Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde. Jaargang 32
(1913)– [tijdschrift] Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde– Gedeeltelijk auteursrechtelijk beschermd
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Versuch einer psychologisch-ästhetischen Würdigung von shakespeare's: Titus Andronicus und Jan Vos': Aran en Titus.Bei den Vorarbeiten zu einer Untersuchung über die Verwendung von Geistern in der holländischen Literatur bot sich die verlockende Gelegenheit, eine Parallele zu ziehen zwischen Shakespeare's: Titus Andronicus und Aran en Titus von Jan Vos. Zwar wurden beide Dramen schon verschiedentlich in Beziehung zu einander gebracht, doch in der Hauptsache nur zur Erforschung der Herkunft des Stoffes oder der Abhängigkeit beider Stücke voneinander. Eine Untersuchung auf psychologisch-ästhetischer Grundlage aber wird ein Bild von der Art des dichterischen Schaffens zu entwerfen suchen, wobei Shakespere's ‘ Jugendarbeit’ nicht so geringschätzig in den Winkel gestellt werden soll, wie es verschiedentlich Brauch ist. | |
Titus Andronicus I. Akt.Sh. eröffnet das Drama mit der Bewerbung der beiden Söhne des verstorbenen Kaisers um die Krone in Gegenwart des Volkes. Durch den Tribun Marcus wird auch der zurückkehrende Gotenüberwinder Titus Andronicus zum Kaiser vorgeschlagen, was vom Volke freudig begrüsst wird. Jetzt kommt Titus selbst mit den Gefangenen und seinen gefallenen Söhnen, die in der Familiengruft begraben werden. Als echter Römer offenbart | |
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sich uns Titus in seiner Rede, worin er seine teure Heimat wieder begrüsst und männlich stolz darauf ist, dass fünf und zwanzig seiner Söhne für ihr Vaterland fallen durften. Um die spätere furchtbare Rache der gefangenen Königin Tamora psychologisch zu erklären, lässt Sh. Lucius, den ältesten Sohn des Titus, das Sühnopfer für die im Kriege gefallenen Römer verlangen. Dieses besteht, altem römischem Brauche gemäss darin, dass der vornehmste der Gefangenen, in diesem Falle der älteste Sohn der Königin Tamora, dem Gotte Mars geopfert wird. Der Mutter Bitten sind vergebens; Lucius selbst vollzieht das Opfer hinter der Bühne. Nach diesem blutigen Ereignis führt uns Sh. als wundervollen Gegensatz ein herzerfreuendes Bild der Liebe und des Friedens vor Augen. Die holderblühte Tochter Lavinia begrüsst ihren aus wildem Schlachtentoben glücklich und siegreich zurückgekehrten Vater Titus. Der Tribun Marcus bewillkommt seinen Bruder und seine Neffen mit den herzlichsten Worten und verkündet, dass das Volk den grossen Sieger zum Kaiser auserkoren. Doch Titus lehnt diese höchste Ehre in rührender Bescheidenheit ab und schlägt als Würdigeren des letzten Kaisers ältesten Sohn, Saturninus, vor. Nach diesem Verzicht wird der Vorgeschlagene auch gewählt. Zum Ausdruck seines Dankes bittet der neue Kaiser um die Hand der lieblichen Lavinia. Bisher war eitel Sonnenschein. Nur die Opferung des ältesten Sohnes der gefangenen Königin zeigte uns eine schwarze Wolke in der Ferne. Jetzt aber treibt der Sturm das Wetter näher. Titus übergibt dem Kaiser die gesamte Beute, worunter sich die verführerische Königin befindet. Der Kaiser verfällt in unbezähmbare Liebesleidenschaft zu ihr und bereut seine vorschnelle Werbung um Lavinia. Rasch drängen sich die Wolken, die erste Entladung folgt; Lavinia wird vom Bruder des Kaisers, Bassianus, als seine versprochene Braut mit Unterstützung ihrer Brüder entführt. Mutius deckt den Raub mit dem Schwerte. Titus, empört über solche Schmach ersticht seinen | |
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verräterischen Sohn. Dies ist dem Kaiser ein willkommener Anlass, Titus die Freundschaft zu künden und ihn und die Seinen noch obendrein zu beschimpfen, zugleich aber die Gotenkönigin für sich als Gattin zu erobern. Zu der gleich darauf stattfindenden Trauung wird Titus nicht geladen. Als die Brüder des erstochenen Mutius sein Begräbnis in der Familiengruft verlangen, verweigert ihnen der tief gekränkte Vater die Erlaubnis und erst ihre vereinten Bitten und die Fürsprache des Tribuns vermögen diesen Entschluss zu ändern. Das drohend aufgezogene Unwetter verzieht sich rasch, indem Tamora eine allgemeine Versöhnung zustande bringt; doch dieses schnelle Verzeihen lässt eine schwüle Stimmung zurück. Es war kein reinigendes Gewitter. Am nächten Tage sollen sich alle an einer Jagd beteiligen. | |
I. Akt bei Jan Vos.Zu Beginn von ‘Aran en Titus’ begrüssen Saturninus und das Volk den heimkehrenden Sieger Titus, worauf dieser eine stolze, selbstbewusste Rede hält. Von einer Übergabe der Gefangenen wird nichts erwähnt; es ist also anzunehmen, dass sie von vornherein als Eigentum des Kaisers anzusehen sind. Als Saturninus die schöne gefangene Königin sieht, entbrennt er in heissester Liebe zu ihr und fleht und bittet in höchst unmännlicher Weise um die Liebe der stolz abweisenden Frau. Selbst Titus und Marcus suchen die Königin zu Gunsten des Kaisers zu stimmen. Als alles vergeblich ist, befiehlt plötzlich Titus ‘het hooft der Gotten’, nämlich den Mohren Aran, dem Gott Mars zu opfern (Über die Stellung des Mohren zur Königin wissen wir bisher lediglich aus der Personentafel, dass er der Buhle derselben ist). Sein Leben kann nur gerett werden, wenn die schöne Gefangene das Werben des Kaisers erhört. Als dieser hoch und teuer die Beständigkeit seiner Liebe beschwört, wird ihm endlich Gegenliebe verheissen. Jetzt aber suchen derselbe Marcus und Titus den Kaiser von seiner Liebe wieder | |
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abzubringen, da der Gott Menschenopfer, nicht die als Ersatz für den Mohren versprochenen Tieropfer verlange. Ihren Forderungen schliesst sich auch der Priester an, den Vos eigens eingefügt hat, um ihn und seinen Stand als Ausbund aller Schlechtigkeit darzustellen und durch den Mund des stets hochmütig schimpfenden und prahlenden Lasterhelden Aran das Verdammungsurteil über alle Pfaffen auszusprechen. Um dem Mohren erhöhte Bedeutung zu geben, lässt ihn Vos selbst nach seiner Rettung Schimpf- und Schmähreden halten, wodurch eine scheinbare Verwicklung entsteht, die aber gütlich beigelegt wird. Saturninus gibt nun Befehl, seine Braut zur Hochzeit feierlich zu schmücken. Da kommt Lucius und berichtet von dem Erscheinen eines Wundertieres, das Angst und Schrekken weit und breit verursacht, sodass selbst ‘de Klokken zijn aan 't Kleppen’. | |
Würdigung des ersten Aktes.Bei Vos fehlt die Thronbewerbung, welche Sh. Gelegenheit gibt, die guten Charaktereigenschaften von 3 Personen, die erst später handelnd auftreten, darzustellen und die Bedeutung der Hauptperson zu entwickeln, bevor wir sie auf der Bühne sehen. Titus zeigt sich in seiner Rede bei Sh. viel edler und bescheidener, aber doch von gerechtem Stolz erfüllt, sobald sein glühend geliebtes Vaterland in Frage kommt. Grossmütig lehnt er seine Wahl zum Kaiser ab, hochherziger Weise übergibt er dem neuen Herrscher die gesamte Beute und stellt sich in seinen Dienst. All diese Züge fehlen dem kurzsichtigen und selbstbewussten Welteneroberer Titus bei Vos. Psychologisch viel tiefer gedacht ist es, dass der älteste Sohn des Titus den ältesten Sohn der gefangenen Königin zum Opfer verlangt und das Opfer auch wirklich vollzogen wird. Damit wird der furchtbare Hass der Königin gegen das Haus des Titus viel verständlicher, als durch die blosse Bedrohung ihres Buhlen, dessen Leben sie aller- | |
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dings nur durch ihre erzwungene Liebe zu retten vermag. Dieser Umstand würde aber verlangen, dass sie ihre Rache auch auf den Kaiser ausdehnt, der den Zwang tatsächlich ausübte, während Titus nur die Veranlassung dazu bot. Die lieblichen Scenen des Friedens und der Liebe als wirkungsvolle Gegensätze zu dem blutigen Menschenopfer fehlen bei Vos. Schon durch ihr erstes Auftreten als zärtlich liebende Tochter gewinnt Sh.'s Lavinia unsere Zuneigung, sodass unser Mitgefühl bei ihrem späteren Schicksale grösser ist. Plötzlich erfolgt der Umschwung. Der Kaiser wird in die gefangene Königin verliebt. Bei Sh. hat er kurz vorher um die Hand Lavinias angehalten, die er nun schnöde zurückweist, ein Moment mehr, dass auch er am Schluss von der vergeltenden Rache ereilt werden muss. Der tiefgekränkte Vater ersticht seinen Sohn; durch diese Tat lernen wir Titus von einer anderen Seite kennen; er kann in Erregung unmenschlich sein. Dass seine Söhne und auch sein Bruder bei der Entführung Lavinias Stellung gegen den Vater nehmen, findet einen Gegensatz im 2. Akt, wenn trotzdem dieser selbe Vater im Staube um Gnade für seine Söhne bittet und sein Herzblut für seine Kinder hingeben will. Die Werbung des Kaisers um die schöne Königin ist bei Sh. kurz und hoheitsvoll; bei Vos wird aus dem Werben ein Liebesgebettel, das eines Kaisers höchst unwürdig ist. Warscheinlich wollte Vos bei solchen Scenen sein lyrisches Talent in vollem Lichte leuchten lassen, da er sie mit besonderer Weitschweifigkeit ausmalt. Die künstliche Aufregung am Ende des Aktes, verursacht durch das Geschimpf von Aran, wird durch Bassian, den Bruder des Kaisers, beschwichtigt, während Sh. die Versöhnung durch die falsche Tamora herbeiführen lässt, die ihr neues Amt scheinbar mit einer Tat des Friedens beginnen will. Sh. kündet uns für den nächsten Tag eine Jagd an; Vos ist das zu gewöhnlich; er lässt ein Wundertier erscheinen, um seine Zuhörer in Schrecken zu versetzen, uns aber es unverständlich | |
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zu machen, dass an einer solchen Jagd 2 Frauen teilnehmen, die sich noch dazu von der Gesellschaft trennen. Schon nach diesem ersten Akt erkennen wir, wie planvoll Sh. feine Fäden gesponnen, um die spätere Verwicklung herbeizuführen und wie wenig Verständnis Vos für psychologische Entwicklung zeigt und jetzt schon Anlagen zu Geschwätzigkeit und Künstlichkeit verrät. Dass er zudem ein geflügeltes Schwein erscheinen lässt, darf zweifellos auf Rechnung Senecas geschrieben werden, der Medea auf einem Drachen durch die Luft fliegen lässt. | |
Der II. Akt bei Shakespearebeginnt mit dem Auftreten des Mohren, der bisher nur eine stumme Figur war. Er muss dsshalb zuerst in einem Monolog dem Zuschauer Mitteilungen über seine Person und seine Absichten machen. Wir lernen ihn als Buhlen der schönen Königin kennen, die er fester an sich zu ketten verstand, als Prometheus an den Caucasus geschmiedet war. Zugleich offenbart er seinen Plan, sich selbst an die Stelle ihres jetzigen, mächtigen Gemahls zu setzen. Da wird er durch den Streit der beiden Brüder Chiron und Demetrius, Söhne des Titus, unterbrochen, die beide sterblich in Lavinia sich verliebten. Aaron weiss ihren Waffen ein anderes Ziel zu geben, als die brüderliche Brust, nämlich die nur mit Gewalt zu erwerbende Lavinia und ihren Geliebtcn Bassianus, den Bruderdes Kaisers. Dieser soll ermordet, seine Braut aber geschändet und ihrer Zunge beraubt werden. Eine kurze Jagdscene zeigt uns Titus mit seinen Söhnen, den Kaiser mit seinem Gefolge und Lavinia. Demetrius gibt seinem Bruder zu verstehen, dass sie auf eine andere Jagd gehen. Den erwähnten Plan teilt Aaron bei seinem Stelldichein im einsamen Walde der Königin mit, die sich von der Jagdgesellschaft getrennt hat, um ihren Buhlen zu treffen. Um den Charakter Tamoras nicht vollkommen unweiblich zu zeichnen, erwählt Sh. den Mohren zum Mitträger der Rache für das seiner Geliebten zugefügte Leid, indem er so nicht der | |
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Frau allein die ganze Schuld auflädt, sondern auch ihrem sündigen Buhlen seinen Teil zumisst. Bassianus und Lavinia treffen auf das saubere Paar. Die Kaiserin gibt der Anweisung Aarons gemäss den beiden spitze und bald beleidigende Worte zu hören. Nicht lange danach treten Chiron und Demetrius auf und verteidigen die angeblich beleidigte Ehre ihrer Mutter dadurch, dass sie Bassianus ermorden und die um Gnade flehende Lavinia in den Wald schleppen, um ihren Plan zu vollführen. In grimmer Wut verweigert Tamora der bittenden Lavinia nicht nur einen raschen Tod, um sie vor der Wollust ihrer Söhne zu bewahren, sondern fordert diese zur Begehung jeder möglichen Schandtat an dem Mädchen auf; ein schreckliches Gemälde eines Frauencharakters. Rasch wird Bassians Leiche in ein Loch geworfen; da kommt Aaron, die beiden Söhne des Titus zum Verderben führend; Martius fällt in die finstere Grube. Sein Bruder Quintus ist vor Schreck derart bestürzt, dass er seinem Bruder nicht besser zu helfen weiss, als dass er selbst ebenfalls zu ihm hinunterspringt, nachdem er sich vergeblich bemüht hat, ihn heraufzuziehen. Dort unten liegt bereits Bassians Leiche, die Martius durch das Licht des Ringes, den der Ermordete trägt, erkennt. Aaron hat den König und das ganze Gefolge herbeigeholt. Tamora übergibt dem Kaiser den Brief Aarons, den Titus selbst gefunden. Das von Aaron vergrabene Gold, durch das die beiden Brüder zur Ausübung des Mordes an Bassianus bestochen sein sollen, wird natürlich zu Tage gefördert. Titus fleht um Gnade für seine Söhne, an deren Schuld er nicht glauben kann. Die nächste Scene zeigt uns Lavinia und ihre Peiniger nach der Tat. Die Gefühlsroheit wird dadurch aufs höchste getrieben, dass die beiden Brüder das arme Mädchen mit dem Verlust ihrer Zunge und Hände noch höhnen und ihr die Unmöglichkeit vorhalten, die Missetäter zu enthüllen oder sich selbst das Leben zu nehmen. Marcus findet seine Nichte ruhelos durch den Wald flüchtend; auch vor ihm will sie fliehen, doch gelingt es ihm, sie zum Bleiben zu veranlassen und ins Vaterhaus zurückzuführen. | |
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II. Akt bei Jan Vos.Der Mohr ist uns aus dem ersten Akte schon bekannt. Vos lässt also sogleich die beiden Söhne der Königin in Kampfes stimmung gegeneinander auftreten. Aran findet sie und will ihren Mut seinen Zwecken dienstbar machen; deshalb weist er die beiden in Titus Tochter Rozelyna verliebten Brüder darauf hin, was das Gotenreich vom Vater des Mädchens zu erdulden hatte. Er will sie dadurch zur Rache auffordern, dass er sich an ihre Vaterlandsliebe wendet und ihnen einflüstert, dass diese die unnatürlichsten Verbrechen rechtfertige. Die beiden Brüder schrecken aber vor solchen Taten, wie Aran sie ihnen empfiehlt, entsetzt zurück; die Liebe siegt über die Pflicht (Pflicht nach Auffassung Arans). Aran muss andere Mittel gebrauchen, um Quiro und Demetrius für seinen Plan zu gewinnen. Er wendet sich an ihre Ehre und Tapferkeit. Titus' Güte aber hat sie mit ihrem Schicksal versöhnt. Der Mohr sucht nun dem Feldherrn die schwärzesten Pläne unterzuschieben, aber selbst wenn sie wahr sind, schrecken die beiden zurück vor der Unterstützung durch die mächtige Priesterschaft, deren Titus sicher ist. Dieser Einwand gibt dem Mohren wieder Gelegenheit, sich gegen den vom ihm aufs äusserste gehassten Stand zu wenden. Doch Quiro ist taub gegen sein Verlangen und schwört ihm ‘bei dem unterird'schen Reich’, dass er ihn mehr hasst, als er ihn je geliebt, und Demetrius trägt immer noch das Bild der lieblichen Rozelyna im Herzen. Alle Bemühungen des Mohren sind also umsonst; sein Plan droht zu scheitern; da lässt die Erwähnung des unterirdischen Reiches einen glücklichen Gedanken in ihm entstehen. In seiner höchsten Erregung glaubt er den Geist des erschlagenen Gotenkönigs zu sehen, aber nicht in seiner früheren Gestalt, wie er auf dem Throne sass oder das Heer in den Kampf führte, sondern: Met spierelooze schinkelen;
Zijn oogen, vol van vuur, staan in twee holle winkelen;
Zijn baardt is roodt van bloedt; de hairen zijn bemorst
Van 't uitgespaste brein. Hoe ijslijk gnapt zijn borst!
Het aanzicht is doorkrabt.
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Diese grauenhafte Vision übt aber nicht den mindesten Einfluss auf die beiden Brüder aus. Als Aran sie geheimnisvoll frägt: Zaaght gij het toortslicht niet, dat voor u oversnorden?
da erklären sie ihm, dass er wohl träume und verlangen höhnisch, doch auch etwas davon zu erfahren, was ihr Vater ihnen mitzuteilen habe. Arans List müsste also völlig missglücken, wenn nicht eben jetzt Bassianus mit Rozelyna käme; da letztere ihre liebende Besorgnis für das Leben Bassianus ausdrückt, der mit auf die Jagd nach dem Wundertier gehen will, erkennen die lauschenden Brüder die Aussichtslosigkeit ihrer Liebe. Was Aran mit all seiner berechnenden List nicht zu stande brachte, das erreicht jetzt die enttäuschte Liebe spielend. Wütender Hass tritt an die Stelle glühender Liebe in den Herzen der der beiden Brüder. Demetrius erinnert sich an die Vision Arans und gläubig frägt er nun: Wat wil ons vaders schim?
worauf Aran erwidert: Das gij na wraak zult staan.
und nun beschreibt er die Erscheinung in den grausigsten Farben. Es ist ihm ein leichtes, die rachedurstigen Brüder zu jeder möglichen Schandtat zu gebrauchen. In schlauer Weise lässt Aran seinen Plan durch den Geist entwickeln: das ganze Haus des Titus soll im Blute schwimmend untergehen. Aran selbst empfiehlt das Zungenabschneiden und Quiro will Rozelyna die Hände abschlagen. Hier fügt auch Jan Voss eine kurze, aber ganz lebendige Jagdszene ein. Darauf treffen sich Aran und die Königin allein im Walde. Ersterer macht der neuen Gattin des Kaisers Vorwürfe, dass sie ihn verlassen habe; doch sie weist darauf hin, dass sie ja ihm zuliebe ihren ersten Gatten umgebracht und dass ihr Herz stets für ihn schlage. Aran entwickelt ihr seine teuflischen Pläne. Vos lässt Titus 5 Söhne haben, in der deutlich zu erkennenden Absicht, dadurch die Zahl der Frevel noch erhöhen zu können. Für die beiden ältesten Söhne des Titus | |
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erdenkt er eine etwas zweifelhafte Todesart; sie müssen sich nämlich bei dem Sturz in eine Grube zu Tode fallen. Durch Arans Brief, dessen Wortlaut J. Vos angibt, werden die beiden jüngeren des Brudermordes und auch des Strebens nach dem Leben des Kaisers bezichtigt. Das Zusammentreffen der beiden feindlichen Parteien findet bei Vos auf die gleiche Weise statt, wie bei Sh., ebenso die Ausführung des ersten Teiles von Arans Plänen; zugleich werden sie durch Aussagen Thameras eines verbrecherischen Anschlags auf die Kaiserin geziehen, was durch Aran bestätigt und durch Vorzeigen der von Pollander bei der Flucht verlorenen Klinge erwiesen wird. Bei den Wehklagen anlässlich der Entdeckung der Leichen zeigt sich bei Vos ein unüberwindlicher Hang zu vielen Reden. Titus z.B. weiss seinem wortreichen Schmerze kaum Einhalt zu tun. | |
Würdigung des zweiten Aktes.Sh. beginnt mit der Wirkung der enttäuschten Liebe. Jan Vos aber schaltet eine in der Anlage äusserst wirkungsvoll gedachte Steigerung der Gründe ein, welche die verliebten Brüder zur Rache aufstacheln sollen. Umsonst wendet sich der Mohr an ihre heiligsten Gefühle, die Liebe siegt. Vergeblich lässt er selbst die übernatürlichen Mächte eingreifen, die Gewalt der Liebe trotzt auch ihrem Grauen. Der Umschwung erfolgt erst, als die Brüder die grosse Enttäuschuug erleben. Um nicht persönlicher Motive geziehen zu werden, lässt der verschlagene Mohr den Geist seinen eigenen Racheplan entwerfen, sodass er selbst nur in dessen Auftrag zu handeln scheint. Geradezu unmenschlich grausam wird bei Sh. die sich persönlich beleidigt fühlende Königin gegenüber Lavinia, an der sie zunächst ihre Rache kühlt. Bei Vos tritt diese Figur nicht so sehr in den Vordergrund, weshalb diese Scene bei ihm kürzer gestaltet ist. Dafür erfahren wir, dass die Königin ihrem Buhlen zuliebe bereits ihren ersten Gatten ermordet hat. Der Wegfall des angeblichen Brudermordes bei Sh. wird reich- | |
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lich ersetzt durch den Hohn, mit dem die beiden ihrer Mutter völlig würdigen Söhne die arme Rozelyna nach der an ihr vollbrachten Freveltat behandeln. Als Martius in die Grube fällt, lernen wir bei Sh. Quintus als treubesorgten, liebenden Bruder kennen, ein leuchtendes Bild gegenüber dem von Tamera stammenden Brüderpaar. Dadurch, dass Sh. Tamora den verhängnisvollen Brief, der durch Titus gefnnden wird, dem Kaiser überreichen lässt, hat sie wiederum Teil an der Ausübung der Rache. Jan Vos lässt den Kaiser auch noch ein rein persönliches Interesse an der Verfolgung der Mörder nehmen, da der Brief auch einen Anschlag auf sein Leben enthält. Die Unwahrscheinlichkeit bei Sh., dass der Ring Bassians das Gesicht des Ermordeten in der finsteren Grube so erhellt, dass Martius es erkennen kann, findet ihr Gegenstück bei Vos darin, dass die beiden Brüder bei ihrem Sturz in die Grube ohne weiteres den Tod finden. Vos gibt die Todesart Bassians ausdrücklich an, mit der Absicht, Grauen beim Zuschauer zu erwecken; denn er wird nicht nur erstochen, sondern auch noch aufgehängt. Zum Beweise der Schuld von Titus' Söhnen fügt Vos noch einen verbrecherischen Ueberfall auf die Kaiserin bei, den Aran von ihr abgewendet haben will. Bei der Verfolgung der Täter habe er Pollander und Melaan erkannt. Zur Erhärtung der Wahrheit zeigt er die Klinge des ersteren vor. Als letzte Scene dieses Aktes zeigt uns Sh. die verstümmelte Lavinia, wie sie von Marcus im Walde aufgefunden wird. Dieser ahnt auch sogleich den tieferen Grund ihrer Verstümmelung. Vos stellt diesen Vorgang später, nämlich im ersten Bilde des III. Aktes dar. Sh. erringt dadurch den Vorteil, dass der Zuschauer bald nach der Friedensscene durch den grausigen Anblick des Mädchers zum Mitleid gerührt wird und am Ende des Aktes in banger Erwartung sich die Frage stellt: welche Wirkung wird dieser Anblick anf ihren Vater und ihre Brüder ausüben? So wird im III. Akt beim Zuschauer ein vom | |
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ersten zeitlich getrennter zweiter Akt des Mitleids wachgerufen. Vos hat also im II. Akt manche Einzelheiten verwendet, welche gegenüber dem I. Akte auf eine vollständigere Behandlung der Quelle schliessen lassen; sein Bestreben neigt allerdings in deutlich wahrnehmbarer Weise zur Hervorhebung des Schrecklichen, Grausigen, Blutigen. Sh. fügt andererseits wieder neue feine Striche zu seinem im ersten Akt entworfenen Gemälde. | |
III. Akt bei Shakespeare.Titus fleht die Tribunen um Gnade an für seine Söhne. Er, der Retter des Reiches, der grossmütig auf die Krone verzichtete, wirft sich in den Staub vor den Richtern, um das Leben seiner ihm noch gebliebenen Kinder zu retten; in seiner Herzenangst bemerkt er nicht, dass er allein gelassen wurde. Endlich gelingt es Lucius, Titus' ältestem Sohne, den Vater wieder zu Vernunft zu bringen. Titus ist erstaunt, Lucius mit gezogenem Schwerte vor sich stehen zu sehen; auf seine Frage nach dem Grunde dieses Auftretens erzählt Lucius, dass er seine beiden Brüder mit Gewalt befreien wollte, wofür er von den Richtern mit lebenslänglicher Verbannung bestraft wurde. Gleich darauf wird der unglückliche Vater von einem neuen, herzbrechenden Schicksalsschlag heimgesucht: Seine verstümmelte Tochter wird ihm durch Marcus zugeführt. Kaum ist der überquellende Schmerz zum Ausbruch gekommen, da erscheint Aaron, um eine Hand von Titus, Lucius oder Marcus zu verlangen, wodurch vom Kaiser die Rückgabe der verurteilten Söhne erlangt werden könne. Zwischen Vater, Bruder und Onkel entspinnt sich nun ein edler Wettstreit; jeder will das Opfer bringen; aber während Lucius und Marcus eine Axt holen, lässt sich der Vater von Aarons Schwert die Hand wirklich abhauen: ein zweiter Sieg der Vaterliebe. Wurde Titus durch den Anblick der unglücklichen Lavinia bis ins innerste Herz getroffen, sodass er seinem Schmerze | |
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über diese unverdienten Leiden kaum Einhalt zu gebieten weiss, so raubt ihm die Schurkerei Aarons, der die Köpfe der Brüder samt der angeblich vom Kaiser verschmähten und deshalb nutzlos geopferten Hand zurückschickt, völlig den Verstand; Lucius sinkt bei dem Anblick ohnmächtig nieder. Marcus versucht, den getrübten Sinn des Bruders zu entwölken. Für ihn ist der Schmerz zu gross, um Raum in seinem Herzen finden zu können; ein anderer Gedanke ergreift ihn: Rache zu nehmen für solche Freveltaten. Und so erteilt er Lucius die Aufgabe, bei den Goten eine Armee zu sammeln und mit ihr die Rache an ‘ Rome and Saturnine’ zu erfüllen. Sh. zeigt, wie wir schon beobachteten, das ausgesprochene Bedürfnis nach gegensätzlichen Wirkungen. So führt er uns denn nach letzten blutigen und grausigen Ereignissen ein Bild der Ruhe vor Augen und versetzt uns an die Tafel in Titus' Haus; aber trotzdem hören wir das unterirdische Grollen des Vulkans; der anscheinend unbedeutende Vorgang, dass Marcus eine Fliege auf dem Tisch mit dem Messer tötet, verrät doch den nahen Ausbruch der verhaltenen Kräfte, da die Fliege mit einem ‘coal-black Moor’ verglichen wird. | |
Der III. Akt bei Jan Vosgestaltet sich dem von Sh. ganz ähnlich. Zunächst sehen wir Marcus und Rozelyna, dann den für seine Söhne flehenden Titus, der selbst sein Herzblut für sie hinzugeben bereit ist; hierauf die Begegnung der verstümmelten Rozelyna mit dem Vater und Bruder; nun folgt das Auftreten Arans in langer Rede mit noch viel längerer Gegenrede des Titus. Der Moor verlangt des alten Titus rechte Hand; dies veranlasst den bekannten Wettstreit zwischen Vater, Bruder und Onkel der Verurteilten, trotzdem ausdrücklich des Titus Hand verlangt wird. Nun folgt das Opfer der Hand durch den Vater, die Rücksendung derselben samt den Häuptern der Brüder. Titus ruft wehe! und fleht de nHimmel um Rache an. | |
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In fast endlosen Klagen drückt Titus seine Verzweiflung an der Hilfe des Himmels aus; nur blutige Rache kann sein Herz erleichtern. Marcus rät dem Wütenden zur Mässigung, erzielt aber keinen Erfolg; Titus ruft vielmehr die ganze Hölle zu seinen Diensten an. Erst die Mitteilung des Lucius, dass seine Armee vor den Toren der Stadt stehe, vermag den Zauderer Marcus zur Teilnahme an dem Rachewerke zu bestimmen. Angesichts der unentschlossenen Haltung seines Bruders findet es Titus für notwendig, durch feierlichen Eid sich nicht nur die Hilfe seines Sohnes, sondern auch die seines Bruders zur Ausführung der Rache am Kaiser und seinem ganzen Hofe zu sichern. Als sie zu schwören beginnen, ertönt eine Stimme, unsichtbar und geheimnisvoll; trotzdem sie zweimal den Platz wechseln, um nicht vom Echo irre geleitet zu werden, hören sie jedesmal ihre schwörenden Worte wiederholt. Schliesslich erkennt Titus den Klang der Stimme, es ist die seiner ermordeten Söhne Klaudil und Gradamard. Auf seine Frage nach ihrem Begehren rufen sie: Wij willen niet dan wraak (s. 79)
Hierauf verschwinden die Geister, ohne die Namen der Schuldigen enthüllt zu haben. Jetzt erst wird der Eid vollständig geleistet. Jan Vos führt uns nun ins Heerlager und lässt Lucius mit einigen ‘Kornellen’ ein Gespräch zwischen Aran und den beiden Missetätern belauschen, die Rozelyna so schrecklich zugerichtet haben; als sie sich dieser Tat noch rühmen, können die Horcher nicht länger mehr an sich halten; sie stürmen vor - und lassen Aran eine lange Erzählung all seiner verübten Missetaten halten. Die beiden Söhne Tameras entkommen auf diese Weise; der Mohr aber wird schliesslich festgenommen und in verschlossenem Wagen ins Haus des Titus verbracht. | |
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Würdigung des III. Aktes.Bei den im ganzen gleichen Scenen dieses Aktes sticht die gedrängte Kürze Sh. sehr vorteilhaft ab gegenüber der Redseligkeit in ‘Aran en Titus’. Sh. benützt die Scene, in welcher der Mohr das Abhauen der Hand verlangt, dazu, um den Charakter des Titus in helleres Licht zu rücken. Dadurch nämlich, dass er Aran die Hand entweder von Titus oder von Lucius oder auch von Marcus fordern lässt, erscheint uns das Opfer grösser, das Titus für seine Söhne bringt, die kurz vorher sich so unkindlich gegen ihren Vater benommen. Dafür versucht Jan Vos eine Zeichnung von Marcus' Charakter zu geben, der nicht von feuriger Rache hingerissen wird, sondern Vorsicht und Bedachtsamkeit dem ungestümen Drängen seines Bruders entgegensetzt. Durch öftere Anrufung des Himmels und der Hölle werden wir auf die folgende Geisterscene vorbereitet, die gegenüber dem unsicheren Verhalten von Titus' Bruder auch gerechtfertigt erscheintGa naar voetnoot1). Die Tafelscene im Hause des Titus mit dem wirkungsvollen Abschlusse fehlt bei Vos. Der III. Akt von Aran en Titus schliesst mit der Gefangennahme des Mohren, dessen Gespräch mit den beiden Söhnen Thameras von Lucius belauscht wird. Sh. bereitet im IV. Akt diese Gefangennahme durch eine eigene Scene (IV. 2. Scene 2. Teil) vor und lässt Amme und Kinderfrau ermordet werden. Hätte Jan Vos hievon etwas in seiner Quelle vorgefunden, so würde er sich diese Gelegenheit sicher nicht haben entschlüpfen lassen, weitere Gräuel einzuflechten, wie es Sh. tut. Der Schwur findet bei Sh. erst im IV. Akte statt. Gerade in diesem Teil des Dramas zeigt Vos am deutlichsten den Mangel seines Gefühles für Handlung und seine Vorliebe für das Rhetorische, | |
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dessen Auftreten sich auf die damals allgemein übliche Nachahmung Senecas gründet. | |
IV. Akt bei Shakespeare.Der kleine Lucius flüchtet sich vor seiner Tante zum Grossvater. Lavinia wünscht anscheinend eines der Bücher, welche der Kleine in seinem Schrecken bei ihrem Anblick fallen liess; sie zeigt auf Ovid's Metamorphosen; man hilft ihr darin blättern, bis sie schliesslich auf eine Seite besonders ihre Blicke heftet; dort steht die Geschichte von Philomela; auf diese Weise wird der Frevel enthüllt. Um nun auch die Namen der Täter zu erfahren, ersinnt Marcus ein Verfahren, um Lavinia schreiben zu lassen. Er zeichnet seinen Namen in den Sand mit Hilfe eines Stabes, den er im Munde hält und mit den Füssen führt. Lavinia ahmt sein Beispiel nach und schreibt: ‘Stuprum, Chiron, Demetrius’ (Akt IV, Sc. I, Vs. 79). Nach dieser Enthüllung leisten Titus, sein Sohn und Bruder den Racheschwur. Selbst der kleine Lucius will seinen Mut an den Frevlern kühlen. Durch sein mutiges Verhalten erwirbt er sich die Erlaubnis, mit der Herausforderung des Titus an den kaiserlichen Hof geschickt zu werden. Aaron errät zwar den Grund für das Erscheinen des Knaben, offenbart aber seine Gedanken nicht. Nun tritt eine Amme mit einem neugebornen schwarzen Knäblein auf, dem Sohne der Kaiserin und Aarons. Demetrius und Chiron wollen diese lebende Schande ihrer Mutter umbringen, doch Aaron weiss Rat; das Knäblein will er bei seinem Vater aufziehen lassen; die bei der Geburt anwesende Amme und Kinderfrau werden durch Aaron zum ewigen Schweigen gebracht. Um dem Kaiser bei Ausübung der Rache auch moralische Qualen zu bereiten, lässt Titus Pfeile abschiessen, an denen Zettel hängen mit der Aufschrift: ‘Ad Jovem’, ‘Ad Apollinem’, ‘ Ad Martem’ u.s.w., gleich als ob die Götter helfen müssten, Gerechtigkeit auf Erden zu verschaffen. Titus gibt auch einem Clown, der an den Hof 2 Tauben zu bringen hat, einen den | |
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Kaiser beleidigenden Brief mit. Die nächste Scene zeigt uns die Wirkung der Schmähungen auf den Kaiser. Zuletzt kommt auch noch Aemilius und berichtet von dem Anmarsch des unter Lucius stehenden Heeres gegen Rom. Die allgemeine Ratlosigkeit weiss Tamora's listiger Einfall zu beseitigen; sie will den alten Titus, den sie für verrückt hält, mit süssen Worten bezaubern und dadurch erreichen, dass er selbst seinen Sohn zurückruft. Im Hause des alten Titus soll die Zusammenkunft stattfinden; Aemilius wird ins feindliche Lager abgesandt, um Lucius dazu einzuladen. | |
IV. Akt bei Jan Vos.Der IV. Akt beginnt mit einer zweiten Geistererscheinung. Die Häupter von Pollander und Melanus, sowie die Geister von Klaudillus und Gradamard werden sichtbar und fordern Andronikus zur Rache auf. Als Titus frägt, an wem er sich rächen soll, enthüllt ihm ‘Pollanders Hooft’ die Schuld des Mohren. Hierauf folgt ganz ähnlich wie bei Sh. die Entdeckung der Schändung von Titus' Tochter und die Angabe der Täter. Der kleine Askanius, Lucius' Sohn weiss auch bei Vos seinen Mut zu zeigen, doch bleibt es hier bei den Worten; denn die moralische Rache am Kaiser fehlt bei Vos; auch vom Anrücken des unter Lucius stehenden feindlichen Heeres gegen Rom und dem Plane der Kaiserin durch List diese Gefahr abzuwenden, erfahren wir nichts. Vielmehr tritt ganz unvermittelt Thamera als ‘Rache’ auf begleitet von ihren Söhnen in der Gestalt von ‘Raub’ und ‘ Mord’. Titus erkennt sie sofort an der Stimme, lässt sich aber nichts merken, sondern wiegt Thamera dadurch in völlige Sicherheit, dass er sich rettungslos in sie verliebt stellt. Als die verkleidete Rachegöttin ihrem Ziele näher rückt und Titus' Rache an seinem ältesten Sohn für die Ermordung Bassians verlangt, verspricht er ihr scheinbar die Erfüllung aller Wünsche und erklärt, dem Mörder von des Kaisers Bruder Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Thamera glaubt nun ihr Ziel erreicht | |
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zu haben und will mit ihren Begleitern verschwinden; aber Titus verlangt, dass ‘Raub’ und ‘Mord’ dableiben, um durch ihre Gegenwart sein Herz noch mehr zur Rache anzuspornen. Kaum ist Thamera fort, so ruft Titus seinen Bruder und die ganze Dienerschaft herbei. Quiro und Demetrius werden gefangen genommen und mit Hilfe Rozelynas abgeschlachtet, um zum Mahle zubereitet zu werden. Dann kommt ein Bote und verkündet auch die Gefangennahme des Mohren durch Lucius. | |
Würdigung des vierten Aktes.Die Entdeckung der Schändung von Titus' Tochter mit Hilfe Ovid's klingt bei keinem Dichter sehr natürlich, zumal hernach das Verbrechen auch durch das Schreiben in den Sand enthüllt wird. Das Bestreben nach Ausführlichkeit lässt Vos Lavinia einen ganzen Satz schreiben, während es Sh. nur auf die 3 wesentlichen Worte ankommt; ebenso übersetzt Vos den ganzen Text aus Ovid, um seine Gelehrsamkeit leuchten zu lassen. Sh. aber setzt den Inhalt desselben als bekannt voraus, was um so eher möglich ist, als schon im II. Akt, Scene IV Marcus das Verbrechen ahnt und dieses sein Vermuten offen ausspricht. Um den Vater zur baldigen Ausführung seines Planes anzuspornen, erscheinen bei Vos die Geister der 4 Söhne ‘sühnelose Rache’ heischend. Sh. verlegt die Leistung des Racheschwures in die Zeit der höchsten Erregung sämtlicher Personen, benötigt also nicht das Auftreten eines Geistes. Der kleine Sohn von Lucius findet bei Sh. Gelegenheit, seinen Mut zu beweisen und so ebenfalls an der Ausübung der Rache teilzunehmen. Wie schon erwähnt, fehlt bei Vos der Plan des Titus, dem Kaiser auch moralische Leiden zuzufügen, sodass der Kleine mehr in den Hintergrund tritt. Die Gefangennahme des Mohren erfolgt bei Vos auf ziemlich plumpe und völlig undramatische Weise, während Sh. Gelegenheit nimmt, in diesem blutrünstigen Stück wiederum der Liebe einen Platz anzuweisen und sie zugleich zum tragischen Konflikt zu | |
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verwenden; denn als Aaron sein neugebornes Söhnchen sieht, ergreift diesen verstockten Sünder doch menschliches Rühren und er bringt es nicht über sich, sein Kind kaltblütig wieder aus der Welt zu schaffen. Bei dem Versuch, die Frucht seiner Liebe mit Thamera seinem Vater zur Erziehung zu bringen, wird er, ein Opfer seiner Vaterliebe, gefangen genommen. Die verkleidete Thamera und ihre Söhne treten bei Jan Vos bereits im IV. Akte auf mit dem Plane, Titus zur Ermordung seines ältesten Sohnes zu veranlassen; dadurch wird die Königin zur Mitträgerin der Rache, deren Seele bisher der Mohr war; bei Sh. versprechen die Verkleideten Titus die Erfüllung seiner Rache. Die Scene findet sich in Titus Andronicus am Anfang des V. Aktes, wobei Sh. wohl die Absicht hatte, die gesamte grausige Rache des betrogenen Vaters zu einheitlicher Wirkung zu bringen. Das Bild, das wir uns bisher von Jan Vos entwerfen konnten, erleidet durch den IV. Akt keine Aenderung, vielmehr zeigt sich abermals sein Hang zum Grausigen, ebenso, wie der zum Rhetorischen. Sh. offenbart uns aber neue Züge tiefster psychologischer Ueberlegung. | |
V. Akt bei Shakspeare.Eine Scene im Lager des Lucius zeigt uns den mit seinem Kinde gefangenen Mohren; beide sollen allsogleich aufgeknüpft werden. Doch Aaron weiss das Leben seines Söhnchens dadurch zu retten, dass er die Enthüllung wichtiger Geheimnisse verspricht. Trotzdem er selbst weder an Himmel noch an Hölle glaubt, muss Lucius ihm zuerst einen heiligen Eid schwören, die Fürsorge für das Knäblein übernehmen zu wollen. Dann erst legt Aaron das Geständnis ab, dass er Grund und Urheber nicht nur der verbrecherischen Taten war, durch die Titus' Haus so schwer getroffen wurde, sondern dass er auch eine Unzahl anderer Greueltaten auf dem Gewissen hat. Trotzdem bedauert | |
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er es wiederholt, nicht noch mehr der gleichen Taten vollbracht zu haben. Aemilius überbringt als Abgesandter des Hofes Lucius die Einladung zu den Verhandlungen im Hause seines Vaters. Dort hat sich inzwischen die als ‘Rache’ verkleidete Thamora mit ihren Söhnen eingefunden, welche als ‘Raub’ und ‘Mord’ auftreten. Titus stellt sich wahnsinnig, sodass die Verkleideten seine Antworten für Zugeständnisse halten. Im Glauben, nicht erkannt zu sein und ihren Plan vollständig erreicht zu haben, lässt Thamora auf Titus' Verlangen ihre beiden Söhne zurück; zuletzt verspricht sie ihm, alle seine Feinde zu einem Mahle in seinem Hause zu vereinigen, wenn auch Lucius daran teilnehme. Nach dem Fortgehen der Kaiserin erfolgt die Abschlachtung ihrer Söhne. Eine kurze Scene zeigt die Verbringung des gefangenen Mohren ins Haus von Titus. Dann erscheint der Kaiser mit seinem ganzen Gefolge an Titus' Tafel. Dieser macht den Koch und Aufwärter; auch Lavinia bedient. Auf die Frage des Gastgebers an den Kaiser, ob Virginius recht handelte, dass er seine geschändete Tochter erschlug, erwidert dieser ahnungslos in zustimmendem Sinne; daraufhin ersticht Titus seine Tochter, gibt dem Kaiser die Erklärung für seine Tat und nennt ihm die Namen der Missetäter; als sie der Herrscher vor seinen Richterstuhl zu ziehen verlangt, erklärt Titus die Rache an ihnen bereits für vollzogen, ihr Fleisch sei eben bei dem Mahle verzehrt worden. Um seinen Rachedurst völlig zu stillen, ersticht Titus nun auch die Anstifterin der blutigen Taten, die Kaiserin; dafür erleidet er aber selbst den Tod durch ihren Gemahl. In diesem Augenblick stürmt Lucius vor und durchbohrt den Mörder seines Vaters. Marcus und Lucius rechtfertigen ihre Taten vor dem versammelten Volke und Lucius wird als Kaiser begrüsst. Lucius küsst zum letztenmale die kalten Lippen seines Vaters; auch Marcus nimmt Abschied von der Leiche; der kleine Lucius | |
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aber wird von seinem Vater an die Güte und Liebe erinnert, die der Grossvater ihm allzeit bewies. Aaron wird nun von Lucius dazu verurteilt, bis zur Brust in die Erde eingegraben zu werden und in dieser Lage zu verhungern; dann werden die Leichen zu Grabe gebracht. | |
V. Akt bei Jan Vos.Thamera hat ihren Gemahl von der Schuld des ältesten Sohnes von Titus überzeugt; da tritt Lucius auf, als sein eigener Kämmerling verkleidet und meldet, dass er soeben den zur Strafe geforderten Mörder (Lucius) erschlagen habe. Der Kaiser und seine Gemahlin begeben sich zum Versöhnungsmahl in Titus' Haus; auch der vermeintliche Kämmerling wird dazu eingeladen. Saturninus frägt nach den Söhnen seiner Gemahlin. Titus gibt die Antwort: Die overdeugdelijk, en hooggebooren broeders,
Die zullen daadlijk zijn in d'ommering haars moeders,
.............. (S. 102)
was den Kaiser beruhigt, da er den Sinn der Worte nicht kennt. Die Belustigungen zum Mahle beginnen. Titus reicht nun der Kaiserin einen mit Wein (und dem Blute ihrer Söhne) gefüllten Becher. Als sie nach der üblichen Spende für die Götter daraus trinkt, geht eine Wandlung mit ihr und dem Weine vor: ihre Hand beginnt zu sinken, der Wein springt zurück. Zudem erscheinen die Geister von Quiro und Demetrius, doch nur für Thamera sichtbar. Auch das Licht erleidet für sie eine Veränderung. Saturninus will seine Gattin aufheitern. Doch sie spürt etwas Lebendes im Busen und ihr Mutterherz ahnt, dass ihren Söhnen etwas zugestossen sein muss. Sie verlangt ihre Kinder zu sehen; jetzt tritt Rozelyna mit einer verdeckten Schüssel in den Saal. Saturninus will wissen, was darin verborgen ist, bekommt aber von dem Mädchen keine Antwort; diese erhält er vielmehr von Titus, der die an seiner Tochter begangene Freveltat dem Kaiser enthüllt. Um Rozelyna nach seinem Tode nicht vaterlos zurückzulassen, | |
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ersticht er sie vor den Augen der Gesellschaft. Der Kaiser erklärt, die Missetäter vor sein Gericht fordern zu wollen. Titus erwidert, dass die Mörder schon hier seien. Saturninus versteht den Sinn der Rede nicht, bis er die volle Wahrheit erfährt. Die Köpfe der beiden Brüder werden ihm zum Beweise gezeigt. Thamera will nun die Ueberreste ihrer Söhne haben; Titus offenbart jetzt auch die Verwendung der Leichen zum Mahle, das sie soeben genossen. Der Kaiser ist entsetzt über solche Taten und befiehlt den Gastgeber zu fassen, um ihn der gebührenden Strafe zuzuführen. Doch die Kornellen verhindern dies. Thamera bricht in Jammerklagen aus und wünscht sehnsüchtig die Hilfe des Mohren. Aran wird auch herbeigeholt, aber nicht um ihr zu helfen, sondern als Gefangener; er erkennt seine Lage und fleht um Gnade; doch Titus hat kein Ohr dafür. Er lässt den Unheilstifter bei lebendigem Leibe verbrennen. Saturninus ist ganz glücklich, dass er durch den Tod des Mohren den Geist seines Bruders gerächt weiss; doch Titus dämpft diese Freude, indem er Arans Mitschuldige, des Kaisers Gattin, ersticht. Da fasst den Kaiser grimmer Zorn, er bereitet Titus des gleiche Los. Aber Lucius rächt sofort des Vaters Tod und so fällt auch Saturninus. Marcus sorgt sofort für die nötigen Massnahmen zur Anerkennung seines Neffen als Nachfolger auf dem Kaiserthron. | |
Würdigung des fünften Aktes.Sh. versucht uns den Mohren, dessen höchste Lust der Frevel ist, dadurch menschlich näher zu bringen, dass er ihn, ähnlich wie Titus, als einen Vater zeichnet, der das Leben für das Wohl seines Kindes zu opfern bereit ist; denn nur um seinen Sohn zu retten, gesteht er die begangenen Verbrechen; seine Gesinnung aber bleibt unerschüttert, auch als er lebendig begraben wird. Bei Vos hören wir Aran im IV. Akt vor seiner Gefangennahme durch Lucius mit seinen Schandtaten prahlen; doch die Leiden, die seine Geliebte getroffen, ergreifen plötzlich sein Gemüt derart, dass aus dem durchtriebenen, hartgesottenen | |
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Bösewicht ein reuiger Schächer wird, der flehentlich um Gnade bittet. Gerade hier ahnen wir den psychologischen Scharfsinn Sh's; auf Kosten der Unwahrscheinlichkeit, dass Thamera kurz nach der Geburt die Rachegöttin spielt und bald darauf an dem Mahle teilnimmt, lässt er die Vaterliebe dem Mohren zum Fallstrick werden und begründet so das Geständnis desselben viel tiefer, als es Vos vermag. Der Charakter Aarons ändert sich bei Sh. nicht, während er bei Vos genau ins Gegenteil umschlägt; und dazu soll ein so hartherziger, blutdürstiger und stolzer Mensch, als welcher der Mohr bisher geschildert wurde, einzig durch das Mitleid mit seiner Geliebten gebracht werden? Das Bestreben von Jan Vos, seinen Zuhörern durch besonders grausige Ereignisse die Haare zu Berge stehen zu lassen, äussert sich auch in diesem Akte. Nicht nur, dass er eine viel schrecklichere Todesart als Sh. für den Mohren erdenkt, findet die Verbrennung vor den Augen seiner Geliebten und ausserdem noch vor dem Publikum statt. Sh. zeigt hier eine grössere Mässigung. Dadurch, dass der neue Kaiser das Urteil über den Mohren spricht, wird die Strafe zum Akt der Gerechtigkeit, zur Sühne für die begangenen Verbrechen. Der Gedanke an persönliche Rache fällt weg. Diese veränderte und höhere Auffassung rechtfertigt sich durch den einzig edlen Zug in Aarons Charakter, seiner Selbstaufopferung für seinen Sohn. Sh. verlegt die Verkündigung und Ausführung der Strafe ans Ende des Dramas, um anzudeuten, dass jetzt nach Beseitigung aller Schuldigen unter der gerechten Regierung von Lucius eine neue Zeit für Rom anbrechen kann. Ein anderes Bild des Schreckens entwirft uns Vos bei Gelegenheit des grausigen Mahles, dessen einfache Beschreibung ihm nicht genügt; er will auch die Wirkung desselben auf die ihre eigenen Söhne verzehrende Mutter drastisch darstellen; um dies zu erreichen, fügt er die Erscheinung der Geister ihrer Kinder unter ganz besonderen Begleitumständen bei. Die Anspielung auf die Tat des Virginius fehlt bei Vos. Titus ersticht seine Tochter, um sie nach seinem Tode nicht | |
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als Waise zurückzulassen; ein Motiv, das einen solchen Beweis väterlicher Liebe nicht zu rechtfertigen scheint. Sh. lässt nach den furchtbaren Ereignissen Lucius und Marcus, die einzigen Ueberlebenden, ihre Tat vor dem Volke verteidigen; sollte dieses anderer Meinung sein, so würden sie mit ihrem Blute Sühne leisten. Das Volk aber erkennt nicht nur ihre Schuldlosigkeit, sondern erwählt Lucius sogar zum römischen Kaiser. Hierdurch schliesst Sh. ein von Blut triefendes Stück mit einem versöhnenden Ausgang. Jan Vos, der die Gräuel des Stückes noch schrecklicher gestaltet, lässt die Zuschauer unter dem unmittelbaren Eindruck, den die massenhaften Morde auf sie ausüben. Lucius wird zwar auch Kaiser, aber ohne die Zustimmung des Volkes zu erholen. Die Schlussverse, welche Marcus unmittelbar nach dem letzten Morde spricht, lassen nicht den leisesten Ton von Versöhnung durchklingen. Das furchtbare Unwetter hat bei Vos nicht reinigend gewirkt, wie bei Sh.; die Androhung ewiger Verbannung an das ‘Pontus Meir’, welche alle jene treffen soll, die sich gegen die Anerkennung des neuen Kaisers sträuben, bedeutet keinen Ausblick in eine neue, glückliche, sonnenfrohe Zukunft.
Im Schöpfer des ‘Titus Andronicus’ erkennen wir also trotz mancher Zugeständnisse an dem Geschmack der Zeit einen Meister, der den grausigen Stoff sittlich zu heben verstand und durch psychologische Vertiefung das höchste Interesse, das je ein Jugendwerk beanspruchen kann, verdient. Trotz des Mangels an Charakterentwicklung kann nicht behauptet werden, dass ‘die Verknüpfung und Begründnng der Handlung recht mangelhaft ist’ (Wülker Geschichte der engl. Lit. Band I, 2. Auflage, Seite 293). Der ihm ebendort vorgeworfene ‘rednerische Bombast und das übertriebene Pathos’ verschwinden im Vergleich mit der Sprache in Aran en Titus. Wir müssen Sh. vielmehr ein zielbewusstes Streben nach Hervorhebung der Handlnng und strenge Selbstzucht zum Zwecke der einheitlichen Gestaltung seines Werkes zugestehen. | |
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Diese letzteren Eigenschaften vermissen wir bei Jan Vos vollständig. Es soll nicht verkannt werden, dass er dem ihm vorliegenden Stoff mit ziemlicher Selbständigkeit gegenübertrat; aber der Geschmack seiner Zeit entlockte ihm Zugeständnisse, die erkennen lassen, dass er nicht über ihm stand, sondern sich unter seine Herrschaft beugte. Durch eine Häufung blutiger Ereignisse glaubte er die Wirkung des Dramas erhöhen zu müssen; dadurch aber wurde sein Werk zu einem Schauerstück, das mit der Tragödie nichts mehr zu tun hat. Der Kuss, den ihm die Muse gereicht, ist etwas flüchtig ausgefallen. Das zeigt auch ein Vergleich der kraftvollen lyrischen Sprache Sh. mit der rhetorisch schwülstigen, von künstlicher Begeisterung getragenen Rede von Jan Vos. München. max wagner. |
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