Ivo Michiels, 1923 in Mortsel geboren, ist heute Verlagslektor in Antwerpen. Er hat bisher drei Bücher veröffentlicht; “Het boek Alfa” ist 1963 in Amsterdam erschienen und zweifellos mit Recht von der einheimischen Kritik als das literarisch progressivste Werk dieser Jahre bezeichnet worden, das sich durchaus mit den Arbeiten der jüngeren französischen und deutschen Schriftsteller messen kann.
Das Buch berichtet eine Jugendgeschichte. Ihr Held ist das erzählende Ich, das sich seiner Erlebnisse erinnert. Ein autobiographischer Versuch also? Ja und nein. Gewiß sind die Erfahrungen des Autors und des Ich-Erzählers weithin identisch, ähnlich wie bei Peter Weiß' Abschied von den Eltern; aber wie wenig oder wie viel dieser Bericht autobiographische Züge tragen mag, er will mehr sein als nur die Aufzeichnung eines Lebensabschnitts (Kindheit, Schulzeit, Elternhaus, Krieg und Flucht), und er ist mehr als nur dies. Nämlich ein Sprachkunstwerk von hohen Graden. Michiels ist es - zumindest in den meisten Teilen seines Buches - gelungen, den Stoff (die Fabel, das Sujet) nahezu ohne Rest in Sprache umzusetzen. Er hat seine subjektive Erfahrung in Literatur verwandelt.
Das “Buch Alpha” kennt weder Kapitel noch Abschnitte (von zwei Ausnahmen abgesehen: an zwei Stellen macht die Übersetzung typographisch schärfere Trennungen als das Original), sondern nur rhytmische Zäsuren, auch innerhalb der einzelnen Satzketten (Kommata werden sparsam verwendet, vornehmlich, um rhytmische Pausen und Brechungen anzuzeigen; dieses Verfahren ist im Original überzeugender angewandt als in der Übersetzung, die in dem Punkt nicht immer konsequent ist).
Die einzelnen Episoden werden in einem einzigen Atemzug berichtet, sie sind eher gesprochene als geschriebene Erzählung, Rede statt Schreibe. Und diese Rede ist sehr bewußt komponiert und oft von jener beiläufigen Sicherheit des inneren Zusammenhangs, die ohne Kunstfertigkeit nicht zu erzielen ist.
Wer sich in der niederländischen Gegenwartsliteratur auskennt, wird Michiels Leistung noch höher veranschlagen, als dies der deutsche Leser tun mag, der an formale Erneuerungsversuche in der Prosa weit mehr gewöhnt ist. Schon jetzt, zwei Jahre nach der Publikation des “Buches Alpha”, erweisen sich an den Arbeiten vor allem der jüngeren flämischen Schriftsteller die Folgen dieses Werkes, das einerseits in seiner ganzen Bedeutung nur vor dem Hintergrund der Literatur seines Ursprungslandes zureichend bewertet werden kann, andereseits jedoch eines der sehr raren Beispiele dafür ist, daß zwischen Brüssel und Amsterdam heute Bücher geschrieben werden, die im Gesamtzusammenhang der modernen europäischen Literatur einen eigenen Platz einnehmen. Außer dem “Buch Alpha” von Ivo Michiels wären da einige Erzählungen von Hugo Claus und ein paar Geschichten von Willem Frederik Hermans zu nennen.
Nun ist der Anfang gemacht worden, diese Autoren in deutschen Übersetzungen vorzustellen; ein guter Anfang, denn an Michiels knüpfen sich große Erwartungen. Das diese Erwartungen berechtigt sind, ja, daß er bereits dabei ist, sie einzulösen, laßt sich noch an der Übersetzung erkennen, die treu und doch lebendig den keineswegs leichten Stil des Originals wiedergibt.
Bernd Bausch.’