Vlaanderen. Kunsttijdschrift. Jaargang 56
(2007)– [tijdschrift] Vlaanderen. Kunsttijdschrift– Auteursrechtelijk beschermd
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CharakterNeinIn der dunkelsten Zeit, um Weihnachten herum, wurde dem Kind Jacob Willem KatadreuffeGa naar eindnoot1 im Rotterdamer Kreißsaal mit der Sectio caesarea auf die Welt geholfen. Seine Mutter war das achtzehnjährige Dienstmädchen Jacoba Katadreuffe, der Kürze halber Joba genannt, sein Vater der Gerichtsvollzieher A.B. Dreverhaven, ein Mann an die Vierzig, schon damals jedem Gläubiger, der ihm in die Hände fiel, als das Schwert ohne Gnade bekannt. Das Mädchen Joba Katadreuffe war erst kurz bei dem ledigen Dreverhaven in Dienst, da war er ihrer unschuldigen Schönheit erlegen, und sie seiner Kraft. Er war keiner, der schwach wurde, er war ein Mann aus Granit, der nur im anatomischen Sinne ein Herz besaß. Er wurde nur dieses eine Mal schwach, er kapitulierte mehr vor sich als vor ihr. Doch vielleicht, hätte sie nicht diese ungewöhnlichen Augen gehabt, wäre nichts passiert. Aber es war nach Tagen verbissener Wut geschehen, weil ein grandioser Plan, den er erdacht, riskiert und vor seinen Augen hatte scheitern sehen, weil sich der Geldgeber im letzten Moment zurückzog, im allerletzten, ja noch über diesen Moment hinaus, als er eigentlich keinen Rückzieher mehr hätte machen dürfen, weil er durch sein Wort gebunden war. Es gab nicht den geringsten Beweis, keinerlei Zeugen, und Dreverhaven wußte als Mann des Gesetzes, daß er gegen den Wortbrüchigen nichts ausrichten konnte. Mit diesem Schreiben in der Tasche - einem überaus vorsichtig formulierten, aber zugleich dezidiert ablehnenden Brief - kam Dreverhaven spät nach Hause. Er hatte es geahnt, in den letzten Tagen ließ sich der Schuft verleugnen, sooft er dort anrief. Er wußte, daß es gelogen war, er fühlte es. Dann kam am Abend dieser Brief, das erste und einzige Schriftstück, und er konnte nichts gegen ihn unternehmen. Vorzüglich redigiert, dahinter steckte ganz bestimmt ein Anwalt. Innerlich kochend kam Dreverhaven nach Hause und in einer Wut, die er zu verbergen wußte, nahm er das Mädchen Joba Katadreuffe. Das Mädchen war keine von denen, die schwach werden, sie hatte einen starken Willen, aber sie war ein Mädchen. Was ihr geschah, grenzte an Vergewaltigung, nicht ganz, und sie sah es auch nicht so. Sie blieb bei ihrem Herrn, nur sprach sie kein Wort mehr mit ihm. Er hatte ein schweigsames Wesen, es störte ihn nicht im geringsten. Das renkt sich schon wieder ein, dachte er, wenn es Folgen haben sollte, heirate ich sie. Und er schwieg ebenfalls. Nach einigen Wochen brach sie das Schweigen. ‘Ich bin in anderen Umständen.’ ‘So’, sagte er. ‘Gleich gehe ich.’ ‘So.’ Er dachte: Das renkt sich schon wieder ein. Binnen einer Stunde hörte er die Haustür ins Schloß fallen, nicht nachdrücklich, wie immer. Er lief zum Fenster. Da ging das junge Ding, mit einem prall gefüllten Rohrkoffer. Es war ein kräftiges Mädchen, sie ließ sich vom Gewicht nicht nach unten ziehen. Er sah sie in der einsetzenden Abenddämmerung dahingehen, es war in den letzten Tagen im April. Er drehte sich zum Tisch um mit den Resten des Mittagessens. Einen Moment stand er da, dachte nach, ein breitschultriger Mann, massig, ohne jeden Bauchansatz, ein felsenharter Kopf auf einem kurzen, breiten Hals, auf dem Schädel ein schwarzer Kalabreser. Das renkt sich schon wieder ein, dachte er, obwohl er seine Zweifel hatte. Dann wusch er eben selbst das Geschirr in der Küche ab. Das Mädchen Joba Katadreuffe ließ nichts mehr von sich hören. Da ihr Zustand sie nicht im geringsten behinderte, arbeitete sie weiter. Sie verdingte sich als Putzfrau. Als ihre Schwangerschaft nicht mehr zu verbergen war, sagte sie einfach, ihr Mann habe sie verlassen. Damals ging es ihr keineswegs schlecht, sie hatte immer reichlich zu essen und eine ordentliche Unterkunft. Bis zuletzt hatte sie genügend Stellen. Sie mußte nicht zur Arbeitsbörse gehen, wo man nachgeforscht, ihren Ledigenstand entdeckt hätte. Sie konnte tüchtig zupacken, sie hatte eine eiserne Konstitution, man empfahl sie immer weiter. In den letzten Monaten arbeitete sie nur in Haushalten ohne Kinder, so vermied sie die Peinlichkeit einer Situation in Familien mit Kindern; die kinderlosen Haushalte reichten ihr zum Leben. Sie hatte sich rechtzeitig für einen Platz in einem Entbindungsheim vormerken lassen, sie war zwar blutjung, aber keineswegs unwissend, sie besaß eine natürliche Weitsicht. Sie hatte auch den richtigen Zeitpunkt gewählt, sich ins Bett zu legen, und konnte so noch eine Weile ruhen. Ein kluges Mädchen, ohne Verwandte und Freunde, ein Mädchen, das nichts hatte lernen müssen, das alles wußte. Diese Joba. Sie fühlte sich bis zuletzt ganz ausgezeichnet. Das frische Gesicht mit den harten Zähnen und den sprechenden Augen nahm die Schwestern, die doch so viel gewohnt waren, ganz für sie ein. Und das trotz ihres Ernstes, ihrer Schweigsamkeit, ihres störrischen Tons. Man hatte gefragt, wie das Kind heißen solle. Jacob Willem. Wenn es ein Mädchen wäre, einfach Jacoba. Man wies sie darauf hin, daß der Vater unterhaltspflichtig sei. Sie antwortete prompt und pathetisch: ‘Das Kind wird nie einen Vater haben.’ ‘Ja, aber wir meinen nicht Vaterrechte, wir meinen nur, daß der Vater für dein Kind aufzukommen hat.’ ‘Nein.’ ‘Was heißt nein?’ ‘Ich will nicht.’ Man sagte ihr, daß sie sich nach ihrer Entlassung um Unterstützung an die Mutterfürsorge, die Kinderfürsorge wenden könne. Die kleinen, rötlichen Putzfrauenhände, dick, kindlich, kräftig, lagen reglos auf der Zudecke. Die dunklen Augen blickten störrisch, sie waren eindeutig abweisend. Der Unmut der Schwester legte sich schnell, sie fand das Kind zu lieb, las in seiner Halsstarrigkeit einen Anflug von Rasse. Joba war zu niemandem vertraulich. Ihre eine Bettnachbarin, aufdringlich neugierig, forschte vorsichtig nach dem Vater. Diese Nachbarin hatte eine Ahnung, sie wußte selbst nicht warum, daß irgendein reicher Kerl in die Angelegenheit verwickelt war. Joba antwortete: ‘Es ist doch gleich, das Kind kriegt nie einen Vater.’ ‘Warum nicht?’ ‘Darum nicht.’ Mit der Geburt ging es gar nicht voran. Das erschien dem Arzt merkwürdig. Ein so kerngesundes Mädchen. Aber es war eine Tatsache. Schließlich entschloß er sich zur Operation, Joba wurde weggefahren. Der Arzt hatte schon lange Erfahrung mit solchen Fällen. Aber diesen hier sollte er nie völlig vergessen, im Kreis von Kollegen sprach er mehrmals darüber, noch Jahre danach. Unter seinen Instrumenten sah er das betäubte Mädchen verwelken. In einer Stunde übersprang sie die Phase des Erwachsenseins, er fürchtete um ihr Herz, aber das Herz blieb völlig gesund. Die Kranke tat nichts weiter als schnell dahinzuwelken, wie eine Blüte im Giftgas. Wider jedes bessere Wissen hoffte er, es würde sich geben. Keineswegs. Sie hatte nur den scharfen, ernsten, den Rasseblick aus den Trümmern ihrer Jugend gerettet. Jeden Tag setzte er sich kurz zu ihr. ‘Du darfst vorläufig nicht arbeiten, du mußt den Vater in die Pflicht nehmen.’ ‘Nein.’ ‘Du mußt es für dein Kind tun.’ ‘Nein, nein und nochmals nein.’ ‘Schon gut’, beschwichtigte er. ‘Du mußt auf jeden Fall dein Kind anerkennen.’ Sie ließ es sich erklären und stimmte dann zu. Es war ihr erstes Ja. Sie wußte, daß es ein Junge war, aber sie fragte nicht nach dem Kind. Damit verspielte sie einiges Wohlwollen. Man kam nicht darauf, daß es einfach nicht in ihrer Art lag, auch nur den geringsten Gefallen zu erbitten, nicht einmal den, ihr das eigene Kind zu zeigen. Bei solchen Geburten hat das Kind selten zu leiden. Die Schwester brachte es am dritten Tag. ‘Sieh nur, Joba, was für Augen der Kleine im Kopf hat.’ Es waren ihre Augen, braun, fast schwarz. Das Kind hatte einen Schopf schwarzes Flaumhaar. ‘Du kannst ihm schon jetzt einen Scheitel ziehen’, scherzte die Schwester. Das Kind lag ungeduldig strampelnd bei der Mutter. In die Betten links und rechts kamen andere Frauen, und wieder andere. ‘Ich möchte gern gehen’, sagte Joba. Nach drei Wochen entließ man sie. Sie ging zu allen Schwestern und gab ihnen die Hand, eine kleine, blaß und schmal gewordene, knochige Hand. ‘Schönen Dank’, sagte sie zu jeder, ‘schönen Dank auch.’ ‘Schönen Dank’, sagte sie zu dem Entbindungsarzt. ‘Denk noch einmal darüber nach, was ich gesagt habe’, mahnte Dr. de Merree. ‘Die Adressen der Kinder- und der Mutterfürsorge hingen so viele Tage über dir, die wirst du jetzt sicher kennen.’ ‘Nein’, sagte Joba, ‘aber schönen Dank auch.’
F. Bordewijk Charakter. Roman von Sohn und Vater. Verschijnt herfst 2007: Verlag H.C. Beck |
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