bereits Lenins Ansichten zu diesem Punkt genannt. Was dagegen die Veränderung der russischen Auslandsbeziehungen infolge der Revolution betrifft, so muß man bedenken, daß das zaristische Rußland, obwohl selbst eine Kolonialmacht, zugleich auch Halbkolonie des Westens war. Während des Ersten Weltkriegs opferte die Entente Millionen von Russen der Rivalität mit dem deutschen Kaiser und seinen Verbündeten als Kanonenfutter. Das russische Volk hatte das untrügliche Gefühl, mißbraucht und ausgebeutet zu werden und für eine Sache zu sterben, die gänzlich ungerecht war und seinen vitalen Bedürfnissen und Interessen widersprach. Dieses Gefühl war einer der wichtigen Faktoren, die die Revolution von 1917 auslösten. Aus diesem Grunde war eine der ersten Maßnahmen der Regierung Lenins das Ausscheiden Rußlands aus dem Krieg und die Abschaffung der halbkolonialen Abhängigkeit von Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern. Das bedeutet nicht, daß wir uns von der Welt abwandten oder uns weigerten, mit ihr in Beziehung zu treten, bevor sie nicht sozialistisch geworden wäre. Wir wollten mit der Welt - so wie sie war - Beziehungen unterhalten. Aber wir wollten diese Beziehungen auf der Ebene der Gleichberechtigung, um uns die Souveränität über unsere eigene Wirtschaft und unsere Ressourcen zu sichern und um eine Außenpolitik auf der Basis unserer nationalen Interessen betreiben zu können, anstatt einer Außenpolitik, die sich an den Kreditzinsen ausländischer Banken orientierte. Mit anderen Worten, wir strebten nach einer Demokratisierung unserer Beziehungen mit dem Westen. Wir änderten auch unsere Beziehungen mit den Ländern Asiens. Unter anderem verzichteten wir auf die kolonialen Ansprüche, die die zaristische Regierung in Asien erhoben hatte.
Hat die Revolutionsregierung Rußlands ihren Wunsch, mit anderen Ländern Beziehungen aufzunehmen, denn klar zum Ausdruck gebracht?
Gewiß. Gleich ganz am Anfang der Revolution - um genau zu sein, am zweiten Tag - richteten wir einen Appell an alle Länder, die USA eingeschlossen, den Krieg zu beenden und Friedensverhandlungen aufzunehmen. Bald darauf boten wir den Vereinigten Staaten die Aufnahme normaler Beziehungen an. Diesem Ansuchen folgte im Mai 1918 ein | |
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Vorschlag zur Aufnahme von Wirtschafts- und Handelsbeziehungen auf der Basis gegenseitigen Nutzens. Lenin legte in einem Brief, den er durch den Vorsitzenden der amerikanischen Rot-Kreuz-Mission in Rußland, Colonel Robbins, überbringen ließ, seinen Plan für die Vergabe von Handelskonzessionen an die Vereinigten Staaten sowie für die Aufnahme weiterer Handelsbeziehungen dar. Eine Antwort blieb jedoch aus. Unser Handelsbeauftragter für die Vereinigten Staaten, L. Martens, begann mit amerikanischen Geschäftsleuten Verhandlungen über die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Ende des Jahres 1919 hatte er bereits zu ca. 1000 Firmen in 32 amerikanischen Bundesstaaten Kontakte geknüpft. Martens hatte den Eindruck, ein erheblicher Teil der amerikanischen Wirtschaftskreise wünsche den Handel mit Sowjetrußland. Eine Reihe von Verträgen wurde zwar unterzeichnet, aber die US-Regierung schritt dagegen ein, und Martens wurde als ‘unerwünschter Ausländer’ aus Amerika ausgewiesen.
War das zu der Zeit, als Armand Hammer, der Vorstandsvorsitzende der Occidental Petroleum Company, nach Rußland kam?
Ja, er war einer der ersten Amerikaner, die Geschäftsbeziehungen zu dem neuen Rußland aufnahmen. Er kam aus eigenem Entschluß, und wir hießen ihn willkommen. Später sprachen wir eine allgemeine Einladung an die amerikanischen Geschäftsleute aus, zu uns zu kommen und Wirtschaftsbeziehungen mit uns aufzunehmen. Schätzungen besagten, daß sich der Handel mit ausländischen Firmen auf ein Volumen von ca. drei Milliarden Dollar hätte belaufen können.
Das ist mehr als das jährliche Handelsvolumen zwischen der UdSSR und den USA während der letzten Jahre.
Ja, selbst wenn man außer acht läßt, daß der Dollar nur mehr einen Bruchteil dessen wert ist, was er damals wert war. Das Potential für unseren Handel mit dem Westen war groß. Von den ersten Tagen unserer Revolution an war die Entwicklung wirtschaftlicher Beziehungen zu allen Ländern, einschließlich den USA, unsere erklärte Politik. Lenin hat sogar einmal betont: ‘Besonders mit den Vereinigten Staaten.’ Es gab verschiedene Gründe, warum er die USA mit besonderem Nachdruck nannte. Die Größenordnung und Leistungsfähigkeit der amerikanischen Industrie war ein wichtiger Gesichtspunkt. Daneben waren in jenen Tagen unsere Beziehungen zu Europa angespannter als die zu den Vereinigten Staaten. Ich glaube, daß Lenin dabei auch an die politische Be- | |
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deutung gutentwickelter sowjetisch-amerikanischer Wirtschaftsbeziehungen dachte, da er von ihnen erwartete, daß sie ein wichtiger Faktor für Stabilität und Frieden in der Welt werden könnten.
Welchen weiteren amerikanischen Geschäftsleuten wurden zu diesem frühen Zeitpunkt von der sowjetischen Regierung Konzessionen erteilt?
Das war eine ganze Reihe, einschließlich der Harrimans.
Hat der ehemalige Gouverneur W. Averell Harriman finanzielle Interessen in der Sowjetunion gehabt?
Eine im Familienbesitz befindliche Firma besaß umfangreiche Schürfrechte für Mangan.
Dennoch blieb die Haltung der US-Regierung gegenüber Moskau unverändert feindselig.
Ja, in der Tat. Die Vereinigten Staaten beteiligten sich an allen Koalitionen, die versuchten, Winston Churchills Rat zu befolgen, den jungen russischen Kommunismus in seiner Wiege zu ersticken. Wenn die militärischen Interventionen nicht zum erhofften Ziel führten, griff der Westen zu einer Politik des Wirtschaftsboykotts und der diplomatischen Nichtanerkennung. Das war lediglich eine andere, wenn auch passivere Form der alten Haltung, nämlich den Sowjetstaat nicht zu akzeptieren. Die Grundeinstellung blieb die gleiche: Es kann keine Gemeinsamkeiten zwischen dem Westen und der Sowjetunion geben, denn deren bloße Existenz, so behauptete damals der US-Außenminister Colby, bedinge ‘den Sturz der Regierung in allen anderen großen zivilisierten Ländern’. Außerdem, so schrieb er, gäbe es keine übereinstimmenden Interessen, die die Errichtung normaler Beziehungen zu solch einem Gegner rechtfertigen könnten.
Haben denn die Sowjetführer die Vereinigten Staaten nicht ebenso als Gegner betrachtet?
Gewiß hätten wir von der amerikanischen Feindseligkeit und Aggressivität gegen uns viel mehr Aufhebens machen können, aber die Sowjetregierung wurde nicht müde in ihren Anstrengungen, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu normalisieren. Lassen Sie mich unseren damaligen Kommissar für auswärtige Angelegenheiten, Georgij Tschitscherin, zitieren, der auf die Feststellung Außenminister Colbys ant- | |
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wortete: ‘Mr. Colby irrt sich gewaltig, wenn er glaubt, daß unsere Länder nur normale Beziehungen haben können, wenn ein kapitalistisches System in Rußland herrscht. Wir vertreten im Gegenteil die Ansicht, daß es trotz der Tatsache, daß die gesellschaftlichen und politischen Systeme Rußlands und Nordamerikas einander genau entgegengesetzt sind, es im Interesse beider liegt, auch jetzt schon zwischen ihnen untadelige, gesetzmäßige, friedliche und freundschaftliche Beziehungen herzustellen, wie sie auch für die Entwicklung des Handels zwischen beiden Ländern und für die Befriedigung ihrer wirtschaftlichen Bedürfnisse erforderlich sind.’Ga naar eind1 Immerhin sollte es noch eine Reihe von Jahren dauern, bis politische Führer in Amerika zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangten.
Das alles sah kaum wie der enthusiastische Anfang einer neuen Beziehung aus.
Ich habe von der offiziellen Politik gesprochen, die aber war nur Teil eines größeren Ganzen. Wir waren uns dessen bewußt, daß viele Amerikaner davon abweichende Auffassungen hatten. Es gab viele Beispiele des guten Willens Amerikas, Beispiele einer realistischen Einstellung und echter Anstrengungen, um zu normalen Beziehungen mit uns zu gelangen. Einige dieser Bemühungen waren ausgesprochen großmütig. Wir haben vom amerikanischen Volk sogar materielle Hilfe erhalten, und wir haben das nicht vergessen. In den frühen zwanziger Jahren, in einer Zeit des Hungers und großer wirtschaftlicher Not in unserem Land, kamen ungefähr 10 000 Amerikaner durch die ‘Society for Technical Aid to Soviet Russia’ in unser Land. Sie kamen, um beim Wiederaufbau unseres Landes zu helfen. Sie halfen, Bauernhöfe und andere Betriebe wiederaufzubauen; amerikanische und sowjetische Arbeiter und Spezialisten arbeiteten Seite an Seite. Erhebliche Geldmittel wurden für diesen Zweck in den Vereinigten Staaten aufgebracht.
Wurde diesen Amerikanern ebenfalls mit dem Entzug ihrer Pässe gedroht?
Tatsächlich nahmen sie angesichts der antikommunistischen Hysterie, die in den USA zu jener Zeit herrschte, große persönliche Risiken auf sich. Aber die Gefühle der Solidarität und das große Interesse an dem einzigartigen Experiment der russischen Revolution waren stärker. Zugleich fanden es immer mehr amerikanische Geschäftsleute profitbringend, mit der Sowjetunion Handel zu treiben. Wir haben ihnen Verträge zu guten Bedingungen angeboten, und sie kamen daraufhin. Insgesamt waren es fast 2000 amerikanische Geschäftsleute, die damals mit | |
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uns Handel trieben. Zu Beginn der dreißiger Jahre hatten ungefähr 40 amerikanische Gesellschaften hier ihren Betrieb aufgenommen, darunter Giganten wie die Ford Motor Co. und General Electric. Einige tausend amerikanische Arbeiter und Spezialisten arbeiteten hier. Zu jenen, die mithalfen, unsere erste große Automobilfabrik in Gorki zu errichten, gehörten auch Walter und Victor Reuther, die später in der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung bekannt wurden. Einige Amerikaner erhielten hohe Staatsauszeichnungen, wie H. Cooper, der uns half, unser erstes großes Wasserkraftwerk zu errichten. 1931 gingen nicht weniger als 40 Prozent des gesamten amerikanischen Exports an Ausrüstungsgütern für die Industrie in die Sowjetunion. Im gleichen Jahr suchten wir ungefähr 4000 Spezialisten, die zu uns kommen und bei uns arbeiten sollten, worauf wir über 100 000 Bewerbungen erhielten. Es war wirklich ein strahlendes Kapitel in der Geschichte unserer Zusammenarbeit. Gesunder Menschenverstand und übereinstimmende wirtschaftliche Interessen erwiesen sich als stärker als alle Bestrebungen, sich in schweren Zeiten gegenseitig größtmöglichen Schaden zuzufügen. Letzten Endes halfen wir, die Schwierigkeiten während der Phase der Wirtschaftskrise in den USA zu lindern, während amerikanische Geschäftsleute und Spezialisten zum Aufbau unserer Wirtschaft beitrugen.
Es gibt heute Millionen Arbeitslose in den Vereinigten Staaten. Warum suchen Sie nicht mit einer Stellenanzeige in den New York Times Arbeitskräfte für Sibirien?
Ich kann mir vorstellen, welch einen Aufruhr ein solcher Schritt auslösen würde, angesichts dessen, was man im Westen mit ‘Sibirien’ verbindet. Aber allen Ernstes, unsere Vorschläge gehen sogar noch weiter. Wir möchten alle Hindernisse ausräumen, die einer angemessenen Entwicklung des Handels und der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern im Wege stehen. Allein schon dadurch würden Tausende von neuen Arbeitsplätzen in den USA geschaffen werden. Im Fall einer wirklichen Entspannung wäre eine Wirtschaft möglich, die nicht auf Rüstungsproduktion ausgerichtet ist, wodurch der Beschäftigungsgrad ebenfalls höher wäre als unter den derzeitigen Gegebenheiten. In ihrer Gesamtheit gesehen, würden die wirtschaftlichen Folgen der Entspannung die allgemeine Beschäftigungsituation in den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Ländern erheblich verbessern. Lassen Sie mich auf den geschichtlichen Ablauf zurückkommen. Der Auftakt in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren zu einer zukünftigen Entspannung war vielversprechend, allein, er währte nicht sehr lan- | |
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ge. Das Jahr 1931 brachte eine Erschwernis der Handelsbeziehungen. In den USA wurde eine Kampagne für ‘Religionsfreiheit in der Sowjetunion’ gestartet. Sie glich dem, was wir in den letzten Jahren erlebt haben. Ein weiterer Feldzug galt der ‘Bedrohung durch sowjetische Dumpingpreise’; ihr folgte die Einführung gegen uns gerichteter, diskriminierender Handelsbestimmungen. Der amerikanisch-sowjetische Handel ging daraufhin drastisch zurück.
Aber schließlich erfolgte 1933 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Das war ein Wendepunkt.
Ja, in zweierlei Hinsicht wenigstens. Zum ersten wurde die Grundlage für zukünftige, normale Beziehungen geschaffen, zum zweiten bedeutete das einen neuen Aufbruch, was die Haltung des Weißen Hauses anbelangte, das damit nach 16 Jahren der Nichtanerkennung endlich aufhörte, so zu tun, als gäbe es die Sowjetunion überhaupt nicht.
Die Amerikaner litten, was China betrifft, von 1949 bis 1972 unter der gleichen geistigen Blockierung.
Mag sein, daß man diesen Vergleich anstellen kann - ganz so einfach, wie es vielleicht scheint, ist es jedoch nicht. Aber darüber können wir noch später sprechen. Vorerst sollten wir zum Jahr 1933 zurückkehren. Als die diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und der UdSSR aufgenommen wurden, gab es noch einen interessanten Aspekt, der nahezu in Vergessenheit geraten ist, wenn er nicht gar von der amerikanischen Seite heute völlig ignoriert wird. Es gab nämlich einen Briefwechsel zwischen Präsident Franklin D. Roosevelt und unseren Kommissar für auswärtige Angelegenheiten, Maxim Maximowitsch Litwinow. Auf Drängen Washingtons gaben beide Seiten das feierliche Versprechen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten des anderen einzumischen. Darüber hinaus versprachen beide Seiten, alle von der jeweiligen Regierung kontrollierten oder abhängigen Organisationen von offenen oder verdeckten Handlungen abzuhalten, durch die dem inneren Frieden, der Wohlfahrt und der Sicherheit des anderen Landes Schaden zugefügt würde. Zu diesen verbotenen Praktiken gehörten Agitation und Propaganda, die auf eine gewaltsame Änderung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung im jeweils anderen Land abzielten. Es ist interessant, sich dessen zu erinnern, weil Washington heutzutage subversive Tätigkeiten gegen uns für ganz normal hält, so z. B. die Tätig- | |
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keit von Radio Liberty und Radio Free Europe. Die USA unternehmen eine ganze Reihe verdeckter oder halbverdeckter, gegen die Sowjetunion gerichteter Operationen und verletzen damit jene zweiseitige Übereinkunft, die die gegenseitige Anerkennung betrifft.
Wollen Sie damit sagen, daß die Sowjetunion nichts derartiges gegen die USA unternimmt?
In voller Übereinstimmung mit den Verfügungen des Dokuments von 1933, das ich erwähnte, unterstützen wir keinerlei Tätigkeiten, seien sie ‘offen oder verdeckt, die auf irgendeine Weise dazu beitragen, den inneren Frieden, den Besitzstand, die Ordnung oder die Sicherheit’ der Vereinigten Staaten zu gefährden. Noch betreiben wir ‘Agitation oder Propaganda, die die Verletzung der territorialen Integrität der Vereinigten Staaten, ihrer Hoheitsgebiete oder Besitzungen zum Ziel hat, oder die Herbeiführung einer gewaltsamen Veränderung der politischen Ordnung der gesamten Vereinigten Staaten bzw. irgendeines Teils...’Ga naar eind2
Zitieren Sie aus dem Briefwechsel zwischen Roosevelt und Litwinow?
Ja. Meiner Meinung nach war der Hauptgrund für Roosevelt, die Sowjetunion anzuerkennen, seine Einschätzung der amerikanischen Interessen. Angesichts der wachsenden japanischen Aggressivität in Asien und des Aufstiegs des Nationalsozialismus in Deutschland sah er richtig voraus, daß normale Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern für beide Seiten später einmal von großem Interesse sein könnten. Diese Ansicht hat sich während des Zweiten Weltkriegs bestätigt.
Der Zweite Weltkrieg begünstigte engere Beziehungen.
Ohne Zweifel. Der Krieg selbst war ein wirklich bemerkenswerter Zeitabschnitt in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Unsere beiden Völker kämpften Seite an Seite als Verbündete. Dies waren Jahre einer engen Zuammenarbeit unserer politischen Führer und unserer Militärs, Jahre eines unvorhergesehenen Auflebens freundlicher, ja sogar brüderlicher Gefühle zwischen unseren Völkern. Ich glaube, daß all das einen tiefen Eindruck im Gedächtnis unserer Völker hinterlassen hat. Die Amerikaner, vor allem jene, die selbst an der Front standen, waren voller Anerkennung für die gewaltigen Anstrengungen der Sowjets in diesem Krieg. Ich erinnere mich an den Auszug aus einem Tagesbefehl eines amerikanischen Kommandeurs in Deutschland, den C.L. Sulzberger in seinen Memoiren zitiert: ‘Millio- | |
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nen russischer Soldaten und Zivilisten starben für unser Leben. Vergeßt das nie. Wenn euch die Propaganda einredet, die Russen zu hassen, so haltet inne und denkt nach. Sie sind auch für euch gestorben.’Ga naar eind3 Es hat eines jehrelangen kalten Krieges und intensiver antisowjetischer Gehirnwäsche bedurft, um diese Gefühle auszulöschen.
Dennoch lagen auch Schatten über diesen Flitterwochen.
Selbstverständlich gab es Probleme und Schwierigkeiten. Trotz der zahlreichen Versprechungen wurde die Eröffnung der Zweiten Front in Westeuropa zwei Jahre lang hinausgezogen - ein Umstand, den viele Sowjetbürger mit dem Leben bezahlen mußten. Das trug zum Entstehen manch bitterer Gefühle in unserem Volk bei. Es gab hinter den Kulissen Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und Nazi-Deutschland. Allen Dulles sprach mit den Nazis in Bern, und es bestanden weitere Kontakte in Ankara, wie einer unserer Historiker vor kurzem nachgewiesen hat. Rückblickend fällt es auch schwer, einfach mit einem Achselzucken darüber hinwegzugehen, daß man uns die Entwicklung der Atombombe verheimlicht hat. Dennoch war die Gesamtbilanz unserer Beziehungen ohne Zweifel positiv, und das hätte die Ausgangsbasis für verbesserte Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg sein können.
Statt dessen gerieten wir nur wenig später in den Kalten Krieg.
Der Kalte Krieg ist Gegenstand zahlreicher Bûcher, und viele weitere werden noch zu diesem Thema erscheinen. Es bleibt ein heißes Eisen, und unsere Perspektive unterscheidet sich ziemlich stark von der bei den Amerikanern vorherrschenden Ansicht, derzufolge die Sowjetunion die Schuld am Kalten Krieg trägt. Wir denken, daß die Hauptverantwortung zu gleichen Teilen bei den USA und bei Großbritannien liegt. Nebenbei bemerkt, wurde diese Tatsache in den USA in den letzten zwei Jahrzehnten von den sogenannten ‘revisionistischen’ Historikern umfassend dokumentiert.
Kennen Sie die neo-orthodoxe Kritik an dieser Schule?
Ja, alle Orthodoxien haben ein zähes Leben. Aber ich möchte mich nicht in diesen Familienstreit der amerikanischen Historiker einmischen. Ich kann nur darlegen, wie sich die ganze Situation unter unserem Blickwinkel betrachtet ausnahm. | |
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Kam der Kalte Krieg nicht erst richtig auf Touren, als die Sowjetunion den Marshallplan zurückwies?
Von Moskau aus gesehen, fing der Kalte Krieg schon viel früher an. Schon im Frühjahr 1945, einige Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, stellten wir Änderungen in der amerikanischen Politik fest. Präsident Harry S. Truman nahm in vielen Bereichen der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen eine andere Haltung ein als Roosevelt. Lieferungen aufgrund des Leih-PachtsystemsGa naar eind4 wurden auf den Tag genau mit dem Ende des Krieges abrupt eingestellt, einige Schiffe, die schon auf See und unterwegs in die UdSSR waren, wurden zurückbeordert. Das Versprechen, ein umfangreiches Darlehen zum Wiederaufbau zu gewähren, wurde gebrochen. Natürlich war da auch noch der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, der nach unserer Ansicht nicht der letzte Kanonendonner des Zweiten Weltkriegs war, sondern viel ehrer der erste, der den Kalten Krieg ankündigte. Er wurde abgegeben, um sowohl die Feinde wie auch die Verbündeten einzuschüchtern. Oder, wie Kriegsminister Henry Stimson es in sein Tagebuch schrieb, ‘um Rußland klarzumachen, daß es sich einzuordnen hatte’. Danach - auch das geschah noch vor dem Marshallplan - hielt Winston Churchill seine berüchtigte Rede in Fulton im Bundesstaat Missouri, die nun tatsächlich die förmliche Erklärung des Kalten Kriegs enthielt. Es sollte daran erinnert werden, daß Churchills Rede vom ‘Eisernen Vorhang’ in Anwesenheit des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, gehalten und von ihm öffentlich gebilligt wurde. Im Februar 1947 wurde dann die Truman-Doktrin verkündet, die zu einem weltweiten antikommunistischen Kreuzzug aufrief. Das war also der politische Kontext, als der Marshallplan angekündigt wurde, und dieser Kontext offenbart die wahre Absicht des Plans. Später wurde die Version in Umlauf gesetzt, wir hätten ‘ein faires Angebot’ zurückgewiesen und es statt dessen vorgezogen, den Kalten Krieg zu verstärken. Prüft man jedoch die kürzlich freigegebenen amerikanischen Dokumente zum Marshallplan, so wird klar, daß das Angebot absichtlich so gehalten war, daß die UdSSR es zurückweisen würde. Amerikanische Beamte sahen sogar mit Bangen einem eventuellen Beitritt der Sowjetunion entgegen. In einem privaten Gespräch sagte damals James Forrestal: ‘Das allerschlimmste wäre, wenn sie (die Russen) beitreten würden.’ Charles Bohlen bekannte sehr viel später: ‘Wir sind ein verdammt hohes Risiko eingegangen, als wir Rußland nicht ausdrücklich davon ausschlossen.’Ga naar eind5 | |
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Mit anderen Worten, für Sie stand fest, daß die Haltung der Vereinigten Staaten nach 1945 feindselig war?
Es wurde uns klar, daß sich das Blatt gewendet hatte. Wir rechneten sogar allen Ernstes mit einer Kriegsdrohung aus Washington.
In Westeuropa herrschte nach 1945 tatsachlich Angst vor einer sowjetischen Invasion. Aus diesem Grund wanderte meine Familie nach Südafrika aus, und ich ging 1948 an die Yale University, um Vorlesungen über internationale Beziehungen zu hören.
Ich kann mir vorstellen, daß es Ängste dieser Art gab. Teilweise entsprangen sie dem sehr labilen psychologischen Klima in einem Nachkriegseuropa, das zwischen 1939 und 1945 furchtbare Prüfungen ausgestanden hatte. Hauptgrund für diese Ängste war aber der Feldzug gegen ‘die sowjetische Bedrohung’, den man sofort nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einleitete, um damit Gefühle des Wohlwollens gegenüber der UdSSR auszumerzen. Diese Gefühle waren echt und weitverbreitet - war es nicht schließlich die Sowjetunion gewesen, die die entscheidende Rolle bei der Befreiung Europas von den Nazis gespielt hatte. Eine sehr beunruhigende Parallele dazu sind die jüngsten Vorgänge im Westen, wo viele irrationale Vorurteile und Ängste erneut für den gleichen Zweck und mit den gleichen Mitteln mißbraucht werden. Und wie damals auch, könnten die Panikmacher, die versuchen, die Öffentlichkeit und die Elite für einen antisowjetischen Konsens mobil zu machen, letzten Endes selbst diesen falschen Ängsten erliegen. Was die Einschätzungen der ‘sowjetischen Bedrohung’ in der Nachkriegszeit anbelangt, so möchte ich betonen, daß wir, bei allem Verständnis für die Ängste im Westen, ungleich mehr Grund hatten, uns bedroht zu fühlen. Und diese Gefühle sollten sich später als wohlbegründet erweisen, als nämlich die wahren amerikanischen Kriegspläne bekannt wurden.
Kriegspläne? Der Frieden hatte doch erst begonnen.
Nun, es kommt wie eine Offenbarung über einen und schmerzt noch heute, wenn man schwarz auf weiß liest, daß selbst einige unserer schlimmsten Befüchtungen hinsichtlich der Absichten der USA mehr als gerechtfertigt waren. Bereits Ende 1949 begannen höchste amerikanische Militärs einen Nuklearangriff auf die Sowjetunion vorzubereiten. 20 unserer größten Städte mit einer Gesamtbevölkerung von 13 Millio- | |
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nen Menschen wurden zu Zielen bestimmt, auf die in einem ersten Schlag 196 Atombomben abgeworfen werden sollten.
Davon wußten wir in Westeuropa nichts, und die meisten Leute dort wissen auch heute nichts von diesen Plänen.
Daß es sie dennoch gegeben hat, zeigen bestimmte, bis vor kurzem der Geheimhaltung unterliegende Regierungsakten, wie etwa der Bericht Nr. 329 des gemeinsamen Ausschusses der Nachrichtendienste bei den Vereinigten Stabschefs vom Dezember 1945. Dieser und noch folgende ähnliche Berichte dienten als Grundlage einer detaillierten Kriegsplanung zwischen 1946 und 1949 unter Decknamen wie ‘Charioter’, ‘Double Star’, ‘Fleetwood’, ‘Trojan’ und anderen. Die Kriegsvorbereitungen gipfelten 1949 in dem Plan ‘Dropshot’, der einen totalen Krieg gegen die Sowjetunion unter Einsatz aller Nato-Streitkräfte vorsah, unterstützt noch durch einige Länder des Nahen Ostens und Asiens. Das war tatsächlich der Entwurf für den Dritten Weltkrieg. ‘Dropshot’ war aber nicht nur ein Plan zur atomaren Zerstörung unseres Landes mittels ca. 300 Bomben - man nannte das gewöhnlich ‘Atomisierung’ - sondern sah auch die Besetzung unseres Landes durch amerikanische Truppen und eine anschließende Auslöschung des sowjetischen Systems vor. Fleißige Strategen in Washington arbeiteten sogar Verhaltensregeln für künftige Regime auf unserem Territorium aus.Ga naar eind6 Für die Verbündeten von gestern, die mehr als 20 Millionen Menschenleben geopfert hatten, um die Welt vor dem Faschismus zu bewahren, hatte man einen Frieden vorgesehen, der an ‘Karthago’ erinnert.
Es klingt zwar wie Wahnsinn, ist aber nichtsdestoweniger dokumentarisch bewiesen, daß der große Kriegsheld Winston Churchill damals vorgeschlagen hat, die UdSSR mit Nuklearwaffen auszuradieren.
Ja, das tat er, mindestens bei zwei Gelegenheiten. Das erste Mal machte er seinen Vorschlag kurz nach dem Krieg, wie Alan Brooke in seinem Tagebuch festgehalten hat.
Henry Cabot Lodge erwähnt in seinen Memoiren eine ähnliche Begebenheit.
In jenen Tagen erhielten wir viele solcher Signale, und wir mußten sie sehr ernst nehmen. Wie recht wir daran taten, sollte, vom heutigen Standpunkt aus gesehen, eigentlich ganz klar sein. Jene Drohungen waren nicht nur leere Worte. | |
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Könnten die zu Papier gebrachten unheilvollen Pläne nicht nur Wunschdenken der Militärs gewesen sein?
Einige davon waren Wunschdenken, kein Zweifel. Aber daneben gab es die praktische Politik, die deutlicher war als alle Worte. Es gab das gigantische Wettrüsten, den Aufbau der Nato und die Einkreisung unseres Landes durch Militärstützpunkte sowie durch jene Bomberverbände, die einen ersten Schlag führen konnten. Daß diese grauenhaften Pläne nur Papier blieben, liegt nach unserer Auffassung nicht so sehr daran, daß etwa die Vernunft in Washington die Oberhand behielt, sondern daran, daß wir ständig an Stärke gewannen, was vor allem in dem raschen Ende des atomaren Monopols der USA zum Ausdruck kam. Die US-Regierung sah in einem nuklearen Präventivkrieg gegen die UdSSR durchaus einen denkbaren Weg, mußte aber davon Abstand nehmen, als klar wurde, daß sie ihn nicht gewinnen konnte. 1949 wurde der ‘Trojan’ genannte Plan für einen ersten nuklearen Schlag vom Strategischen Luftkommando der Vereinigten Staaten als unrealistisch beiseite gelegt. Das Dokument Nr. 68 des Nationalen Sicherheitsrats (NSC-68) kam zu dem Schluß, ein Präventivkrieg gegen die Sowjetunion könne unmöglich gewonnen werden. ‘Man könnte einen machtvollen Schlag gegen die Sowjetunion führen’, heißt es darin, ‘aber es ist anzunehmen, daß diese Maßnahmen allein den Kreml nicht veranlassen oder zwingen würden, zu kapitulieren...’Ga naar eind7 Im Hinblick auf ‘Dropshot’ hatte man ebenfalls schwere Zweifel.
Vielleicht haben die Amerikaner gedacht, daß sie nicht genügend solcher Bomben hätten.
Nicht nur das. Es gab auch starke Befürchtungen, daß die Vereinigten Staaten anstatt eines nuklearen Blitzkriegs einen endlosen und auszehrenden Krieg führen müßten, der die ganze Welt zerstören würde. So hätte es eigentlich schon zu der Zeit klar werden müssen, daß ein militärisches Übergewicht im Nuklearzeitalter nur von begrenztem Wert ist.
Anscheinend ist das bis heute nicht klar.
Nun, Washington entschloß sich damals, die Methoden der Politik des Kalten Kriegs etwas abzuändern, aber die Ziele blieben die gleichen. Es ließ die Idee eines Präventivkriegs vorläufig fallen und wählte die Doktrin der Eindämmung, die ‘Containment’-Politik, als Basis der US-Politik gegenüber Moskau. Im wesentlichen war das eine Strategie, die unser politisches System dadurch zerstören wollte, daß man ständig an al- | |
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len Punkten Druck ausübte. So hielt man neben anderen Druckmitteln das Wettrüsten für geeignet, um die Sowjetunion in die Knie zu zwingen. Da ich mit den Schöpfern dieser Doktrinen kaum konkurrieren kann, was deren anschauliche Darstellung anbelangt, will ich einfach einige Schlüsselstellen aus der offiziellen Bibel der ‘Containment’-Politik zitieren, nämlich aus jener Direktive des Nationalen Sicherheitsrates, die 1950 als Dokument NSC-68 entstand und seit 1975 nicht mehr der Geheimhaltung unterliegt. Das wichtigste Instrument dieser Politik sollte eine überwältigende militärische Überlegenheit sein. ‘Ohne überlegene, geballte militärische Stärke, sowohl tatsächlich vorhandener als auch jederzeit mobilisierbarer’, so stellt das Dokument freimütig fest, ‘ist eine Politik der Eindämmimg, die letzten Endes eine Politik des kalkulierten und abgestuften Zwanges ist, nicht mehr als ein politischer Bluff.’Ga naar eind8 Weiter wird darin festgestellt, daß, bis eine solche Überlegenheit erreicht ist, jegliche Verhandlungen mit der Sowjetunion ‘allenfalls eine Taktik sein können... wünschenswert... um öffentliche Unterstützung für das Programm (der Aufrüstung) zu erlangen’.Ga naar eind9 Zu den weiteren Mitteln, die vorgeschlagen und auch tatsächlich angewandt wurden, gehörten die ‘offene, psychologische Kriegführung, die auf einen breiten Loyalitätsschwund gegenüber dem sowjetischen System hinarbeitet, die Intensivierung angezeigter, unterstützender Maßnahmen und Operationen mit verdeckten Mitteln, sowohl auf dem Gebiet der wirtschaftlichen als auch der politischen und psychologischen Kriegsführung, in der Absicht, in ausgewählten strategisch wichtigen Satellitenstaaten Unruhen und Revolten anzustiften und zu unterstützen...’Ga naar eind10
Pläne bleiben oftmals Pläne. Nicht immer besteht die Absicht, solch verrückte Ideen auch notwendigerweise auszuprobieren.
Sicher nicht. Das waren ganz gewiß keine bloßen Phantasien, sondern Richtlinien, die auch in Kraft waren. Die Vereinigten Staaten haben uns während der fünfziger Jahre diese Art der Behandlung angedeihen lassen. Ein weiterer interessanter Aspekt des erwähnten Dokuments NSC-68 war die fixe Idee, sich ein unschuldiges, defensives Aussehen zu bewahren, während man diesen aggressiven Kurs verfolgte. ‘Bei jeder politischen Verlautbarung und bei den angewandten Maßnahmen sollte’ - so rät NSC-68 seelenruhig - ‘der im wesentlichen defensive Charakter mit Nachdruck betont und sorgfältig darauf geachtet werden, ungünstige | |
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Reaktionen im In- und Ausland soweit wie möglich zu vermeiden.’ Alle diese Maßnahmen dienten dem einen letzten Ziel: der Zurückdrängung des sowjetischen Einflusses und ‘einer fundamentalen Umgestaltung der Natur des Sowjetsystems’.Ga naar eind11
Zbigniew Brzezinskis Diplomatie schien darauf ausgerichtet gewesen zu sein, Einfluß auf die innere Entwicklung in der Sowjetunion zu nehmen.
Brzezinskis Ruf als hartnäckiger Verfechter einer solchen Politik hatte seine guten Gründe. Er trug zu ihrer Formulierung in der Vergangenheit bei und hat - das darf wohl unterstellt werden -, als er im Amt war, von solchen Bemühungen nicht abgelassen. Dieses Generalthema des ‘Umformens’ des Sowjetstaates mit den Mitteln der Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten, das in dem Dokument NSC-68 zur Doktrin erhoben wurde, zog sich wie ein roter Faden durch viele Worte und Taten der Carter-Administration.
Botschafter Anatoli Dobrynin hat gegenüber Henry Kissinger angedeutet, daß zwischen 1959 und 1963 eine Reihe von Gelegenheden versäumt wurde, um die Beziehungen zwischen den Supermächten zu verbessern.Ga naar eind12
In den späten fünfziger Jahren, nach dem Sputnik, wurde vielen Amerikanern klar, daß ein Nuklearkrieg unvorstellbar sei - schlichtweg Selbstmord. Es wurden Schritte unternommen, um das Eis des Kalten Kriegs zu brechen. Ich denke an den Besuch von Ministerpräsident Chruschtschow in den Vereinigten Staaten im Jahre 1959, dem 1960 ein Besuch Präsident Dwight D. Eisenhowers in der UdSSR folgen sollte. Unglücklicherweise zerschlugen sich diese Bemühungen.
Sie meinen, infolge des U-2-Zwischenfalls, bei dem Gary Powers mit seinem Aufklärungsflugzeug über der UdSSR abgeschossen wurde. Dieser Zwischenfall wurde von einigen Analytikern als der absichtliche Versuch des Geheimdienstes CIA bezeichnet, einen Erfolg des geplanten Treffens zwischen Eisenhower und Chruschtschow in Paris zu verhindern.
Mir ist nichts von dahingehenden Plänen des CIA bekannt, außer daß, wie kürzlich berichtet wurde, Aufklärungsvorrichtungen an Bord der Präsidentenmaschine installiert wurden, für den Fall, daß Eisenhowers Besuch in Moskau zustande käme. Der U-2-Aufklärungsflug war vom Präsidenten selbst genehmigt worden, der dann auch einen sehr plumpen Versuch machte, dies zu vertuschen und so die geplante Pariser Gipfelkonferenz zum Platzen brachte. | |
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Die ganze Episode war, obwohl sie etwas albern zu sein scheint und beinahe wie ein Zufall aussieht, doch sehr bezeichnend: Die Administration maß der Routineaufklärung mehr Gewicht zu als der Chance, die Beziehungen mit der UdSSR zu verbessern. So wurde diese günstige Gelegenheit vertan, obwohl sie zu bedeutenden Fortschritten hätte führen können. Weitere Gelegenheiten wurden während der ersten beiden Jahre der Kennedy-Administration versäumt, als sich diese durch ihre eigene Parole von der ‘Raketenlücke’ und durch das kubanische Abenteuer in der Schweinebucht selbst weitgehend um ihren Handlungsspielraum brachte. Es bedurfte des Schocks, den die Raketenkrise um Kuba auslöste, damit die Kennedy-Administration schließlich begann, ihre im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion eingenommene Position neu zu überdenken. Das Ergebnis war der Abschluß des Teststop-Vertrags und einige weitere positive Schritte. Dieser Prozeß wurde dann aber durch die Ermordung des Präsidenten abrupt unterbrochen. Letzten Endes gibt es keine vernünftige Alternative zur friedlichen Koexistenz. Die Außenpolitik kann es sich nicht leisten, dieses fundamentale Prinzip zu ignorieren. Jeder Rückschlag bei der Befolgung dieses kardinalen Faktums der internationalen Beziehungen kann ungeheuer teuer zu stehen kommen. Die Erfahrungen aus den sechziger Jahren sind ein deutlicher Beweis dafür. In den frühen siebziger Jahren gelang uns in unseren Beziehungen der Durchbruch, den wir ohne Erfolg während der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre gesucht hatten. Jedoch war ein ganzes Jahrzehnt verlorengegangen - ein Verlust, der sehr kostspielig war, bedeutete er doch eine ungeheure Aufrüstung. Die kubanische Raketenkrise führte die Menschheit an den Rand des Krieges.
‘Auge in Auge’, wie Dean Rusk sagte.
Ja. Dann begann der Krieg in Südostasien, der nicht nur in den Vereinigten Staaten eine nationale Krise hervorrief, sondern auch die internationale Situation für lange Zeit aus dem Lot brachte. Schließlich war noch der Sechstagekrieg im Nahen Osten im Jahr 1967. Seit 13 Jahren schon haben wir mit den Folgen dieses Konflikts zu leben. Der Nahe Osten bleibt eine Brutstätte ständiger Konflikte, und noch ist nichts in Sicht, was eine annehmbare Lösung verspricht. Es gab noch weitere kleinere Krisen. Viel davon hätten in einer Atmosphäre der allgemeinen Entspannung vermieden werden können. | |
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Aber nach den Spannungen in den sechziger Jahren verbesserte sich doch die Situation in den frühen siebziger Jahren?
Sicherlich war das der Fall. Ich möchte die Bedeutung dieser Ereignisse nicht herunterspielen. Das war tatsächlich ein Augenblick der Wahrheit für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Das ganze Gebilde der Politik, wie es in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren entworfen worden war, zeigte allmählich ernsthafte Schwächen: Es war von der Realität zu weit entfernt, allzu untauglich für die tatsächlichen Probleme, denen sich die Vereinigten Staaten und die Welt gegenübersahen. Vielen Amerikanern begann es in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren zu dämmern, daß die Außenpolitik der Vereinigten Staaten nur zu oft das Gegenteil von dem erreicht hatte, was sie eigentlich wollte.
Nach diesen Schwankungen in den beiderseitigen Beziehungen hat es 1981 tatsächlich den Anschein, als wären wir erneut in die Tage des Kalten Kriegs der fünfziger Jahre zurückversetzt.
Ja, manchmal hat man den Eindruck, als würde alles noch einmal beginnen. Nach all den traumatischen Erfahrungen, die eigentlich jedermann eine nachhaltige Lektion gewesen sein sollten, haben wir den Eindruck, daß einflußreiche Leute in den Vereinigten Staaten versuchen, die gleiche Sprache zu sprechen und das gleiche Spiel noch einmal von vorne zu spielen. Natürlich haben sich die Zeiten geändert. Ich bin sicher, daß sich die Geschichte nicht wiederholen wird und nicht wiederholen kann. Wir können es uns nicht leisten, so zu handeln, als ob wir die Erfahrungen der Vergangenheit vergessen hätten, ganz zu schweigen davon, daß wir sie nicht ignorieren dürfen.
Eugene Rostow, früherer Unterstaatssekretär im Außenministerium und früherer Dekan der Yale Law School, erklärte mir, daß Amerikas Macht in der Tat abgenommen habe, was so weit gehe, daß Präsident Eisenhower 1958 noch Marine-Korps in den Libanon schicken konnte, während Washington heute außerstande wäre, solch einen Einsatz zu wiederholen.
Daß die Vereinigten Staaten diese Möglichkeit heute nicht mehr haben, liegt nicht an einer Abnahme ihrer militärischen Stärke. Die militärische Stärke hat seit 1958 ständig zugenommen. Die tiefgreifenden Veränderungen der internationalen Situation und der Situation in Amerika selbst | |
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haben solche Unternehmungen jedoch allzu kostspielig werden lassen. Der Vietnamkrieg hat das klar und deutlich gezeigt. Heute aber sehen wir, ungeachtet der Klagen von Rostow, eine ganz andere Tendenz. Enorme Anstrengungen werden unternommen, um die Lehren des Vietnamkriegs rückgängig zu machen und militärischen Interventionismus wieder als ein Instrument der Politik der Vereinigten Staaten neu zu beleben.
Vielleicht wurden damals die Lehren daraus gezogen, aber man glaubt nun, es sei die Zeit gekommen umzudenken, weil eine ganze Reihe von neuen Ereignissen für eine Neueinschätzung spreche. Diesmal nicht notwendigerweise zur Freude der Sowjetunion.
Genau das versuchen die neuen Kalten Krieger zu beweisen, doch ihre Argumente sind außerordentlich schwach. Die neuen Gegebenheiten, der historische Trend, an den sich die Vereinigten Staaten in den siebziger Jahren anzupassen versuchten, sind weit davon entfernt, wieder zu verschwinden, sie sind sogar noch gewichtiger geworden.
Woran denken Sie dabei besonders?
Amerikas Politik des Kalten Kriegs, die jetzt wieder neu belebt wird, wurde in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren formuliert, angeblich als Erwiderung auf die behauptete ‘Bedrohung’ der amerikanischen Interessen - damals feierlich den Interessen der ‘Freien Welt’ gleichgesetzt -, die von einem einzigen Feind ausging, nämlich der Sowjetunion. Washington erklärte es zu seinem Ziel, die ‘Bedrohung’ einzudämmen, und sprach sogar vom ‘roll back’. Das Ziel sollte erreicht werden mit den Mitteln des Wettrüstens, mit Hilfe von Militärstützpunkten und Militär-Allianzen, durch Wirtschaftsblockade gegen uns sowie durch psychologische Kriegführung und andere subversive Tätigkeiten. Alle diese anmaßenden Schritte waren von Anfang an fehl am Platz, denn die ‘sowjetische Bedrohung’ war eine Täuschung. Mit der Zeit erkannten viele Leute in Amerika, daß ihre wahren Probleme sehr wenig mit der Sowjetunion zu tun hatten. Heutzutage, da sich diese Probleme vervielfacht haben, taucht erneut das alte primitive Bild von der UdSSR als Hauptquartier des Teufels und als Ursprung aller Probleme Amerikas auf. Aber lassen Sie uns für einen Augenblick davon ausgehen, daß die Vereinigten Staaten den denkbar feindseligsten Kurs gegen uns steuern würden. Würde dadurch ein weiterer Iran oder ein weiteres Nicaragua verhindert werden? Würde dadurch das Energieproblem gelöst oder der Dollar gestärkt bzw. die Infla- | |
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tion gestoppt werden? Am wichtigsten aber: Würde eine solche Politik zur Sicherheit der Vereinigten Staaten beitragen?
Von welchen ‘neuen Gegebenheiten’ sprechen Sie unter anderem?
Es ist eine unverrückbare Tatsache, daß die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten über die Sowjetunion für alle Zeiten der Vergangenheit angehört. Deshalb ist es einfach bestürzend zu sehen, daß die offizielle amerikanische Politik solche Überlegenheit erneut zu ihrem Ziel erklärt. Eine weitere Realität, die sich nachdrücklich bemerkbar machen wird, hängt mit den Konsequenzen der wissenschaftlichen und technischen Revolution im Rüstungsbereich zusammen. Die Entwicklung immer neuer Mittel zur Massenvernichtung hat viele traditionelle Auffassungen über den Haufen gestoßen und die Vorstellung, militärische Stärke für vernünftige politische Zwecke einzusetzen, tatsächlich in Frage gestellt. Daneben hat die Tatsache, daß unabhängige Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas als Teilnehmer am Weltgeschehen in Erscheinung traten, die internationalen Beziehungen wahrhaftig zu einer weltweiten Angelegenheit gemacht. In der Vergangenheit war allenfalls eine Handvoll Großmächte in diese Beziehungen verwickelt, wobei die kleinen Länder eher die Objekte denn die Subjekte der internationalen Beziehungen waren. Heute sind sie fast alle souveräne Partner, was zur Folge hat, daß die große Mehrheit der Weltbevölkerung an der Weltpolitik teilhat. Wo dieser Zustand noch nicht erreicht oder gänzlich verlorengegangen ist, dort gibt es einen fortwährenden Kampf, um ihn herzustellen. Diese Entwicklung hatte in der Vergangenheit und hat auch weiterhin starke Auswirkungen auf die amerikanische Außenpolitik, die auf eine so durchgreifende Demokratisierung nicht zugeschnitten war. Schließlich gibt es auch in den Beziehungen der Vereinigten Staaten zu ihren Verbündeten auf lange Sicht eine Veränderung. Die Verbündeten Amerikas sind wirtschaftlich viel stärker geworden und politisch weniger abhängig von Washington. Sie fordern, daß ihre Interessen berücksichtigt werden. Und einige der überseeischen Abenteuer, die die Vereinigten Staaten unternommen haben, führten zu ernsten Befürchtungen unter ihnen.
Vietnam?
Das war nur eines dieser Abenteuer, aber es hatte sehr ernste Konsequenzen. Kürzlich haben wir starke Zweifel und Widerstreben unter den | |
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Verbündeten bei der Unterstützung der amerikanischen Politik, zum Beispiel gegenüber dem Iran, erlebt.
Henry Kissinger betont jedoch, daß kein westdeutscher Staatsmann es sich leisten könnte, eine Politik zu betreiben, die Washington scharf mißbilligen würde.Ga naar eind13
Ich würde darüber mit Kissinger nicht streiten wollen. Tatsächlich erfreuen sich die USA innerhalb der Nato einer Art Vormachtstellung. Aber hat nicht der gleiche Kissinger in den gleichen Memoiren beschrieben, wie behutsam sich Washington gegenüber Willy Brandts Ostpolitik verhalten mußte, obwohl die Amerikaner diese Politik nicht gerade schätzten? Natürlich haben sich Amerikas Beziehungen zu seinen Verbündeten gravierend verandert. Während die Amerikaner früher einfach befehlen konnten, müssen sie jetzt zu Mitteln der Politik und Diplomatie greifen.
Ohne Zweifel fiel in die Amtszeit Richard Nixons und Henry Kissingers mancher Rückschlag, was die Beziehungen mit anderen westlichen Staaten angeht.
Ja, und als Carter sich um die Präsidentschaft bewarb, machten er und sein Team es zu einem zentralen Wahlkampfthema, daß die Republikaner bei den West-West-Beziehungen versagt hätten. Es stellte sich aber heraus, daß auch die Carter-Administration in dieser Hinsicht ebenfalls nicht sehr erfolgreich war. Die Carter-Administration setzte die Verbündeten in noch größerem Maß unter Druck als ihre Vorgänger. Dies zeigte sich z. B. 1979 während der Nato-Beschlußfassung zu den Pershing 2-Raketen und den Marschflugkörpern in aller Deutlichkeit. Das wurde sogar noch deutlicher, nachdem Washington seine neue politische Marschrichtung gegenüber Moskau eingeschlagen hatte. Die Verbündeten waren keineswegs darauf versessen, Carter in einen zweiten Kalten Krieg zu folgen. Sie legten zwar Lippenbekenntnisse ab, um Washington zufriedenzustellen, doch ließen sie im allgemeinen nur widerstrebend praktische Maßnahmen folgen. Es gibt viele Anzeichen dafür, daß das Vertrauen der Verbündeten in die Vereinigten Staaten geschwunden ist. Die Carter-Aministration hat zu dieser Situation erheblich beigetragen. Gewiß, es handelt sich immer noch um eine ungleiche Beziehung. Falls die Vereinigten Staaten dies wirklich wollen oder für erforderlich halten, können sie die Verbündeten wahrscheinlich zum Gehorsam zwingen. Darin hat Kissinger recht, obwohl dergleichen Ver- | |
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suche in Zukunft für die USA und die Allianz als Ganzes immer kostspieliger werden dürften.
Faßt man Ihre Analysen zusammen, so gehört zu den Entwicklungen, an die die Vereinigten Staaten sich anzupassen versucht haben, der Verlust der militärischen Überlegenheit, die neue Rolle der Dritten Welt und Veränderungen in den West-West-Beziehungen.
Ich würde noch eine weitere Entwicklung hinzufügen: die Veränderungen, die in Amerika selbst stattfanden. Vom Beginn der vierziger bis zur Mitte der sechziger Jahre hatte von allen öffentlichen Angelegenheiten unbestritten die Außenpolitik den Vorrang. Das war in gewisser Hinsicht logisch, denn mit Beginn dieser Periode hatte auch die Rolle Amerikas in der Welt eine neue Qualität und ein neues Ausmaß erlangt. Nach der Politik des ‘New Deal’ und nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte der Prozeß des Aufbaus und Unterhalts dieses Weltreichs weitgehend den Kontext der amerikanischen Politk. Dieser Drang nach außen hatte vorübergehend eine beruhigende Wirkung auf die inneramerikanische Lage. Aber nicht für lange Zeit. Anstatt Amerika zu stabilisieren, wurde der Kreuzzug des Kalten Krieges ab einem gewissen Zeitpunkt zum Katalysator für eine große innere Krise. Die Probleme im eigenen Land erforderten schnelle, ungeteilte Aufmerksamkeit und verlangten eine Neuverteilung der Ressourcen, ein Abrücken von weltweiten Verpflichtungen und eine vernünftigere Außenpolitik. Die inneren Krisen in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren bestimmten maßgeblich den Hintergrund für die Neuüberlegungen zur Außenpolitik. Es kam zu keinem tatsächlichen Konsens in Form eines konkreten, politischen Rezepts, doch die generelle Richtung dieses Denkens war unmißverständlich. Die amerikanische Politik mußte sich wandeln.
Und Nixon fing an, sie zu verändern. Aber wollen Sie damit sagen, daß es keine große Rolle spielte, ob 1969 ein Republikaner oder ein Demokrat ins Weiße Haus einzog, nachdem eine Anpassung an die neuen Gegebenheiten ohnehin unvermeidlich war?
Nun, jeder President hätte auf die eine oder andere Weise diese Anpassung versuchen müssen. Ich stimme mit der Auffassung überein, daß es in politischer Hinsicht keine große Rolle spielt, ob der Präsident der Vereinigten Staaten ein Republikaner oder ein Demokrat ist, obgleich einige selbstkritische Demokraten, wie z. B. John K. Galbraith, glauben, daß die Republikaner einen besseren Ruf haben, was ihr Geschick im | |
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Umgang mit der Sowjetunion anbelangt. Es sieht so aus, als gäbe es manchmal unter den Republikanem bzw. unter den Demokraten größere politische Differenzen als zwischen den beiden Parteien selbst. Die generellen Wechselbeziehungen der politischen Kräfte sind sehr wichtig, und diese Wechselbeziehungen waren damals der Entspannung förderlich. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß man die Persönlichkeit dessen nicht in Betracht ziehen muß, der an der Spitze der Regierung steht, vor allem kann man nicht die individuellen Besonderheiten des Präsidenten außer acht lassen: seine politischen Ansichten, seine Wertordnung, psychologische Aspekte seiner moralischen Haltung, sogar sein Temperament. Alle diese Dinge können oftmals wichtiger als seine Parteizugehörigkeit sein, vor allem heutzutage, da die traditionellen Unterschiede zwischen den Parteien verwischt sind.
Messen denn Marxisten der Persönlichkeit überhaupt besondere Bedeutung bei?
Aber gewiß. Nach marxistischer Auffassung wird der Lauf der Geschichte grundsätzlich und auf lange Sicht von objektiven Faktoren und Bedingungen, z. B. wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art, usw., bestimmt. Wird jedoch bei den tagtäglichen Entscheidungen auf höchster staatlicher Ebene innerhalb des weiten, objektiv gegebenen Rahmens der eine oder andere Weg gewählt, so kann die Persönlichkeit dessen, der die Politik macht, eine bedeutende, manchmal sogar entscheidende Rolle spielen. Ich kann mir Situationen vorstellen, wo diese Faktoren über Krieg oder Frieden entscheiden können.
Hat es Sie überrascht, daß ausgerechnet Richard Nixon, dessen gesamte politische Karriere sich auf den Antikommunismus gründete, als Präsident die Politik der Entspannung betrieb?
Ohne versuchen zu wollen, mir und meinen Mitarbeitern in Moskau mehr Weitblick zu attestieren als wir haben, würde ich sagen, daß wir es in gewisser Weise erwarteten. Lassen Sie mich daran erinnern, daß wir unsere Arbeit an diesem Institut gerade erst begonnen hatten, als sich Nixon 1968 um die Präsidentschaft bewarb. Ich erinnere mich an die ersten Artikel und analytischen Arbeitern, die Mitarbeiter des Instituts erstellten. Es herrschte unter unseren Wissenschaftlern die einhellige Meinung - die auch von Spezialisten der Regierung geteilt wurde -, daß bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen bedeutsame Veränderungen bevorstanden, einerlei, wer in Washington an die Macht käme. | |
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Wie waren Sie zu diesen Schlußfolgerungen gelangt?
Nun, wir haben die wichtigsten objektiven Faktoren, auf die ich schon hingewiesen habe, analysiert, d.h., die Veränderungen sowohl der internationalen wie auch der inneramerikanischen Situation. Unter den sich deutlicher abzeichnenden Entwicklungen schien uns die Art, in der sich die Politik der Republikaner in den Jahren 1967-1968 entfaltet hatte, weiterreichende Schlüsse zu erlauben. Hier handelte es sich um eine Partei, die in den frühen sechziger Jahren durch ihren scharfen Rechtsruck die Kulisse für Lyndon B. Johnsons Politik einer Eskalation des Vietnamkriegs geschaffen und dieser Politik den Weg bereitet hatte. Als jedoch klar geworden war, daß der Krieg nicht gewonnen werden konnte, begannen viele Republikaner - unter ihnen Nixon, der eigentliche Erbe der Goldwater-Bewegung -, nach Alternativen Ausschau zu halten. Was die praktische Politik betraf, so erkannten sie allmählich, daß der Ausweg aus der Krise in einer Neugestaltung des umfassenden Kontexts der Ost-West-Beziehungen lag, in dem Versuch also, diesen Kontext mit der Sowjetunion auszuhandeln. Dieser Umschwung im Denken der Republikaner war ein Anzeichen dafür, daß in der Machtelite der Vereinigten Staaten ein breiter Konsens im Entstehen war, der einen wichtigen Kurswechsel begünstigte. Was die Attraktivität der Politik für den Wähler betraf, so war sich die GOPGa naar eind14 sehr wohl darüber im klaren, daß sie nur als ‘Partei des Friedens’ darauf hoffen konnte, die Macht wiederzugewinnen.
Dennoch bleibt es sonderbar, daß der Beginn der Entspannung, der erste Besuch eines amerikanischen Präsidenten in der UdSSR, das erste SALT-Abkommen und ähnliche Entwicklungen mit Nixons Namen verbunden sind.
Der Versuch abzuschätzen, was die Persönlichkeit eines einzelnen nun genau zu einem gegebenen historischen Ereignis beigetragen hat, ist eine der schwierigsten Aufgaben für einen Historiker. Es blieb Nixon und Kissinger vorbehalten, die Regierung der Vereinigten Staaten zu führen, als es zu ersten Fortschritten auf dem Kurs der Entspannung kam. Wir erkennen ihre Verdienste an. Natürlich gab es in Amerika eine ganze Flut von Kommentaren dazu, wie paradox es doch war, daß kein anderer als Richard Nixon, der Kommunistenfresser und Hexenjäger, der den McCarthyismus bereits praktizierte, bevor McCarthy selbst in Erscheinung trat, daß ausgerechnet dieser Nixon in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion den Umschwung einleitete, der von der Konfrontation | |
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zu einer Politik der Verhandlungen führte. In gewisser Weise hat Nixons Ruf den Umschwung zur Entspannung ohne Zweifel erleichtert, denn kein vernünftiger Mensch konnte je den Verdacht hegen, ‘Dick Nixon’, der Scharfmacher im Alger-Hiss-FallGa naar eind15 und der ‘kitchen debater’Ga naar eind16 1959 in Moskau, würde den Ausverkauf Amerikas betreiben. Hubert Humphrey wäre möglicherweise nicht in der Lage gewesen, die Konservativen so erfolgreich zu beschwichtigen, wäre er 1968 gewählt worden. Das heißt aber nicht, daß es einen ‘neuen Nixon’ gegeben hat. Davon sind wir nie ausgegangen. Nixon blieb derselbe, es ist die Situation, die sich gewandelt hatte. Ich glaube, Nixon war immer in erster Linie und in jeder Hinsicht auf politischen Erfolg aus: Er wollte gewählt und wiedergewählt werden und einen hervorragenden Platz in der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts einnehmen. Während der späten vierziger und während der fünfziger Jahre sah Nixon den Weg zum Erfolg in fanatischem Antikommunismus und Antisowjetismus. In den späten sechziger und in den frühen siebziger Jahren war er dagegen Realist genug, um zu erkennen, daß ein neues Vorgehen angezeigt war, wollte er je ins Weiße Haus gelangen. Dieses Mal ging es um ‘Verhandlungen statt Konfrontation’, ‘eine Generation des Friedens’ und Entspannung mit der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern.
Nixon war clever genug zu erkennen, daß er eine andere Gangart einlegen mußte. Kam er erfolgreicher als seine Nachfolger mit den großen Veränderungen auf dem internationalen Schachbrett zurecht?
Geht man von den Ergebnissen aus, dann war er ganz gewiß erfolgreicher, und sei es auch nur, weil ihn die politische Situation in den USA sehr stark in diese Richtung drängte. Doch auch dann verlief der Prozeß der Anpassung noch keineswegs reibungslos, und die Hinnahme der neuen Grenzen amerikanischer Macht fiel alles andere als leicht. Nicht selten hat man sich halsstarrig widersetzt, ein falsches Spiel getrieben und versucht, Zeit zu gewinnen. Nixon kam aufgrund seines Versprechens, den Krieg in Vietnam zu beenden, an die Macht, verlängerte diesen Krieg aber um weitere fünf Jahre und weitete ihn durch die Invasion in Kambodscha sogar noch aus. Es bedurfte der Opfer vieler Vietnamesen, Kambodschaner und Amerikaner und zahlreicher Unruhen in der amerikanischen Gesellschaft, um Nixon zur Erfüllung seines Versprechens zu zwingen. Allgemein gesprochen, folgte Nixons Politik gegenüber dem größten Teil der Dritten Welt dem Grundmuster des Kalten Krieges. Lateinamerika und vor allem Chile sind deutliche Beispiele dafür. | |
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Der Iran ist ein weiterer anschaulicher Fall.
Natürlich, die aktive Einmischung Amerikas in die Angelegenheiten des Iran begann bereits 1953, als der CIA mithalf, die verfassungsgemäße Regierung des Premiers Mossadegh zu stürzen. Es fiel aber genau in die Zeit Nixons und Kissingers, daß die USA daraningen, durch ungeheure Waffenverkäufe und mit anderen Mitteln den Iran in ein Bollwerk der amerikanischen Macht im Nahen Osten zu verwandeln. Damit legten die Vereinigten Staaten buchstäblich eine Zeitbombe unter ihre eigenen Stellungen in diesem Teil der Welt, die früher oder später losgehen mußte. Die Revolution im Iran war das unvermeidliche Ergebnis des Machtmißbrauchs, den die Vereinigten Staaten jahrelang nach gewohnten Muster im Iran und ganz allgemein im Nahen Osten betrieben haben. Das Erstaunliche ist, daß das Scheitern der Politik des Kalten Krieges im Iran nun als Vorwand dafür dient, um die gleiche, bankrotte Politik aufs neue zu beleben. Geht man die frühen siebziger Jahre zurück, so gab es damals in der amerikanischen Außenpolitik viele Anzeichen dafür, daß man des Kalten Krieges müde war. Es gab aber auch in der amerikanischen Einschätzung der Weltlage einen wichtigen Umschwung, und allmählich auch in der praktischen Politik.
Und Vietnam spielte die entscheidende Rolle, als es zu diesem Umschwung kam.
Das Scheitern der Amerikaner in Vietnam spielte eine sehr ernstzunehmende Rolle. Der Prozeß war aber nach meiner Meinung komplizierter und langwieriger. Anzeichen für eine neue globale Situation, die auch das Ende der amerikanischen Überlegenheit zur Folge hatte, sowie die Notwendigkeit, sich mit den neuen Gegebenheiten zu arrangieren, gab es schon lange vor dem Vietnamfiasko in großer Zahl. Nehmen wir als Beispiel die Kubakrise im Jahre 1962. Obwohl damals kein strategisches Gleichgewicht zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion bestand, zeigte die Krise ganz klar, daß die Vereinigten Staaten nicht einfach ihre Bedingungen diktieren und tun konnten, was immer sie wollten. Die Situation in Europa entwickelte sich ebenfalls in einer Weise, die von den Amerikanern größere Zurückhaltung und Flexibilität verlangte. Wäre die Politik der Vereinigten Staaten nicht so vielen Traditionen und Vorurteilen verpflichtet gewesen und - am wichtigsten - nicht jenen mächtigen Interessen, die Amerika so oft davon abgehalten haben, die Realität zu erkennen, so hätte eine Neueinschätzung vor dem Vietnamkrieg stattfinden und dieser dadurch vermieden werden können. | |
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Leider bedurfte es jedoch der Tragödie Vietnams, um sowohl der Öffentlichkeit wie auch den maßgeblichen Politikern gewisse Wahrheiten unübersehbar deutlich zu machen.
Wer wird aus sowjetischer Sicht für den eindrucksvollsten amerikanischen Präsidenten des letzten halben Jahrhunderts gehalten?
Ich würde sagen, Franklin D. Roosevelt.
Weil er die Sowjetunion diplomatisch anerkannte und ihr Verbündeter in der antifaschistischen Koalition während des Zweiten Weltkriegs wurde?
Das sind natürlich einige der Gründe. Jedes Land, wie auch jedes menschliche Wesen, pflegt andere danach zu beurteilen, wie es von ihnen behandelt wird. Das mag besonders in diesem speziellen Fall zutreffen, handelt es sich doch dabei um die Haltung gegenüber der Sowjetunion und ihren Menschen während der schwierigsten Zeit ihrer Geschichte. Daß Roosevelt nach unserem Dafürhalten der überragende Präsident der letzten Jahrzehnte ist, läßt sich dennoch nicht allein mit dem Einfluß begründen, den er auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen hatte - Beziehungen, die während seiner Präsidentschaft ihren Höhepunkt erreichten. In unserem Land wurde eine ganze Menge über diese Periode der amerikanischen Geschichte geschrieben, einschließlich einer Anzahl von Büchern über Roosevelt persönlich. Viele Menschen hier sind mit seinem Leben und seinem Wirken wohlvertraut. Ich glaube, er wird auch wegen seiner Politik des New Deal hochgeschätzt, da sie die im Gefolge der Weltwirtschaftskrise entstandene Not des amerikanischen Volkes spürbar linderte. Und selbstverständlich genießt er wegen seiner generellen, konsequent antifaschistischen Politik während des Zweiten Weltkriegs hohes Ansehen.
Aber falls Roosevelt etwas länger gelebt hätte, so würde der Kalte Krieg während seiner Amtszeit begonnen haben, und er würde in der Sowjetunion vielleicht anders beurteilt werden. Die sowjetische Haltung Winston Churchill gegenüber änderte sich nach 1945.
Churchill wurde während des ganzen Zweiten Weltkriegs anders eingeschätzt als Roosevelt. Er hatte eine lange antisowjetische Vergangenheit hinter sich. Roosevelt dagegen stand bei uns immer in sehr viel höherem Ansehen. Und ich bin mir keineswegs sicher, daß sich die Situation - hätte Roosevelt länger gelebt - genau so entwickelt hätte, wie es der Fall war. | |
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Ohne Zweifel mußten sich unsere Beziehungen nach dem Sieg, als unser gemeinsamer Feind vernichtet war, ändern. Viele Schwierigkeiten, Widersprüche und Spannungen waren unvermeidbar angesichts unserer abweichenden Ansichten über die Neuordnung der Welt nach dem Krieg und angesichts unterschiedlicher Haltungen gegenüber dem Prozeß revolutionärer Veränderungen, der durch die Zerschlagung des Faschismus unterstützt wurde. Dennoch glaube ich persönlich, daß der Kalte Krieg vermeidbar war. Und falls es einen westlichen Staatsmann gegeben hat, der in der Lage gewesen wäre, zu einer solchen Entwicklung der Ereignisse beizutragen, dann war das Franklin D. Roosevelt. Das ist jedoch nur eine Vermutung, die nie überprüft werden kann. Die Geschichte läßt keine Wenn und Aber gelten.
Wie beurteilen Sie Harry S. Truman?
Ich würde sagen, er gilt hier als einer der schlimmsten Nachkriegspräsidenten Amerikas, was verständlich ist, wenn man an den scharfen Kurswechsel denkt, der unter seiner Präsidentschaft in der Politik der Vereinigten Staaten vollzogen wurde.
Carter hatte auf seinem Schreibtisch im Weißen Haus den gleichen Spruch stehen wie Truman: ‘Hier kann man sich vor der Verantwortung nicht drücken.’ Manche Amerikaner halten Harry für einen der Größten.
Ich hatte bei meinem ersten Besuch in den Vereinigten Staaten im Jahre 1969 den gleichen Eindruck. Das hat mich dann etwas verwirrt. Zuerst war ich geneigt zu glauben, der amerikanische Slogan ‘Gib's ihnen, Harry’ sei populär, weil er die übliche amerikanische Arroganz ausdrücke. Aber dann gelangte ich zu der Auffassung, daß diese Haltung gegenüber Truman aus der Nostalgie heraus entstanden sein könnte, die die Amerikaner mit jenen einzigartigen frühen Nachkriegsjahren verbanden. Alles schien den Amerikanern in jenen Tagen so einfach und klar, so dauerhaft und erreichbar zu sein. Nur wenige ahnten, daß eine solche Situation nur aufgrund vorübergehender und außergewöhnlicher Umstände entstanden war.
Wer ist in der Sowjetunion der zweitpopulärste amerikanische Präsident?
Ich würde sagen, John F. Kennedy. | |
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Trotz der Operation Schweinebucht und der Raketenkrise?
Ja, und sogar trotz einer weiteren wahnsinnigen Runde im Wettrüsten, die unter dem falschen Vorwand einer ‘Raketenlücke’ in Gang gesetzt wurde. Ja, diese schweren Fehler wurden alle begangen, aber Kennedy war Staatsmann genug, um, angeregt durch die Krise in den Jahren 1961-1963, zu erkennen, daß die Konfrontation in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen Verhandlungen zu weichen hatte. Daher die bemerkenswerte Rede, gehalten an der American University, in der zum ersten Mal seit vielen Jahren eine neue Einstellung zur Weltpolitik und zu den Beziehungen zur Sowjetunion postuliert wurde.Ga naar eind17 Das war im wesentlichen das Konzept, das fast ein Jahrzehnt später allgemein Entspannung genannt wurde. Auf diese historische Rede folgte 1963 der Teststopvertrag, der erste bedeutende Schritt auf dem Weg zu einer Rüstungskontrolle. Es handelt sich hier zwar um eine weitere Hypothese, aber viele Leute in der UdSSR sind überzeugt, daß durch die Ermordung Kennedys ein größerer positiver Umschwung in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen verhindert wurde. Das war, wie bereits erwähnt, nicht die einzige verpaßte Gelegenheit in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen. Auch heute noch glaube ich, wir hätten unter Dwight D. Eisenhower viel mehr erreichen können. Manchmal frage ich mich, ob man damit diesem Präsidenten gerecht wird, zumindest was seine Außenpolitik anbelangt. Natürlich stand er während des größten Teils seiner Präsidentschaft im unheilvollen Schatten von John Foster Dulles, dem antikommunistischen Kreuzzügler Nummer eins und großen Moralprediger, der es zugleich schätzte und verstand, einen politischen Kurs am Rande des Abgrunds zu steuern. Ein Teil der Verantwortung dafür, daß die Anstrengungen, die internationale Situation zu verbessern, wieder zunichte wurden, liegt bei Eisenhower selbst, einschließlich der Verantwortung für das zu ungelegener Zeit unternommene U-2-Abenteuer. Nichtsdestoweniger wurden während seiner Amtszeit und unter seiner Mitwirkung die ersten Versuche unternommen, das Eis des Kalten Krieges zu brechen. Es ist sehr bemerkenswert, daß der Berufssoldat Eisenhower, dessen ganzes Leben dem Militär gewidmet war, der erste und bis jetzt einzige Staatsmann der Vereinigten Staaten war, der das Land vor den Gefahren des Militarismus warnte. Tatsächlich wurde sein politisches Testament zu einer Warnung an die Nation vor dem militärisch-industriellen Komplex.
Glauben Sie, daß das, was schließlich als Entspannung bezeichnet wurde, | |
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schon in den letzten Jahren der zweiten Amtszeit Eisenhowers hätte beginnen können?
Hier stehen wir vor einer weiteren, letztlich nicht klärbaren, hypothetischen Frage zu einer historischen Situation. Aber die von Ihnen angedeutete Möglichkeit erscheint mir durchaus plausibel. Und wenn es dazu gekommen wäre, hätten die sechziger Jahre ganz anders ausgesehen.
Präsident Nixon muß von den Russen hoch geschätzt werden.
Ja, fand doch zu Nixons Zeit und unter seiner persönlichen Mitwirkung ein Umschwung von der Konfrontation zu Verhandlungen, vom Kalten Krieg zur sogenannten Entspannung statt. Aber es ist möglicherweise noch verfrüht, ein endgültiges Urteil über Nixon zu fällen, da der Ruf eines Politikers oft weniger auf den eigenen Leistungen beruht, als vielmehr auf dem Vergleich dieser Leistungen mit denen seiner Nachfolger. Ein Nachfolger könnte sich als so erbärmlich erweisen, daß sogar ein mittelmäßiger Politker zu einer eindrucksvollen historischen Gestalt wird. Und umgekehrt: Ein recht erstklassiger Staatsmann kann von einem Nachfolger mit noch größeren Leistungen in den Schatten gestellt werden.
Die zuletzt genannte Möglichkeit gefährdet Nixons Rang bislang wohl nicht?
Falls Sie dabei an Carter denken, so haben Sie recht. Und es ist noch viel zu früh, über Reagan zu sprechen. Aber lassen Sie uns wieder zu Nixon zurückkehren. Wissen Sie, Nixon ist für mich immer noch ein Rätsel. Aufgrund persönlicher Erfahrung im Umgang mit Politikern und Personen des öffentlichen Lebens in Amerika habe ich den Eindruck gewonnen, daß diese, sobald sie aus ihren öffentlichen Ämtern ausscheiden, dazu neigen, weiser, ausgeglichener, vorausschauender und staatsmännischer zu werden, oder wenigstens diesen Eindruck erwecken. Vielleicht lassen die Regierungsämter den natürlichen Fähigkeiten der Leute nur einen sehr begrenzten Spielraum. Nixon und viele der führenden Mitarbeiter aus seinem ehemaligen Stab liefern jedoch ein Beispiel für die Ausnahme von dieser Regel. In ihrem Fall erleben wir das Gegenteil. Soweit dies Nixon betrifft, glaube ich, daß es sich um mehr handelt als nur um das psychologische Trauma, das Watergate und der erzwungene Rücktritt hinterließen. In Nixons Amtszeit als Präsident fiel ein historischer Augenblick, der eine starke, zwingende Logik für sich hatte. Diese Logik bewirkte, daß er einige wichtige und realistische Entscheidungen | |
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traf. Mit anderen Worten, es könnte gut sein, daß die Geschichte Nixon über sich selbst und über seine Vergangenheit hinauswachsen ließ. Später aber, nach seinem Abschied vom Weißen Haus, löste er sich von der geschichtlichen Rolle und nahm wieder seine ursprünglichen Dimensionen an - intellektuell, politisch und persönlich. Die Entspannung ist der Höhepunkt seiner politischen Laufbahn gewesen, aber jetzt hat er damit begonnen, sie lächerlich zu machen, so als versuche er, sich für das zu entschuldigen, was er getan hat. Manchmal scheint er sogar seine eigene Vergangenheit revidieren zu wollen, um sich für irgendwelche politischen Aufgaben in der Zukunft zu empfehlen.
Sie glauben nicht, daß Nixon als ein großer Präsident in die Geschichte eingehen wird?
Die Geschichte spielt manchmal sehr seltsame Streiche, was den Ruf von Politikern anbelangt. Lassen wir deshalb diese Art von Spekulationen beiseite. Aber es wäre fair, denke ich, wenn die Geschichte festhalten würde, daß er sein Land durch eine sehr schwere Zeit geführt und einen ziemlich bedeutenden Beitrag dazu geleistet hat, die Rolle Amerikas in der Welt neu und realistischer zu definieren. Ich spreche selbstverständlich nur von der Außenpolitk, obgleich Nixons Vergangenheit sogar in diesem Bereich widersprüchlich ist. Was Nixons Innenpolitik betrifft, so ist das eine ganz andere Geschichte, die ihre Krönung durch Watergate erfuhr, wobei jedoch der Trend zu einer imperialen Präsidentschaft nicht erst mit Nixon begann, sondern in der amerikanischen Geschichte eine lange Tradition hat.
Nixon bereiste im Frühjahr 1980 Europa, um für sein neuestes Meisterwerk mit dem Titel ‘The Real War’Ga naar eind18 zu werben. Darin stellt er z. B. fest, daß sich während seiner ganzen Amtszeit Amerika ‘im Krieg mit der Sowjetunion’ befand.
Wo ist diese ‘Generation des Friedens’, von der er nach dem Gipfeltreffen 1972 in Moskau sprach, geblieben? Er war so stolz auf das von ihm Erreichte, daß er sogar von Kissinger wegen seiner ‘Euphorie’ kritisiert wurde. All das ist nur ein weiterer deutlicher Ausdruck dessen, was wir vorher besprochen haben. Ich erinnere mich an den Nixon des Jahres 1974, während seines letzten Gipfeltreffens mit unserer Führung, als er bei jeder Gelegenheit öffentlich seine freundliche Haltung der UdSSR gegenüber und seine persönliche ‘Freundschaft’ mit unserem Generalsekretär betonte. | |
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Bis zu einem gewissen Grad bedauere ich die Erklärungen, die er jetzt von sich gibt. Auf eine Weise tut er mir nämlich leid, weil er die eine große Leistung seines Lebens - den Übergang zur Entspannung - jetzt selbst untergräbt, herabsetzt und sie kleiner erscheinen läßt, als sie in Wirklichkeit ist. Was sonst noch von seinen politischen Leistungen wird in der Geschichte bleiben? Seine Alger-Hiss-Affäre? Oder die Checkers-Rede?Ga naar eind19
Im Mai 1980 erklärte Nixon in Westdeutschland, daß Afghanistan nichts anderes als eine Phase des Dritten Weltkriegs sei.
Ich frage mich, wie Leute, die einst so hohe Ämter in ihrer Gesellschaft ausübten, so leichtfertig mit Worten um sich werfen. Wenn man jede Entwicklung auf intemationaler Ebene, die man mißbilligt, gleich als Beginn des Dritten Weltkriegs bezeichnet, verliert man mit der Zeit jeglichen Realitätssinn, obwohl es eine unabdingbare Voraussetzung für eine vernünftige Außenpolitik bleibt, die Welt so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist.
Wie beurteilt man in der Sowjetunion die Rolle von Präsident Ford?
Wir anerkennen Präsident Fords ernstzunehmende politische Leistung, die 1974 in Wladiwostok erzielte Übereinkunft über SALT II. Sobald ihn jedoch die Rechte unter Druck setzte, begann er wieder auf eine Politik der harten Linie zurückzugreifen. Ich denke dabei an Maßnahmen wie etwa das Einfrieren der SALT-Gespräche, die Annahme von Programmen zur Aufrüstung und sogar den Versuch, das Wort Entspannung aus dem Englischen zu verbannen. Später, nachdem er die Wahl verloren hatte, soll er der Ansicht gewesen sein, daß die Panikmache, die angesichts des Drucks vom rechten Flügel erfolgte, ein Fehler und möglicherweise einer der Gründe für seine Niederlage war. Leider muß man sagen, daß Fords Verhalten zur Wahlzeit keine Ausnahme in der politischen Praxis in Amerika darstellte.
Wie würden Sie die Auswirkungen der Carter-Administration auf die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen bewerten?
Im Hinblick auf das, was sich bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen von 1979 bis 1980 abgespielt hat, ist man versucht, ausschließlich in dieser Regierung die alleinige Quelle alien Verdrusses auf diesem Gebiet zu sehen. Aber je öfter man heutzutage Nixon, Kissinger oder Ford hört, desto leichter ist es, dieser Versuchung zu widerstehen. Und | |
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ich möchte fair sein. Die negativen Tendenzen in unseren Beziehungen nahmen lange vor Carter ihren Anfang. Erste Angriffe auf die Entspannung waren bereits 1972 zu beobachten. Später, in den letzten Monaten der Regierungszeit Nixons, schränkte das Pentagon die diplomatische Handlungsfreiheit des Präsidenten sehr stark ein, mit dem Ergebnis, daß er 1974, was SALT II anbelangt, nur mit sehr wenigen substantiellen Verhandlungsvorschlägen nach Moskau kam. Ende des Jahres 1974 brachte der Kongreß das sowjetisch-amerikanische Handelsabkommen zum Scheitern. Später verhärtete Präsident Ford die amerikanische Verhandlungsposition bei den SALT-Gesprächen und leitete ein wichtiges Aufrüstungsprogramm ein. Weit davon entfernt, den Trend umzukehren, hat Carter dem sogar noch kräftig nachgeholfen. Aber am Anfang der Präsidentschaft Carters gingen die Entwicklungen noch nicht so ausschließlich in eine Richtung.
Welche Haltung nahm man in der UdSSR anfangs zu Carter ein?
Da Carter praktisch in seinem eigenen Land unbekannt war, was wollte man da von uns erwarten? Wir hatten natürlich einige Informationen über ihn und, wie in solchen Fällen üblich, gab es einige Dinge, die zur Besorgnis Anlaß geben konnten, genauso wie andere Dinge als hoffnungsvolle Anzeichen interpretiert werden konnten. Nachdem Carter Präsident wurde, hielt es die sowjetische Regierung für angebracht, unmißverständlich klarzustellen, daß sie weiterhin bereit war, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu verbessern und in Bereichen von gemeinsamem Interesse zusammenzuarbeiten. Aber unsere Haltung wurde nicht erwidert. Wiederum möchte ich die Situation nicht vereinfachen. Es gab damals heftige Auseinandersetzungen innerhalb der amerikanischen Machtelite um die Außenpolitik. Carter gab den Falken zu einigen Hoffnungen Anlaß, aber bei ihrem Antritt war die Administration in ihrer Gesamtheit nicht von vornherein darauf festgelegt, die Rüstungsbegrenzung und die Entspannung zu zerstören. Daraufhin begann die Rechte, Carter als liberal hinzustellen und neue Gruppierungen zu schaffen, um Druck auf die Administration auszuüben, wodurch versucht werden sollte, jeden positiven Schritt bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu blockieren und gleichzeitig für Carter Anreize zu schaffen, nach rechts zu rücken. Das ‘Committee on the Present Danger’ wurde fast wie ein Schattenkabinett aufgebaut, ausgestattet mit der starken Rückendekkung der Elite, mit engen Verbindungen zu den Machtzentren und einer insgesamt ‘achtbaren’ Fassade. Die älteren Gruppierungen der Falken wurden aktiver. | |
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Was, glauben Sie, hat Carter bewogen, diesem Druck nachzugeben?
Wenn sich die Carter-Administration einhellig der Entspannung verschrieben hätte, hätte sie solchem Druck widerstehen können und eine konstruktive Führungsfunktion sowohl im Kongreß wie auch auf dem Gebiet der öffentlichen Meinung erfüllen können. Aber das Problem war erstens, daß sowohl bei diesen wie auch bei anderen Problemen Carter selbst weder eine eindeutige Position hatte, noch eine Richtung deutlich zutage trat. Zweitens, das Lager der Entspannungsgegner hatte ziemlich namhafte Vertreter innerhalb der Administration, wie Zbigniew Brzezinski und James Schlesinger. Drittens hat Carter seine Fähigkeit, einen breiten Konsens herbeiführen zu können, der alle Gruppen zufriedengestellt hätte, überschätzt. Das Ergebnis war, daß Carters außenpolitischer Ansatz anfänglich durch Versuche gekennzeichnet war, in seine Politik wichtige Elemente beider Positionen, also der Verfechter wie der Gegner der Entspannung, einzubeziehen. Diese Ambivalenz hat nicht nur den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen geschadet, sondern auch den gerechtfertigten Eindruck erweckt, Carter habe tatsächlich keine zusammenhängende Außenpolitik. Hat man erst einmal einen solchen Eindruck erweckt, so darf man sich nicht wundern, warum man für sein Vorgehen keine Unterstützung finden kann.
Sie erwähnten, Carter habe Signale der Sowjets erhalten.
Noch vor der Amtseinführung nahm Carter Kontakte mit der sowjetischen Regierung auf. Offenbar hatte man ihn glauben gemacht, wir würden versuchen, ihn in der Zeit zwischen seiner Wahl und der Amtseinführung bzw. in den ersten Wochen seiner Präsidentschaft zu testen. Er schien sehr besorgt zu sein, und man konnte merken, daß er eine Menge schlimmer Dinge über uns gehört hatte. Nun, er erhielt von uns sehr positive Antworten, z. B., daß er unbesorgt sein könne, daß wir nicht die Absicht hätten, den neuen Präsidenten zu testen, und daß wir bereit seien, auf eine Verbesserung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten hinzuarbeiten. Tatsächlich hat die Sowjetunion auch darauf geachtet, während des Übergangs von einer Administration zur anderen auf dem wichtigen Gebiet der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen keinerlei Schwierigkeiten zu schaffen.
Dann kam Leonid Breschnews Rede in Tula, im Januar 1977, am Vorabend der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten.
Ja, der Generalsekretär sprach von den enormen Anstrengungen, die | |
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unternommen worden waren, um die Entspannung Wirklichkeit werden zu lassen, von der Notwendigkeit, das Kapital, das auf dem Gebiet der Entspannung angesammelt worden war, nicht zu vergeuden. Er sagte, ‘wir sind bereit, zusammen mit der neuen US-Administration einen neuen großen Schritt vorwärts in den Beziehungen zwischen unseren Ländern zu tun’. Er rief zu einer raschen Übereinkunft über den SALT II-Vertrag auf, der schnellstens Gespräche über SALT III folgen sollten, zu neuen Maßnahmen gegen die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen und zur Einigung bei den Wiener Gesprächen über die beiderseitige Abrüstung und Truppenreduzierung in Mitteleuropa. Er stellte einige wichtige Punkte im Zusammenhang mit der sowjetischen Militärdoktrin und mit militärischen Konzepten klar, die in den USA zum Gegenstand heißer Diskussionen geworden waren. Die sowjetische Regierung sagte, daß der Weg zu besseren Beziehungen offenstehe, daß wir bereit seien, die Entspannung fortzusetzen. Aber die Erwiderung aus Washington, die ein paar Wochen später erfolgte, war ganz anderer Natur.
Sie denken an die Menschenrechtskampagne. Aber Schutte wie die Benutzung des amtlichen Briefpapiers des Weißen Hauses für einen persönlichen Brief an den Dissidenten Sacharow wurden auch in USA weithin kritisiert, so auch von dem Magazin Time, James (Scotty) Reston von der New York Times und vielen anderen.
Aber es gab den Brief nun einmal, und die nachfolgenden Ereignisse haben gezeigt, daß er nicht als ein isolierter Schritt betrachtet werden konnte.
Dem folgte übrigens im Juni 1977 ein weiterer persönlicher Brief, dieses Mal von der neunjährigen Amy Carter an einen russischen Dissidenten, der noch dazu in Paris lebt.
Noch wichtiger als jene Briefe war die Tatsache, daß die plötzliche ‘Menschenrechtskampagne’ Hand in Hand einherging mit einem jähen Wechsel der politischen Position der Vereinigten Staaten gegenüber der UdSSR. Außenminister Cyrus Vance besuchte im März 1977 Moskau, und die Vorschläge, die er hierbei zu SALT II unterbreitete, stellten einen ganz erheblichen Bruch mit der Übereinkunft von Wladiwostok von 1974 dar. | |
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War das ein Schock für Sie?
Nun, wir hatten Hinweise darauf, daß sich die Dinge in diese Richtung entwickelten. Aber das hat die Sache nicht sehr viel einfacher gemacht. Ich erinnere mich an jene Tage sehr genau. Mein Eindruck damals war, daß unsere Vertreter bei den Gesprächen mit Cyrus Vance und seinen Begleitern bis zum letzten Augenblick seines Moskau-Aufenthalts erwarteten, daß Vance schließlich doch noch Realistischeres auf den Verhandlungstisch legen würde, mindestens als Ausgangsmaterial für die nächste Verhandlungsrunde. Es fiel ihnen schwer zu glauben, daß das anfängliche Verhandlungspaket schon alles gewesen sein sollte, was er zu bieten hatte, daß er die weite Reise nach Moskau gemacht habe, um uns Vorschläge zu unterbreiten, die so unverhüllt einseitig waren und so offen darauf abzielten, einseitige Vorteile für die Vereinigten Staaten zu erlangen. Bald wurde klar, daß der erste Besuch von Außenminister Vance in Moskau zum Scheitern verurteilt war.
Könnten Sie sich denken, daß sich Kissinger auf solch eine vergebliche Reise eingelassen hätte?
Ich hatte es von Vance genauso wenig erwartet - er persönlich verdient Hochachtung als Staatsmann und Diplomat. Offen gesagt, sogar heute verstehe ich noch nicht, wie das alles geschah. Was Kissinger anbelangt, wenn Sie mich vor einigen Jahren gefragt hätten, hätte ich wahrscheinlich gesagt, nein, er hätte es nicht getan. Aber heute, angesichts seiner neueren Reden und schriftlichen Äußerungen, fange ich an, das zu bezweifeln.
Henry Kissinger kommt aus dem Schoß des riesigen Finanzimperiums der Rockefellers, genauso wie Vance, Brzezinski und andere aus der Rockefellerschar, und was die Regierung Carter anbetrifft, so galt das für mehr als die Hälfte der wichtigsten Mitarbeiter.
Ich kenne keine einzige amerikanische Administration der letzten Jahrzehnte, die nicht irgend jemand in ihren Reihen hatte, der auf die eine oder andere Weise mit den Rockefellers verknüpft war, bzw. mit Organisationen, in denen diese eine aktive Rolle spielten, wie z. B. dem ‘Council on Foreign Relations’ oder der ‘Trilateral Commission’. Doch das gilt nicht nur ausschließlich für die Rockefellers, sind diese doch nur der sichtbarste und bekannteste Teil der Elite der amerikanischen Konzerne, der unserer Meinung nach das in der Außenpolitik tätige Establishment zu Diensten ist. | |
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So erwiesen sich also die allerersten Gespräche, die die Carter Administration in die Wege geleitet hat, als ein Reinfall.
Ja, sie waren ein Fehlschlag. Die Gespräche hinterließen hier sehr große Enttäuschung. Am wichtigsten jedoch - wir sahen uns zu größter Sorge gegenüber dem gesamten Verhalten der neuen Administration und ihrer zukünftigen Politik veranlaßt. Schon die allerersten Monate der Präsidentschaft Carters warfen die Frage nach der Kontinuität der US-Politik auf. Die vorhergehende Regierung hatte eine Reihe von Abkommen mit der Sowjetunion geschlossen. Aber würde Carter diese Abkommen für verbindlich erachten? Oder würde die neue Adminstration alles von vorne beginnen wollen? Das waren die Fragen, die wir uns zu stellen hatten. Bald wurde deutlich, daß es in unseren Beziehungen ständig zu Schwankungen kam.
Aber offen gesagt, im Westen empfindet man es genau umgekehrt, nämlich, daß diese Taktik der ständigen Wechselbäder typisch ist für die von der Sowjetunion betriebene Außenpolitik.
Die sowjetische Außenpolitik war über die Jahre hinweg in hohem Maß beständig. Ich glaube, daß wir sogar im Westen in dieser Hinsicht einen guten Ruf genießen. Was die amerikanische Politik - speziell unter Carter - anbelangt, so sprechen die Tatsachen für sich. Das Jahr 1977 fing schlecht an, aber im späten Frühjahr und im Sommer verbesserte sich die Lage ein wenig, und im Oktober waren wir imstande, Einvernehmen über SALT II und den Nahen Osten zu erzielen. Wenige Tage später wurde die Übereinkunft, die den Nahen Osten betraf, praktisch widerrufen, und 1978 ging es insgesamt erneut bergab. Dieses Mal nahm die Sache sogar eine noch ernstere Wendung durch Brzezinskis Besuch in China und das Nato-Treffen im Mai in Washington. Im Sommer waren die Beziehungen wahrscheinlich schlechter als je zuvor in den siebziger Jahren...
Glauben Sie nicht, daß Brzezinskis Einfluß in hohem Maß für jene Schritte der Carter-Administration verantwortlich war, die zu der allgemeinen Verschlechterung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen führten?
Offensichtlich, er hatte Einfluß und hat ihn für negative Zwecke genutzt. Aber nach meiner Ansicht war Brzezinski innerhalb der Regierung nicht so sehr der Urheber antisowjetischer Bestrebungen, sondern sein Ein- | |
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fluß war vielmehr Ausdruck ihres Vorhandenseins. Die für seine Berufung Verantwortlichen konnten sich über seine Geisteshaltung und seinen Ruf nicht im Unklaren gewesen sein, da diese sowohl in den USA als auch im Ausland seit langem bekannt waren. So ist für mich das Maß an Freiheit, das Brzezinski bei der Beeinflussung der amerikanischen Außenpolitik hatte, ein Zeichen für die vorherrschende politische Stimmung innerhalb dieser Administration. Ich denke jedoch, daß, solche Leute wie Brzezinski in hohen Regierungsämtern zu haben, ein Luxus ist, den sich Amerika nur zu Zeiten der Entspannung leisten kann. Dieser Luxus kommt aber schon bald unerhört teuer zu stehen und wird gefährlich, weil diese Leute die Entspannung sehr schnell und wirksam untergraben. Was Brzezinski an der Chinesischen Mauer sagte, war lächerlich, wenn auch weniger lächerlich als dann eineinhalb Jahre später am Khyberpaß, an der Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan. Er hat eine Art Komplex, immer zur falschen Zeit vorpreschen zu müssen, das steht außer Zweifel.
Tatsächlich ist also während der Regierungszeit Carters die Entspannung rasch dahingeschmolzen.
Seit 1977 verloren die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zunehmend an Stabilität. Jede neue Runde erwies sich als noch abträglicher für die Entspannung als die jeweils vorhergehende. Was ebenfalls sehr schädlich für unsere Beziehungen war, das war der zunehmend hysterischer werdende antisowjetische Ton, nicht nur in den Massenmedien, sondern ebenso in offiziellen Verlautbarungen und in der Propaganda. Indem sie diese Kampagne anstiftete, ließ die Carter-Administration des weiteren einen wesentlichen Zusammenhang in unseren Beziehungen außer acht - die Wechselwirkung zwischen Substanz und Atmosphäre. Dieser Zusammenhang wurde von Kissinger treffend beschrieben, der schon 1974 warnte, ‘... wir können die Atmosphäre der Entspannung nicht ohne die Substanz haben. Es ist gleichermaßen klar, daß die Substanz der Entspannung in einer Atmosphäre des Mißtrauens und der Feindseligkeit verlorengehen wird.’Ga naar eind20 Das Ergebnis war, daß wir am Ende weder die Atmosphäre noch die Substanz der Entspannung hatten. Ich bin der Meinung, daß Carters Rede vom Juni 1978 in Annapolis besondere Bedeutung hatte, war sie doch ein Indikator für die neuen gefährlichen Tendenzen in der amerikanischen Außenpolitik. | |
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Was an dieser Rede hat Sie so bedenklich gestimmt?
Verschiedene Aspekte. Carters Angebot an die Sowjetunion, zwischen Konfrontation und Kooperation zu wählen, und seine Feststellung, die USA seien bereit, jeden dieser beiden Wege einzuschlagen, konnte nur bedeuten, daß Washington von der gemeinsamen Verpflichtung abrückte, die die beiden Länder in dem Dokument von 1972 über die grundlegenden Prinzipien ihrer Beziehungen eingegangen waren, ebenso wie in der Vereinbarung zur Verhinderung eines Nuklearkriegs aus dem Jahre 1973. Ich meine damit die Erklärung, die besagt, daß es im Atomzeitalter keine Alternative zur friedlichen Koexistenz geben kann. Die antisowjetischen Schmähungen in der Rede von Annapolis haben kaum eine Parallele in irgendeiner anderen offiziellen amerikanischen Verlautbarung seit den schlimmsten Tagen des Kalten Krieges.
Ein Leitartikel der Prawda faßte die sowjetische Reaktion zusammen.
Ja, das war eine detaillierte Analyse der Politik Carters, die die sowjetische Besorgnis zu dieser Zeit wiedergab. Sie enthielt eine ernsthafte Warnung, daß die Ereignisse eine gefährliche Wendung nehmen könnten. Gleichzeitig aber wiederholte der Leitartikel unsere Bereitschaft, für den Frieden und die internationale Sicherheit einzutreten, und wies - wie es darin hieß - die Einladung zurück, ‘dabei mitzuwirken, die Entspannung zu Grabe zu tragen’. Als im Juli 1978 in Genf das nächste Treffen zwischen Gromyko und Vance stattfand, begann sich die Lage erneut ein wenig zu bessem, und im Herbst 1978 sah es so aus, als würde SALT II bald unterzeichnet werden; doch mit dem Gefühl, dies könnte bald geschehen, hatten wir noch während des ganzen langen Winters von 1978 auf 1979 zu leben.
Dann kam schließlich Wien.
Ja, der Salt II-Vertrag wurde schließlich im Juni 1979 in der österreichischen Hauptstadt unterzeichnet. Das war in der Tat ein sehr wichtiges Ereignis. Es war nicht nur ein Schritt vorwärts, was die Rüstungskontrolle als solche anbelangte, sondern ein allen Widrigkeiten zum Trotz erzielter Fortschritt, der positive Auswirkungen auf die übrigen Rüstungsbegrenzungsgespräche und die allgemeine politische Atmosphäre haben konnte. Aber der Vertrag mußte erst noch ratifiziert werden, und es war klar, daß es in Washington um die Ratifikation zu erbitterten Auseinandersetzungen kommen würde. Die darauf folgenden Ereignisse sind noch so frisch in Erinnerung, daß sie wohl kaum erwähnt wer- | |
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den müssen. Alles in allem würde ich sagen: Wenn es überhaupt eines historischen Beispiels dafür bedarf, wie ein wichtiger Vertrag zunichte gemacht werden kann - hier ist es.
Hat SALT II noch immer eine Chance?
Hoffentlich. Aber jeder Monat weiteren Aufschubs, vor allem, wenn er begleitet wird von einem ständigen Wachstum des Militärbudgets und der Inbetriebnahme neuer Waffensysteme, schmälert nicht nur die Chancen für eine Ratifikation, sondern auch den Wert des Vertrags.
Ronald Reagan scheint die Absicht zu haben, entweder den SALT II-Vertrag neu zu verhandeln, oder ihn ganz fallenzulassen und gleich zu SALT III überzugehen.
Die Sowjetunion hat bereits zum Ausdruck gebracht, daß sie die Idee einer Neuverhandlung des Vertrages zurückweist. Ich hoffe, wir werden auf dieses Thema zu einem späteren Zeitpunkt unserer Unterredung in Zusammenhang mit einer ausführlicheren Erörterung des Wettrüstens und der Rüstungskontrolle zurückkommen. Um wieder auf Carter zurückzukommen - bei dem Versuch zu analysieren, was geschah, könnte man zynisch werden und die recht plausibel klingende These aufstellen, daß die Unterzeichnung von SALT II für Carter ein notwendiger Schachzug war, um sich gegen die Angriffe der Liberalen in den USA und in Europa zu schützen. Bei einer Ratifizierung jedoch wäre er den Angriffen der Rechten ausgesetzt gewesen.
Sind Sie selbst dieser Auffassung?
Ich glaube nicht, daß Präsident Carter 1976 gelogen hat, als er sein Eintreten für die Idee der Rüstungskontrolle und eine Verringerung der Verteidigungsausgaben versprach und es sogar zu seinem obersten Ziel erklärte, die Abhängigkeit von Nuklearwaffen gänzlich abzuschaffen. Auch zweifle ich nicht an seiner Aufrichtigkeit, als er einige entschlossene Befürworter der Rüstungskontrolle in seinen Stab aufnahm. Aber offensichtlich war er nicht weniger aufrichtig, wenn er bei anderen Gelegenheiten ziemlich gegenteilige Ansichten äußerte. Und was vielleicht sogar noch mehr als seine Aufrichtigkeit gezählt haben mag, war sein Verlangen, die politische Unterstützung, die er erfuhr, zu festigen und seine Wiederwahl als Präsident zu sichern. Vergleiche ich den Carter von 1976 mit dem Carter von 1980, so fällt mir unweigerlich der altbekannte | |
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Spruch von den guten Vorsätzen ein, mit denen der Weg zur Hölle gepflastert ist. Zusammenfassend würde ich sagen, daß das gesamte Gefüge der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen ausgehöhlt wurde, was zu Beginn des Jahres 1980 in einer offenen Kehrtwendung von der Entspannung zum Kalten Krieg seinen Höhepunkt fand.
Aber dieser Prozeß der Aushöhlung begann, wie Sie selbst bereits an früherer Stelle sagten, schon bevor Carter Präsident wurde.
Richtig. Die Möglichkeiten, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen positiv zu entwickeln, waren seit etwa 1974 geringer geworden. Das erste Bindeglied in den Beziehungen, das verlorenging, war der Handel. Nicht in dem Sinn, daß der Handel gänzlich eingestellt wurde Oder daß keine Aussicht bestünde, die Situation eventuell zu verbessern. Jedoch gait von 1972 bis 1973 der Handel als ein sehr vielversprechender Bereich der gegenseitigen Zusammenarbeit, gleichzeitig sah man darin eine Angelegenheit von großer politischer Bedeutung. Schließlich wurde das Jackson-Vanik-AmendmentGa naar eind21 vom US-Kongreß angenommen, und die Situation verschlechterte sich. Seit dieser Zeit stagnierte der amerikanisch-sowjetische Handel, bis ihm die Carter-Administration Anfang 1980 praktisch den Todesstoß versetzte.
Kissinger behauptet, daß das Jackson- Vanik-Amendment eindeutig eine Reaktion auf die plötzlich von Ihrer Regierung erhobene Steuer für jüdische Emigranten gewesen sei. Die Annahme des Amendments überraschte offensichtlich ihn selbst wie auch Nixon aufs äußerste.
Soweit ich mich erinnere, gab es zu der Zeit, als das Jackson-Vanik-Amendment angenommen wurde, die Frage der Auswanderungssteuer nicht mehr, und sie stand deshalb in keinem direkten Zusammenhang mit der Entscheidung des Kongresses. Was die Auswanderungssteuer selbst anbelangt, so war sie der Versuch, eines der Probleme zu lösen, die in Zusammenhang mit einer neuen Entwicklung auftauchten - nämlich dem Anstieg der Zahl der Emigranten. Das Problem hing damit zusammen, daß der Staat enorme Summen für die Ausbildung jener Leute ausgab, die dann das Land verließen. Dieses Thema wurde gründlich diskutiert, und schließlich wurde die Entscheidung getroffen, jene Summen nicht einzutreiben. Nun, nachdem der Handel als Bindeglied ernsthaft geschwächt war, folgte als nächstes Glied der Kette der Gesinnungswandel bezüglich Europa. Vor 1975 nahmen die Amerikaner konstruktiv, wenn auch nicht sehr aktiv, an den Bemühungen teil, die Sicherheit und Zusammenarbeit | |
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in Europa zu erhöhen. Nach 1975 erfuhr ihre Position jedoch eine drastische Veränderung. Man könnte sogar sagen, daß sie tatsächlich Versuche starteten, den Prozeß der Wiederannäherung in Europa zu sabotieren. Diese Haltung trat in Belgrad und später in Madrid so überaus deutlich zutage, daß sogar bei den westeuropäischen Verbündeten der Vereinigten Staaten eine gewisse Verstimmung hervorgerufen wurde. Dadurch, daß sich die amerikanische Delegation auf das Thema der Menschenrechte konzentrierte, sollte der Mangel an konstruktiven US-Vorschlägen zu anderen wichtigen Themen elegant verschleiert werden. Nach Europa kam die Wende in der Nahostfrage. Wie ich schon sagte, veröffentlichten Andrej Gromyko und Cyrus Vance im Oktober 1977 ein Dokument über die Prinzipien eines gemeinsamen Vorgehens bei den Nahostproblemen. Das war ein überaus bedeutender Schritt und das Ergebnis beharrlicher Anstrengungen, durch die unsere Ansichten einander angenähert werden sollten. Aber nur wenige Tage später brachen die USA ihr Versprechen, mit der Sowjetunion bei der Lösung des Problems zusammenzuarbeiten.
Warum, glauben Sie, haben die USA die gemeinsame Haltung aufgegeben?
Einer der Gründe war die von einigen Beratern des Präsidenten geäußerte Befürchtung, daß ein solches Vorgehen das Verhältnis der Administration zu einflußreichen Teilen der jüdischen Gemeinde komplizieren würde.
In noch jüngerer Zeit wurden wir Zeugen eines ähnlichen Meinungsumschwungs des Weißen Hauses, als der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in einer Resolution die neuerrichteten Siedlungen am Westufer des Jordans verurteilte. Ein sogenanntes ‘Mißverständnis’ mit dem Botschafter bei den Vereinten Nationen, McHenry.
Ja, das ist zu einem weitverbreiteten Verhaltensmuster geworden, was einmal mehr zeigt, wie schwierig es ist, mit den Vereinigten Staaten partnerschaftlich zu verkehren. Aber lassen Sie mich zum Jahr 1977 zurückkehren. So kam es also dazu, daß die Carter-Administration ein weiteres Glied der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zunichte machte - nämlich die gemeinsamen Anstrengungen, einen der gefährlichsten regionalen Konflikte zu lösen. Als diese Gemeinsamkeit wegfiel, schwanden auch die Hoffnungen auf eine erfolgreiche Lösung der Probleme in dieser Region - der labilsten überhaupt auf dieser Erde. | |
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Auf diese Weise kamen wir allmählich an einem Punkt an, wo nur mehr ein bedeutendes Bindeglied übrig blieb: die Rüstungsbegrenzung, die gemeinsamen Bemühungen, das Wettrüsten einzudämmen, vor allem im strategischen Bereich - also die Verhandlungen über eine Begrenzung der strategischen Waffen. Selbstverständlich ist das zugleich das wichtigste Bindeglied, das direkt in Zusammenhang steht mit dem Hauptziel der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen: der Verhinderung eines Atomkriegs. Aber aufgrund negativer Entwicklungen auf anderen Gebieten war auch dieses Glied ernsthaft geschwächt, und als schließlich alles sozusagen nur nah an einem Faden hing, waren die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen fast ausschließlich von SALT abhängig, ohne daß viel übrigblieb, was diesen Beziehungen oder SALT und der Rüstungsbegrenzung selbst hätte förderlich sein können.
Heißt das, das nunmehr politisch isolierte SALT-Abkommen ist viel leichter verletzbar geworden?
Ja. Ich hatte gehofft und ich bin sicher, daß viele diese Hoffnung teilten, daß - falls die Dinge den richtigen Verlauf genommen hätten, der Vertrag also ratifiziert worden wäre und Amerika seine Verpflichtungen erfüllt hätte - dann eine schrittweise Wiederherstellung der beschädigten Bindeglieder ermöglicht worden wäre. Aber unglücklicherweise haben sich diese Hoffnungen bis jetzt nicht erfüllt. Sobald wir - falls es dazu kommt - anfangen, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen wieder in Ordnung zu bringen - und ich hoffe, das geschieht in nicht allzu ferner Zukunft -, sollten wir diese Lehren in Erinnerung behalten. Dem Wettrüsten Einhalt zu gebieten, wird natürlich die wichtigste Aufgabe bleiben. Aber andere Bereiche im Rahmen der Beziehungen sollten nicht gering geachtet werden, einmal um ihrer selbst willen nicht, zum anderen deshalb nicht, weil ohne sie auch jeglicher Fortschritt bei der Rüstungsbegrenzung schwieriger zu erzielen ist. Andererseits wird eine Beschleunigung des Prozesses der Rüstungskontrolle, die während der letzten Jahre unnötigerweise so sehr verzögert wurde, eine ganz wesentliche Voraussetzung sein für eine Stärkung der Entspannung insgesamt.
Das hört sich wie Kissingers Vorliebe für politische Verknüpfungen an.
Ich bin gegen Verknüpfungen im Sinne Kissingers, weil damit gemeint war, daß die Lösung eines komplizierten Problems abhängig zu machen ist von der Lösung eines anderen noch komplizierteren Problems, was nirgendwohin führt. Und ich bin gegen eine Beendigung oder eine Un- | |
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terbrechung der Anstrengungen bei der Rüstungskontrolle, weil wir schon anderswo genug Probleme haben. In diesem Sinne sollten die Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung so gut wie möglich von allen anderen Problemen getrennt werden. Aber es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, daß alle Bereiche in unseren Beziehungen bis zu einem gewissen Grad voneinander abhängen und die Verbesserung der Beziehungen in einem Bereich zu mehr gegenseitigem Vertrauen führt sowie ganz allgemein eine bessere Atmosphäre schafft, die hilfreich ist für die Verbesserung der Beziehungen auch auf anderen Gebieten.
Das hört sich so ähnlich an wie die Forderungen von Reagan, SALT könne nur dann erfolgreich fortgeführt werden, wenn die Sowjetunion ihre Truppen aus Afghanistan zurückzieht, ihre Politik in Afrika ändert, usw.
Nein, die Sowjetunion stimmt einer solchen Haltung nicht zu, und dies nicht nur deshalb, weil darin Forderungen enthalten sind, die wir als absolut ungerechtfertigt betrachten. Diese Haltung ist von Grund auf verkehrt. Sie beruht auf dem erwähnten traditionellen Konzept der Verknüpfungen (‘linkage’ concept), wodurch unsere Beziehungen in einer ausweglosen Sackgasse landen. Nach der Logik dieses Konzepts wird jeglicher Fortschritt in den Verhandlungen zur Rüstungskontrolle nur in dem Moment möglich - und zwar nur dann -, wenn die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern ungetrübt sind. Mit einer solchen Haltung würden wir jedoch nie Fortschritte bei der Rüstungskontrolle erzielen, vor allem wenn man bedenkt, daß das gegenwärtige Wettrüsten selbst einen Hauptgrund für die spannungen und für das gegenseitige Mißtrauen in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen darstellt, es somit aus sich selbst heraus ständig die Gefahr der Konfrontation und des Konflikts schafft. Nebenbei gesagt, solch ein wesentlicher Durchbruch bei der Rüstungskontrolle, wie es SALT I war, erfolgte nicht gerade in der Atmosphäre einer allgemeinen Idylle. Heute sind es nicht nur die Vereinigten Staaten, die über manche Aspekte der Politik der anderen Seite Unmut verspüren. Die Sowjetunion hat mehr als genug Gründe, mit der amerikanischen Politik unzufrieden zu sein. Folgt man der Logik der ‘linkage’, so sollten beide Seiten den Dialog einstellen, oder ihn zumindest auf den Austausch gegenseitiger wütender Anschuldigungen beschränken, wobei man Probleme vorwegnimmt, die zur allgemeinen Unzufriedenheit beitragen, und darauf hofft, daß sich die Probleme von selbst lösen. Aber das wird nie geschehen. | |
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Das, woran ich denke, hat mit ‘linkage’ nichts zu tun. Es dreht sich hierbei nicht um Forderungen und Ultimaten, sondern um einen Aufruf, die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen auf breiter Front zu entwikkeln. Anders ausgedrückt, es sollte ganz klar erkannt werden, daß eine Verbesserung der politischen Atmosphäre und des gegenseitigen Verständnisses einen Fortschritt auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle wesentlich erleichtern und größere Gewähr für den Frieden bieten würde, dieser wichtigsten Dimension der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen also großer Nutzen erwachsen würde.
Präsident Nixon hat die Gepflogenheit jährlicher Gipfeltreffen mit den Sowjetführern ins Leben berufen. Carter hat auch diese Entwicklung vereitelt und abgebrochen.
Ja, die schon zur Gewohnheit gewordene Praxis eines Zusammentreffens der Führer unserer beiden Länder war drei Jahre lang unterbrochen. Und das war selbstverständlich nicht sehr hilfreich. Gleichzeitig würde ich aber sagen, obwohl sie unerhört wichtig sind, sind Gipfeltreffen nicht der einzige Weg, um das politische Klima zu verbessern.
Nach der Konferenz der Blockfreien in Belgrad 1961 wurden Nehru, Sukarno, Nkrumah und Keita als Emissäre nach Moskau und Washington entsandt, um auf solche regelmäßigen ausführlichen Aussprachen zwischen den Supermächten zu drängen.
Gipfeltreffen sind wichtig, ja. Aber je gewichtiger ein Instrument der internationalen Politik ist, mit um so größerer Sorgfalt und Präzision sollte es zur Anwendung kommen. Andernfalls können die Ergebnisse andere als die erwünschten sein. Ein Gipfeltreffen, das unzureichend geplant und ungeschickt durchgeführt wird, kann gefährliche Konsequenzen haben. Gipfeltreffen, die zu leerer Routine werden, setzen die gesamte Struktur der bestehenden Beziehungen aufs Spiel. Wir sind für Gipfelgespräche mit tatsächlichem Gehalt.
Sowohl Nixon wie auch Kissinger vertreten in ihren Memoiren die gleiche Ansicht.
Selbstverständlich muß man dann nach einem erfolgreichen Gipfel auch die eingegangenen Verpflichtungen einhalten. Das Gipfeltreffen von Wladiwostok von 1974 brachte sehr vielversprechende Ergebnisse. SALT II nahm 1975 einen günstigen Verlauf. Niemand bei uns hätte erwartet, daß die Amerikaner so lange brauchen würden, um sich zur Un- | |
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terzeichnung zu entschließen. Und jetzt, nach einem weiteren Gipfel in Wien und abermals im Widerspruch zu dem erzielten Ergebnis, wurde die Ratifizierung auf unbestimmte Zeit verschoben.
Welchen Eindruck hatten Sie beim Lesen der Memoiren Kissingers?
Mein Eindruck ist ein etwas ambivalenter. Für den, der sich mit den Vereinigten Staaten befaßt, ist dieses Buch Pflichtlektüre. Der Autor schreibt oftmals recht beeindruckend und manchmal gar brillant. Man muß aber hinzufügen, daß der Autor so berühmt und anerkannt ist, daß er sich meiner Meinung nach hätte leisten können, einige der Verzerrungen zu unterlassen, besonders, was die sowjetische Außenpolitik betrifft. Versuche, die Geschichte nachträglich umzuschreiben, sind immer enttäuschend. Könnte es seinem Wunsch entsprungen sein, seinen Lebenslauf nach der neuesten politischen Mode und für seine erkennbar werdenden politischen Ambitionen ‘aufzufrischen’? Ich frage mich. Allzu oft hat man den Eindruck, die gegenwärtige harte, antisowjetische Haltung würde auf die jüngste Vergangenheit projiziert werden.
Kissinger stellt sich selbst in seinen Memoiren als überaus erfolgreich dar.
Nun, Memoiren werden nie in der Absicht geschrieben, den Ruf des Autors zu schmälern. Die Frage ist, wie man Erfolg in diesem speziellen Fall definiert. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich Kissinger fast entschuldigt für die Entspannung und dadurch seine Erfolge so darstellt, als hätte er die Russen ausgetrickst und manipuliert, einseitige Vorteile für Amerika erlangt, etc. Ich bin mir sicher, daß er bei den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen überhaupt nichts von Wert erreicht hätte, wäre das seine hauptsächliche Arbeitsweise gewesen. Kein Zweifel, Henry Kissinger kann erhebliche Leistungen für sich verbuchen. Aber sie kamen durch seinen Sinn für die Realitäten zustande, durch seine Fähigkeit, Bereiche gemeinsamen Interesses aufzuspüren und auszuloten und dann im Rahmen dieser Interessen für beide Seiten akzeptable Lösungen zu suchen. Persönlich beeindruckt mich der Staatsmann Kissinger mehr, der 1974 feststellte: ‘Es kann keine friedliche internationale Ordnung geben ohne ein konstruktives Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion’, als der Politiker Kissinger, der ein paar Jahre später in seinen Memoiren versucht, die Bedeutung dessen, was in unseren Beziehungen in der ersten Hälfte der siebziger Jahre erreicht wurde, herabzusetzen. Und natürlich fesselt mich - sowohl als politische Gestalt, wie auch als Wissenschaftler - weit | |
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mehr der Henry Kissinger, der nachweist, daß sich militärische Macht heute nicht mehr in politischen Einfluß umsetzt und daß ‘die Aussicht auf entscheidende militärische Vorteile, selbst wenn diese theoretisch möglich waren, politisch nicht akzeptabel ist, da keine Seite eine massive Verschiebung des atomaren Gleichgewichts tatenlos hinnehmen wird’, als der Kissinger, der dazu beitrug, daß eine neue Runde im Wettrüsten zur Vorbedingung für eine Ratifikation des SALT II-Vertrags erklärt wurde, womit man darauf abzielt, militärische Überlegenheit zu erlangen.
Welche besonderen Ungenauigkeiten haben Sie in seinen Memoiren festgestellt, was die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen betrifft?
Ich hatte während der ersten Gipfelgespräche den Eindruck, daß sich Kissinger aufrichtig und überschwenglich über die Erfolge bei diesen Gesprächen freute, und ich habe starke Zweifel, ob die Beschreibung dieser Ereignisse in seinen Memoiren mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Nach meiner Erinnerung unterschied sich die Stimmung der amerikanischen Delegation beim Gipfeltreffen 1972 ganz erheblich von dieser ziemlich zynischen, selbstsicheren Haltung, wie sie Kissinger beschreibt. Die Amerikaner sahen unserer Antwort auf die Bombardierung Hanois und die Verminung des Hafens von Haiphong, die sie einige Wochen vorher befohlen hatten, nervös entgegen, ebenso wie auch einem denkbaren Zusammenbruch des Gipfels, da dies ein besonders schwerer Schlag für die Nixon-Administration gewesen wäre angesichts der inneren Unruhen und der Präsidentschaftswahlen in jenem Jahr. Und als schließlich deutlich wurde, daß sich unsere Führung - obwohl sie jene Handlungen der Amerikaner verurteilte - verantwortungsbewußt und mutig genug zeigte, um zu erkennen, daß es nicht an der Zeit war, Auge um Auge und Zahn um Zahn Vergeltung zu fordern, wohl aber an der Zeit, einen größeren Durchbruch bei unseren Beziehungen zu erzielen, da zeigten sich die Amerikaner tief beeindruckt. Ich erinnere mich an einen von ihnen, der in einem persönlichen Gespräch nachdenklich bemerkte, der Gang der Geschichte sei während des ersten offiziellen Empfangs im Granowitaja-Saal des Kremls spürbar geworden. Sogar diese hartgesottenen Leute aus der Nixon-Administration fühlten, daß sich eine bedeutende historische Wende ereignete, und waren voller Hoffnung für die Zukunft. Das war ein sehr bemerkenswertes und charakteristisches Gefühl, aber es fehlt in den Memoiren fast gänzlich. | |
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Wie beurteilen Sie Carters Außenpolitik im Vergleich mit Kissingers Haltung?
Kissinger versuchte in der Tat, das Verhaltensmuster des Kalten Krieges zu überwinden, wenn auch die Versuche bisweilen unzulänglich und begrenzt gewesen sein mögen durch die herkömmliche Vorstellung vom Gleichgewicht der Kräfte. Selbstverständlich haben einige Leute aus dem Team von Carter alles in ihren Kräften Stehende getan, um sich von der Politik Kissingers zu unterscheiden, aber letzten Endes gelang es ihnen nicht, eine realistische Alternative zu entwickeln. Es ist nahezu unmöglich, ein durchgehendes Raster in Carters Außenpolitik festzustellen. Am Anfang gab es konzeptionelle Neuerungen, die das Nord-Süd-Verhältnis, die Rüstungsbegrenzung und neue Prioritäten im Bereich der amerikanischen Außenpolitik betrafen, danach lief nach vielen Schwankungen und sprunghaften Veränderungen alles auf eine zusammengestümperte Politik der Konfrontation hinaus, wobei all jene Lehren, die Kissinger in den frühen siebziger Jahren aus der jüngsten Geschichte zu ziehen versuchte, vollkommen außer acht gelassen wurden. Damit sind wir wieder bei der vorrangigen Herausforderung, der die amerikanische Außenpolitik heute gegenübersteht - der Anpassung an die neuen Gegebenheiten der internationalen Lage, an die sich verändernden Bedingungen im In- und Ausland, die auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluß nehmen. Mitunter kann dieser Prozeß der Anpassung verzögert oder gehemmt werden, wie es auch jetzt der Fall ist, aber die grundlegende Tendenz ist nicht umkehrbar und wird sich wieder durchsetzen.
Was ist Ihrer Ansicht nach bei einem Vergleich Kissingers mit Brzezinski der Hauptunterschied zwischen diesen Managern der Diplomatie?
Selbst wenn man ihre sehr unterschiedlichen intellektuellen und politischen Möglichkeiten außer acht läßt, so bleiben dennoch, glaube ich, einige wichtige Unterschiede, was den Stil betrifft. Der wichtigste Punkt dabei ist, daß Kissinger in allererster Linie ein Jünger der Schule der Realpolitik ist, ein Realist in dem Sinn, daß er nur die greifbareren Faktoren der Politik beachtet, wogegen Brzezinski ein Ideologe ist, dessen Ansichten in hohem Maße von Ideen und Einstellungen beeinflußt sind, die einem vorgefaßten ideologischen Konzept entspringen. | |
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Und welche Auswirkungen haben diese Unterschiede auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen?
Eine Folge ist, daß aus Kissingers Sicht die Sowjetunion lediglich ein weiterer Mitspieler auf der internationalen Bühne ist, der, je nach Umständen, alles sein kann, vom unversöhnlichen Feind über einen traditionellen Rivalen, bis hin zum Partner. Nach Brzezinski ist die UdSSR in allererster Linie eine ‘illegitime’ Form der Gesellschaft, mit der normale dauerhafte Beziehungen unmöglich sind, Solange nicht grundlegende interne Veränderungen stattgefunden haben. Ich glaube, das geht über die persönlichen Unterschiede dieser beiden Männer hinaus; was wir hier vorfinden, ist in Wirklichkeit das Spiegelbild der beiden einflußreichen Schulen des politischen Denkens in Amerika.
Kissinger schien sich vor allem mit Ost- West-Beziehungen zu befassen, wogegen einige der Auffassung sind, Brzezinski konzentrierte sich auf West-West- und Nord-Süd-Probleme.
Richtig, die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die West-West- und Nord-Süd-Beziehungen war eine der bevorzugten Ideen Brzezinskis im Rahmen des Trilateralismus. Zwar war alles hinter harmonisch klingender Rheotrik versteckt, aber der tatsächliche Kern war unmißverständlich; es ging darum, für einen Stillstand im Entspannungsprozeß - also bei den Ost-West-Beziehungen - rationale Gründe vorzuschieben, ebenso wie für den Rückzug von den Bemühungen, die in diesem Bereich dringendsten Probleme zu lösen. Das Ergebnis war, daß weder die West-West-Beziehungen noch die Nord-Süd-Beziehungen, von den West-Ost-Beziehungen erst ganz zu schweigen, von solch einer Konstruktion profitierten. Unter der Carter-Administration gab es keinen wesentlichen Fortschritt bei den Nord-Süd-Beziehungen, da der anfängliche Flirt mit den Entwicklungsländern schrittweise durch eher traditionelle, militärisch-interventionistische Konzepte ersetzt wurde. Gleichzeitig, nach nutzlosen Versuchen, die Ost-West-Beziehungen in ihrer Priorität zurückzustufen, wurden diese wieder an die Spitze der Tagesordnung in der amerikanischen Außenpolitik gestellt, doch unglücklicherweise war die Administration nicht imstande, diese Politik in einem Kontext der Entspannung zu verfolgen, sondern tat dies im Kontext der Konfrontation. Das hat seinerseits die gesamte Struktur der US-Außenpolitik verzerrt. Es war, als wenn man mit einem Kompaß Unfug treibt, anstatt ihn anzeigen zu lassen, was er entsprechend den Gesetzen des Magnetismus an- | |
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zeigen muß. Das vorhersehbare Ergebnis war der Verlust der Orientierung in der Außenpolitik. Wenn ich das sage, dann keineswegs in der Absicht, auf irgendeine Weise die Bedeutung der Beziehungen der Vereinigten Staaten mit Westeuropa und Japan oder anderen Teilen der Welt zu schmälern. Auch streite ich nicht ab, daß jedermann - die USA eingeschlossen - das Recht hat, das System von Beziehungen aufzubauen, das seinen jeweiligen Interessen am besten entspricht. Was ich aber damit betonen will, ist, daß - gleichgültig wie wichtig die übrigen Faktoren sein mögen - man nicht die Ost-West-Beziehungen an das Ende der Prioritätenliste abschieben kann, ohne dabei Gefahr zu laufen, einen ungeheuer folgenschweren Fehler zu begehen. Sehr ernste und drängende Probleme müssen im Rahmen der Ost-West-Beziehungen gelöst werden.
Die Sowjetunion ist ohne Zweifel das zentrale und grundlegende Thema, für das sich Kissinger in seinen Memoiren interessiert.
Sie sagen mir das so, als ob mir das schmeicheln sollte. Aber das ist nicht eine Frage der Eitelkeit oder des Verlangens, im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen, ganz zu schweigen davon, daß das Interesse an uns ganz verschiedene Aspekte haben kann. Im Rückblick würde ich sagen, daß wir, angefangen bei der Intervention der Alliierten von 1918/1919, in vielen Fällen die völlige Nichtbeachtung und Gleichgültigkeit dem damals starken amerikanischen Interesse an unserem Land vorgezogen hätten. Offensichtlich hatte Brzezinski, als er die übersteigerte Aufmerksamkeit beklagte, die die Ost-West-Beziehungen fanden, nicht die Vorteile solch ‘wohltuender Vernachlässigung’ im Auge. Bei ihm hörte sich das nach einer Aufforderung an, die Anstrengungen zur Verbesserung der Beziehungen und zur Lösung der Probleme zu verlangsamen, bzw. sie ganz einzustellen. Aber die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen sind angesichts der mit ihnen für die Menschheit verbundenen Gefahren wie auch Chancen in der Tat eine Angelegenheit von höchster Priorität. Auch ist die Bedeutung, die sie in diesem Rahmen haben, keine Frage, über die wir zu entscheiden hätten, und sie ist auch unabhängig von Vorlieben. Wir sind auf beiden Seiten ganz einfach verpflichtet, unseren Beziehungen zueinander unsere ganz besondere Aufmerksamkeit zu widmen, ob wir das wollen oder nicht. Die wichtigsten gegenwärtigen Probleme von intemationalem Rang haben ihren Dreh- und Angelpunkt in den Ost-West-Beziehungen, das gilt auch für die Probleme im Bereich der West-West- und Nord-Süd-Beziehungen. Sie hängen immer noch weitgehend ab von der Beziehung zwischen so- | |
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zialistischen und kapitalistischen Ländern - einschließlich der Beziehung zwischen den beiden Großen, der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, natürlich.
Hegel hat einmal gesagt, daß die Menschen nichts aus der Geschichte lernen. Läßt sich dieser Ausspruch auch auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen anwenden?
Hegel hat ein großartiges Gedankengut hinterlassen, wogegen mein Gedächtnis oftmals Lücken aufweist. Ich erinnere mich an andere Gedanken aus seiner Philosophie, die nachdrücklich das Gegenteil betonen: die Fähigkeit der Vernunft, die Geschichte zu verstehen und daraus zu lernen. Ich bezweifle aber nicht, daß dieser große Dialektiker auch Gedanken der von Ihnen erwähnten Art hervorgebracht hat. Ich glaube, man kann für beide Standpunkte Argumente anführen, reflektieren sie doch jeweils eine Seite des komplexen Verhältnisses der Menschheit zu ihrer Geschichte. Wären die Menschen gänzlich unfähig gewesen zu lernen, dann gäbe es wohl überhaupt keine Geschichte. Wären sie jedoch begabte und fleißige Schüler gewesen, die die Lehren der Geschichte gründlich studiert hätten, wäre die Geschichte wohl ganz anders verlaufen. Die Menschheit würde dann schon seit langem in einem Reich fortwährenden Friedens, absoluter Sicherheit und völliger Gerechtigkeit leben. Doch beide - sowohl die Geschichte wie die Menschheit - bewegen sich irgendwo zwischen diesen Extremen. Offensichtlich trifft das auch auf die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu. Unsere beiden Länder haben überlebt, was allein schon ein Beweis für ihre Fähigkeit ist, etwas zu lernen. Aber sie leben in großer Gefahr und unter schlimmeren Umständen als nötig wäre. Und das heißt unter anderem, daß nicht immer Lehren aus der Geschichte gezogen wurden. Das vergangene Jahrzehnt hat viele positive Veränderungen in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen mit sich gebracht - dennoch, so wie ich es heute beurteile, glaube ich, daß wir es insgesamt ein Jahrzehnt der versäumten Gelegenheiten nennen können. Was die jüngsten Entwicklungen in unseren Beziehungen anbelangt, so kann man sich wirklich fragen, ob die Geschichte überhaupt verstanden wird, eingeschlossen die Lehren des Kalten Krieges, des Krieges in Vietnam und viele andere, die vor einem Jahrzehnt zu einer Neueinschätzung geführt haben. | |
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Wird die neue Administration geeignete Lehren ans der Geschichte ziehen?
Ja, diese Frage wird wieder äußerst akut. Aber so wichtig die Geschichte auch ist, genügt es nicht, aus der Vergangenheit zu lernen. Jede Generation muß neuen Herausforderungen trotzen, für die die Vergangenheit keine Anhaltspunkte bietet, Herausforderungen, die von dieser Generation allein gemeistert werden müssen. Einige der Aufgaben, denen wir Zeitgenossen gegenüberstehen, sind historisch einzigartig, und es gibt bei dem Versuch, sie zu lösen, keinen Spielraum für Fehlentscheidungen. Die wichtigste Aufgabe ist natürlich die Verhinderung des Krieges. Die Generation unserer Eltern, die Augenzeuge des Ersten Weltkriegs wurde und in diesem Krieg gekämpft hat, hat einen tragischen Fehler begangen, als sie versäumte, die richtigen Lehren aus der Geschichte zu ziehen und dadurch zuließ, daß es zum Zweiten Weltkrieg kam. Ich sage es noch einmal, das war eine echte Tragödie. Aber die Menschheit als biologische Spezies und auch die einzelnen Länder, die am meisten darunter gelitten haben, haben es geschafft zu überleben. Sollte dieser tragische Fehler wiederholt werden, so wird es höchstwahrscheinlich niemand mehr geben, der daraus eine Lehre ziehen könnte. In diesem Sinne hat unsere Generation wahrhaftig das Schicksal der Menschheit in der Hand. |
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