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Hans Christian Andersen: Von den Schwierigkeiten bei einer Übertragung ins Deutsche
Dr. Ursula Abels
Ich wählte als Thema ‘Hans Christian Andersen: Von den Schwierigkeiten bei einer Übertragung ins Deutsche’, aber streng wissenschaftlich genommen dürfte ich mir eigentlich eine Aussage nur anmaßen, wenn ich wenigstens die dänische Sprache beherrschte, um exakt den Originaltext mit den jeweiligen Übersetzungen vergleichen zu können.
Sei's drum. Ich will es wagen. Und ich tue es mit halbwegs gutem Gewissen, weil ich mich nicht nur seit Jugend- und Studienzeiten intensiv mit Volks- und Kunstmärchen beschäftigte und über ‘Das Wesen des deutschen Volksmärchens und das moderne Kunstmärchen’ promovierte, sondern weil ich das Glück habe die ‘Einzige vollständige vom Verfasser besorgte Ausgabe’ von Andersens ‘Sämmtliche Märchen’ zu besitzen. 1882 ist sie in Leipzig im Wartig's Verlag in der 23. Auflage erschienen. Ich habe also den Klang der Märchen dieses Dichters seit Jahren so in den Ohren, wie er selbst dies festlegte. Sie wissen sicher, daß Andersen eine Vorliebe für Deutschland und auch für die deutsche Sprache hatte und fließend deutsch sprach.
Ich habe mir die Mühe und das Vergnügen bereitet, zwei der von ihm ins Deutsche übertragenen Märchen mit anderen späteren Übersetzungen zu vergleichen und möchte Ihnen die Ergebnisse vorstellen. Vielleicht werden Sie zum Schluß mit mir übereinstimmen, daß niemand sonst als Hans Christian Andersen selber seine Märchen so einfühlsam, mit solch beseeltem und unverwechselbar eigenem Ton in die andere Sprache hinüberbringen konnte. Vielleicht sollte ich kurz noch anführen, daß ich - auch dies seit Jugend- und Studentenzeiten - regelmäßig vorlese. Sei es für den Rundfunk, sei es für eine Kassettenaufnahme - in Schulen, bei Elternabenden, bei anderen Gelegenheiten, zu denen man mich bittet. Man hört mir gern zu, man läßt sich - ob jung oder alt - von mir verzaubern. Und für mich gab es schon als Kind nichts Schöneres, als vorlesen zu dürfen und wenn ich keinen Zuhörerkreis hatte, baute ich meine Puppen und Bären vor mir auf. Ich hatte schon früh das untrügliche Gefühl, daß Sprache klingen, daß man die schwarzen Buchstaben in all den Büchern lebendig werden lassen muß.
Ich versuche mit meiner Stimme, andere Menschen zur Literatur hinzu- | |
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führen, damit sie selbst auch jetzt, im Zeitalter der Medien, wieder mehr lesen und vor allem auch vorlesen. Da habe ich es natürlich viel mit Übersetzungen zu tun, besonders bei Märchen aus anderen Ländern - und wie oft schon habe ich sehr wenig lady-like geflucht, wenn diese Übersetzungen klobig waren und mir einfach nicht über die Zunge gehen wollten.
Jede neue Andersen-Ausgabe, die in den letzten Jahren bei uns in Deutschland erschien, wurde sofort überprüft. Mein Maßstab war und bleibt der vom Autor selber ins Deutsche übertragene alte dicke Band seiner ‘sämmtlichen Märchen’. Das Buch enthält 727 engbedruckte Seiten! Manche der neueren Andersen-Märchenausgaben habe ich wegen der schönen oder interessanten neuen Illustrationen in meine eigene Märchensammlung aufgenommen. Vorlesen aber tue ich ausschließlich seine eigenen Übertragungen. Denn er hat eben nicht einfach übersetzt, sondern liebevoll in eine Fremdsprache übertragen. Im Gegensatz zu vielen Übersetzern lag es Andersen ganz offensichtlich daran, nicht nur den Inhalt, die Aussage verständlich zu machen. Ihm kam es nicht zuletzt auch auf einen ganz bestimmten Tonfall, auf sprachliche Schwingungen, auf feinste Nuancen an. Warum das so ist, hängt sicher mit der Vorliebe dieses Dichters für die Bühne zusammen. Sie wissen, daß Andersen nahezu zeitlebens die Bühnenkunst favorisierte. Theater jedoch ist ohne Sprache nicht denkbar. Und zwar muß es sich um eine eindrucksvolle Sprache handeln, die lange noch nachhallen kann, selbst wenn die einzelnen Worte längst verflogen sind.
Andersen beschäftigte sich seit frühester Jugend mit Märchen, er kannte und liebte die Sammlungen von Musäus und natürlich die der Brüder Grimm. Seine frühen eigenen Märchen sind häufig abgewandelte Nacherzählungen. Deutlich spürbar wird dies z.B. an ‘Die wilden Schwäne’. Im Grimm'schen Märchen sind es 6 Prinzen, die von der bösen Stiefmutter in Schwäne verwandelt werden, bei Andersen 11. Bei Grimm ist nur von ‘dem Mädchen’ oder ‘der Schwester’ die Rede, die auszieht, om die verzauberten Brüder zu erlösen. Andersen gibt der kleinen Schwester den Name Elisa. Er schmückt seine Erzählung auch mit Details aus, die dem Volksmärchen nicht wichtig sind - die Handlung als solche bleibt unverändert.
Hier ein kurzer Textvergleich. Zuerst aus der Fassung der Brüder Grimm (aus der Jubiläumausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm, herausgegeben von Prof. Dr. Heinz Rölleke 1984 bei Philipp Reclam jun. Stuttgart):
Das arme Mädchen dachte: ‘Meines Bleibens ist nicht länger hier, ich will gehen und meine Brüder suchen.’ Und als die Nacht kam, entfloh es und ging gerade in den Wald hinein. Es ging die ganze Nacht durch und auch den andern
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Tag in einem fort, bis es vor Müdigkeit nicht weiter konnte. Da sah es eine Wildhütte, stieg hinauf und fand eine Stube mit sechs kleinen Bettern, aber es getraute nicht, sich in eins zu legen, sondern kroch unter eins, legte sich auf den harten Boden und wollte die Nacht da zubringen. Als aber die Sonne bald untergehen wollte, hörte es ein Rauschen und sah, daß sechs Schwäne zum Fenster hereingeflogen kamen. Sie setzten sich auf den Boden und bliesen einander and und bliesen sich alle Federn ab, und ihre Schwanenhaut streifte sich ab wie ein Hemd. Da sah sie das Mädchen an und erkannte ihre Brüder, freute sich und kroch unter dem Bett hervor.
Nun der Originaltext des Andersen-Märchens in der von ihm vorgenommenen Übertragung:
Als die Sonne untergehen wollte, sah Elisa elf wilde Schwäne mit Goldkronen auf den Köpfen dem Lande zufliegen; sie schwebten einer hinter dem andern; es sah aus, wie ein langes weißes Band. Da stieg Elisa den Abhang hinauf und verbarg sich hinter einem Busche; die Schwäne ließen sich nahe bei ihr nieder und schlugen mit ihren großen, weißen Schwingen.
Sowie die Sonne hinter dem Wasser war, fielen plötzlich die Schwanengefieder und elf schöne Prinzen, Elisa's Brüder, standen da. Sie stieß einen lauten Schrei aus; ungeachtet sie sich sehr verändert hatten, wußte sie doch, daß sie es waren, fühlte sie, daß sie es sein müßten. Und sie sprang in ihre Arme und nannte sie bei Namen; und die Prinzen fühlten sich hochbeglückt, als sie ihre kleine Schwester sahen, und erkannten auch sie, die nun groß und schön war.
Ich überlasse es Ihnen, das Gemeinsame und die feinen Unterschiede der beiden Texte auseinander zu puzzeln. Aber ich bleibe noch bei diesem Märchen, in dem Andersen auf seine Weise Motive aus ihm vertrauten Volksmärchen aufgegriffen und neu erzählt hat. Hier der Anfang von ‘Die wilden Schwäne’:
Weit von hier, dort wohin die Schwalben fliegen, wenn wir Winter haben, wohnte ein König, der elf Söhne und eine Tochter Elisa hatte. Die elf Brüder waren Prinzen und gingen mit dem Stern auf der Brust und dem Säbel an der Seite in die Schule. Sie schrieben mit Diamantgriffeln auf Goldtafeln und lernten ebenso auswendig, wie sie lasen; man konnte gleich hören, daß sie Prinzen waren. Die Schwester Elisa saß auf einem kleinen Schemel von Spiegelglas und hatte ein Bilderbuch, welches für das halbe Königreich erkauft war.
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O, die Kinder hatten es außerordentlich gut; aber so sollte es nicht immer bleiben!
Ihr Vater, welcher Konig über das ganze Land war, verheirathete sich mit einer bösen Königin, die die armen Kinder gar nicht liebte. Schon am ersten Tage konnten sie es merken. Auf dem Schloß war große Pracht, und da spielten die Kinder: ‘Es kommt Besuch’; aber statt daß sie, wie sonst, alle Kuchen und alle gebratenen Äpfel erhielten, die nur zu haben waren, gab sie ihnen bloß Sand in einer Theetasse und sagte, sie könnten thun, als ob dies etwas wäre.
Und nun die deutsche Übersetzung aus dem Manesse Verlag in einer Ausgabe ohne Jahresangabe, in der es heißt: ‘Auf Grund älterer Übertragungen herausgegeben und zum Teil neu übersetzt von Fl. Storrer-Madelung’.
Weit fort von hier, dort wo die Schwalben hinfliegen, wenn wir Winter haben, wohnte ein König, der elf Söhne hatte und eine Tochter, Elisa. Die elf Brüder, Prinzen waren sie, gingen mit dem Stern auf der Brust und dem Säbel an der Seite in die Schule; sie schrieben auf Goldtafeln mit Diamantgriffeln und sagten ebensogut auswendig wie inwendig auf; man konnte gleich hören, daß sie Prinzen waren. Die Schwester Elisa saß auf einem kleinen Schemel aus Spiegelglas und hatte ein Bilderbuch, das für das halbe Königreich gekauft worden war.
Oh, die Kinder hatten es gut, aber so sollte es nicht immer bleiben.
Ihr Vater, der König über das ganze Land war, verheiratete sich mit einer bösen Königin, die den armen Kindern gar nicht wohlgesinnt war; schon am ersten Tag konnten sie es gut merken. Im ganzen Schloß war großes Fest, und da spielten die Kinder ‘Es kommt Besuch’; aber statt daß sie wie sonst all die Kuchen und gebratene Äpfel bekamen, die sie bewältigen konnten, gab sie ihnen nur Sand in einer Teetasse und sagte, daß sie so tun könnten, als ob das etwas wäre.
Die Formulierung, sie ‘sagten ebensogut auswendig wie inwendig auf’ klingt zwar sehr märchenhaft, aber daß sie auch das Lesen lernten, diese Königskinder, fällt bei dieser Übersetzung einfach fort. Etwas mühsam klingt: ‘Die elf Brüder, Prinzen waren sie’, während es bei Andersen heißt: ‘Die elf Brüder waren Prinzen’.
In einer Ausgabe der Droemerschen Verlagsanstalt München aus dem Jahre 1938 wurde offensichtlich die Übersetzung von Andersen zugrunde gelegt und der nicht-genannte Bearbeiter tauschte lediglich einige wenige Worte aus. Z.b. heißt es von Elisas Bilderbuch nur noch, daß es ‘unmenschlich
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viel Geld gekostet hatte’ und nicht wie im Original ‘welches für das halbe Königreich erkauft war’.
Warum Albrecht Leonhardt in der 1985 vom Verlag Beltz & Gelberg erschienenen, sehr ansprechend von Sabine Friedrichson bebilderten zweibändigen Ausgabe unbedingt ‘neu’ übersetzen wollte, ist nicht verständlich. Andersen erzählt, wir erinnern uns,: ‘O, die Kinder hatten es außerordentlich gut; aber so sollte es nicht immer bleiben’, bei Leonhardt hört sich das so an: ‘Oh, die Kinder hatten es gut! Doch so sollte es nicht immer bleiben. Es ist doch ein Unterschied, ob es einem außerordentlich gut geht oder nur ‘gut geht’! Und warum in diesem Fall das Wörtchen aber in ein doch umgetauscht werden mußte, ist auch nicht einleuchtend, vergleichsweise immerhin harmlos.
Einschneidender ist Folgendes: ‘Ihr Vater, der König über das ganze Land war, heiratete eine böse Königin, die den armen Kindern gar nicht wohlgesinnt war’. Andersen sagt: ‘...die die armen Kinder gar nicht liebte’. Es gibt einen Stich ins Herz, wenn man sich nicht geliebt weiß. Dagegen kann man mehr oder minder rasch abstreifen, wenn einem jemand nicht ‘wohlgesinnt’ ist.
Erinnern Sie sich, wie Andersen fortfährt in seinem Märchen: ‘Auf dem Schlosse war große Pracht, und da spielten die Kinder “Es kommt Besuch”; aber statt daß sie, wie sonst, alle Kuchen und alle gebratenen Äpfel erhielten, die nur zu haben waren, gab sie ihnen bloß Sand in eine Teetasse und sagte, sie könnten tun, als ob Dies etwas wäre’. Die Fülle des Glücks ist bei Andersen über die Königskinder ausgebreitet! Wie nüchtern klingt es dagegen bei Albrecht Leonhardt:
Im Schloß wurde ein großes Fest abgehalten, und da spielten die Kinder ‘Es kommt Besuch’; aber statt daß sie wie sonst soviel Kuchen und gebratene Äpfel bekamen, wie sie essen konnten, gab die Königin ihnen nur Sand
Ein großes Fest, das abgehalten wird, überwältigt einen Zuhörer längst nicht so wie: ‘Auf dem Schlosse war große Pracht’ und es ging doch gar nicht darum, daß die Prinzen und die kleine Elisa vordem so viele Kuchen und gebratene Äpfel bekamen, wie sie essen konnten, sondern um die Tatsache, daß sie grundsätzlich alles erhielten und haben durften, was es überhaupt gab. Also ‘alle Kuchen und alle gebratenen Äpfel’ natürlich auch.
Wenden wir uns jetzt einem ureigenen Märchen von Andersen zu, das er in späteren Jahren schrieb und das keinerlei Anklänge mehr an Motive aus bekannten Volksmärchen aufweist. Ich wählte ‘Der Tannenbaum’ aus, eins meiner liebsten Andersen-Märchen, das er übrigens an den Beginn der von
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ihm selbst verantworteten Ausgabe stellte.
Draußen im Walde stand ein niedlicher kleiner Tannenbaum. Er hatte einen guten Platz; Sonne konnte er bekommen, Luft war genug da, und rings umher wuchsen viele größere Kameraden, sowohl Tannen als Fichten. Der kleine Tannenbaum wünschte aber so sehnlich, größer zu werden! Er achtete nicht der warmen Sonne und der frischen Luft, er kümmerte sich nicht um die Bauernkinder, die da umhergingen und plauderten, wenn sie herausgekommen waren, um Erdbeeren und Himbeeren zu sammeln. Oft kamen sie mit einem ganzen Topf voll und hatten Erdbeeren an einen Strohhalm gereiht; dann setzten sie sich neben den kleinen Tannenbaum und sagten: ‘Nein! wie niedlich klein ist der!’ Das mochte der Baum gar nicht hören.
Zwei Beispiele neuerer Übersetzungen mögen genügen. Zuerst aus dem Manesse-Verlag von Fl. Storrer-Madelung:
Draußen im Wald stand so ein niedlicher Tannenbaum; er hatte einen guten Platz: Sonne konnte er bekommen, Luft war genug da, und ringsum wuchsen viele größere Kameraden, sowohl Tannen als Fichten; aber der kleine Tannenbaum war so eifrig aufs Wachsen bedacht; er dachte nicht an die warme Sonne und an die frische Luft, er machte sich nichts aus den Bauernkindern, die da gingen und plauderten, wenn sie draußen waren, um Erdbeeren und Himbeeren zu sammeln; oft kamen sie mit einem ganzen Topf voll oder hatten Erdbeeren auf einen Strohhalm gezogen; dann setzten sie sich neben den kleinen Baum und sagten: ‘Nein, wie herzig klein der ist!’ Das wollte der Baum gar nicht hören.
Da steht also ‘so ein’ niedlicher Tannenbaum im Wald. Wie anders klingt der erste. Satz bei Andersen: ‘Draußen im Walde stand ein niedlicher kleiner Tannenbaum’. Das Wort ‘niedlich’ allein ersetzt nicht das dazugehörige Adjektiv ‘klein’. Ganz schrecklich aber klingt in meinen Ohren das, was die Kinder sagen: ‘Nein, wie herzig klein der ist!’ statt ‘Nein, wie niedlich klein ist der!’.
Die Übersetzung der zweibändigen Ausgabe bei Beltz & Gelberg von Albrecht Leonhardt hört sich etwas anders, aber nicht besser an:
Draußen im Wald stand ein niedlicher Tannenbaum. Er hatte einen guten Platz: Sonne bekam er, Luft war genug da, und ringsum wuchsen viele größere Kameraden, Tannen und Fichten. Aber der kleine Tannenbaum war so eifrig aufs Wachsen bedacht; er bemerkte weder die Sonne noch die frische Luft; er
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machte sich nichts aus den Bauernkindern, die da umhergingen und plauderten, wenn sie draußen waren, um Erdbeeren oder Himbeeren zu sammeln. Oft kamen sie mit einem ganzen Topf voll, oder sie hatten Erdbeeren auf einen Strohhalm gezogen; dann setzten sie sich neben den kleinen Baum und sagten: ‘Nein, wie hübsch klein der ist!’ Das wollte der Baum gar nicht hören.
Wie in der zuvor zitierten Fassung ist auch hier der Tannenbaum ‘eifrig aufs Wachsen bedacht’. Wieviel glaubhafter und zugleich inniger formuliert Andersen: ‘Der kleine Tannenbaum wünschte aber so sehnlich, größer zo werden’. Etwas sehnlich herbeiwünschen ist etwas ganz Anderes als auf etwas bedacht zu sein! Es ist auch ein Unterschied, ob man etwas nicht mag oder nicht will. Am Ende dieses Absatzes heißt es beim Autor: ‘Das mochte der Baum gar nicht hören’, in den neueren Übersetzungen dagegen: ‘Das wollte der Baum gar nicht hören’.
Hans Christian Andersen rührt vor allem mit seinen Märchen oder mit dem ‘Bilderbuch ohne Bilder’ immer gleichzeitig den Verstand und das Gemüt an. Es genügt also auf keinen Fall, lediglich die geschilderten Tatsachen mit den erstbesten Vokabeln die einem einfallen, in eine andere Sprache zu bringen. Die große Aufgabe lautet: das, was hinter den Worten und in ihnen steckt, hörbar uns spürbar zu machen. Und da heißt es: vielleicht sehr sehr lange nach dem einzig-möglichen richtigen Wort suchen zu müssen und genau abzuwägen. Echte Dichtung ist nun mal nicht nur vordergründig!
Ich weiß, daß Übersetzungen von den Verlagen nicht üppig honoriert werden (um es so milde auszudrücken). Als Studentin habe ich ein Jugendbuch aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen und der Zeit-und Kraftaufwand stand in keinem Verhältnis zum Verdienst. Es war damals wenigstens ein kleiner Trost, daß eine mit mir befreundete Deutsch-Amerikanerin, die sich in Washington aus der Bibliothek das amerikanische Original besorgte, beide Bücher aufmerksam parallel las (vermutlich außer mir der einzige Mensch auf dieser Erde) und anschließend mir mitteilte, die deutsche Fassung sei stärker, weil sie vielschichtiger wäre.
Ich weiß also selbst, wovon ich spreche, wenn ich mir die Schwierigkeiten eines Übersetzers vor Augen halte, mit denen er zu kämpfen hat und die er so optimal wie nur irgend möglich meistern sollte.
Um Sie nicht zu sehr zu ermüden, möchte ich Ihnen nun aus dem ‘Bilderbuch ohne Bilder’ ein paar vollständige Texte vorlesen. Ich denke, daß es dieses Buch auch in einer niederländischen Fassung gibt. Andersen stellt in der Vorrede einen ‘blutarmen Teufel’ vor, der einsam in einer Dachkammer
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haust und dem der Mond an dreiunddreißig Abenden erzählt, was er auf seinen Reisen um die Welt gesehen hat. Eigentlich empfindet sich der junge, einsame arme Mann in der Dachkammer als Maler, aber nun zeichnet er mit Worten all das nach, was sein einziger treuer Freund, der Mond, ihm berichtet.
Ich habe zwei bibliophile Ausgaben aus den zwanziger Jahren, aus denen ich zitieren werde. Die eine - ohne Jahresangabe - kommt aus dem Insel-Verlag Leipzig, Insel-Bücherei Nr. 192, die andere wurde 1923 in Jena bei Eugen Diederichs verlegt. Dieses Bändchen ist mit sehr einfühlsamen Illustrationen von Ernst Kreidolf versehen, übersetzt wurde es von M. Langfeldt. Das Insel-Bändchen ist unbebildert, die Übertragung besorgte Bernhard Jolles.
Leider habe ich in diesem Fall keine Übersetzung von Andersen selbst, weiß auch nicht, ob er sein ‘Bilderbuch ohne Bilder’ je ins Deutsche übertragen hat. Sensibilisiert durch seine Märchenübersetzungen wage ich es, ein Urteil zu fällen: aus dem schlichten Insel-Band klingt - jedenfalls für mich - unverfälschter Andersen-Ton. Bei den Formulierungen in dem bibliophil viel ansprechenderen Büchlein aus dem Eugen Diederichs Verlag zucke ich mitunter schmerzlich zusammen und denke: Nein, so kann es nicht heißen, so hätte der Dichter selber das nie gesagt.
Ich beginne mit den Übersetzung des Zweiundzwanzigsten Abends aus dem Diederichs-Band von M. Langfeldt:
‘Ich sah ein kleines Mädchen weinen’, sagte der Mond, ‘sie weinte über die Schlechtigkeit der Welt. Die schönste Puppe hatte sie geschenkt erhalten. Och, das war eine Puppe! So fein und niedlich, und wahrhaftig nicht dazu auf die Welt gekommen, daß es ihr schlecht ginge. Aber die großen Buben, die Brüder des kleinen Mädchens, hatten ihr die Puppe fortgenommen, sie oben auf einen hohen Baum im Garten gesetzt und waren dann fortgelaufen. Die Kleine konnte nicht zu der Puppe hinauf, konnte ihr durchaus nicht herunterhelfen, und deshalb weinte sie. Die Puppe weinte entschieden mit, sie steckte die Arme zwischen den grünen Zweigen aus und machte ein ganz unglückliches Gesicht. Ja, das waren die Widerwärtigkeiten des Lebens, von denen Mama immer redete. Ach, die arme Puppe! Es fing schon an, dunkler Abend zu werden, und dann würde die Nacht kommen! Sollte sie die ganze Nacht hindurch allein hier draußen auf dem Baume sitzen? Nein, das konnte die Kleine nicht über ihr Herz bringen. ‘Ich bleibe bei Dir’, sagte sie, obwohl sie nichts weniger als mutig war; sie glaubte schon die kleinen Wichtelmännchen mit den hohen, spitzen Mützen ganz deutlich aus den Buschen herausgucken zu sehen, und hinten auf dem dunklen Steige tanzten große
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Gespenster, kamen immer näher, streckten die Hände nach dem Baume aus, auf dem die Puppe saß, machten sich über sie lustig und zeigten mit dem Finger auf sie. Ach, wie fürchtete sich die Kleine! ‘Aber wenn man keine Sünde begangen hat’, dachte sie, ‘kann der Böse einem ja nichts thun! ob ich wohl etwas Unrechtes gethan habe?’ Und sie dachte nach. ‘Ach ja’, sagte sie dann, ‘ich habe über die arme Ente mit dem roten Lappen am Beine gelacht; sie hinkt so komisch, daß ich lachen mußte, aber es ist Sünde, Tiere auszulachen! “Hast Du auch über die Tiere gelacht?” fragte sie, zu der Puppe aufblickend, und es hatte den Anschein, als schüttelte diese den Kopf.’
Und nun sofort dieselbe Geschichte nochmal in der Übersetzung von Bernhard Jolles, im Insel-Verlag erschienen:
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Zweiundzwanzigster Abend
‘Ich sah’, sagte der Mond, ‘ein kleines Mädchen weinen. Weinen über die Schlechtigkeit der Welt. Es hatte die schönste Puppe zum Geburtstag bekommen, so zart undfein, daß sie bestimmt nicht geschaffen war, Böses zu ertragen. Aber darauf nahmen die Brüder des kleinen Mädchens wenig Rücksicht. Die langen Bengel warfen die schöne Puppe auf den höchsten Baum im Garten und rannten davon!
Die kleine konnte natürlich mit ihren Ärmchen die Puppe nicht erreichen, geschweige denn sie herunterholen. Deshalb weinte sie. Wahrscheinlich weinte die Puppe auch. Jedenfalls steckte sie ihre Hände durch die grünen Zweige und machte ein sehr unglückliches Gesicht.
Das war also der Kummer des Lebens, von dem Mama so oft gesprochen hatte! Ihn mußte die arme Puppe jetzt durchleiden. Es wurde schon dunkel. Und wenn es nun erst vollends Nacht würde! Sollte sie dann mutterseelenallein oben auf dem Baum sitzen müssen? Schrecklich! Nein, das hätte die Kleine nicht übers Herz gebracht. ‘Ich bleibe bei dir’, flüsterte sie hinauf, obwohl ihr gar nicht wohl zumute war bei dem Gedanken. Sie sah schon die Zwerge im Gebüsch lauern; die hatten hohe, spitze Mützen auf, und weiter hinten, auf den dunklen Wegen, tanzten schrecklich lange Gespenster. Ach Gott, sie kamen ja immer näher, und jetzt steckten sie die Hände aus und zeigten mit den Fingern auf die Puppe und lachten höhnisch dazu. Der kleinen schlug das Herz. ‘Aber’, dachte sie, ‘wenn man keine Sünde begangen hat, kann einem auch kein Leids geschehen. Habe ich schon einmal eine Sünde begangen? Und sie sann angestrengt nach. “Ach Gott, ja! Ich habe ja die arme Ente mit dem roten Lappen am Bein ausgelacht, weil sie so drollig watschelte. Darüber habe ich so lachen müssen, und est ist eine Sünde, über die Tiere zu lachen.” Dabei sah sie die Puppe an. “Hast du auch schon ein Tier ausgelacht?”, fragte sie. Da
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schien es, als schüttelte die Puppe energisch mit dem Kopfe.’
Ein einziger Übersetzungsvergleich soll hier genügen. In der ersten Fassung heißt es: ‘Die Kleine konnte nicht zu der Puppe hinauf, konnte ihr durchaus nicht herunterhelfen, und deshalb weinte sie’.
In der zweiten Fassung wurde so formuliert: ‘Die Kleine konnte natürlich mit ihren Ärmchen die Pupe nicht erreichen, geschweige denn sie herunterholen. Deshalb weinte sie’. Für mein Sprachgefühl und Andersen-Verständnis ist diese zweite Fassung dem Dichter gemäßer. Sie klingt schlichter, weniger gestelzt. Dies bis in den Schlußsatz hinein: ‘Da schien es, als schüttelte die Puppe energisch mit dem Kopfe’, während es zuvor hieß: ‘... es hatte den Anschein, als schüttelte diese den Kopf.’
Zum Schluß dasselbe nochmal. Erst lese ich den Dreiunddreißigsten Abend aus Andersens ‘Bilderbuch ohne Bilder’ in der Übersetzung aus dem Dänischen von M. Langfeldt aus dem Verlag Eugen Diederichs in Jena, erschienen 1923:
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Dreiunddreißigster Abend
‘Ich mag Kinder gern’, sagte der Mond, ‘besonders die kleinen machen mir viel Spaß; oft, wenn sie am wenigsten an mich denken, gucke ich zwischen Rouleau und Fensterbank hindurch in die Schlafstube. Es macht mir Spaß, ihnen zuzusehen, wenn sie selber sich ausziehen helfen; erst kommt die nackte, kleine, runde Schulter aus dem Kleide, dann schlüpft der Arm heraus, oder ich sehe sie den Strumpf abstreifen, und dabei kommt ein niedliches Beinchen, weiß und stramm, zom Vorschein, wirklich ein Fuß zum küssen, und ich küsse ihn!’, sagte der Mond.
‘Heute Abend - das muß ich Dir doch erzählen! - heute Abend sah ich ein Fenster, dessen Rouleau nicht heruntergelassen wird, weil gegenüber keiner wohnt; ich sah dort eine ganze Schaar kleiner Kinder, sowohl Schwestern wie Brüder. Dazwischen war eine Kleine, die erst vier Jahre alt ist, aber ihr Vaterunser ebenso gut kann, wie die anderen und die Mutter sitzt jeden Abend an ihrem Bette, hört sie beten und giebt ihr dann einen Kuß. Die Mutter bleibt dann bei ihr sitzen, bis sie einschläft, was gleich geschieht, sowie sich die kleinen Augen schließen. Heute Abend waren die beiden Ältesten ein bißchen wild, der eine hüpfte in seinem langen, weißen Nachthemde auf einem Bein herum, und der zweite stand auf einem Stuhle, von allen Kleidern der anderen umgeben; er sagte, dies sei ein lebendes Bild und die anderen müßten es raten; die dritte und die vierte räumten ihr Spielzeug ordentlich in die Schublade, was ja auch gethan werden muß; am Bette der Kleinsten aber saß die Mutter und
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befahl ihnen still zu sein, denn das Kind sollte sein Vaterunser beten.
Ich guckte gerade über die Lampe weg’, fuhr der Mond fort. Die vierjährige Kleine lag in ihrem Bette mit seinen weißen Leinenbezügen, die kleinen Hände hatten sich gefaltet und das Gesichtchen sah ganz andächtig aus, sie betete laut ihr Vaterunser. ‘Aber was ist das?’, sagte die Mutter, sie mittem im Gebete unterbrechend. ‘Wie Du sagtest: Unser täglich Brot gieb uns heute! hast Du noch etwas gesagt, was ich nicht recht hören konnte. Was war's? Sage es mir!’ Aber die Kleine schwieg und blickte die Mutter verlegen an. Was hast Du noch weiter gesagt, als Unser täglich Brot gieb uns heute!’ - ‘Sei nicht böse, liebes Mütterchen!’ antwortete die Kleine. ‘Ich betete: Und auch recht viel Butter drauf!’ -
Und nun derselbe Text in der Übertragung von Bernhard Jolles aus dem Insel-Bändchen mit der Nr. 192 der Insel-Bücherei:
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Dreiunddreißigster Abend
‘Ich liebe die Kinder’, sagte der Mond. ‘Zumal die kleinen finde ich so drollig. Manchmal blinzle ich durch einen Spalt im Vorhang in ihre Stube hinein, wenn sie gerade nicht an mich denken. Es macht so viel Spaß, zu beobachten, wie sie es anfangen, wenn sie sich allein ausziehen müssen. Da kommt erst eine kleine nackte Schulter aus dem Kleidchen hervor, dann ein Ärmchen oder, wenn sie bei den Strümpfen anfangen, ein dickes weißes Beinchen, zum Küssen niedlich. Natürlich küsse ich es auch...
Also, was ich erzählen wollte! Heute Abend guckte ich durch ein Fenster, vor das überhaupt kein Vorgang gezogen war, denn das Haus hatte kein Gegenüber. Na, und da sah ich eine ganze Menge Kinder, alles Geschwister. Darunter war ein kleines Ding, knapp vier Jahre alt, aber das Vaterunser konnte sie schon beten wie die Großen. Die Mutter saß jeden Abend an ihrem Bett und hörte zu. Dann kriegte sie einen Kuß, und die Mutter blieb sitzen, bis die Kleine einschlief. Und das ging so schnell, wie sich die Augen nur schließen konnten. Heute waren die beiden ältesten Kinder ein wenig wild. Das eine, im langen weißen Nachtkittel, hüpfte auf einem Bein, das andere hatte die Kleider der Geschwister angezogen, stand auf einem Stuhl und sagte, es mache Denkmal, und die andern sollten klatschen. Das dritte und das vierte legten die Wäsche ordentlich ins Kommodenfach. Das muß ja auch gemacht werden! Die Mutter aber saß an Nesthäkchens Bett und sagte, sie sollten doch endlich einmal still sein, denn Schwesterchen würde jetz das Vaterunser beten.
Ich sah über die Lampe weg. Das vierjährige Ding lag auf weißen Kissen in
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seinem Bettchen, hatte die Hände gefaltet und machte ein ernstes, andächtiges Gesicht. Dann fing die Kleine an, laut zu beten. Plötzlich wurde sie von der Mutter unterbrochen: ‘Was ist denn das? Wenn du gebetet hast: Unser täglich Brot gib uns heute, sagst du noch etwas, was ich nicht verstehen kann. Sag es einmal laut, ich will es hören.’ - Die Kleine schwieg und sah die Mutter ängstlich an. - ‘Also, was sagst du nach: Unser täglich Brot gib uns heute? Schnell!’ - ‘Ach, sei nicht böse, Mutti! Ich habe nur gebetet: Unser täglich Brot - und recht viel Butter drauf!’
‘Das war doch eine niedliche Geschichte’, sagte der Mond, ‘und nun gute Nacht!’
Wenn mich jemand rätselhaft fragen würde: ‘Was ist dasselbe und doch nicht dasselbe?’, so antwortete ich - ohne auch nur eine Sekunde lang nachdenken zu müssen -: Es kann sich nur um eine Übersetzung handeln.
Die Schwierigkeit, Texte von Hans Christian Andersen angemessen ins Deutsche zu übertragen, ist deswegen so groß, weil er zu den Dichtern gehört, die - ganz altmodisch ausgedrückt - mit Herzblut geschrieben und eine ganz eigene Atmosphäre geschaffen haben. Dichtungen solcher Art muß man nachempfinden, man muß sie sehr behutsam in die andere Sprache übertragen. So wie man Blumen umsichtig aus einem Garten in einen anderen verpflanzt, was nur gelingen kann, wenn man genau die fremde Bodenbeschaffenheit, das veränderte Klima und vieles mehr beachtet. |
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